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Zitronensorbet-Stunden (Die Kochschule 2) Zitronensorbet-Stunden (Die Kochschule 2) - eBook-Ausgabe

Lea Benthin
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Roman

— Nostalgische Saga rund um die Schülerinnen einer Kochschule in den 1960ern
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Zitronensorbet-Stunden (Die Kochschule 2) — Inhalt

Die Kochschule und ihre Schülerinnen beschreiten neue Wege 

1963: Während Edith an der konservativen Ausrichtung der Kochschule festhält, spürt ihre Tochter Inga, dass es Zeit ist für Veränderungen. Die vielen Kämpfe mit ihrer Mutter sind nervenaufreibend, doch ihre Jugendliebe Josh unterstützt Ingas Ideen. Frischen Wind bringt die Schülerin Margarethe mit, die nach einem Skandal neu anfangen möchte. Während eines heimlichen Ausgangs lernt sie den Studenten Frank kennen und verliebt sich in ihn. Doch diese Beziehung führt dazu, dass Edith von ihrer dunklen Vergangenheit eingeholt wird, und schon bald vor einer Entscheidung steht, die alles verändert.

Zweiter Band der mitreißenden Saga „Die Kochschule“.

€ 13,00 [D], € 13,40 [A]
Erschienen am 30.11.2023
304 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-31762-7
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 30.11.2023
304 Seiten
EAN 978-3-492-60496-3
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Leseprobe zu „Zitronensorbet-Stunden (Die Kochschule 2)“

Kapitel 1

Ursula Michels wollte heiraten. Dieses Ansinnen wurde von ihren Eltern nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich unterstützt. Somit gab es auch keine Einwände, als Ursula den Wunsch geäußert hatte, auf die Koch- und Hauswirtschaftsschule von Edith Waltz zu gehen. Nur am Schulgeld haperte es. Zwar litt die Familie Michels keine finanzielle Not und konnte sich einmal im Jahr sogar eine Reise nach Italien leisten. So eine große Ausgabe wie das Schulgeld an einer renommierten Ausbildungsstätte für junge Damen überstieg jedoch ihre Möglichkeiten.

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Kapitel 1

Ursula Michels wollte heiraten. Dieses Ansinnen wurde von ihren Eltern nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich unterstützt. Somit gab es auch keine Einwände, als Ursula den Wunsch geäußert hatte, auf die Koch- und Hauswirtschaftsschule von Edith Waltz zu gehen. Nur am Schulgeld haperte es. Zwar litt die Familie Michels keine finanzielle Not und konnte sich einmal im Jahr sogar eine Reise nach Italien leisten. So eine große Ausgabe wie das Schulgeld an einer renommierten Ausbildungsstätte für junge Damen überstieg jedoch ihre Möglichkeiten.

Aber auch da fand sich eine Lösung, denn seit die beiden Söhne einer wohlhabenden Tante mütterlicherseits gefallen waren, war es dieser ein Anliegen, das Geld nicht ungenutzt auf dem Konto liegen zu lassen. Wenn schon ihre eigenen Kinder nichts mehr davon haben würden, so Tante Elisabeths Worte, dann sollte zumindest Ursula davon profitieren. Im Gegenzug, das war Ursula ebenfalls klar, erwartete Tante Elisabeth Tochterpflichten, wenn sie einmal nicht mehr so gut auf den Beinen sein würde. Aber bis dahin war es lange hin, die Dame rüstig wie in jungen Jahren. Dass die Schule mehr Anfragen hatte, als sie Schülerinnen aufnehmen konnte, wusste Ursula nur zu gut, aber offenbar hatte es geholfen, dass eine Freundin der Familie – Antonia Grunwald, geborene van Geels – bei der Schulleitung ein gutes Wort für sie eingelegt hatte. Und so fügte sich auch dies bestens.

Für Ursula hatte das Leben sich bisher stets von der besten Seite gezeigt. Der Krieg hatte das Haus ihrer Familie verschont, der Vater war unversehrt nach Hause zurückgekehrt, der Bruder war zu Kriegsbeginn noch ein Kleinkind gewesen. Für ihren Vater war Ursula, die er als Überraschung bei seiner Heimkehr in den Armen ihrer Mutter vorfand – das Abschiedsgeschenk eines kurzen Fronturlaubs –, schon immer der Liebling unter seinen beiden Kindern gewesen. Ursula bedeutete für ihn einen Neuanfang, unberührt von all den Gräueln, das Kind, das er verwöhnte und dem er stets nur die sonnigen Seiten des Daseins zeigte.

Jetzt würde sie das erste Mal von zu Hause fortgehen, und ihn nahm das deutlich mehr mit als seine Frau, die der Meinung war, es sei an der Zeit, dass sie den Ernst des Lebens zu spüren bekam und lernte, auf eigenen Beinen zu stehen.

„Ihr Ehemann wird ihr schon zeigen, wo es langgeht, wenn sie sich bei ihm wie ein Prinzesschen aufführt“, sagte sie stets.

„Dann hat er sie nicht verdient“, hielt ihr Vater dagegen.

Ursula hatte ganz eigene Vorstellungen von der Ehe. Natürlich würde sie sich nicht wie eine Prinzessin aufführen, sie würde die perfekte Hausfrau werden, Kinder bekommen, eine wundervolle Mutter sein und dafür von ihrem Ehemann auf Händen getragen werden und jeden Wunsch erfüllt bekommen. Sie wusste genau, wie ihr Leben verlaufen sollte, und auch, wie der Mann sein würde, der dieses mit ihr teilte.

An diesem Vormittag würde ihre Mutter sie zur Schule bringen, die Tasche stand gepackt oben, und Ursula nutzte den letzten freien Morgen, um einen Spaziergang durch die Straßen von Königswinter zu machen und hinunter an den Rhein zu gehen. Es war ein herrlicher Hochsommertag, und so flanierten viele Menschen die Rheinpromenade entlang. Sonnenlicht tanzte auf dem Wasser, das leise plätschernd ans Ufer schwappte. Einige besonders Wagemutige wateten bis zu den Knien hinein, obwohl davor stets gewarnt wurde, zu unberechenbar war der Rhein mit seinen Strömungen. Aber obwohl jedes Jahr Leute darin ertranken, schien vielfach die Meinung zu herrschen, einem selbst könne so etwas nicht passieren.

Der warme Sommerwind strich durch ihr schulterlanges blondes Haar, das Ursula kunstvoll in Wellen gelegt und mit einer Spange zurückgesteckt hatte. Sie freute sich so unbändig auf die Schule, diesen ersten Schritt in die Unabhängigkeit. Voller Rührung hatte Ursula beim Frühstück bemerkt, dass ihr Vater sich verstohlen über die Augen gefahren war. Als er sie gefragt hatte, ob er ihr für ihr letztes Frühstück unter seinem Dach eine Rosinenwecke vom Bäcker holen sollte – „die liebst du doch so sehr“ –, hatte ihre Mutter ihn angefahren und gesagt, er solle nicht so tun, als stünde ihr Ableben bevor. Diese Vorstellung hatte ihren Vater erschrocken nach Luft schnappen lassen.

Als Ursula langsam den Weg hoch zu ihrem Elternhaus zurückging, war ihr dann selbst auch etwas wehmütig zumute. Ihr Bruder Matthias, sechs Jahre älter als sie, stand vor dem Haus und schraubte an seinem Motorrad. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er eine Lehre als Mechaniker gemacht, aber ihr Vater hatte auf das Abitur und die Ausbildung in einer Bank bestanden. Das lag ihm jedoch so wenig, dass er sie mehr schlecht als recht abgeschlossen hatte und nicht übernommen worden war. Seither wusste er nichts Rechtes mit sich anzufangen und lebte in den Tag hinein. Er war jetzt fünfundzwanzig, was nach seinem Dafürhalten noch jung genug war, um einen Lebensweg einzuschlagen, der besser zu ihm passte. Fragte man jedoch ihre Eltern, so war die Zeit überreif für ihn, endlich etwas aus seinem Leben zu machen.

Er lächelte, als sie sich auf die Treppenstufe setzte und ihm dabei zusah, wie er mit liebevoller Sorgfalt Schraube um Schraube löste und sie ordentlich aufgereiht auf ein ehemals weißes Baumwolltaschentuch legte.

„Schon aufgeregt?“, fragte er, ohne aufzublicken.

„Ja, ein wenig.“

„Jetzt wird es also ernst.“

„Ich bin mir sicher, es wird ein großer Spaß.“

„Das hoffe ich doch, nachdem es dir so wichtig war, dorthin zu gehen.“ Er griff nach der Ölkanne. „Ohne dich wird es hier furchtbar still sein.“

„Ich komme ja an den Wochenenden.“

„Wenn du Freundinnen findest, die das Wochenende dortbleiben, wirst du doch sicher lieber mit ihnen etwas unternehmen.“

Ursula zuckte mit den Schultern. „Hm, mal sehen.“

Die Tür hinter ihr öffnete sich. „Liebes“, hörte sie ihre Mutter sagen, „es ist Zeit.“

Rasch erhob sich Ursula und ging ins Haus, bekam noch mit, wie ihre Mutter etwas zu Matthias sagte, konnte aber nicht verstehen, was. Ihren Koffer hatte bereits jemand in den Flur gestellt, und so eilte Ursula nur noch einmal in ihr Zimmer, um nachzusehen, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Oben stand sie einen Moment da, blickte in den Raum, den sie seit ihrer Geburt bewohnte, und wieder erfasste sie für einen kurzen Moment die Wehmut. Da sie sich jedoch noch nie lange mit den Gedanken an die Vergangenheit aufgehalten hatte und sich stets auf das freute, was an Verheißungen vor ihr lag, spürte sie recht schnell auch eine freudige Erregung. Jetzt begann ihr neues Leben, und wie um diesen Gedankengang zu unterstreichen, trat sie aus dem Zimmer hinaus und zog die Tür entschlossen hinter sich zu.

 

Es blieb Margarethe Pallenberg keine Wahl, als sich mit dem Unvermeidlichen zu arrangieren. Zunächst hatte sie sich gegen die Idee der Mutter, sie wieder die Schulbank drücken zu lassen, gewehrt. Sie wollte nicht fort, denn immerhin trug sie keine Schuld an dem, was passiert war – nicht so direkt zumindest. Henning Waldfried, der sich vor einem halben Jahr in einem Tanzcafé mit gekonntem Hüftschwung in ihr Leben gedrängt und ihr recht schnell den Beweis erbracht hatte, dass er seinen Körper im Bett ebenso gewandt zu bewegen wusste wie auf der Tanzfläche, war der Einzige, den man für das Geschehene verantwortlich machen konnte. Ihr Vergehen war es lediglich gewesen, sich in ihn zu verlieben. Er jedoch hatte sie in vollem Bewusstsein betrogen, ihre Gefühle ausgenutzt. Schlimmer noch, dachte Margarethe, der dieses Bild zu schwach war – er war darauf herumgetrampelt und hatte ihr die Reste vor die Füße geworfen.

Und nicht nur das – die gesamte Gemeinde wusste mittlerweile drüber Bescheid, dass Margarethe Pallenberg nicht nur mit einem Mann geschlafen hatte, sondern dass dieser Mann auch noch verheiratet war. Seine Ehefrau hatte ihr eine große Szene gemacht, ihre Eltern waren außer sich gewesen, und von allen musste sie sich Vorwürfe anhören. Als hätte sie Henning gezwungen – dabei hatte sie von seiner Ehe gar nichts gewusst. Er war es doch, der die Initiative ergriffen hatte. Der sowohl seine Ehefrau als auch die Geliebte betrogen hatte.

Der Koffer stand gepackt im Zimmer, und Margarethe ließ sich auf ihrem Bett nieder, sah sich um in diesem Raum, der ihr immer wie ein Zufluchtsort erschienen war. Die Poster an den Wänden, der Schreibtisch, an dem sie so viele Briefe verfasst und sich Notizen in ihrem Tagebuch gemacht hatte – das alles war ihr Refugium. Jetzt war ihr klar, wie illusorisch dieser Gedanke gewesen war, denn vor dem Gerede und den Blicken konnte sie nichts schützen. Sie folgten ihr durch die Straßen Sankt Augustins bis in ihr Elternhaus.

Ihre Mutter war in Tränen ausgebrochen, hatte unter abgehackten Schluchzern gefragt, ob sich Margarethe gar hingegeben hatte. Da dies nun wahrhaftig nichts war, das man vor dem Stiefvater und den kleinen Brüdern erörterte, hatte Margarethe geschwiegen. Das wiederum war ihren Eltern Antwort genug gewesen, und ihre Mutter hatte noch schlimmer geschluchzt. Danach waren mehrere Wochen auf der Suche nach einer Lösung ins Land gegangen. Immerhin war Margarethe nicht schwanger, und so blieb ihren Eltern wenigstens dieser Skandal erspart. Im Frühjahr schließlich hatte die Mutter ihr eröffnet, dass sie einen Platz an Edith Waltz’ Koch- und Hauswirtschaftsschule für junge Damen bekommen hatte.

„Na, dann seid ihr mich ja bald los“, hatte Margarethe geantwortet, wodurch ihre Mutter sich zu einer langen Predigt bemüßigt gefühlt hatte über Margarethes künftigen Werdegang, denn um diesen sei es – und da bestünde ja nun kein Zweifel! – nicht zum Besten bestellt. Unter diesen Umständen könne Margarethe froh sein, wenn überhaupt irgendein Mann sie nähme. Aber da sie sich darauf nicht verlassen solle, wäre es doch am besten, wenn sie etwas lernte. Im ersten Jahr der Ausbildung würde sie Hauswirtschaft erlernen, das war in jedem Fall nützlich, falls sich doch noch ein Mann erbarmte. Und wenn nicht, würde sie in den kommenden beiden Jahren in der Kunst der feinen und gehobenen Küche unterrichtet. Dann könnte sie arbeiten und für sich selbst sorgen.

„Wobei deine Brüder selbstverständlich immer für dein Auskommen sorgen würden“, hatte ihr Stiefvater noch hinzugefügt, ehe der Eindruck entstand, dass seine Söhne sich vor ihren Mannespflichten drückten. Überdies hatte auch eine Tante, die als schlechtes Vorbild für die eigenen Töchter herangezogen werden konnte, einen gewissen Nutzen.

Margarethe hatte nicht vor, die Notlösung für irgendeinen Mann zu werden, und darüber hinaus fand sie die Vorstellung, für ihren Lebensunterhalt selbst aufzukommen, durchaus reizvoll. Sie wäre unabhängig und müsste nicht auf den guten Willen anderer hoffen. Mit ihren Brüdern verstand sie sich zwar gut, aber keinesfalls wollte sie bei ihnen um Geld betteln müssen, womöglich ständig missbilligend beäugt von einer Ehefrau. Nein, dachte sie, erstrebenswert war das in keinem Fall. Zwar stand ihr wirklich nicht der Sinn danach, wieder in die Schule zu gehen, und das gleich drei Jahre lang, aber irgendwie würde sie das überstehen.

Ihre Mutter spähte durch die halb offene Tür in den Raum. „Es ist Zeit, wir müssen los.“

Wortlos erhob sich Margarethe, griff nach dem Koffer und folgte ihrer Mutter durch den breiten Korridor der Wohnung. Ihre beiden Brüder – dreizehn und elf – saßen in ihrem Zimmer vor einer Modelleisenbahn. Sie blickten auf, als sie hineinging, um sich zu verabschieden. Frank, der jüngere der beiden, sprang auf, lief zu ihr und fiel ihr um den Hals, während der ältere, Ralf, sich für solche Gesten schon zu erwachsen fühlte und sich mit einem lässigen Winken und einem „bis dann“ begnügte.

Margarethes kleine Schwester, die fünfjährige Anni, saß vor dem Puppenhaus, das die halbe Wand ihres kleinen Zimmers einnahm. Als Margarethe das Zimmer betrat, unterbrach Anni das Spiel und kam zu ihr gelaufen.

„Martha ist wütend, weil Annemie ihr Kleid ausgeliehen und dreckig gemacht hat.“ Sie hielt Margarethe zwei Püppchen hin, die sie in den noch rundlichen Händen hielt. Das Kleid der einen Puppe wies in der Tat Flecke auf, die verdächtig danach aussahen, dass Anni verbotenerweise Schokolade genascht und die Püppchen mit klebrigen Fingern angefasst hatte.

„Das ist natürlich überhaupt nicht nett von Annemie“, antwortete Margarethe, die vor ihrer kleinen Schwester in die Hocke gegangen war. „Ich wasche das Kleidchen, wenn ich zu Besuch bin, ja?“

Anni nickte und schlang die Arme um Margarethes Hals. Die drückte die Kleine an sich, gab ihr einen Kuss auf die Wange und streichelte ihr über den Scheitel, der ordentlich gezogen war, um die blonden Haare in zwei Zöpfe zu binden.

„Kommst du?“ Ihre Mutter stand nun an der Tür und klang ungeduldig. „Anni, was ist das für eine Unordnung. Bis ich zurück bin, hast du hier aufgeräumt.“

Anni sog die Unterlippe zwischen die Zähne, und eine kleine Falte erschien zwischen ihren Brauen. Dafür wurde sie prompt gescholten, denn ihre Mutter duldete ein solch bockiges Verhalten nicht. Da Margarethes Stiefvater zur Arbeit war, hatte dieser sich schon nach dem Frühstück verabschiedet, und ihr war es so erschienen, als hätte er sogar ein wenig erleichtert gewirkt. Vermutlich war er froh darum, die Verantwortung für sie los zu sein – zumindest fürs Erste. Sie wäre jetzt drei Jahre in einer Schule zusammen mit anderen Frauen, und weitere Affären waren nicht zu befürchten.

Schweigend ging Margarethe mit ihrer Mutter durch den Hausflur. Als sie den Koffer zwei Stockwerke hinuntertrug, ächzte sie leise, und der abgewetzte Griff scheuerte an den Fingern. Ihre Mutter hielt ihr die Tür auf, und Margarethe trat hinaus auf die Straße und zu dem weißen Ford, der am Straßenrand parkte. Sie öffnete den Kofferraum und lud ihren Koffer hinein, dann schlug sie ihn zu und trat zur Beifahrerseite.

Mit einem Brummen erwachte der Motor zum Leben, und während ihre Mutter den Wagen auf die Straße lenkte, zündete sich Margarethe eine Zigarette an – ein Laster, dem sie nur selten frönte – und kurbelte das Fenster ein kleines Stück hinunter, um den Rauch aus dem Innenraum entweichen zu lassen. Mit einem Anflug von Bedauern beobachtete sie das Treiben auf dieser so vertrauten Straße, in der sie ihr gesamtes Leben lang gewohnt hatte. Eines der guten Wohnviertel. Hier war man wer, wie ihre Mutter und vor allem der Stiefvater stets betonten. Margarethe war niemand mehr. Niemand, den man heiratete, niemand, den man voller Stolz den Freunden vorstellte, niemand, von dem man sprach. Ein Fehltritt hatte gereicht, um sie unsichtbar werden zu lassen, als sei alles, was sie bisher ausgemacht hatte, zu fragil, um über einen Kuss und eine in Liebe gebotene Umarmung hinweg Bestand zu haben.

 

„Du bist der konservativste Mensch, den ich kenne“, sagte Inga Waltz zu ihrer Mutter. „Und das ist wirklich nichts, worauf man stolz sein kann.“ Sie standen in Ingas Arbeitszimmer, wo diese noch einige Formalitäten erledigte, ehe die neuen Schülerinnen erwartet wurden.

„Ich halte lediglich an Dingen fest, die sich bewährt haben“, entgegnete Edith Waltz. „Seit achtzehn Jahren führe ich diese Schule, habe zahlreiche Frauen auf ihrem Weg begleitet und sehe nicht, was daran falsch sein sollte.“

Inga hatte dieses Gespräch mittlerweile so oft mit ihrer Mutter geführt, sie war es leid. „Dann musst du dich nicht wundern, wenn dir irgendwann die Schülerinnen ausbleiben, denn ob du es glaubst oder nicht – auch für uns Frauen dreht die Welt sich weiter. Wir können im Jahr 1963 nicht mehr leben wie zur Nachkriegszeit. Irgendwann wird es ihnen nicht mehr ausreichen, sich nur zu einer guten Hausfrau ausbilden zu lassen.“

„Wir tun hier weit mehr als das.“

„Ja, ab dem zweiten Lehrjahr. Am Lehrplan des ersten Jahres hältst du unverrückbar fest, obwohl eine solide Berufsausbildung viel zeitgemäßer wäre. Frauen sollten lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Wozu braucht es da noch solche Dinge wie Säuglingspflege und Handarbeiten?“

„Über einen Mangel an Schülerinnen können wir uns nun wirklich nicht beklagen.“

Seufzend gab Inga es auf. Sie hätte jetzt hinzufügen können, dass die Anmeldungen zurückgingen, dass es in ein paar Jahren vielleicht schwierig sein würde, überhaupt noch genügend interessierte Schülerinnen zu finden, aber das Gespräch hatte sie schon so oft geführt. Ihre Mutter verbat sich jede Kritik, setzte ihren Willen durch und tat ausschließlich das, was sie für richtig hielt. Auch über Ingas Leben hatte sie bestimmt und vor sieben Jahren entschieden, dass sie die Schule nach der zehnten Klasse verlassen sollte, um eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin zu beginnen. Ingas Wunsch, Abitur zu machen, hatte sie als unnötig abgetan. Mädchen brauchten in ihrer Welt kein Abitur. Also hatte Inga die Ausbildung zur Hauswirtschafterin gemacht und danach noch drei Jahre die höhere Handelsschule besucht. Das war nach Meinung ihrer Mutter unabdingbar, um die Schule irgendwann weiterführen zu können.

Inga verließ das Büro und ging ins Wohnzimmer – das ihre Mutter immer noch hochherrschaftlich als ihren privaten Salon betitelte. Sie bewohnten eine großzügige Villa, in der Edith Waltz nach dem Krieg eine Schule für Hauswirtschaft und Kochen eröffnet hatte. Während Inga mit ihrer Mutter Wohnzimmer, Esszimmer und zwei Schlafzimmer als privaten Wohnraum nutzte, war die übrige Villa komplett in den Dienst der Schule gestellt worden. In der Beletage, auf der sich auch die privaten Räumlichkeiten befanden, waren die übrigen fünf Schlafzimmer für die Lehrerinnen und Lehrer untergebracht, und aus den ehemaligen Gästesalons waren zwei Wohnzimmer für das Lehrpersonal geworden. Im zweiten Stock hatte man die Zimmer in Schulräume umgestaltet, während die Schülerinnen – drei Jahrgänge mit je acht jungen Frauen – im ehemaligen Dienstbotenkorridor ihre Schlafräume hatten. Das Direktorinnenzimmer von Edith Waltz befand sich nun im ehemaligen privaten Esszimmer im Erdgeschoss, während Inga das ehemalige Büro ihrer Mutter in der Beletage hatte.

Seufzend ließ Inga sich auf das bequeme Sofa fallen – eines der wenigen Zugeständnisse an die Moderne, während die restliche Einrichtung in den Dreißigern angeschafft worden war. Da Inga mittlerweile ein Gehalt von ihrer Mutter bezog, hatte sie ihr Schlafzimmer modern eingerichtet mit einem Schrank aus Eichenholz, der auf vier schlanken Beinen stand, dazu eine passende Kommode und ein Bett, außerdem eine Stehleuchte und ein Clubsessel. Nur der Sekretär war geblieben, den mochte Inga. Und sie fand, dass er einen guten Kontrastpunkt zum Rest der Einrichtung setzte.

Es war nie Ingas Wunsch gewesen, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, aber wenn sie nun so darüber nachdachte, hatte sie im Grunde gar keine Wahl gehabt. Inzwischen hatte sie sich damit arrangiert, mehr noch, ihr gefiel die Vorstellung, die Schule irgendwann selbst leiten und junge Frauen auf das Berufsleben vorbereiten zu können.

An diesem Vormittag würden die neuen Auszubildenden eintreffen, die Frauen aus dem zweiten und dritten Lehrjahr waren bereits am Vortag aus den Ferien zurückgekehrt. Auch die Lehrerinnen und Lehrer waren da, die Haushälterin, Frau Schmitz, hatte den gesamten Sommer über immer wieder in der Schule nach dem Rechten gesehen. Die beiden Haushaltsangestellten waren schon seit einer Woche wieder da und hatten die Räumlichkeiten für die neuen Auszubildenden vorbereitet. Nun herrschte hier wieder emsige Geschäftigkeit, und das Haus war erfüllt von den Stimmen und dem Lachen der jungen Frauen.

Eigentlich hatte sich Inga um einige Unterlagen kümmern wollen, aber so recht war ihr nicht danach. Der Streit mit ihrer Mutter bewegte sie noch immer, da konnte sie sich nicht mit trockenen Rechnungsdokumenten und Buchhaltung befassen. Sie verließ das Wohnzimmer und ging in den Aufenthaltsraum des Lehrpersonals, wo sich derzeit nur die Lehrköchin des dritten Jahrgangs, Lena Heinrichs, aufhielt, zusammen mit Anita Hesse, die Lehrköchin für die Neuankömmlinge werden würde. Sie war mit Arno Hesse verheiratet, ebenfalls einem Koch, der das zweite Schuljahr unterrichtete. Anita stand am offenen Fenster und rauchte, während Lena ein Journal durchblätterte und vor sich eine Tasse Kaffee stehen hatte. Ein lauer Sommerwind wehte in den Raum und trug den Duft nach Blumen und frisch gemähtem Gras mit sich. Die beiden Frauen blickten zur Tür, als Inga eintrat.

„Guten Tag, die Damen“, begrüßte Inga sie und ließ sich auf den Sessel gegenüber von Lena fallen. „Anita, hast du eine Zigarette für mich?“

„Seit wann rauchst du?“

„Immer dann, wenn ich mich über meine Mutter geärgert habe.“

Anita lächelte, als verstünde sie das nur allzu gut, und reichte ihr die Packung. Lena, die nie auch nur eine Zigarette anfasste, krauste die Nase, sagte jedoch nichts. Außer Lena, Anita und Arno gab es noch einen gelernten Bäcker, der vor zwei Jahren hier angefangen hatte, und die Konditorin Hanne Mohnschau, die fast seit Beginn der Schule hier angestellt war.

„Ging es wieder um das übliche Thema? Wenn ich etwas zu sagen hätte“, antwortete Anita, „würde ich deine Idee unterstützen.“ Sie klopfte die Zigarettenasche ab. „Aber deine Mutter zeigt uns ja nur allzu deutlich, dass sie sich nicht dreinreden lässt. Von ihren Angestellten schon gar nicht.“

Inga verdrehte die Augen. Sie kannte die Einstellung ihrer Mutter gegenüber dem Personal nur zu gut. Was sich bewährt hatte, sollte gefälligst so bleiben. Ihre Angestellten wurden von ihr bezahlt und hatten sich zu fügen, erst recht die weiblichen. Dafür, dass ihre Mutter selbst eine Frau war, zudem Unternehmerin und seit dem Krieg auf sich allein gestellt, blieb sie, was die beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten von jungen Frauen anging, äußerst zurückhaltend. Am liebsten wäre es ihr, wenn auch Inga bald heiratete und einen Mann mit in die Führung des Unternehmens brächte.

„Ich hatte damals keine Wahl“, erklärte sie dann stets. „Ich musste allein zurechtkommen. In deiner Generation gibt es wieder viele junge Männer. Es spricht also nichts dagegen, zu heiraten und die Verantwortung abzugeben, du kannst dich um Familie und Kinder kümmern und deinen Mann in der Führung der Schule unterstützen.“

Dass die Schule Inga gehören würde und gleichzeitig von ihrem Ehemann geleitet werden sollte, stellte nach Meinung ihrer Mutter offenbar keinen Widerspruch dar. Inzwischen hatte Inga es aufgegeben, sie umstimmen zu wollen. Darüber hinaus stellten die Frauen in der Schule die Mehrheit, es hatte neben Arno auch früher nur einen weiteren Koch gegeben, der mittlerweile in Rente gegangen und von Anita ersetzt worden war. Eine der Konditorinnen, die ebenfalls nun im Ruhestand war, hatte Edith Waltz durch einen Bäcker ersetzt, was die Anzahl der Männer weiterhin stabil bei zwei Personen hielt.

Inga rauchte ihre Zigarette auf und drückte sie im Aschenbecher aus. „Dieses Schuljahr müssen wir noch durchstehen, ich sehe zu, dass ich meine Mutter zum nächsten Jahr hin überzeuge.“

„Dann viel Glück.“ Lena legte das Journal auf den Tisch und erhob sich. „Da müsste dieses Jahr ja so manches anders werden als in den Jahren zuvor, damit du Erfolg hast.“



Kapitel 2

Ursula starrte beeindruckt auf das säulenbestandene alte Herrenhaus vor ihr. Die Schule war idyllisch gelegen, eine halbe Stunde entfernt vom Kölner Stadtgebiet, umgeben von Pferdekoppeln, Wiesen und Wald. Kaum zu glauben, dass dies in den kommenden drei Jahren ihr Zuhause sein würde. Was für ein unfassbares Glück sie doch hatte. In sonnendurchfluteter Pracht präsentierte es sich, cremeweiß mit in schwarzem Holz gerahmten Sprossenfenstern, stuckverziert, mit Giebeln und Erkern, einem Turmaufsatz, hübschen Gauben und am Sockel neben dem Eingang umrankt von Rosenspalieren.

„Meine Güte“, stieß ihre Mutter hervor. „Das ist ja atemberaubend schön hier.“

Ursula schlug das Herz heftig, als sie über den Hof fuhren und der Wagen auf dem antik anmutenden Kopfsteinpflaster leicht ruckelte. Unmittelbar nach ihnen kam ein weiterer Wagen durch das Eingangsportal gefahren, an dem nur noch die Angeln an das ehemalige Tor erinnerten. Ursulas Mutter parkte das Auto und schaltete den Motor ab.

„So, da wären wir.“

In unbändiger Vorfreude stieß Ursula die Tür auf, vorsichtig, weil gerade ein Wagen neben ihnen parkte. Sie sah zu dem Haus, und das Gefühl, ein neues, verheißungsvolles Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen, machte ihr die Brust weit. Aus dem Auto neben ihr stieg ein Mann, nickte ihr freundlich zu, während vom Beifahrersitz eine junge Frau mit hellbraunen Locken – offenkundig seine Tochter – stieg. Diese warf ihr einen etwas schüchternen Blick zu und lächelte, was Ursula erwiderte.

„Guten Tag“, sagte der Mann an Ursulas Mutter gewandt und stellte sich als Heinz-Jochen Gruber vor.

„Hannelore Michels.“ Die beiden gaben sich die Hand, während die junge Frau sich Ursula als Julene Gruber vorstellte.

„Ein hübscher und ungewöhnlicher Name“, stellte Ursulas Mutter fest.

„Meine Frau kommt aus Schweden“, antwortete Heinz-Jochen Gruber.

Julene Gruber lächelte wieder ihr schüchternes Lächeln, bei dem Grübchen in ihren Wangen sichtbar wurden, und Ursula beschloss spontan, sie zu mögen. An diesem herrlichen Sommertag mit all seinen Vorzeichen einer verheißungsvollen Zukunft war es so einfach, jemanden zu mögen.

Ein weiterer Wagen fuhr in den Hof, und Ursula erhaschte den Blick auf eine Frau mit einem dunklen Pferdeschwanz, die auf der Rückbank saß und offenbar von beiden Elternteilen begleitet wurde. An der Eingangstür stand eine junge Frau, stellte sich als Auszubildende aus dem dritten Jahrgang vor, begrüßte sie und wies ihnen den Weg in die Eingangshalle. Staunend sah sich Ursula um. An der holzgetäfelten Decke hing ein altmodischer Kronleuchter, der wunderbar in diese herrschaftliche Umgebung passte. Bilder an den Wänden zeigten Absolventinnen, offenbar bei ihrem Abschluss, denn sie waren schick gekleidet und hielten Urkunden in den Händen. Neben ihnen stand immer wieder dieselbe Dame, vermutlich die Leiterin der Schule. Eine wunderschön geschwungene Treppe führte nach oben zu einer Galerie auf der ersten und zweiten Etage.

Außer Ursula und Julene Gruber befanden sich bereits drei weitere junge Frauen hier, sahen sie an und nickten ihnen zu. Es war so aufregend wie der erste Schultag, fand Ursula. Sie würden sich zu zweit ein Zimmer teilen, und sie war gespannt, welche der jungen Frauen das wohl sein würde. Die Frau mit dem dunklen Pferdeschwanz trat zusammen mit ihren Eltern ein, die Lippen in einer trotzig wirkenden Geste aufgeworfen, der Blick wenig freundlich. Na, mit der würde sie sich hoffentlich kein Zimmer teilen müssen.

Julene war die einzige Frau, die allein von ihrem Vater gebracht wurde. Neugierig sah Ursula sich um, begegnete dem Blick einer Frau mit kinnlangem blonden Haar, die ihr freundlich zunickte. Die mit dem dunklen Pferdeschwanz hielt sich abseits, und ihre Mutter sprach auf sie ein, was sie stoisch schweigend ertrug. Eine aparte junge Frau mit kurzem braunen Haar und Brille trat in Begleitung ihrer Mutter ein, begegnete Ursulas Blick und neigte den Kopf. Ihre Begleiterin lächelte Ursula an und sagte etwas zu der jungen Frau. Eine weitere Familie trat im nächsten Moment ein, die junge Frau hatte feuerrotes Haar und war sehr blass. Sie wirkte etwas unsicher, sah sich um, fing Ursulas Blick ein, und als diese lächelte, zuckte es auch kurz um die Lippen der Rothaarigen.

Gute zehn Minuten später trat eine Frau auf die Treppe, gekleidet in ein graues Kostüm, das wie maßgeschneidert auf ihren leicht ausladenden Hüften saß. Das ergraute Haar war onduliert, und in ihrer Miene zeigte sich eine nachsichtige Freundlichkeit. Allerdings sprachen die kleine Falte zwischen ihren Brauen und der harte Zug um den Mund dafür, dass sie wohl auch zu energischer Strenge fähig war. Die junge Frau an ihrer Seite mit der schicken blonden Kurzhaarfrisur hingegen wirkte offen und sympathisch.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren“, begann die Frau, „mein Name ist Edith Waltz, und dies ist meine Tochter Inga Waltz.“ Sie deutete auf die blonde Frau. „Wir freuen uns sehr, auch in diesem Jahr acht neue Auszubildende begrüßen zu dürfen.“

Nun begann eine ausufernde Beschreibung von der Geschichte der Schule, wie die Frau nach dem Krieg allein dagestanden hatte und in ihr die Idee gereift war, das große Haus jungen Damen zugänglich zu machen und sie umfassend ausbilden zu lassen. Trotz ihrer Aufregung und Vorfreude empfand Ursula das nun als sehr ermüdend und erwischte sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften und sie sich darauf konzentrieren musste, weiterhin zuzuhören. Seit achtzehn Jahren lief die Schule nun, wobei die Anfangszeit nicht als klassisches Schuljahr bezeichnet werden könne, betonte Edith Waltz. Da hatte sie acht junge Frauen aufgenommen, die Halb- oder Vollwaisen waren, und ihnen hauswirtschaften und kochen beigebracht. Daraus war dann die Idee der Schule entstanden. Ursula unterdrückte ein Gähnen.

Wieder tauschte sie einen Blick mit der Rothaarigen, und diese schien ebenso gelangweilt zu sein wie sie. In stummem Einverständnis lächelten sie einander zu. Wieder erfasste Ursula dieses Hochgefühl bei der Aussicht darauf, hier künftig zu wohnen, gemeinsam mit jungen Frauen ihres Alters. Sie würden zusammen die Abende auf ihren Zimmern oder in dem herrlichen Garten, den Ursula bereits auf den Prospekten hatte bewundern dürfen, verbringen. Insofern konnte man die langatmige Ansprache mit einiger Geduld über sich ergehen lassen.

„Abschließend“, sagte Edith Waltz nun, „darf ich die Angehörigen bitten, sich von den jungen Damen zu verabschieden. In einer Stunde wird meine Tochter, Fräulein Inga Waltz, die neuen Schülerinnen durch das Haus führen und ihnen alles zeigen. Fräulein Habermas“, sie deutete auf eine junge Dame in taubenblauem Kleid mit weißer Schürze, „hat die Listen mit der Zimmerzuteilung. Die Hausregeln haben Sie per Post bekommen, sie werden Ihnen hier aber auch noch einmal in einer handlichen Übersicht ausgehändigt. Damit darf ich mich von Ihnen, liebe Eltern, verabschieden.“

Applaus folgte, und Ursula atmete auf. Als ihre Mutter sie umarmte, stiegen ihr kurz Tränen in die Augen, und sie musste schlucken, als sie ihr nachsah, wie sie die Halle verließ. Außer bei den Großeltern hatte sie noch nie fern ihres Zuhauses eine Nacht allein verbracht, und in die Vorfreude mischte sich nun eine Wehmut, die ein Ziehen in der Brust verursachte. Jetzt war sie wohl offiziell aus ihrem Elternhaus ausgezogen.

 

Margarethe hätte gerne eine Zigarette geraucht, aber sie erinnerte sich an die Schulordnung, die dies in der Schule ausdrücklich untersagte. Ausnahmen bildeten das eigene Schlafzimmer und der Aufenthaltsraum. Während die ein oder andere junge Frau ein paar Abschiedstränen verdrückte, war sie selbst froh, es rasch hinter sich zu bringen. Nicht dass sie ihre Mutter nicht liebte, aber sie hasste solche rührseligen Szenen, vor allem, wenn man bedachte, dass sie ihrem Aufenthalt hier durchaus mit gemischten Gefühlen entgegensah.

Sie ging zu dem Tisch, an dem Fräulein Habermas saß. Dieses taubenblaue Blusenkleid war wirklich gewöhnungsbedürftig, dachte Margarethe. Es erinnerte an eine Dienstbotentracht. War das nicht sogar für eine traditionsbewusste Schule etwas zu altbacken? Vor ihr hatte sich bereits eine junge Frau am Tisch eingefunden und nannte ihren Namen. „Ursula Michels.“

Fräulein Habermas sah auf die Liste, krauste die Stirn und blickte auf. „Den Namen habe ich nicht auf der Liste.“

„Aber das ist unmöglich.“ Die Stimme der jungen Frau drohte zu kippen. „Ich habe die Anmeldebestätigung schriftlich erhalten.“

Inzwischen fanden sich auch die anderen ein und nahmen Aufstellung, sichtlich neugierig, was für eine Diskussion da im Gange war.

„Ich … vielleicht ist meine Mutter noch da …“

„Gibt es ein Problem?“ Inga Waltz näherte sich mit einem freundlichen Lächeln.

„Ich stehe nicht auf der Liste“, sagte Ursula Michels, und nun klang sie wirklich, als sei sie den Tränen nahe. „Dabei habe ich doch eine Anmeldebestätigung bekommen.“

Margarethe hatte Mitleid mit der jungen Frau, aber warum musste sie gleich so weinerlich sein?

„Wie ist denn Ihr Name?“

„Ursula Michels.“

Inga Waltz ging die Liste durch. „Es gibt ein Fräulein Michels. Katharina Michels.“

„Katharina ist mein zweiter Vorname.“

„Dann haben wir das Missverständnis ja schon ausgemacht.“ Inga Waltz lächelte freundlich. „Ich nehme an, eine Katharina Michels gibt es sonst nicht?“, fragte sie in die Runde. Niemand antwortete. „Da hat sich wohl jemand vertan.“ Sie drückte der jungen Frau einen Schlüssel mit einem münzförmigen Anhänger in die Hand. „Zimmer fünf.“

Margarethe trat an den Tisch, nannte ihren Namen und erhielt einen Schlüssel für Zimmer sieben. Als alle ihre Zimmernummern und Schlüssel erhalten hatten, brachte Inga Waltz sie durch die Halle zu einer Tür, die in ein Treppenhaus führte.

„Das hier“, erklärte sie, „ist der frühere Dienstbotenkorridor. Hier entlang geht es auch in den Küchen- und Wirtschaftstrakt. Sie nehmen bitte ausschließlich diesen Treppenaufgang.“ Sie lief ihnen voraus, die Treppe hoch bis ins dritte Obergeschoss. „Während der Führung nachher erkläre ich Ihnen alles genauer, jetzt können Sie sich erst einmal in Ihre Zimmer zurückziehen und sich frisch machen.“ Sie öffnete die Tür, die in einen Korridor führte, von dem aus zu beiden Seiten Zimmer abgingen. Eine Tür teilte den Korridor, vermutlich war ein Teil ursprünglich für die Männer und einer für die Frauen gedacht gewesen. „Es gibt zwei Waschräume mit Duschen und Toiletten. Jeder Trakt teilt sich einen, also immer zwölf Personen pro Waschraum. Es gibt in jedem Raum sechs Waschbecken, zwei Duschen und vier Toiletten. Außerdem hat jedes Zimmer ein eigenes Waschbecken.“

Die Vorstellung, sich morgens täglich den Raum mit mindestens fünf weiteren Frauen zu teilen, womöglich noch mehr, falls alle Waschbecken, Duschen und Toiletten zeitgleich belegt waren, löste bei Margarethe alles andere als Begeisterung aus. Aber damit würde sie sich wohl arrangieren müssen.

„In einer Stunde erwarte ich Sie in der Eingangshalle und werde Sie durch das Haus führen.“ Damit verabschiedete Inga Waltz sich, und sie durften ihre Zimmer aufsuchen. Margarethe sah auf die Zimmernummern. Zimmer eins, drei, fünf und sechs befanden sich rechter Hand, linker Hand gegenüber den ersten beiden Zimmern lagen die Nummern zwei und vier sowie der erste Waschraum. Sie bemerkte, dass ihre Zimmertür bereits von einer Frau mit braunen Locken geöffnet wurde, die mit dem Koffer in der Hand eintrat.

„Hallo“, sagte die junge Frau, als Margarethe ebenfalls ins Zimmer kam. „Ich bin Julene Gruber.“

„Margarethe Pallenberg.“ Sie gaben sich die Hand, was Margarethe sehr förmlich erschien.

Julene nahm das rechte Bett und Margarethe das linke, was ihr nur recht war, da dieses weiter weg lag von der Tür. Sie stellte ihren Koffer ab und sah sich in dem Raum um. Außer den beiden Betten befanden sich darin zwei Schränke und neben jedem Bett eine kleine Kommode. Der alte gekachelte Ofen an der linken Wand wurde offenbar nicht mehr betrieben und diente nur der Zierde, denn das Zimmer war mit einer modernen Heizung ausgestattet. Es hatte Holzdielen, auf denen ein hübscher gewebter Teppich lag. Das Waschbecken befand sich an der rechten Wand, an der auch ein Schreibtisch stand. Im Großen und Ganzen war es sehr nett, und sie musste zugeben, dass man es hier durchaus aushalten konnte.

Margarethe ließ sich auf dem Bett nieder, wippte probeweise auf der Matratze und sah, wie Julene bereits damit begann, ihren Koffer auszupacken, und ihm als Erstes ein riesiges Kissen entnahm.

„Ich kann nur mit meinem Kissen schlafen“, sagte sie in einem Ton, als müsse sie sich dafür entschuldigen.

„Immerhin scheint das Bett bequem zu sein“, antwortete Margarethe und machte sich schließlich daran, ebenfalls ihren Koffer auszupacken. In den Schränken hingen bereits je drei taubenblaue Blusenkleider, die Uniform der Auszubildenden. Außerdem gab es für jede von ihnen sechs Schürzen.

„Die müssen wir doch noch nicht jetzt anziehen, oder?“, fragte Julene.

„Ich glaube nicht, das hätten sie bestimmt gesagt.“

Seufzend machte sich Margarethe daran, den Koffer auszupacken. Als sie damit fertig war, setzte sie sich auf das Bett und sah auf die Uhr. In zwanzig Minuten sollten sie sich unten einfinden. Vielleicht ging sie einfach jetzt schon, dann konnte sie sich in Ruhe ein wenig in der Halle umsehen. Zudem hasste sie es, zu spät zu kommen, wenn alle schon dort standen und einem ungeduldig entgegenblickten.

„Gehst du schon?“, fragte Julene, die gerade einen Stapel Bücher auf ihre Kommode legte.

„Ja, ich bin lieber etwas zu früh.“

„Warte, ich komme mit.“ Julene zupfte ihr Kleid zurecht, warf noch einen Blick in den Spiegel und schloss sich ihr an, als sie das Zimmer verließ.

Aus Zimmer vier trat ebenfalls eine Frau, die sehr auffälliges rotes Haar hatte und sich als Monika Adams vorstellte. Margarethe öffnete die Tür ins Treppenhaus, und als sie unten in den ehemaligen Dienstbotenkorridor traten, waren aus Richtung der Küche Stimmen und Gelächter zu hören. Immerhin schien es nicht ganz so steif zuzugehen, wie sie geglaubt hatte.

„Ob wir wohl auch morgens direkt in der Küche arbeiten?“, fragte Julene. „Ich koche und backe so furchtbar gern.“

Margarethe backte hin und wieder auch gerne, aber einen großen Reiz hatte es nie auf sie ausgeübt. Sie gingen in die Halle, wo sich bisher noch niemand eingefunden hatte, und Margarethe sah sich die Bilder an den Wänden an. Absolventinnen lächelten sie von Fotos an, immer in Gruppen zu acht Frauen mit der Schulleiterin. Vereinzelt gab es auch Frauen, die allein abgelichtet waren. Eine hatte es als Köchin ins Adlon geschafft, eine weitere in eine Fernsehwerbung. Eine hatte in einer Frauenzeitschrift eine Kurzgeschichte veröffentlicht.

„In einem feinen Hotel würde ich auch gerne arbeiten“, sagte Monika. „Da lernt man bestimmt interessante Leute kennen.“

„Und wohlhabende Männer“, fügte Julene hinzu.

„Als Köchin triffst du die Männer, die in diesen Häusern zu Gast sind, sicher nicht“, entgegnete Margarethe. „Dann schon eher als Kellnerin oder Zimmermädchen, und das, was diese Männer dann von dir wollen, hat mit einer Ehe wenig zu tun.“

Monika wurde rot, Julene zuckte nur mit den Schultern. „Ein bisschen vor sich hin träumen darf man doch.“

„Sicher.“ Margarethe hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so garstig reagiert hatte, und versuchte sich an einem Lächeln.

Kurz darauf traten zwei weitere junge Frauen ein, die mit dem schulterlangen blonden Haar stellte sich als Ursula Michels vor, die mit dem blonden kinnlangen Haar als Beate Jansen.

„Seid ihr zusammen auf einem Zimmer?“, fragte Julene.

„Nein, ich teile mir das Zimmer mit Monika“, antwortete Beate.

„Und ich mit Karin Wagener“, entgegnete Ursula, wobei sie ein Gesicht zog, als hoffte sie auf einen Irrtum. Offenbar hatte sie hier keinen sehr glücklichen Start.

 

Nachdem der erste Schreck über das Missverständnis mit ihrem Namen verflogen war, hatte Ursula sich der nächsten unangenehmen Überraschung gegenübergesehen – sie teilte sich das Zimmer ausgerechnet mit dieser bockig aussehenden jungen Frau mit dem dunklen Pferdeschwanz. Zunächst hatte sie gehofft, dass ihr erster Eindruck sie trügen würde, aber leider war dem nicht so. Auf Ursulas Begrüßung hin hatte sie nur knapp genickt und sich ebenfalls kurz vorgestellt. Danach hatte sie ihren Koffer ausgeräumt und dabei alles nachlässig in den Schrank geworfen, hatte ein paar hämische Bemerkungen über die taubenblauen Blusenkleider gemacht und gemeint, mit den Schürzen könnten sie sich bald allesamt als Hausmädchen verdingen.

Alles in allem war es ein sehr ernüchternder Start. Warum nur war sie nicht mit der freundlichen Julene ins Zimmer gekommen? Oder einer der anderen jungen Frauen, die hier gerade so nett beieinanderstanden. Bei dem Gedanken daran wollten ihr wieder die Tränen kommen. Ob sie mit der Schulleitung reden sollte, damit die Zimmerbelegung geändert wurde? Oder sollte sie ihre Mutter darum bitten, hier anzurufen? Vielleicht kam eine der anderen Frauen besser mit dieser Karin Wagener aus. Sie sah auf, begegnete dem Blick einer anderen Frau – wie hieß die noch gleich? Margarethe? –, die sie durch die Brillengläser mit leichtem Spott anblickte. Am besten steckte man die zusammen mit Karin in ein Zimmer, offenbar war sie genauso garstig.

Kurz nacheinander betraten zwei Frauen die Halle, stellten sich als Jutta Henseler und Regina Peters vor. Regina hatte wundervolles kastanienbraunes Haar, das in sanften Wellen fiel und mit einer Spange zurückgehalten wurde, und kleine Grübchen in den Wangen, wenn sie lächelte. Juttas glattes aschblondes Haar war etwas länger als schulterlang, was in interessantem Kontrast zu ihren dunklen Augen stand. Auch diese beiden Frauen machten auf Ursula einen überaus freundlichen Eindruck, und bei dem Gedanken daran, wie sie abends alle plaudernd auf ihren Zimmern saßen, wollte sie sich krümmen vor Selbstmitleid. Ihre Mutter musste etwas unternehmen, damit sie es genauso nett hatte wie die anderen.

„Meine Damen.“ Inga Waltz kam zusammen mit einer weiteren Frau die Treppe herunter, freundlich lächelnd. „Wie schön, dass wir nun etwas Zeit haben, uns persönlich kennenzulernen.“ Sie sah in die Runde, und offenbar bemerkte sie, dass sie nicht vollständig waren. Ein kurzer Blick auf die Uhr folgte. „Wir haben noch ein paar Minuten. Haben Sie sich schon ein wenig in Ihren Zimmern einleben können, sofern das in so kurzer Zeit möglich war?“

Sie bejahten, und Jutta fügte hinzu, dass sie die Aussicht aus dem Fenster ganz wunderbar fand. Das bestätigten Regina und Beate, während sich Ursula ärgerte, keinen Blick dafür gehabt zu haben. Wenn sie damit herausrückte, dass sie mit der Zimmerbelegung nicht zufrieden war, wäre es doch gut, wenn sie vorab wenigstens die schönen Seiten betonte. Sonst wirkte sie am Ende noch wie jemand, der sofort das Haar in der Suppe suchte.

Wieder blickte Inga Waltz auf die Uhr, krauste nun die Stirn. „Bei der Gelegenheit möchte ich gleich noch einmal bekräftigen, dass wir hier auf Pünktlichkeit höchsten Wert legen. Gerade in der Küche ist es von immenser Wichtigkeit, dass Sie die Uhr im Auge behalten.“

Ursula wusste das alles, es stand in der Schulordnung. Wer zu spät zu den Mahlzeiten erschien, bekam nichts zu essen. Wer abends zu spät in die Schule zurückkehrte, stand vor verschlossener Tür und musste läuten. Zweimal wurde ein abendliches Zuspätkommen toleriert, beim dritten Mal musste man seine Koffer packen. Sie durften in ihrer Freizeit ausgehen und Spaziergänge machen oder nach Köln fahren. Wichtig war, dass sie um Punkt zehn Uhr, an den Wochenende um elf, wieder in der Schule waren.

„Wer teilt sich mit der jungen Dame, die noch fehlt, das Zimmer?“

„Ich“, sagte Ursula und nannte sicherheitshalber ihren Namen, damit nicht irgendwie durch ein Missverständnis im Nachhinein der Eindruck entstand, dass sie es war, die zu spät kam. Ihr fiel auf, dass die Frau mit dem kurzen dunklen Haar und der Brille – Margarethe – die Augen verdrehte. Hoffentlich kam die mit dieser grausigen Karin auf ein Zimmer!

„Könnten Sie ihr bitte Bescheid geben? Heute machen wir eine Ausnahme, denn sie sollte bei der Führung unbedingt dabei sein.“

Ursula nickte beflissen und ging rasch zur Tür, die zum Dienstboteneingang führte. Während sie die Treppe hinaufeilte, lächelte sie. Vielleicht benahm sich diese Karin ja so schlecht, dass sie gleich wieder gehen musste. Dann würde eine Frau von der Warteliste nachrücken und mit Ursula das Zimmer teilen.

Sie öffnete die Tür und sah ihre Zimmergenossin auf dem Bett liegen und ein Buch lesen.

„Das gnädige Fräulein Waltz sagt, du sollst dich unten einfinden.“ Ursula versuchte nicht einmal, es freundlich klingen zu lassen.

„Ich soll vielleicht, aber ich will nicht. Du darfst dem gnädigen Fräulein gerne ausrichten, mir sei unwohl.“

Innerlich frohlockend lief Ursula wieder hinaus in den Korridor und eilte die Treppe hinunter. Bei der Gruppe angekommen sagte sie: „Karin Wagener lässt ausrichten, sie solle, aber sie wolle nicht. Ihr sei unwohl, soll ich dem gnädigen Fräulein ausrichten.“

Inga Waltz krauste die Stirn. „Ah. Nun gut.“

„Sie wirkte in der Tat sehr blass um die Nase“, sagte Jutta. „Es gibt doch einen Grundriss des Hauses, da kann ihr später jemand alles erklären.“

Ursula bemerkte, dass nicht nur Margarethe sie mit schiefem Blick ansah, sondern auch Monika und Beate.

„Das wäre sehr freundlich von Ihnen“, sagte die attraktive Frau an der Seite von Inga Waltz. „Vermutlich ist ihr die Aufregung auf den Magen geschlagen.“

„Bei der Gelegenheit“, sagte Inga Waltz, „möchte ich Ihnen Ihre Lehrköchin vorstellen, Frau Anita Hesse. Frau Hesse hat ihren Abschluss hier vor fünf Jahren gemacht. Ihr Ehemann, Arno Hesse, ist Lehrkoch des zweiten Jahrgangs.“

Die Vorstellung, zusammen mit dem Ehemann im selben Betrieb zu arbeiten, war sehr romantisch, und Ursula seufzte leise, auch wenn ein Koch für sie nicht infrage käme, sie wollte höher hinaus. Aber schön war es sicher durchaus. Sie malte sich aus, wie es wohl wäre, sich täglich zu begegnen und zu bemerken, dass die Gefühle übermächtig wurden. Wenn sich der attraktive Koch dann auch noch als reicher Sohn herausstellte, der mit dem Beruf gegen die Eltern rebellierte, dann hätte das Ganze etwas sehr Abenteuerliches, und das wiederum konnte Ursula sich durchaus vorstellen.

Inga Waltz begann mit der Führung, und Ursula war beeindruckt von der Weitläufigkeit des Hauses. Im Erdgeschoss gab es einen großen Salon, von dem aus eine doppelflüglige Tür zum Esszimmer führte. Normalerweise war der Salon den Schülerinnen nicht zugänglich, Ausnahmen wurden nur gemacht, wenn die Eltern oder Familienmitglieder zu Besuch kamen, denn da zeigte sich das Haus offenbar gerne repräsentativ. Weiter ging es zu einer hübschen Bibliothek, in der es zwei Sitzecken gab, Leselampen mit bronzenen Schirmen sowie einen großen Kamin. Hinten gab es eine weitere Halle, von der aus man zum kleinen Salon gelangte, den Inga Waltz mit ihrer Mutter nutzte. Außerdem das Direktorinnenzimmer. Man konnte sowohl von der Halle aus als auch durch den Salon in den Garten. Der durfte komplett genutzt werden für Spaziergänge oder Aufenthalt, lediglich der Rosengarten wurde ausschließlich von Inga Waltz und ihrer Mutter genutzt. Von hier aus gab es ebenfalls eine Treppe, über die man in die Beletage kam. Hier in der Beletage befanden sich die Lehrerschlafzimmer, das große Lehrerwohnzimmer oder auch der Aufenthaltsraum, wie er genannt wurde, ein sehr hübsch und modern eingerichteter Raum, fand Ursula. Das Ledersofa, die Clubsessel und die Eichenmöbel – das gefiel ihr gut.

„Früher einmal“, erklärte Inga Waltz, „waren das zwei Räume. Aber wer braucht heutzutage noch einen Damen- und einen Herrensalon? Also wurde die Trennwand entfernt und ein Raum daraus. Man sieht es noch an dem Rundbogen.“ Sie deutete auf den Bereich, wo ehemals die Wand gewesen war.

Auf der Beletage befanden sich ebenfalls die privaten Räumlichkeiten der Familie Waltz, zu denen auch ein kleines Esszimmer für den täglichen Gebrauch gehörte. In der zweiten Etage befanden sich die Unterrichtsräume sowie ein Aufenthaltsraum für die Auszubildenden. Dieser war derzeit leer, vermutlich waren alle im Unterricht.

Sie gingen wieder nach unten, und Inga Waltz öffnete die Tür zum Dienstbotenkorridor. „Hier geht es zum Küchentrakt“, erklärte sie.

Sie betraten eine große Küche, in der es sehr geschäftig zuging. Frauen standen an den Arbeitsflächen, bereiteten Zutaten vor, während eine von ihnen einen Topf auf den Herd stellte und unter Anweisung des Lehrkochs – der umwerfend gut aussah – eine Soße anrührte. Der Mann und Anita Hesse lächelten einander an, dann blickte er auf, und nun galt das Lächeln den neuen Auszubildenden.

„Mein Ehemann, Arno Hesse“, stellte die Lehrköchin ihn vor.

Ursula fand die Blicke zwischen den beiden hinreißend und seufzte leise. Hoffentlich erfuhr sie auch eine solche Romantik. Sie gingen aus der Hauptküche in die angrenzende kalte Küche, in der Fleisch zubereitet wurde sowie Speisen, die es durchweg kühl brauchten. Es folgten die Patisserie und Kaffeeküche, in der die Süßspeisen gefertigt wurden. Außerdem durften sie noch einen Blick in die große und gut ausgestattete Vorratskammer werfen.

„Früher einmal“, erzählte Inga Waltz, „hat es nur die Hauptküche und die Vorratskammer gegeben, alles wesentlich kleiner. Die übrigen Räume waren Gesindekammern für Mägde und niederes Personal, das hier unten schlief und nicht oben in den Dienstbotenquartieren. Außerdem befand sich hier der Aufenthaltsraum für die Dienstboten. Schon vor dem Krieg wurde der Bereich nicht mehr genutzt. Im Krieg und in der Zeit kurz darauf wurden hier dann Obdachlose und Flüchtlinge untergebracht. Anfangs wurden die Schülerinnen in der alten Küche unterrichtet, aber als sich die Schule vergrößerte, wurde dieser Bereich umgebaut, um mehr Frauen Platz zu bieten.“

Ursula war beeindruckt. Es ging zurück in die Halle und weiter in den Keller, ein stattliches Gewölbe mit hohen Flaschenregalen. Als sie danach wieder in die Eingangshalle zurückkehrten, wandte sich Inga Waltz an sie.

„Den restlichen Tag heute haben Sie zu Ihrer freien Verfügung. Schauen Sie sich um und lernen Sie einander kennen. Zu den Mahlzeiten wird der Gong angeschlagen, finden Sie sich dann bitte pünktlich ein. Es gibt von der Treppe aus, die zu den Quartieren der Auszubildenden führt, auf jeder Etage eine Tür, durch die man den Korridor im entsprechenden Stockwerk betreten kann. In der Beletage ist Ihnen das untersagt, denn dort befinden sich ausschließlich private Räumlichkeiten. Wenn Sie die zweite Etage aufsuchen, dann tun Sie das bitte über diese Treppe, die Haupttreppe ist Lehrpersonal und Besuch vorbehalten.“

Damit waren sie entlassen mit dem Hinweis, dass das Mittagessen in einer knappen Stunde serviert wurde. Sie sahen einander an, wirkten alle im ersten Moment ein wenig befangen.

„Ich mache einen kleinen Spaziergang durch den Garten“, sagte Julene schließlich. „Möchte sich jemand anschließen?“

Sie schlossen sich alle an und gingen in die rückwärtige Halle, durch die man hinaus in den Garten kam. „Was ist eigentlich mit Karin?“, fragte Monika.

„Die hatte keine Lust, hinunterzukommen“, antwortete Ursula.

„Na, das hast du ja mehr als deutlich gemacht“, entgegnete Margarethe. „Warst du früher eine dieser Petzlieseln, die der Frau Lehrerin immer alles brühwarm erzählen mussten?“

Ursula spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. „Natürlich nicht!“

„Klang aber ein wenig so“, kam es nun von Beate. „Das so auszurichten war ziemlich gehässig. Noch dazu am ersten Tag.“

„Aber das waren genau ihre Worte.“

„Da sagt man, ihr sei unwohl. So etwas richtet man doch nicht wörtlich aus“, entgegnete Margarethe. „Oder kennst du sie persönlich und wolltest ihr eins auswischen?“

„Natürlich nicht!“ Ursula war es nicht gewöhnt, dass man ihr so feindselig begegnete. Zu Hause war sie immer beliebt gewesen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, alle richteten sich gegen sie. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen.

„Es reicht“, sagte Julene. „Wir sollten uns nicht gleich am ersten Tag zerstreiten.“

Dankbar sah Ursula sie an und blinzelte.

Der Garten war groß, mit Lauben, schmiedeeisernen Bänken, Blumenrabatten, Rosenspalieren und Wegen, die mit kleinen, unregelmäßig geschlagenen Steinen gepflastert waren und so ein wenig altertümlich wirkten. Ein lauer Sommerwind bewegte die Blätter und trug das Aroma von frisch gemähtem Gras mit sich.

„Woher kommt ihr eigentlich?“, fragte Beate, während sie über die gepflegten Wege spazierten. „Ich bin aus Dortmund.“

„Ich aus Köln-Marienburg“, antwortete Regina.

„Wie edel!“, entgegnete Beate. „Aber das ist doch nicht weit weg, da könntest du fast schon abends nach Hause.“

„Ja, aber nach dem Konzept der Schule ist so etwas nicht vorgesehen, und ich will das auch gar nicht. Mir gefällt es ganz gut, dass das eine Art Internat ist. Ich war noch nie von zu Hause fort.“

„Ich habe es auch nicht weit“, sagte Julene. „Ich komme aus Bonn.“

„Ich bin aus Sankt Augustin“, kam es von Margarethe. „Also gewissermaßen aus eurer Nachbarschaft.“

„Genauso wie bei mir, ich komme aus Königswinter“, antwortete Ursula.

Monika kam aus Aachen, Jutta aus Cochem.

„Fahrt ihr jedes Wochenende nach Hause?“, wollte Margarethe wissen.

Das taten zumindest Ursula, Regina und Julene, die anderen wollten die Reise nicht jedes Wochenende auf sich nehmen und würden nur hin und wieder fahren.

„Vielleicht zweimal im Monat“, sagte Beate. „So furchtbar weit ist es zwar nicht, aber es ist ja doch jedes Mal ein Aufwand, und da kann man das Wochenende gar nicht so richtig genießen. Ich könnte freitagabends fahren, aber nach sechs kommt man hier mit dem Bus nicht mehr weg.“

Warum Margarethe nicht jedes Wochenende fuhr, erklärte sie nicht, denn weit hatte sie es ja nun wirklich nicht. Aber Ursula fragte auch nicht nach, weil sie nicht indiskret wirken wollte und zudem bereits beschlossen hatte, dass sie die garstige Margarethe ebenso wenig mochte wie Karin. Sie hob das Kinn und hielt sich an Julenes Seite, bis es schließlich Zeit war, zum Haus zurückzukehren.

Über Lea Benthin

Biografie

Lea Benthin wurde im Münsterland geboren, hat einen Teil ihrer Kindheit im hohen Norden verbracht und lebt seit ihren Studententagen in Bonn. Nach ihrem Germanistikstudium widmete sie sich dem Schreiben. Die DELIA-Preisträgerin reist gerne und liebt das Stöbern in Bibliotheken, wo sie für ihre...

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