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Zeit der Eismonde (Zeit der Eismonde 2)Zeit der Eismonde (Zeit der Eismonde 2)

Zeit der Eismonde (Zeit der Eismonde 2) Zeit der Eismonde (Zeit der Eismonde 2) - eBook-Ausgabe

Anett E. Schlicht
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Schattenläufer

„Im zweiten Roman der Reihe Zeit der Eismonde geht es deutlich tiefer hinein in die Fantasywelt: Magische Sprüche, Götter, geheimnisvolle Gaben, Schattenwölfe und andere gefährliche Wesen und große Reiche, die Krieg gegeneinander führen. Es gibt viele spannende Situationen, Mysterien und Action. Das besondere an der Schreibweise von Anett E. Schlicht: Nicht nur die offensichtlich guten Charaktere werden begleitet, zudem werden Szenen mit düsteren Gestalten beschrieben. So erfahren wir auch etwas über das Innenleben der Bösen.“ - NDR

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Zeit der Eismonde (Zeit der Eismonde 2) — Inhalt

Die Zeit der Eismonde hat begonnen, ein Winter, der viele Mondzyklen andauern wird. Ouwen ist auf dem Weg zu den Nordinseln, als ein schwerer Eissturm das Schiff von seinem Kurs abbringt. Doch nicht der Sturm ist sein wahrer Feind: Seine Widersacher sind näher, als er glaubt, und werden jetzt nicht nur ihm, sondern auch seinen Begleitern zum Verhängnis. Währenddessen unternimmt Mattes den riskanten Versuch, das zugeschneite Nordgebirge zu überqueren, um ein Versprechen zu halten. Auch Hayden folgt dem Pfad der Götter und trifft in der Königsstadt Esgar auf unerwartete Verbündete, die ihn in die Stadt der Toten führen ..

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 03.08.2020
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-28221-5
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€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 03.08.2020
416 Seiten
EAN 978-3-492-99603-7
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Leseprobe zu „Zeit der Eismonde (Zeit der Eismonde 2)“

Kapitel 1
Nördliches Eismeer, an Bord des Handelsschiffes Alvar

Ouwen lag auf dem Rücken und lauschte dem Geräusch der Wellen, die hartnäckig gegen die Planken des Schiffes schlugen. Es klang fast wie ein schlagendes Herz.

Das Windlicht warf tanzende Schatten auf seine Koje und die hölzernen Balken, welche sich über ihm an der Decke des Schiffsbauches wölbten. Seufzend verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. Sie waren seit fünf Tagen unterwegs und er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, kein festes Land mehr unter den Füßen zu haben. Er warf einen [...]

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Kapitel 1
Nördliches Eismeer, an Bord des Handelsschiffes Alvar

Ouwen lag auf dem Rücken und lauschte dem Geräusch der Wellen, die hartnäckig gegen die Planken des Schiffes schlugen. Es klang fast wie ein schlagendes Herz.

Das Windlicht warf tanzende Schatten auf seine Koje und die hölzernen Balken, welche sich über ihm an der Decke des Schiffsbauches wölbten. Seufzend verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. Sie waren seit fünf Tagen unterwegs und er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, kein festes Land mehr unter den Füßen zu haben. Er warf einen Blick zu der Wölfin, die neben der Koje auf dem Boden lag. Ihre Ohren waren nervös angelegt. Sie schien, genau wie er selbst, dem seltsamen Schaukeln des Schiffes zu misstrauen.

Nachdenklich starrte er an die Decke. Wie lange war er bereits hier unten? Das Dämmerlicht im Laderaum ließ ihn jegliches Zeitgefühl verlieren. Er schloss die Augen und versuchte seine Sorgen für einen Moment auszublenden.

Die Alvar hob und senkte sich im stetigen Rhythmus der Wellen. Das Eichenholz schien bei jeder Bewegung des Schiffes leise zu raunen, als wollte es Geschichten erzählen, über das Meer, seine unendlichen Tiefen und seltsamen Geschöpfe, die in ihm hausten. Legenden über riesige Wellen und Stürme, die Segel und Masten wie Spielzeuge zerfetzten und ganze Schiffe in ihr nasses Grab rissen. Als er das Geräusch näher kommender Schritte hörte, wandte er den Kopf.

„Du bist wach, gut.“ Argos bleckte die Zähne. „Steh auf und komm mit an Deck. Solange die Männer noch schlafen, können wir etwas Zeit an der frischen Luft verbringen, ohne dass einer von ihnen unnütze Fragen stellt.“ Er stemmte die Hände in seine Hüften. „Ich wünschte, ich könnte mit dir deine Kampfübungen fortsetzen, aber das muss warten, bis wir die Inseln erreichen.“ Der Gestaltwandler schnalzte mit der Zunge. „Wenn mein Schwertarm bis dahin nicht eingerostet ist.“

Ouwen erhob sich von seinem Lager und strich sich die Haare zurück. „Was ist mit Grey? Kann sie mitkommen?“

Argos schüttelte den Kopf. „Nein, das ist keine gute Idee. Unter den Wachen ist Halvad, sie bleibt besser unter Deck.“

Ouwen blickte zu der Wölfin. Sie hatte seit ihrer Ankunft das Unterdeck nur selten verlassen. Es tat ihm leid, sie hier eingesperrt zu sehen, aber er konnte es im Moment nicht ändern. Halvad hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass er den seltsamen Hund nicht gerne an Deck sah. Ouwen hatte gehört, wie er mit anderen darüber geredet hatte und wollte unnötigen Ärger vermeiden.

Es tut mir leid. Er sandte ihr in Gedanken eine Entschuldigung. Die Wölfin hatte sich von ihrem Platz erhoben und rieb ihre Flanke an seinem Bein. Ouwen strich über ihr graues Fell. Er mochte den Namen, den er ihr gegeben hatte, auch wenn Argos es für unnötig hielt. Doch er fand, dass sie einen Namen verdient hatte und solange er nicht ihren wahren Namen kannte, würde er sie Grey nennen – nach dem Fluss Greyfoss, der in seiner Heimat am Fuße des Nordgebirges entsprang. Er hatte den Fluss selbst nie gesehen, aber sein Vater hatte ihm erzählt, dass das Wasser seine eisgraue Farbe nie verlor, selbst wenn im Frühjahr das Schmelzeis von den Bergen Schlamm und abgestorbene Pflanzenreste mit sich brachte.

Bleib hier! Ich werde bald zurück sein. Er griff nach seinem Mantel und folgte Argos, der zu einer Leiter am Ende des Laderaumes lief. Der Gestaltwandler stieg die Sprossen empor und öffnete die Luke. Ein Schwall eisiger Luft wehte ihnen entgegen. Ouwen senkte den Kopf und kletterte an Deck. Die Kälte brannte sich in sein vom Schlaf erhitztes Gesicht und kroch unter seine Kleidung. Er versuchte, nicht an seine warme Koje zu denken. Argos duldete kein Jammern, darin ähnelte er sehr Ouwens Vater. Mattes … Ouwen hob den Kopf und sah zu den Sternen, die hell am Firmament strahlten. Es war eine klare Nacht, keine einzige Wolke zeigte sich am Himmel. Argos hatte ihm erzählt, dass auf der Seeroute zwischen dem Schwarzmeer und dem Eismeer die Gestirne selbst während der Eismonde ihren Glanz nicht verloren. Die Kapitäne hatten auch im Winter eine gute Sicht und navigierten nach den Sternen.

„Wir werden die Inseln bald erreichen, oder?“ Er deutete zu dem hellsten Punkt hinauf. „Das dort oben ist doch Aihos, der Nordstern?“

Argos folgte seinem Blick und hob belustigt eine Braue. „Wer hat dir beigebracht, aus den Gestirnen zu lesen?“

Ouwen betrachtete die funkelnden Sterne. Sie schienen zum Greifen nah zu sein. „Mein Vater“, erwiderte er. Sein Atem bildete kleine Wölkchen vor seinem Gesicht.

„Er war ein guter Lehrer. Es sind nicht mehr als zwei oder drei Tagesreisen, die uns von Hegar trennen. Sie ist die größte der fünf Inseln im Eismeer.“ Argos ließ seinen Blick über das in Dunkelheit getauchte Meer schweifen, in dem sich das Licht der Gestirne spiegelte. „Die Götter sind nicht fern in dieser Nacht.“ Er seufzte. „Bei Aenais Bogen, ich bin froh, wenn ich wieder meine alte Gestalt annehmen kann.“

Ouwen wandte sich zu ihm um. „Kostet es dich viel Kraft?“

Argos trat an die Reling und umfasste sie mit seinen Händen. „Es ist lange her, dass ein Gestaltwechsel so lange angedauert hat, doch es geht mir gut. Ich muss nur darauf achten, dass meine Konzentration nicht nachlässt.“ Er verzog den Mund zu einem Grinsen. „Außerdem ist es ja nicht so, dass ich die ganze Zeit als alter Mann herumlaufen muss. Ab und zu mische ich mich unter die Besatzung und höre mich dabei ein wenig um.“

„Du hast dich als einer von Kapitän Thyrins Männern ausgegeben?“

„Ich bin vorsichtig gewesen. Und es war eine gute Gelegenheit, um herauszufinden, mit wem wir es hier auf dem Schiff zu tun haben.“ Argos kratzte sich am Hals. „Das Erste, was ich machen werde, sobald wir wieder Land unter den Füßen haben, ist, diese Sachen auszuziehen und ein Bad zu nehmen. Ich rieche mittlerweile genauso furchtbar wie die verlausten Seemänner, die mit uns unter Deck schlafen.“

Ouwen lachte. „Ich weiß, dass Thyrin knauserig ist, was die Wasservorräte anbelangt, aber du kannst dich ja morgen mit Seewasser abschrubben – wenn dich kleine Eisbrocken nicht stören“, fügte er spöttisch hinzu.

Argos hob die Hand und bedeutete ihm, seine Stimme zu zügeln. Ouwen folgte seinem Blick und sah zum Bug des Schiffes. Sie waren nicht allein an Deck. Er musterte die beiden Wachen, die sich leise unterhielten, während der erste Maat am Ruder stand. Die Seeroute zu den Inseln war nicht ungefährlich. Neben den Winterstürmen kreuzten immer wieder Eisberge ihre Route und es gab noch etwas anderes, das Kapitän Thyrin Sorgen bereitete. Einige Handelsschiffe waren auf dem Weg zu den Nordinseln von Piraten aufgerieben worden. In der Nacht wurden daher zusätzliche Wachposten abgestellt, die den Horizont nicht nur nach verdächtigen Eisschollen absuchten, die drohend aus dem eisigen Wasser ragten. Die Alvar war ein Handelsschiff und verfügte über keine nennenswerte Bewaffnung, doch Thyrin hatte sich vor der Abfahrt in Ragohn auf andere Weise abgesichert. An Bord befanden sich ein halbes Dutzend Krieger, erfahrene Kämpfer, die auf dem Weg zu den Inseln waren, um gegen das vahranger Heer zu kämpfen. Falls sie während der Reise auf Piraten stießen, würden die Männer ihre Waffen für den Kapitän und sein Schiff einsetzen. Als Gegenleistung hatte Thyrin ihnen freie Überfahrt und Kost garantiert. Ouwens Augen verweilten auf dem jüngeren der beiden Männer, dessen gedrungene Gestalt sich deutlich gegen die seines schlanken Kumpans abhob. Halvad hatte bei der Abfahrt aus Ragohn kaltblütig auf Grey gezielt und die Fähe beinahe getötet, wenn Ouwen ihn nicht daran gehindert hätte. Bei dem Gedanken daran, welches Risiko die Schattenwölfin auf sich genommen hatte, um zu ihm zu gelangen, begann er erneut zu frösteln. Er wandte den Blick ab und sah auf das Meer, das sich wie dunkle Seide endlos am Horizont erstreckte. Seit sie vor zwei Tagen erneut aneinandergeraten waren, wich er dem Söldner aus. Wenn es darauf ankam, würde er versuchen, Halvad wieder mit seinen Gedanken zu beeinflussen. Aber er wollte das Risiko eines offenen Streits lieber vermeiden, auch wenn es ihm schwerfiel, diesem selbstgefälligen Kerl nicht offen die Meinung sagen zu können.

Die Planken unter seinen Füßen erzitterten leise, während sich die Alvar gegen eine weitere Welle stemmte. Ouwen musste lächeln, als er daran dachte, wie die Wölfin in der ersten Nacht an Bord nicht von seiner Seite gewichen war. Sie schien dieser Art der Fortbewegung nach wie vor nicht viel abgewinnen zu können. Ihm selbst war in den vergangenen Tagen mehr als einmal flau im Magen gewesen, aber er wusste von seinem Onkel, dass es eine Weile dauern konnte, bis man seefest war. Er hob den Kopf und sah zum Nordstern empor. Heimweh überkam ihn, wie Zweifel, der sich nicht abschütteln lässt. Mit jeder Seemeile, die sie hinter sich brachten, vergrößerte sich die Distanz zu allem, was er kannte. Aber er war auch dankbar, hier zu sein. Dankbar, dass sich sein Traum, einmal auf einem Schiff über die Ozeane zu reisen, erfüllt hatte.

„Atorh … Gott der zwei Gesichter, sende deine Boten aus, deine Ohren und Augen. Ihr schwarzes Gefieder soll den Himmel verdunkeln. Leite uns durch die Stille der Nacht und den lichten Tag.“ Ouwen flüsterte das alte Gedicht, das ihm plötzlich in den Sinn gekommen war. Auf ihren Wanderungen durch die Nordinger Wälder hatte sein Vater diesen Vers oft als eine Art Schutzgebet verwendet. Die Erinnerung an ihre gemeinsamen Jagden stimmte ihn wehmütig.

„Du kennst die Tahlis-Saga?“ Argos sah ihn neugierig an.

Ouwen zuckte mit den Schultern. „Nur einige der Gebetsverse.“ Bevor er dem Mönch Guttorm begegnet war, hatte er noch nie ein Buch in den Händen gehalten, doch Ouwen wusste, dass es in der Überlieferung um die Gaben der Dreizehn und ihre Reisen in die Menschenwelt ging. Seine Mutter hatte ihm schon als Kind die Geschichten von Vihor, dem Gott des Feuers und seinem Bruder Mirhog erzählt, der den Wind und den Donner beherrschte. Und von der schönen Aenai, ihrer Schwester, der Göttin des Zorns und des Krieges. Als der königliche Erlass erschien, nur noch dem Zweigesichtigen Gott Atorh zu huldigen, hatte Ouwens Vater sich geweigert. Für ihn waren alle dreizehn Götter gleichgestellt. Die Geschwister bildeten eine Einheit und schufen dadurch ein Gleichgewicht, das gewahrt werden musste.

Der Gestaltwandler strich sich über das faltige Gesicht. „Vielleicht solltest du kurz die Wölfin – ich meine Grey – holen, damit sie etwas Auslauf hat. Halvads Wachablösung ist gerade gekommen.“ Er nickte in Richtung des Bugs.

„Eine gute Idee.“ Ouwen machte einen Schritt auf die Bodenklappe zu, doch Argos hielt ihn am Arm zurück.

„Nimm lieber die hintere Luke, damit du ihm nicht über den Weg läufst.“

Ouwen nickte. Die Söldner waren im Bug des Schiffes untergebracht, während er und Argos sowie ein Großteil der einfachen Besatzung in den Laderäumen des Zwischendecks schliefen.

„Ich bin gleich zurück“, antwortete er.

„Das will ich hoffen. Bei der Kälte möchte ich nicht ewig hier rumstehen. Bring den Weinschlauch mit, der unter meiner Matratze liegt. Der Branntwein von Guttorm ist das Einzige, was meine Gedärme noch auftauen kann.“

Ouwen verkniff sich eine Erwiderung. Er hatte das widerliche Gebräu nur ein einziges Mal probiert und danach dankend darauf verzichtet. Lieber fror er, anstatt diese Erfahrung zu wiederholen. Er bevorzugte frischen, warmen Met oder Bier, doch beides war auf dem Schiff Mangelware. Der Kapitän wollte nüchterne Männer, auf die er sich jederzeit verlassen konnte und ließ daher Alkohol nur zu besonderen Anlässen ausschenken. Ein Grund, warum Argos seinen Weinschlauch wie einen wertvollen Schatz hütete.

Ouwen schob seine Kapuze zurück und machte sich auf den Weg, die Wölfin zu holen. Doch Grey lag nicht mehr auf dem Boden neben seiner Schlafstatt. Er rief sie über seine Gedanken, erhielt aber keine Antwort. Zwischen seinen Brauen erschien eine tiefe Furche. Warum kam sie nicht zu ihm? Er hatte ihr eingeschärft, den hinteren Teil des Frachtraums, in dem sich ihre Kojen befanden, nicht zu verlassen. Angespannt machte er ein paar Schritte auf die Ladung zu, die an den Seiten des Schiffsbauches festgebunden war. Die schweren Kisten und Säcke stapelten sich bis unter die Decke. Ein Rascheln drang an sein Ohr. Ouwen fuhr herum und hob die Laterne, die er vom Oberdeck mitgebracht hatte, vor sein Gesicht, um besser sehen zu können. In einer dunklen Ecke leuchteten ein Paar Augen auf. Das Tier starrte ihn an und kam zögernd näher. Eine dunkelgrau gefleckte Schnauze wurde im Lichtkegel der Lampe sichtbar.

„Grey!“ Ouwen ließ den Arm sinken und ging in die Hocke. Die Fähe schien sich aus irgendeinem Grund in einen Spalt zwischen der Ladung und der Schiffswand zurückgezogen zu haben. „Es ist alles gut, du kannst rauskommen“, murmelte er. Die Flanken der Fähe zitterten, als sie sich ihm näherte. Seine Erleichterung verschwand, als er die Furcht der Wölfin spürte. Ouwen streckte die Hand aus und strich über ihren Rücken. Er konnte ihren Herzschlag fühlen, der viel zu schnell gegen die Rippen pochte.

Was ist geschehen? Statt einer Antwort lehnte Grey ihren Kopf gegen seine Schulter. Ihr Fell war klamm und roch nach Schnee, es erinnerte ihn an ihre gemeinsame Zeit in den Wäldern. Ouwens Blick glitt zu dem Windlicht, das an der Wand befestigt war. Die kleine Laterne schaukelte in ihrer Halterung und schlug immer wieder gegen das Holz.

„Warte hier auf mich.“ Er zog sein Messer und ging auf ein paar Kisten zu, hinter denen zwei Männer in ihren Kojen schliefen. Seine Finger umschlossen die Klinge. Es blieb ruhig, nur die Planken des Schiffes ächzten, es klang wie ein müdes Stöhnen. Erleichtert wandte er sich ab und lief zu seinem und Argos’ Lager. Wahrscheinlich war die Wölfin einfach nur verängstigt, weil sie das Wanken des Schiffes beunruhigte. Er nahm sich vor, sie nicht mehr so oft hier unten allein zu lassen.

Komm mit mir! Er gab Grey ein Zeichen, ihm zu folgen. „Ich bringe dich an die frische Luft.“

Die Fähe hob den Kopf und winselte leise als Antwort.

Ouwen nickte ihr aufmunternd zu und suchte nach Argos’ Weinschlauch. Zufrieden befestigte er ihn an seinem Gürtel, dann ging er auf die hintere Luke zu.

 

Die Wölfin wandte zögernd ihren Blick von den Schatten ab, die wie die langen, dünnen Tentakel eines Kraken über die blank gescheuerten Planken und Wände des Schiffes krochen, und folgte ihm.



Kapitel 2
Totenviertel, außerhalb der Stadtmauern Esgars

Der Schnee knirschte wie vertrocknetes Laub unter seinen Füßen. Die Sonne hatte den Zenit bereits überschritten und versank zwischen den Baumkronen des alten Waldes, dessen Ausläufer sich bis zum Totenhügel erstreckten.

Hayden wandte sich um. Die Schatten wurden länger und glitten furchtlos zwischen die Mauern und in die Ritzen der altersschwachen Häuser, welche sich dicht an den Hügel schmiegten. Das Totenviertel hatte seinen Namen nicht ohne Grund erhalten. Der Friedhof für die Armen war vor vielen Jahren außerhalb der Stadtmauern errichtet worden. Die Gräber ragten aus der gefrorenen Erde, mit Steinen aufgehäufte Hügel, deren Silhouetten schlafenden Tieren glichen. Wächter der Unterwelt, die die Pforten zu Atorhs Reich beschützten.

In Gedanken versunken steckte er seinen Beutel unter das Hemd und lief weiter. Die schmalen Gassen waren menschenleer. Niemand außer ihm schien unterwegs zu sein. Sein Blick blieb über einem der Hauseingänge hängen, wo ein Schild angebracht war. Die schwarzen Lettern auf dem verwitterten Holz verblassten bereits.

Die Toten wachen über Euch.

Hayden hob die Mundwinkel und musterte das Gebäude, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Die Farbe, in der die grob verputzten Wände einst erstrahlt sein mochten, war längst abgeblättert. Nun wies es mehr Ähnlichkeit mit dem Schmutz auf, der den Schnee unter seinen Füßen dunkel färbte. Er sah zu den Schindeln des Daches empor, die bei jedem Windstoß unruhig klapperten und drohten, auf die Straße herabzufallen. Ein ächzendes Knarren erklang und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Tür. Hayden senkte den Kopf und verbarg sich im Schatten der Hauswand.

Der Mann, der aus dem windschiefen Haus trat, über dessen Tür die seltsame Botschaft prangte, war ganz in Schwarz gekleidet. Sein kantiges Gesicht war von Furchen durchzogen. Um seinen Hals hing eine Kette aus ineinander verschlungenen, silbernen Gliedern, deren Anhänger in den Falten seines Gewandes verschwand. Halbschatten kniff die Augen zusammen. Ein Totengräber. Er kannte das Zeichen der Zunft. Es war ein Kreis, in dessen Mitte ein Auge prangte.

Der Mann zog seinen zerschlissenen Umhang zurecht und tastete nach dem Paket, das er unter dem Arm trug. Dann schloss er die Tür hinter sich und lief die Gasse entlang, ohne sich noch einmal umzusehen.

Halbschatten blickte der hageren Gestalt nach, die hinter einem Haus verschwand, und verließ sein Versteck. Er würde seine Suche fortsetzen, allerdings tat sich eine unerwartete Schwierigkeit auf. Das Königshaus hatte eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Jeder, der nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen aufgegriffen wurde und nicht das königliche Siegel trug – oder einen anderen, triftigen Grund aufwies, warum er dem Befehl zuwiderhandelte –, musste mit harten Strafen rechnen.

Hayden fuhr sich durch die halblangen Haare. Er fürchtete sich weder vor den Wachen noch vor dem Mann, der ihnen die Befehle erteilte, aber es war besser, unsichtbar zu bleiben, solange er den Dieb nicht aufgestöbert hatte. Zum Glück hatte der Totengräber anderes im Kopf gehabt, als seine Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die im Zwielicht der Gasse verborgen lagen. Sein Blick wanderte über den Hügel. Er hatte bereits in der Stadt nach dem Jungen gesucht. Erfolglos. Doch er würde nicht aufgeben, selbst wenn er das gesamte Totenviertel dafür auf den Kopf stellen musste. In Gedanken rief er nach Elox, der über dem Hügel still seine Bahnen zog.

Halte Ausschau, mein Freund.

Während die Nachtkälte mit ihrem eisigen Atem den Schnee gefrieren ließ und die Dunkelheit ein schwarzes Tuch über das Armenviertel ausbreitete, durchquerte Hayden die Gassen und Hinterhöfe auf der Suche nach einer Spur, einem Gedanken, der ihm die richtige Richtung wies.

Der Novâl flog voraus. Lautlos schwebte er über die Siedlung und spähte nach dem, was sie suchten, bereit, jederzeit hinabzustoßen, um seinem Gefährten beizustehen.

Handelsstadt Berun, in der Nähe des Schwarzen Tores. Zwei Tage zuvor

Hayden ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Es war Markt und die Menschen strömten aus allen Ecken der Stadt auf den großen Platz zu den Händlern, die ihre Stände dicht an dicht in der Nähe des Schwarzen Tores errichtet hatten. Er zog seine Kapuze tiefer in die Stirn. Er war nicht wegen der exotischen Waren gekommen, die überall feilgeboten wurden. Er suchte etwas wesentlich Wertvolleres.

Nur ein paar Schritte entfernt brüllte ein widerspenstiger Ochse, der von seinem neuen Besitzer über den Platz geführt wurde. Hayden lief weiter und ignorierte die lockenden Rufe der Marktleute. Bevor er die Stadt verließ, würde er sich mit Nahrung und Wasser für die nächste Etappe seiner Reise eindecken, doch zuerst musste er etwas anderes erledigen.

Er wich den Menschen aus, die geschäftig über den Platz eilten, und hielt sich dicht an der knapp sechs Fuß hohen Mauer, welche zum inneren Ring der Befestigung gehörte. Berun war eine wohlhabende Stadt, die zweitgrößte Handelsstadt nach Esgar. Es gab nichts, was man nicht an den Marktständen für ein paar Münzen erwerben konnte, und man traf Kaufleute, die von den äußeren Rändern der bekannten Welt angereist kamen, um hier ein gutes Geschäft zu machen. Hayden musterte die Händler, die lautstark ihre Waren anpriesen. Selbst während der Eismonde schien das Leben in den engen Gassen der Felsenstadt zu pulsieren.

Er neigte den Kopf und sog den salzigen Geruch ein, der über die Mauern zu ihnen herüberwehte. Der Seewind trug die hungrigen Schreie der Möwen von den Klippen herauf, aus deren grauen Sandsteinfelsen die Stadt vor langer Zeit geschlagen worden war. Die Witterung an der südöstlichen Küste war milder als im Inland, wo die Kälte des Winters sich wie ein eiserner Ring um die Herzen der Menschen legte. Sein Blick fiel auf einen überdachten Karren, der ihm den Weg versperrte. Der Händler winkte ihn heran und zeigte auf seine kostbaren, farbigen Stoffe, die den Wagen mit bunten Tupfen versahen.

„Nur die beste Ware, mein Herr.“ Der Mann zog ein besonders feines Tuch hervor und hielt es Hayden vor die Nase.

Halbschatten schüttelte den Kopf und tastete nach dem Paket in seiner Manteltasche. Weder der kostbare Stoff, der in der Sonne wie durchscheinendes Silber glänzte, noch Informationen waren umsonst. Alris erwartete eine Bezahlung für seine Dienste. Er würde dem Mann etwas geben, das er nicht abschlagen konnte.

Hayden umrundete den Karren und verließ den Platz durch eines der kleineren Seitentore. Der innere Mauerring umfasste insgesamt sechs Torbögen, wobei das Schwarze Tor im Zentrum der Stadt das größte und durch seine auffällige Bauweise auch das beeindruckendste war. Der massive, dunkle Sandstein und seine schiere Größe flößten nicht nur Fremden Ehrfurcht ein, die zum ersten Mal die Stadt betraten. Auf den Säulen waren Episoden aus der tausendjährigen Geschichte der Handelsstadt abgebildet. Um den Torbogen gruppierten sich Fresken Furcht einflößender Lindwürmer und Seeschlangen, die sich um steinerne Ranken wanden. Sie blickten wachsam auf die Bewohner der Stadt herab, die täglich durch das mächtige Tor schritten.

Hayden stieg die Stufen einer Steintreppe hinunter und tauchte in die Gasse ein, die dahinterlag. Eine schmale Schlucht zwischen den Häusern, in der sich das Licht verlor. Für die Menschen, die ihm entgegenkamen, war er kaum mehr als ein weiterer Schatten, ein unbedeutender Fremder in einer Stadt, in der das Fremdartige Normalität war. Er nutzte seine Gabe, um ihre Gedanken zu lesen. Seit er in Berun angekommen war, hatte er nach den Häschern des Königs Ausschau gehalten. Bislang hatte er den Söldnern, die ihren Dienst für die Krone in der Hafenstadt verrichteten, ausweichen können. Man schien nicht nach ihm zu suchen, doch das konnte sich schon bald ändern. Die Erinnerung an jene Nacht in Ragohn ließ ihn die Kiefer hart aufeinanderpressen. Er hatte Guttorm am Morgen nach dem Kampf neben den Ruinen des Klosters begraben, aus denen noch Tage später dunkler Rauch aufgestiegen war.

Hayden senkte den Blick. Er selbst war unverletzt geblieben. Anscheinend waren die Götter noch nicht bereit, ihn aus seiner Verantwortung zu entlassen. Aus den Augenwinkeln sah er einen Mann näher kommen, dessen farbenprächtiger Umhang und lautstarkes Verhandlungsgeschick ihm bereits auf dem Markt aufgefallen waren. Sein Blick streifte die beiden Begleiter des Händlers, die ein paar Schritte hinter ihm liefen. Sklaven, deren Gedanken mehr über ihren Herrn verrieten, als ihm lieb sein konnte. Auf Haydens Gesicht stahl sich ein Lächeln. Der Mann kam ihm gerade recht.

Er ging auf den Fremden zu und neigte den Kopf. „Mein edler Herr!“ Hayden konzentrierte sich ganz auf die Illusion und ließ den Mann dabei nicht aus den Augen.

Der Händler wandte sich zu ihm um und starrte angewidert auf das zerschundene Gesicht, das Hayden ihm zeigte.

„Was willst du? Geh mir aus dem Weg.“

„Ich bitte untertänigst um eine milde Gabe. Es hat einen Brand gegeben, seht doch … die Mauern sind noch ganz verkohlt.“ Haydens Pupillen weiteten sich. Seine verschorften Lippen pressten sich zusammen. „Wir sammeln für das Ven-Rah der Stadt und den Wiederaufbau der Häuser.“

Der Händler sah sich um und blickte überrascht auf die schwarz verfärbten Mauern der Gasse. „Es hat in der Stadt gebrannt? Warum habt ihr mir nichts davon gesagt?“ Er wandte sich zu seinen Begleitern um. „Geht zu den Lagerhäusern und seht nach, ob alles in Ordnung ist. Beeilt euch, oder meine Peitsche macht euch Beine!“

Die beiden Männer nickten und hasteten davon.

„Mein Herr!“ Hayden machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich bin nur ein unbedeutender Mönch, doch ich verspreche Euch – Euer Name wird in die Lobpreisungen der heiligen Messe eingehen, wenn Ihr Eure Güte durch eine Spende zeigt.“

Der Händler wollte weitergehen, doch etwas an Haydens Blick hielt ihn zurück. „Ich werde …“ Er ließ den Satz unvollendet und griff zögernd an seinen Umhang.

„Es gibt nichts Besseres, als sich von Unnützem zu erleichtern, nicht wahr?“

Der Mann nickte, scheinbar von sich selbst überrascht, zog einen prall gefüllten Beutel mit Münzen hervor und legte ihn in Haydens ausgestreckte Hand. Dann streifte er zwei der goldenen Armreife von seinem Handgelenk und gab sie ebenfalls dazu.

„Mögen die Götter Euch für Eure Güte belohnen.“ Hayden ließ die Spenden in seinem Mantel verschwinden und achtete nicht länger auf den Händler, dessen verwirrter Blick durch die Gasse irrte. Zufrieden mit sich klopfte er auf seine Tasche, er würde die Münzen auf seiner Reise gut gebrauchen können. Vielleicht schloss er sich der Handelskarawane an, die am kommenden Tag zur Königsstadt aufbrach. Seine Finger fuhren an seine Wange und Zorn wallte in ihm empor, als er an den Mann dachte, dem er die Narbe auf seinem Gesicht verdankte. Doch es war nicht Rache, weshalb er nach Esgar wollte.

Halbschatten lief die Gasse entlang, die sich wie das Innere eines Schneckenhauses um einige Häuserecken wand, und blieb vor einem Gebäude stehen. Dessen hell getünchte Holzwände schienen mit dem Stein des dahinter aufragenden Felsens verbunden zu sein. Er hob die Hand und klopfte an die verwitterte Tür. Aus dem Inneren des Hauses waren Schritte zu hören. Kurz darauf erschien der Kopf einer älteren Frau im Türrahmen. Sie warf einen Blick in die Gasse hinter ihm, dann trat sie, ohne ein Wort zu sagen, beiseite und ließ ihn herein.

Hayden blieb auf der Schwelle stehen und sah sich um. Der Eingang führte in ein halbrundes Zimmer, dessen hintere Wände aus grauem Felsgestein bestanden. Er schob die Kapuze zurück und betrachtete die matt glänzenden Steinwände. Alris’ neues Heim war eindeutig interessanter als die farblose Behausung am Hafen, welche er früher einmal bewohnt hatte.

Die Frau schloss die Tür und musterte ihn mit ihren mandelförmigen, dunklen Augen, die von tiefen Falten umrahmt waren. „Alris erwartet Euch bereits.“

Hayden folgte ihr durch einen schmalen, langen Korridor und versenkte fröstelnd die Hände in den Taschen seines Mantels. Wie tief waren diese Wohnstätten in die Felsen eingelassen? Er tastete nach den Gedanken der Frau, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie schien in Gedanken mehr mit Alltäglichem beschäftigt zu sein, als mit dem Besuch, der jede ihrer Bewegungen verfolgte.

Hayden zog den Kopf ein und trat in einen kleinen Raum. Es roch nach Bienenwachs und noch nach etwas anderem, das er zuerst nicht bestimmen konnte. Suchend blickte er sich um und entdeckte schließlich eine Schale auf dem Tisch neben sich, in der einige Heilkräuter verbrannten. Weißer Rauch stieg von dem Gefäß auf und kitzelte ihn unangenehm in der Nase.

„Wartet hier.“ Die Frau nickte ihm zu, dann wandte sie sich ab und ließ ihn allein zurück.

Hayden strich mit der Hand über die raue Holzplatte. Er hoffte, dass Alris ihn nicht zu lange warten ließ. Es war sicherer, wenn er in sein Versteck zurückkehrte, bevor die Nacht anbrach. Er durfte es nicht riskieren, entdeckt zu werden.

Eine Tür auf der anderen Seite des Raumes öffnete sich und ein Mann trat ein. Als er Hayden sah, breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus.

„Der Schattenläufer in meinem Haus. Welch eine Ehre!“ Er deutete spöttisch eine Verbeugung an.

Hayden seufzte. Alris hatte schon immer das Talent gehabt, in den unpassendsten Momenten zu viele Worte zu benutzen. „Es freut mich, dass du wohlauf bist … Alris.“

Der Mann lachte und setzte sich an den Tisch. „Bist du festgewachsen? Setz dich, ich habe frischen Met. Der wird dich aufwärmen.“ Alris schob sich das kurz geschnittene, dunkle Haar aus der Stirn und sah Hayden auffordernd an.

Hayden folgte seiner Einladung und nahm dankbar den vollen Becher, den sein Freund ihm reichte.

„Ich weiß, du bist schlimmere Temperaturen gewöhnt, aber für uns hier in Berun sind die Eismonde wie eine Krankheit, vor deren Ansteckung man sich fürchtet.“ Alris schnaufte unwirsch. „Ich fühle mich, als würden mir täglich mehr Eiszapfen an den Zehen wachsen.“ Der Händler trank einen Schluck der goldbraunen Flüssigkeit.

„Der Winter hat gerade erst begonnen.“ Hayden prostete ihm zu. „Warte, bis die ersten Eisstürme auf die Küste treffen, dann sprechen wir uns wieder.“

Alris verzog das Gesicht. „Du hast recht und ich fürchte den Tag, wenn das Wasser in der Hafenmündung vereist und wir das Frühjahr abwarten müssen, bis wir wieder Schiffe hinausschicken können.“

Hayden schwieg. Berun war eine Hafenstadt, die vor allem von den kurzen Seewegen zu den Inselketten in der Talurischen See profitierte. Doch es hatte keinen Sinn, sich über etwas den Kopf zu zerbrechen, was sich nicht ändern ließ. Die Götter bestimmten den Rhythmus der Jahreszeiten. Die Zeit der Eismonde war gekommen und selbst wenn sie es gewollt hätten, es stand nicht in ihrer Macht, das zu ändern.

„Du weißt, warum ich hier bin?“ Er hob fragend den Blick.

Alris schwenkte den Inhalt seines halb leeren Bechers. „Dein … Bote hat mir vor zwei Tagen die Nachricht überbracht, dass du zu uns kommst.“ Seine graublauen Augen musterten Hayden. „Dafür kann es nur einen Grund geben. Du brauchst etwas, das es so auf dem Markt nicht zu kaufen gibt.“ Er lächelte wissend und entblößte dabei eine Reihe ebenmäßiger Zähne, von denen zwei vollkommen vergoldet waren. „Also, wobei kann ich dir behilflich sein?“

„Ich brauche Informationen.“

Alris nickte. „Das dachte ich mir.“

Hayden zögerte. Er kannte den Händler seit vielen Jahren und vertraute ihm, doch es war sicherer, für Alris genauso wie für ihn selbst, wenn er ihm nicht alles erzählte.

„Ich bin auf dem Weg nach Esgar“, fuhr er fort. „Es gibt etwas, das ich dort erledigen muss.“

Alris zog eine seiner fein gezupften Brauen hoch. „Esgar? Soso, muss etwas sehr Wichtiges sein, wenn du mitten im Winter durch das Land reisen willst.“ Er sah ihn lauernd an. „Wirst du mir den Grund verraten?“

Hayden drehte den Becher in seiner Hand. Eine geschnitzte Seeschlange wand sich auf dem Holz, das Symbol für Alris’ Handelshaus. „Ich suche jemanden, dem ich dort vertrauen kann. Jemand, der Zutritt hat zum Königshaus.“

Alris pfiff durch die Zähne.

„Wirst du mir helfen?“

„Wirst du mir sagen, welche Art von Informationen du benötigst?“, entgegnete Alris statt einer Antwort.

„Nein, das werde ich nicht.“ Hayden schüttelte den Kopf. „Ich habe meine Gründe dafür.“

„Nun, dann muss ich das wohl akzeptieren. Fürs Erste.“ Alris lehnte sich zurück und trank einen Schluck Wein. „Ich denke, es gibt einen Weg, wie ich dir helfen kann. Wie du weißt, verfüge ich über ein dichtes Netzwerk von Informanten, die dir jede Auskunft beschaffen können, die du benötigst. Selbst in Esgar. Doch es wird nicht einfach sein und es hat seinen Preis.“ Er beäugte Hayden über den Rand seines Bechers. „Die Frage ist, was du bereit bist, mir für meine Hilfe zu zahlen?“

Hayden warf einen Blick auf die an der Wand aufgereihten Regale, auf denen neben zahlreichen kunstvollen Skulpturen auch drei kleine Schiffsmodelle standen, die exakte Kopien von Alris’ Handelsschiffen waren. Sein Freund gehörte nicht ohne Grund zu den erfolgreichsten Geschäftsleuten der Stadt. Sein Mundwinkel zuckte. Alris hatte es schon immer verstanden, für sich den besten Preis herauszuschlagen.

„Ich denke, ich habe etwas, das dir gefallen könnte.“ Hayden zog das Päckchen hervor, das er seit ein paar Tagen bei sich trug, und schob es Alris entgegen.

Der Blick des Händlers wanderte neugierig über den Tisch. „Nun, deine Mitbringsel waren bisher immer vielversprechend.“ Er setzte den Becher ab. Als er die Lederhaut auseinanderschlug und ein Dolch zum Vorschein kam, blinzelte er überrascht. Der Griff der Waffe war aus purem Silber. Kostbare Edelsteine waren in das Metall eingelassen und funkelten hell im Schein der Kerzen.

„Was für ein erlesenes Werkzeug“, murmelte er und nickte dann zufrieden. „Ich denke, wir werden uns einig.“ Alris nahm den Dolch und wog ihn in der Hand.

Über Haydens Lippen glitt ein Lächeln. Er hatte gewusst, dass das Ohr Beruns einem solchen Angebot nicht widerstehen konnte. Alris war nicht nur ein Händler, der ebenso mit Informationen wie mit wertvollen Gütern handelte, sondern auch Sammler. Und er liebte außergewöhnliche, kostbare Dinge.

„Das hatte ich gehofft.“ Er setzte den Becher an seine Lippen.

Die Finger des Händlers lösten sich von dem Dolch. Alris erhob sich und ging ein paar Schritte durch das Zimmer. Schließlich blieb er stehen und drehte sich zu Hayden um.

„Es ist nicht einfach, an Informationen zu gelangen, die das Königshaus betreffen. Jedenfalls nicht an solche, die du anscheinend benötigst.“ Er zupfte an seiner Nase, die für sein Gesicht etwas zu lang geraten war. „Es gibt aber jemanden in Esgar, der dir vielleicht helfen kann. Ich vertraue ihm, auch wenn er noch sehr jung ist.“

„Von wem sprichst du?“

„Es ist ein Junge, ein Gassenkind.“

Hayden hob die Brauen. „Du meinst einen dieser unzähligen kleinen Diebe, die Esgars Oberschicht um ihre Barschaft erleichtern?“

„Er stiehlt, um zu überleben“, erwiderte Alris ungeduldig. „Ich kannte seinen Vater, er starb vor einigen Jahren. War ein guter Mann.“ Er ging zurück zum Tisch und setzte sich. „Der Junge schafft es, einem Huhn das Ei direkt unter dem Hintern wegzustehlen. Und er ist sehr begabt darin, Informationen zu beschaffen. Jede Art von Informationen.“

„Wie ist sein Name?“ In Haydens Stimme schwang Skepsis mit.

Alris goss sich Wein nach. „Diebe haben keine Namen, genauso wenig wie Informanten. Es gibt aber etwas, woran du ihn erkennen wirst.“ Er griff in die Falten seines Umhangs.

Hayden starrte auf den kleinen, dunkelgrünen Stein, den der Händler hervorzog. „Ein Obsidian?“

Alris warf ihm das Glasstück zu. „Hier, du wirst es brauchen.“

Hayden fing es überrascht auf und strich über die kalte, glänzende Oberfläche. Diese Art von Rauchsteinen fand man nur in der Nähe von Vulkanen, wie es sie auf einigen der Nordinseln gab. Die fahrenden Händler brachten sie mit auf das Festland, wo sie auf den Märkten als Schmucksteine verkauft wurden.

„Wenn du in Esgar bist, geh zu dem alten Friedhof. Bei den Häusern der Armen treibt er sich oft herum. Oder halte auf dem Markt nach einem Jungen mit rabenschwarzem Haar und grünen Augen Ausschau, der versucht, dir deine letzten Münzen aus der Tasche zu ziehen.“ Alris grinste. „Er wird wissen, dass ich dich geschickt habe, wenn du ihm den Obsidian zeigst.“

Hayden umschloss das Glasstück mit der Hand. „Ich danke dir.“ Er ließ den Rauchstein in seine Tasche gleiten.

Alris nickte. „Schick deinen Vogel zu mir, falls du Hilfe benötigst.“

„Das werde ich.“

Der Händler beäugte ihn abwägend. „Nimm dich in Acht, Schattenläufer. Esgar hat mehr Geheimnisse, als unsereinem gut bekommt. Und sag dem Jungen, dass er hier jederzeit willkommen ist. Seine Talente sind außergewöhnlich.“

„Ich werde daran denken.“ Hayden stand auf. Es wurde Zeit, dass er aufbrach. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich und die Schatten der Nacht erwarteten ihn bereits.

Anett E. Schlicht

Über Anett E. Schlicht

Biografie

Anett E. Schlicht wuchs in Mecklenburg-Vorpommern auf und lebt als freie Journalistin und Autorin in Hamburg. Sie ist Fantasy- und Science-Fiction-Fan, Serien-Junkie und reist gern, vor allem nach Skandinavien. Schon als Kind liebte sie Märchen und fantastische Erzählungen – und die...

Medien zu „Zeit der Eismonde (Zeit der Eismonde 2)“
Pressestimmen
NDR

„Im zweiten Roman der Reihe Zeit der Eismonde geht es deutlich tiefer hinein in die Fantasywelt: Magische Sprüche, Götter, geheimnisvolle Gaben, Schattenwölfe und andere gefährliche Wesen und große Reiche, die Krieg gegeneinander führen. Es gibt viele spannende Situationen, Mysterien und Action. Das besondere an der Schreibweise von Anett E. Schlicht: Nicht nur die offensichtlich guten Charaktere werden begleitet, zudem werden Szenen mit düsteren Gestalten beschrieben. So erfahren wir auch etwas über das Innenleben der Bösen.“

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