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Young Mungo

Douglas Stuart
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Roman

— Sunday Times Bestseller # 1
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Young Mungo — Inhalt

„Stuart weiß, wovon er erzählt. Hundertprozent realistisch.“ Campino
Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel im Glasgow der 90er Jahre ist Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn zum Mann machen und schleift ihn zu den brutalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken – nur wer hart genug ist, kann hier überleben. Dann trifft Mungo auf James und mit ihm kann er sein, wie er ist. Mit ihm lernt er ein Begehren kennen, das geächtet ist, das ihn mit Scham erfüllt, aber auch mit Glück, das er selbst vor seiner Schwester Jodie verleugnen muss, mit der er sonst alles teilt. Denn die Liebe, die zwischen den Jungen wächst, ist lebensgefährlich – und zugleich ihre Rettung.

Ein großartiger Roman über Liebe in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt und die Verheißung von Aufbruch und Befreiung.

 „Ein Meilenstein des Sozialrealismus im jungen 21. Jahrhundert.“ Christian Baron, Der Freitag

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 01.08.2024
Übersetzt von: Sophie Zeitz
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-32043-6
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Leseprobe zu „Young Mungo“

Eins


Als sie zur Ecke kamen, blieb Mungo stehen und schüttelte die Hand des Mannes von seiner Schulter. Die Entschlossenheit der Geste überraschte alle. Mungo drehte sich um, und als er zum Fenster heraufsah, begannen seine Augen nervös zu zucken. Seine Mutter beobachtete ihn durch die Ähren des Gardinenmusters und versuchte sich einzureden, der Tic wäre
ein fröhliches Blinzeln, ein liebevoller Morsecode, mit dem er ihr mitteilte, dass alles in Ordnung war. O. k. So war er, ihr jüngster Sohn. Er lächelte, selbst wenn ihm nicht danach war. Er würde alles [...]

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Eins


Als sie zur Ecke kamen, blieb Mungo stehen und schüttelte die Hand des Mannes von seiner Schulter. Die Entschlossenheit der Geste überraschte alle. Mungo drehte sich um, und als er zum Fenster heraufsah, begannen seine Augen nervös zu zucken. Seine Mutter beobachtete ihn durch die Ähren des Gardinenmusters und versuchte sich einzureden, der Tic wäre
ein fröhliches Blinzeln, ein liebevoller Morsecode, mit dem er ihr mitteilte, dass alles in Ordnung war. O. k. So war er, ihr jüngster Sohn. Er lächelte, selbst wenn ihm nicht danach war. Er würde alles tun, um andere glücklich zu machen.

Mo-Maw schob die Gardine zur Seite und stützte sich auf die Fensterbank wie eine Frau, die Gesellschaft suchte. Sie hob mit einer Hand die Teetasse und trommelte mit den perlmuttrosa Fingernägeln der anderen an die Scheibe. Sie hatte sich für die Farbe entschieden, weil sie ihre Finger frischer aussehen ließ, und wenn ihre Hände jünger wirkten,
dann vielleicht auch ihr Gesicht und der Rest von ihr. Als sie zu Mungo hinabsah, drehte er sich ein Stück weiter und seine Fußspitzen zeigten nach Hause. Sie wedelte mit den lackierten Fingern und scheuchte ihn fort. Geh schon!

Ihr Junge ließ die Schultern hängen, der Rucksack auf seinem Rücken sah aus wie ein kleiner Buckel. Weil er nicht gewusst hatte, was er mitnehmen sollte, hatte er lauter nutzloses Zeug eingepackt: einen zu großen Fair-Isle-Pullover, Teebeutel, sein zerfleddertes Skizzenbuch und
ein paar fast leere Tuben Salbe. Jetzt stand er an der Ecke, als würde ihn der Rucksack rücklings in den Rinnstein ziehen. Doch Mo-Maw wusste, es war nicht der Rucksack, der zu schwer war. Sie wusste, es waren seine Knochen. Das Ganze diente seinem Wohl, und er wagte es, mit diesem leidenden Blick zu ihr heraufzusehen.

Es war zu heiß für sein Gedöns. Er raubte ihr noch den letzten Nerv. Geh schon!, formte sie wieder mit den Lippen und trank einen Schluck kalten Tee.

Die beiden Männer warteten an der Ecke. Sie tauschten einen Seufzer und einen Blick und ein Grinsen, bevor sie ihr Gepäck absetzten und sich eine Zigarette anzündeten. Mo-Maw merkte ihnen an, dass sie es eilig hatten – fremde Gesichter waren in den engen Straßen nicht gern
gesehen –, und sie sah, dass sie sich zusammenreißen mussten, um ihren Jungen nicht zu hetzen. Doch die Männer waren schlau genug, Mungo keinen Druck zu machen, noch nicht, nicht, solange er noch abhauen konnte. Mit verkniffenen Augen warfen sie ihm Blicke zu, beobachtend, abwartend, was er als Nächstes tat, während sie die Hände in die Hosentaschen schoben und sich den Sack von den Schenkeln pulten. Vor ihnen lag ein stickiger, schwüler Tag. Der Jüngere fingerte sich im Schritt herum. Mo-Maw leckte an der Rückseite ihrer Zähne.

Mungo hob die Hand, um zu winken, aber Mo-Maw warf ihm einen finsteren Blick zu. Offenbar hatte er gesehen, wie sie die Miene verzog, oder das Winken kam ihm plötzlich kindisch vor, denn er brach die Geste ab und griff in die Luft wie ein Ertrinkender.
In den weiten Shorts und der übergroßen Regenjacke wirkte er wie ein Straßenkind in Kleidern von der Heilsarmee. Doch als er sich die Wolke der Locken aus dem Gesicht strich, sah Mo-Maw, wie er die Zähne zusammenbiss, und erkannte den willensstarken jungen Mann, zu dem er heranwuchs. Sie klopfte noch einmal an die Scheibe. Guck mich nicht
so böse an.
Der jüngere der Männer trat vor und legte den Arm um Mungos Schultern. Mungo zuckte unter dem Gewicht zusammen. Mo-Maw sah, wie er sich die Seite rieb, und dachte an die violetten Blutergüsse, die auf seinen Rippen blühten. Sie klopfte an die Scheibe: Mein Gott, jetzt hau schon ab! Endlich senkte ihr Sohn den Blick und ließ sich wegführen.

Die Männer lachten, als sie dem Jungen auf die Schulter klopften. Braver Kerl. Guter Kerl.
Mo-Maw war nicht fromm, aber sie reckte die rosa lackierten Finger zum Himmel, schüttelte sie und sang Halleluja. Dann kippte sie den kalten Tee in die vertrocknete Graslilie, füllte die Tasse mit Likörwein, drehte die Musik auf und schleuderte die Schuhe weg.

Die drei Reisenden nahmen den Stadtbus zur Sauchiehall Street. Es herrschte eine für Glasgow untypische Hitze, und sie mussten sich durch einen Strom grölender hemdloser Männer kämpfen, die die Sonne schon rot gesotten hatte. Auf den Parkbänken aufgereiht saßen dickarmige Großmütter in ihren guten Wollmänteln und adretten Hüten mit schweißtriefender Oberlippe. Während die Kinder mit klebrigen Gesichtern über die Straße hüpften, senkten die Frauen das Kinn auf die fleischige Brust und dösten in der Hitze. Sie erinnerten Mungo an die Mietshaustauben, fette faule Vögel mit halb geschlossenen Augen, die Köpfe vom Halsgefieder verschluckt.

Die Luft war erfüllt vom Lärm der Straßenmusikanten, die mit dem Schlachtgerassel einer probenden Oranierkapelle wetteiferten. Die Marschflöten tirilierten wie zwitschernde Vögel zu den schweren Schlägen der Lambeg Drum. Es war eine so herzerweichende Melodie, dass
ein eleganter älterer Herr ins Träumen kam und dicke, kullernde Tränen weinte. Mungo musste sich beherrschen, um den Herrn nicht anzustarren, der da so ungeniert heulte. Ob aus Kummer oder Rührung, war schwer zu sagen. Unter seinem Jackett-Ärmel blitzte eine teure Uhr auf, und weil Mungo sonst keinen Hinweis sah, kam er zu dem Schluss, dass das Schmuckstück zu protzig, zu auffällig für einen Katholiken war.

Die Männer trotteten schwerfällig durch den Sonnenschein. Sie waren mit dünnen Plastiktüten beladen, einer Angeltasche und einem Campingrucksack. Mungo hörte, wie sie sich über ihren Durst beklagten. Er kannte sie erst seit einer Stunde, aber davon redeten sie die ganze Zeit. Offenbar war Durst ihr ständiger Begleiter. „Ich japse nachem Schlücksgen“, jammerte der Ältere. Er war schon puterrot und schmorte in seinem dicken Tweedanzug. Der andere ignorierte ihn. Er ging mit eiernden Schritten, als scheuerten die engen Jeans an der Innenseite seiner Schenkel.

Sie führten den Jungen in den Busbahnhof und stiegen mit klimpernden Münzen in einen Überlandbus, der sie aus Glasgow hinaus nach Norden in Richtung der grünen Hügel von Dumbarton bringen sollte.

Bis sie sich zu der Plastikbank ganz hinten durchgekämpft hatten, waren die Männer schweißgebadet und schnappten nach Luft. Mungo setzte sich zwischen sie und machte sich so klein wie möglich. Wenn einer von ihnen aus dem Fenster sah, studierte er sein Gesicht von der Seite. Wenn der Mann sich umdrehte, schaute Mungo interessiert zum anderen
Fenster raus, um seinem Blick auszuweichen.

Während er zusah, wie draußen die graue Stadt vorbeiglitt, drückte Mungo das Kinn an die Brust und versuchte, den nervösen Juckreiz zu ignorieren, der sich in seinem Gesicht ausbreitete. Er wusste, es war wieder so weit, die gerümpfte Nase, das Blinzeln, die Grimasse, wie ein Nieser, der nie kam. Er konnte spüren, dass der ältere Mann ihn anstarrte.

„Weiß nich, wann ichs letzte Mal auße Stadt rausgekommen bin.“

Seine Stimme war rau, als hätte er ein Stück trockenen Toast im Hals. Manchmal holte er mitten im Satz Luft und stockte, als könnte jedes Wort sein letztes sein. Mungo versuchte ihn anzulächeln, aber der Mann hatte etwas Frettchenhaftes an sich, und es war schwer, ihm in die Augen zu blicken.

Er wandte sich wieder dem Fenster zu, und Mungo nutzte die Gelegenheit, um ihn von Kopf bis Fuß anzusehen. Er war knochig, um die sechzig, und hatte offensichtlich harte Jahre hinter sich. Mungo kannte diesen Schlag. Die jungen protestantischen Hooligans aus der Siedlung
machten zum Spaß Jagd auf Männer wie ihn; sie kreisten die torkelnden Säufer vor dem Arbeiterclub ein, trieben sie unter Spott zur Fish-and-Chips-Bude und schlugen zu, wenn den armen Schluckern die letzten Münzen aus den löchrigen Taschen fielen. Schlechtes Essen und die Sauferei hatten ihn ausgemergelt und vergilbt. Zu viel Haut hing über zu wenig Fett, und sein gelbes Gesicht schrumpelte wie ein überreifer Apfel.

Sein schäbiges Jackett passte nicht zur Anzughose, deren Knie ausgebeult waren wie noch mehr schlaffe Haut. Unter dem Jackett trug er ein T-Shirt mit dem Logo eines Klempners von der Southside, das Kragenbündchen war eingerissen und löste sich vom Rest. Mungo hatte den Verdacht, dass es seine einzigen Kleider waren; sie mieften, als würde er sie bei jedem Wetter tragen.

Irgendwie tat er Mungo leid. Der Alte zitterte leicht. Die Jahre, die er sich in dunklen Pubs vor dem Tageslicht verkrochen hatte, hatten ihn schreckhaft und nervös gemacht, und seine kleinen rastlosen Augen und die langen zuckenden Glieder erinnerten an einen misshandelten Hund.

Er schien immer kurz davor, panisch das Weite zu suchen. Als die letzten Hochhäuser aus dem Blickfeld verschwanden, gab der Tweed-Mann kleine Geräusche von sich, um das Schweigen zu füllen und die anderen zum Gespräch einzuladen. Mungo senkte das Kinn wieder auf die Brust und sagte nichts. Der jüngere Mann kratzte sich im Schritt. Mungo musterte ihn aus dem Augenwinkel.

Er sah aus wie Anfang zwanzig. Er trug dunkelblaue Jeans und hatte den Gürtel unter dem Label durchgezogen, damit das Armani-Logo nicht verdeckt wurde. Er war hübsch– oder vielleicht mal nahe dran gewesen–, aber irgendwas an ihm wirkte jetzt schon verdorben, wie gutes Metzgerfleisch, das zu lange liegengeblieben war. Trotz der Hitze trug er eine dicke Bomberjacke. Als er sie auszog, sah Mungo die sehnigen Muskelstränge an seinen Armen, die von schwerer Arbeit oder von jahrelangen Straßenkämpfen zeugten, oder beidem. Sein Haar war kurz geschnitten. Er hatte es sich mit Gel nach vorn gekämmt, und der Pony bildete kleine Sägezähne, wie mit der Zackenschere geschnitten. Mungo starrte seine aufgeschürften Fingerknöchel an. Seine Haut war honigfarben, untypisch für Schottland; vielleicht waren
seine Leute Frittenbuden-Italiener oder spanischstämmige Iren.

Doch der Hauch von Exotik verpuffte, als er mit dem breiten, stimmlosen Glasweger Akzent sagte: „Oh Mann, stell einfach auf Durchzuch.“ Er redete, ohne einen der beiden direkt anzusehen. „Der olle Sankt Christopher ist sone Schlaftablette, dassem Pferd der Arsch einpennt.“

Mungo fragte sich, was er mit einem Heiligen im Bus machte, während der Jüngere sich wieder dem Nasebohren widmete. Als er mit dem kleinen Finger sein Nasenloch auslotete, sah Mungo, dass er an jedem Finger einen Münzring trug und seine Unterarme von verschlungenen Tätowierungen bedeckt waren. Er war ein Mann voller Wörter: von den
Logos auf der Brust, den Schuhen und der Jeans bis zur Haut. Er hatte seinen ganzen Körper mit einer Nähnadel beschriftet, Frauennamen, Gangnamen: Sandra, Jackie, RFC, The Mad Squad. An manchen Stellen war die Kugelschreibertinte verschwommen, unter die Haut gesickert wie Wasserfarbe, und verlieh ihr ein schönes Violett. Mungo las aufmerksam, was auf den Armen stand. Er prägte sich ein, so viel er konnte.

Sankt Christopher griff in eine der Einkaufstüten und hielt mit einem verschlagenen Augenzwinkern ein Sixpack Tennent’s Super hoch. Den Blick auf den Hinterkopf des Busfahrers geheftet, drehte er zwei Dosen aus den Plastikösen und bot sie dem Jungen und dem Tätowierten an. Mungo schüttelte den Kopf, aber der junge Mann griff dankbar ächzend
zu. Er riss die Dose auf und schloss die Lippen um den überlaufenden Schaum. Mit drei großen Schlucken hatte er das Bier geleert.

Sankt Christopher schien Mungos Gedanken gelesen zu haben, denn er sagte: „Die nennen mich Sankt Christopher, weil ich immer sonntachs bein Anonymen Alkolikern auffe Hope Street bin. Aus Sonntags-Christopher hamse Sankt Christopher gemacht, nich zu verwechseln min Castlemilk-Chris odern lütten roten Chrissy.“ Der Mann trank einen Schluck, und Mungo sah seinen Kehlkopf gierig hüpfen. „Sankt Christopher, verstehste?“

Mungo kannte die Art von Spitznamen. Mo-Maw kam von Montag-Donnerstag-Maureen. Das war der Name, nach dem die anderen Alkoholiker fragten, wenn Mungo zu Hause ans Telefon ging. Sie wollten sichergehen, dass sie nicht aus Versehen „Millerston-Maureen“ oder
die „lütte Mo aus Milk“ an der Strippe hatten. Diese Unterscheidungen waren wichtig, wenn man sich ansonsten ans Prinzip der Anonymität halten wollte.

„Manchma hab ich son Flattermann, dass ich einglich mittwochs
auch manchma hinmüsste. Aber dit geht ehm nich.“ Sankt Christopher
machte ein trauriges Gesicht. „Verstehste?“

Mungo gab sich Mühe, aber häufig fiel es ihm schwer zu verstehen, was die Leute eigentlich meinten. Mo-Maw und seine Schwester Jodie zogen ihn damit auf. Offenbar gab es manchmal viel Spielraum zwischen dem, was die Leute sagten, und dem, was man verstehen sollte. Jodie sagte, Mungo wäre treudoof. Mo-Maw sagte, sie wünschte, sie hätte ihn zu
mehr Pfiffigkeit erzogen, und weniger zum Einfaltspinsel. Es war komisch, eine Enttäuschung zu sein, weil man ehrlich war und das auch von den anderen erwartete. Von den Spielchen der Leute bekam er Kopfschmerzen.

Sankt Christopher schlürfte seine Dose aus, als Mungo sagte: „Vielleicht sollten Sie mittwochs einfach auch hingehen. Ich meine, wenns Ihnen guttut?“

„Aye, aber ich häng ehm an meim Titel.“ Er griff sich in den Ausschnitt und zog ein kleines Blechmedaillon des heiligen Christophorus heraus, das er sich vor die pockennarbige Nase hielt. „Sankt Christopher. Das is das Netteste, was je einer über mich gesagt hat.“

„Können Sie denen nicht einfach Ihren Nachnamen geben?“

„Dann wärs wohl nich mehr anonym, oder?“, unterbrach der Tätowierte.

„Wennde anfängst, deine Karten auffen Tisch zu legen, und dann von deinen Dämonen erzählst, hamse dich auf der Straße am Sack.“

Mungo wusste sehr gut, dass die Leute Dämonen hatten. Mo-Maws Dämon kam raus, wenn sie auf dem Trockenen saß. Ihr Dämon war eine plattgedrückte, aalartige Schlange mit den Zähnen und Knopfaugen eines Wiesels und dem verfilzten Fell einer räudigen Ratte. Er war ein hinterlistiges Vieh an einer Kette, das an ihr zerrte und sie zu Dingen schleifte, von denen sie sich besser fernhielt. Er war gierig, und er war gerissen. Manchmal stellte er sich schlafend, wartete ab, bis die Kinder zur Schule gingen, ihrer Mutter zum Abschied einen Kuss gaben, und dann fiel er über Mo-Maw her und würgte sie wie eine zitternde Maus.

Oder er rollte sich in ihr zusammen und legte sich schwer auf ihr Herz. Der Dämon war immer da, unter der Oberfläche, selbst an guten Tagen. Wenn sie der Versuchung nachgab und trank, ließ sich der Dämon eine Weile beruhigen. Aber manchmal trank Mo-Maw so viel, dass sie sich in eine andere Frau verwandelte, in ein ganz anderes Wesen. Das erste Zeichen war, dass ihre Haut schlaff wurde, als würde ihr Gesicht abrutschen, um die fremde Frau freizulegen, die sich darunter verbarg. Mungo und seine Geschwister nannten sie Tattie-Bogle, weil sie so schäbig und herzlos war wie eine Vogelscheuche. Egal, wie viel Liebe die Kinder ihr schenkten, egal, wie viel Mühe sie sich gaben, ihre Mutter zu stützen und wieder zusammenzusetzen, sie saugte alle Fürsorge und Aufmerksamkeit auf und fühlte sich trotzdem immer leer.

Wenn Tattie-Bogle redete, hing ihr Unterkiefer herunter und die Zunge rollte im Mund herum, schmutzig, lasziv, als wollte sie unbedingt etwas ablecken. Tattie-Bogle hatte immer das Gefühl, dass sie gerade eine Party verpasste, dass es anderswo aufregender war, gleich um die Ecke, heimlich nebenan im nächsten Treppenaufgang. Sie grollte ihren Kindern
und scheuchte sie weg wie armselige kleine Vögel. Tattie-Bogle war überzeugt, dass bessere Dinge, buntere Lichter, lautere Lacher nur den Frauen passierten, die keine Kinder hatten.

Tattie-Bogle stürzte sich Hals über Kopf in Freundschaften mit Frauen, die sie gerade erst kennenlernte, vertraute ihnen über einer Flasche Black-&-White-Whisky ihre intimsten Geheimnisse an und war beleidigt, wenn die neue beste Freundin ihre Gefühle nicht mit der gleichen Tiefe teilte. Wenn sie dann in handfesten Streit gerieten, schleifte sie die andere durchs Zimmer und die Treppe hinunter, oder umgekehrt.

Am nächsten Morgen fand Mungo Strähnen parfümierten Haars im Flur, die im Luftzug, der unter der Haustür durchpfiff, tanzten wie das Stroh einer kaputten Vogelscheuche. Er oder Jodie ließen die Haare mit dem Teppichkehrer verschwinden und verloren kein Wort darüber.

Es war Jodie, die ihre Mutter in zwei Personen geteilt hatte. Der Trick half Mungo, Mo-Maw im kalten Morgenlicht zu verzeihen, nachdem der Schnaps sie rachsüchtig und gemein gemacht hatte. „Das war nicht Mo-Maw“, tröstete ihn Jodie, wenn sie ihn in der Besenkammer im Arm hielt. „Das war bloß die schreckliche alte Tattie-Bogle, und die schläft
jetzt.“

Mungo wusste, wie Dämonen aussahen. Als der Bus nach Norden tuckerte, saß er still da und dachte an seine eigenen.

Douglas Stuart

Über Douglas Stuart

Biografie

Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitete. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, der in 40 Ländern erschien und zum Weltbestseller wurde, erhielt er den Booker Preis...

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