Prolog
„Jonny, Jonny! Wo bist du denn?“ Ich eile über eine Wiese am Ufer des spanischen Flusses Esla. Hinter jedem Busch hoffe ich, Jonny zu entdecken, doch mein Eselchen ist plötzlich nirgends mehr in Sicht.
Kaum habe ich ihn ein paar Minuten aus den Augen gelassen, um unseren Übernachtungsplatz einzurichten, indem ich das Bett meines selbst ausgebauten türkisfarbenen Ford Transits umklappe und Jonnys mobile Weide abstecke, ist der Schlawiner doch tatsächlich alleine losgezogen, um die Gegend zu erkunden. Mein Blick schweift suchend am Flussufer entlang. Er hat es nicht mehr abwarten können, bis ich fertig bin. Schließlich ist er ein sehr neugieriges und aufgewecktes Kerlchen. Wir beide sind seit drei Jahren, die sich für mich bereits wie eine Ewigkeit anfühlen, ein schier unzertrennliches Team.
Jonny ist sehr freundlich, kuschelig und weiß, seine zurückhaltend charmante Art geschickt einzusetzen, um mich um den Finger, na ja, eher um den Huf zu wickeln. Er ist mein liebster und ein sehr genügsamer Reisebegleiter, der mir mit seiner zufriedenen und ausgeglichenen Ausstrahlung hilft, einfach mal langsamer zu machen und den Moment zu genießen. Ist ihm etwas besonders wichtig, zeigt er mir dies sofort mit seiner Körpersprache. Dabei blickt er zum Beispiel mit angespannter Haltung unentwegt auf das Ziel seiner Begierde, steuert geradewegs darauf zu oder stupst mich auffordernd an, um seinen Kopf durchzusetzen. Das fällt ihm bei mir nicht besonders schwer, da ich ohnehin stets versuche, ihm seine Wünsche von den Lippen abzulesen. Schließlich sind wir Reisepartner, beste Freunde und Familienmitglieder. Ich liebe mein Langohr und würde alles für es tun.
Etwas nervös laufe ich nun in Richtung Wald und wundere mich, wo Jonny nur abgeblieben sein könnte. Angestrengt halte ich in der bereits einsetzenden Dämmerung Ausschau. Jonny ist mausgrau mit einer schwarzen Kreuzzeichnung entlang der Wirbelsäule und über den Schulterblättern – daher kommt das Sprichwort, dass Esel ihr Kreuz auf dem Rücken tragen. Am Bauch hat er weißes, flauschiges Fell, und auch seine weißen Eselsnüstern würden im Dunkeln herausstechen. Er hat lange grauschwarze Ohren und reicht mir mit seinem Stockmaß von 1,11 Metern bis zur Brust.
Doch gerade leuchten weder sein Bauchfell noch seine Nüstern in der Ferne. „Jonny, das ist nicht komisch!“, rufe ich. „Na los, komm. Ich hab dein Heu schon hergerichtet! Haaaallo?“
„Päng!“ Plötzlich fällt ein Schuss im Wald. Ich zucke zusammen und werde mit einem Schlag mächtig nervös. Aufgeregt blicke ich in alle Richtungen. „Jonny! Jonny, komm schnell!“ Wo kam nur dieser Schuss her? Jonny wird doch nicht …? Nein, das darf nicht sein!
Ich sprinte weiter in Richtung Waldrand. Jonny darf auf keinen Fall etwas passiert sein!
Das ist also das angeblich erholsame Überwintern in Spanien und Portugal! Unsere Reise verläuft bisher wahrlich anders, als ich es mir ausgemalt habe. Eine Auszeit im Süden sollte doch weder erfüllt von Angst und Sorgen noch geprägt von lebensgefährlichen Überraschungen sein! Statt Nieselregen sollten uns warme Sonnenstrahlen die Nase kitzeln! Das Klima sollte trocken und angenehm sein, was besonders Jonny zusagt, denn Esel stammen ursprünglich aus Afrika. Ich dachte, es erwarten uns Wanderrouten an atemberaubenden Steilklippen, in malerischer Berglandschaft oder an verlassenen Stränden! Barfuß im sonnengewärmten Sand, unter Kiefern in der Hängematte und auf Sanddünen am Atlantik.
Unfassbar, was Jonny und ich stattdessen bereits für Hürden zu meistern hatten …
Doch immerhin sind wir erst seit elf Tagen unterwegs und somit noch auf der Hinreise in den Süden. All meine Träume können also noch wahr werden.
Teil 1: Ein Akkuschrauber, eine Stichsäge und ein Campingbus
Ausgesprochene Sehnsucht
Ein Jahr vor Jonnys und meiner Reise nach Spanien sitze ich mit David auf meiner Terrasse, und wir genießen einen Brunch im herbstlichen Sonnenschein. David ist ein Regisseur und Drehbuchautor aus Wien, doch vor allem ist er einer meiner engsten Freunde. Mit ihm kann ich mich über alles austauschen, und immer gibt er etwas Wertvolles dazu. Gemeinsam lassen wir die vergangenen Jahre Revue passieren, in denen sich mein Leben um 180 Grad gedreht hat. Auslöser war der überraschende Tod meines an Magenkrebs erkrankten Papas, der mich schonungslos erkennen ließ, wie schnell und plötzlich sich das Leben ändern kann und dass auch mir nicht ewig Zeit bleibt. Dass es ein wahrhaftiges Geschenk ist, dass ich gesund bin, und dass ich meinen heimlichen Traum besser sofort verwirklichen sollte: mit einem Esel wandern gehen. Jetzt oder nie! Ich nahm die Sache in die Hand, informierte mich über Esel und Eselhaltung, organisierte einen Stall und kam schließlich durch Zufall über eBay Kleinanzeigen zu meinem Jonny – der jetzt gerade neben uns im Garten vor sich hin grast. Nur durch mein liebenswertes Langohr habe ich überhaupt diese Wohnung bekommen. Ich lächle.
Die Reise mit Jonny hat mein ganzes Leben verändert: Nach unserer Wanderung über die Alpen bin ich aus der Stadt zu ihm aufs Land gezogen, ich habe einen Job im Waldkindergarten gefunden, die lang ersehnte Ausbildung zur Erlebnispädagogin begonnen, mich in einer Natur- und Wildnisschule weitergebildet, ein Buch über unser Abenteuer geschrieben und mich schließlich selbstständig gemacht. Und all dies durch Menschen, die ich auf unserem Weg zu Fuß über die Alpen kennengelernt hatte.
„Es war so viel los, verrückt! Jetzt, hier auf der Terrasse mitten im Grünen vor meiner schnuckeligen Wohnung mit Blick auf Jonny, könnte ich platzen vor Glück!“
David schmunzelt und fragt dann neugierig: „Wenn du genug Geld auf dem Konto hättest, was würdest du dir genau jetzt an Materiellem kaufen?“
Ich überlege kurz und antworte entschlossen: „Nichts.“
David hakt nach: „Wirklich gar nichts?“
Ich lasse meinen Blick kurz in die Ferne schweifen und fokussiere ihn wieder: „Gar nichts. Ich glaube, ich habe gerade wirklich alles, was ich brauche. Eine kleine, überschaubare Wohnung, einen Stall für Jonny gleich ums Eck, tolle Jobs, ich mache genau das, was ich möchte, und sonst … brauche ich nichts.“
David lächelt wieder. „Mir geht es gerade ähnlich. Das ist doch echt urschön, Lotta. Ein so wertvolles Gefühl.“
Während wir zu anderen Themen übergehen, lasse ich mir meine Antwort immer wieder durch den Kopf gehen und revidiere sie schließlich, indem ich mitten ins aktuelle Gespräch einwerfe: „Also drei Dinge fallen mir doch ein: ein Akkuschrauber, eine Stichsäge und ein Campingbus.“
Wie gerne ich doch endlich lernen würde, mit meinen eigenen Händen etwas zu bauen und ein bisschen zu handwerkeln. Wie cool es wäre, nicht immer von jemandem abhängig zu sein, wenn ich nur ein Regal aufhängen möchte. Ich möchte so etwas schon viel zu lange gerne selbst in die Hand nehmen!
Und einen Bus wollte ich schon haben, als ich noch gar keinen Führerschein hatte – sorglos durchs Land ziehen, und mein Schneckenhäuschen ist immer dabei. Doch stattdessen wurde es mit achtzehn ein kleiner Ford Ka für 450 Euro. Er bekam den Namen „Flotte-Lotte“, und der schwarze Lack musste schon bald dran glauben, denn ratzfatz hatte ich mit Pinsel und Lackfarbe bunte Bilder darauf gezaubert.
Heute hätte ich am liebsten einen Transporter als Wohnmobil mit integrierter Pferdebox, damit auch Jonny ab und an mitfahren könnte. So bräuchten wir nicht immer von zu Hause aus loswandern – schließlich kennen wir die Gegend hier bereits in- und auswendig –, sondern könnten auch Ausflüge und Mehrtagestouren zu entfernteren Wanderrouten unternehmen.
Ich schaue David mit leuchtenden Augen an: „So ein Transporter zum Ausbauen, ja, das wäre toll!“
Gesagt, getan
Dauerhaft mit einer nun ausgesprochenen Sehnsucht im Bauch zu leben, das kann ich einfach nicht mehr. Also wünsche ich mir zu Weihnachten einen Akkuschrauber und eine Stichsäge. Mein persönlicher Startschuss auf dem Weg zu etwas mehr handwerklichem Geschick. Endlich!
Gleich im Januar darauf entdecke ich einen türkisfarbenen Ford Transit mit Hochdach, Baujahr 2010, mit 173 000 Kilometern auf dem Buckel und neuem TÜV.
Gemeinsam mit meiner Freundin Ca hole ich den Transporter in Bottrop im Ruhrgebiet ab. Ich vereinbare eine Probefahrt, und da ich mich selbst zu wenig auskenne, jagen wir das gute Stück dabei gleich durch die Dekra für einen Rundumcheck und lassen uns bei der benachbarten Werkstatt einen Kostenvoranschlag für vorhandene Schwachstellen machen. Damit kann ich beim Verkäufer den gewünschten Preis von 5700 Euro auf 5200 Euro plus Ersatzteile runterhandeln. Perfekt, denn das kann ich mir gerade so leisten.
Kurz darauf düsen wir von Bottrop in Richtung Süden nach Hause auf den Eselhof, und ich kann mich vor Freude kaum halten. „Ich hab einen Bus, in dem auch Jonny Platz hat! Oh, Ca, ich kann’s gar nicht glauben! Ich hab gerade einen Bus gekauft!“, jubele ich, als wir über die Autobahn zuckeln. Nun kann mein Bus-Traum beginnen!
Der Start ins Jahr 2020 ist perfekt, und ich freue mich auf all meine neuen Projekte – beruflich wie privat. Doch obwohl ich eigentlich nicht abergläubisch bin, soll sich am Freitag, dem 13. März, alles ändern.
Am Vormittag erfahre ich aus heiterem Himmel, dass ab der nächsten Woche der Waldkindergarten vorerst schließen wird. Nur wenige Minuten darauf prasseln E-Mails von den Auftraggebern meiner selbstständigen Projekte herein. Ob Schulprojekte, Waldtage mit Kindergärten oder die kommenden Ferienfreizeiten: Alles wird mit einem Mal gecancelt. Auch die Veröffentlichung meines Buches wird auf das darauffolgende Jahr verschoben. Aber ich hatte doch meine Finanzen als frisch Selbstständige perfekt durchgeplant und mich so sehr auf die Projekte gefreut. Wie soll ich jetzt nur meine Miete zahlen? Ich bin niedergeschmettert.
Doch nicht nur bei mir steht plötzlich alles kopf – die ganze Welt ist in Aufruhr: Coronapandemie. Das Leben wird stillgelegt.
Was nun?
Das muss ein wahnsinnig schlechter Traum sein.
Und als ob das nicht alles schon genug wäre, ruft mich etwa dreißig Minuten später auch noch der Mann an, von dem ich dachte, er sei mein neuer Freund, und teilt mir völlig unerwartet mit, dass die Sache mit uns keinen Sinn mache. Überrumpelt und den Tränen nahe, bekomme ich nur ein monotones „Okay, wenn du das so siehst, kann ich da wohl nichts machen“ heraus.
Ich sitze auf meiner Couch, mir ist schwindelig, ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Was in aller Welt ist denn bitte in der letzten Stunde passiert? Als ich aufgewacht bin, war doch noch alles in Ordnung. Ich beschließe, erst einmal mit Jonny spazieren zu gehen, um frische Luft zu schnappen und hoffentlich einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Als Markus, ein Freund und der Stallbesitzer, uns entgegenkommt und sich erkundigt, was los sei, breche ich in Tränen aus: „Ich hab grad alle meine Jobs und meinen Freund verloren.“
Ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen soll. Zukunftssorgen und Liebeskummer sind ein bisschen viel auf einmal. Eigentlich hätte ich die Unterstützung „meines Freundes“ gerade jetzt gut brauchen können, doch ich muss es alleine schaffen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht, und versuche, mich nach und nach zu sortieren.
Vorerst ist Lockdown angesagt. Und nach einiger Zeit beginne ich tatsächlich, die ruhige Zeit zu Hause zu genießen. Wie viel ich doch zuvor wieder herumgehastet bin, wird mir erst jetzt klar, als die Uhren stillstehen. Zum ersten Mal bin ich ganze sechs Wochen am Stück durchgehend zu Hause, und ich habe dadurch immerhin Zeit für den Ausbau meines Ford Transits. Außerdem ist das Herumbasteln eine willkommene Ablenkung vom Liebeskummer. Es ist keine einfache Zeit, aber ich habe ein Ziel und versuche, das Beste aus der Situation zu machen. Und langsam rapple ich mich wieder auf.
Ein STA-LL für Jonny
Wer schon einmal einen Transporter ausgebaut hat, der weiß, was für eine mühsame Arbeit das sein kann, besonders wenn man es zum ersten Mal macht. Ich werde mit so vielen Fragen konfrontiert: Wie und mit welchem Material isoliere ich den Innenraum? Wie soll ich die Möbel anordnen – Bett, Schrank, Stauraum, Küche und in meinem Fall noch die Eselbox für Jonny? Brauche ich ein fest eingebautes Kochfeld, oder reicht ein mobiler Gaskocher? Möchte ich ein Bad, ein Waschbecken, fließend Wasser, einen Wassertank und diesen mit oder ohne Abwasser? Benötige ich Strom, und wenn ja, über Solaranlage oder Versorgerbatterie oder beides? All diese Fragen überschwemmen mich wie eine Flutwelle.
Als ich an einem sonnigen Aprilmorgen etwas unbeholfen auf der geöffneten Ladefläche meines Fords sitze und versuche, ein viel zu dickes Kantholz mit meinem viel zu kurzen Stichsägeblatt zu kürzen, spitzt Toni neugierig ums Eck. Toni ist Markus’ Papa und der liebenswerte Opi des Hofes. Er wirkt unbeschreiblich jung und fit und nicht im Geringsten wie ein Rentner. Auf dem Hof sehe ich ihn immer wieder an etwas herumschrauben, und jetzt möchte er sich meine Arbeit anschauen.
Sofort kommt Jonny auf ihn zu. Da ich die beste Vermieterin der Welt, Helga, habe, darf er auf ihrer Wiese im Garten grasen und zuschauen, während ich am Bus werkle. Toni streichelt ihm entzückt über die Stirn: „Hallo, Jonny! Na, du hast’s gut hier. Das Sägeblatt ist nichts für die dicken Kanthölzer, Lotta. Komm mit, ich zeige dir was.“
Und so öffnet mir Toni sein Werkstattparadies mit Tischkreissäge und Kappsäge, mit Schleifer, Flex, Bohrer, Tausenden von Schrauben, Muttern, Holzresten und allerlei Dies und Das. „Mit der Kappsäge hast du’s leichter, darfst meine Werkstatt mit nutzen. So eine junge, ambitionierte Dame muss man doch unterstützen.“
Was habe ich nur für ein Glück! Trotzdem dauert es eine Zeit, bis ich mir halbwegs zutraue, dort zu arbeiten. Immerhin sind solche Geräte kein Spielzeug, ich werde aber immer sicherer. Alles, was ich mit meinem kleinen Akkubohrer und der Stichsäge erledigen kann, mache ich auf der grün bewachsenen Parkfläche bei meinem Bus. Direkt daneben steht Jonny im Garten, sieht zu und leistet mir Gesellschaft. So kann auch er unser Gefährt besser kennenlernen. Schließlich ist mein Plan, dass er eines Tages mitfährt.
Als ich zum ersten Mal eine Flex in der Hand halte, wird gleich ein Loch in den Boden meines Busses zur Gasabluft und ein vierzig Quadratzentimeter großes Loch ins Dach geflext. Was für ein Augenblick! Ich stehe mit der Flex in beiden Händen auf meinem Bus und schneide doch tatsächlich mit fliegenden Funken ein Loch ins Dach. Holla, die Waldfee, bin ich aufgeregt! Doch es klappt, und kurz darauf ist das Dachfenster montiert. Ich bin so stolz – nur, ob das wohl dicht ist?
Die viele Zeit, die mir durch den Lockdown plötzlich zur Verfügung steht, nehme ich als Geschenk an. Ich schätze mein Landleben auf dem idyllischen Esel- und Pferdehof umso mehr. Anfang April sind mir gegen 18 Uhr beim Schrauben noch fast die Finger eingefroren vor Kälte, doch nur wenig später werden die Tage länger, und die Sonne wird stärker. Die Vögel zwitschern, und die Natur erwacht.
Ich tüftle und schraube, was das Zeug hält. Zuerst widme ich mich dem Möbelbau, anschließend der Kernsanierung, Entrostung und Isolierung. Besonders für Jonnys Transportbox berate ich mich mit meinem Onkel Manni und erkundige mich beim Veterinäramt nach vorgegebenen Richtlinien. Mein Vorhaben, einen Transporter zum Wohnmobil mit integrierter Eselbox umzubauen, scheint jedoch recht speziell zu sein. Die Kombination im Selbstausbau macht den Beamten offensichtlich zu schaffen. Sie sind aber sehr freundlich, und ein Herr zählt mir schließlich auf, welche Punkte in jedem Fall zu beachten sind. Außerdem brauche ich eine Bescheinigung vom Veterinäramt, wenn ich mit meinem Esel verreisen möchte. Aber das kennen wir ja bereits von unserem ersten Abenteuer.
Alles, was ich herausfinden kann, setze ich um und baue ein, was die Fahrt für Jonny möglichst angenehm macht. Nach einigen Wochen Arbeit ist mein Transit ausgestattet wie ein Pferdetransporter – nur eben in Eselgröße. Das Bett im hinteren Teil kann ich zur Hälfte hochklappen, wodurch Jonnys Box entsteht. Diese bekommt eine Einstiegsrampe, abgepolsterte Seitenwände, eine Brust- und eine Postange sowie eine Halterung für das Heunetz.
Mir ist die integrierte Box wesentlich lieber als ein zusätzlicher Pferdeanhänger, denn sie hat mehrere Vorteile. Erstens ist der Transporter besser abgefedert und wackelt weniger bei der Fahrt. Zweitens ist es in so einem gut isolierten Raum erheblich leiser als in einem rauschenden und klappernden Anhänger. Drittens kann ich Jonny während der Fahrt durch ein Gitter, das seine Box von meiner Fahrerkabine abtrennt, sehen. So habe ich direkten Kontakt zu ihm, kann sogar mit ihm sprechen und ihn im Rückspiegel beobachten. Und viertens ist es auch für mich unkomplizierter, mich nicht zusätzlich um einen Anhänger kümmern zu müssen – abgesehen davon habe ich gar keinen Hängerführerschein. Mein Transporter ist perfekt für uns beide.
Als ich den Bus anmelde und als gewünschtes Nummernschild meine Initialen „LL“ angebe, bemerke ich, dass dabei das Kennzeichen STA-LL herauskommt, da ich im Landkreis Starnberg lebe. Was für ein Zufall! Jetzt hab ich wirklich einen STA-LL für Jonny!
Während ich an weiteren Kleinigkeiten unseres Stalls tüftle, lässt eine Idee mit einem Mal meine Augen funkeln: „Jonny! Wir könnten doch in Portugal und Spanien gemeinsam überwintern!“ Diese Länder interessieren mich seit vielen Jahren, und wie spannend muss es sein, sie gemeinsam mit Jonny zu erkunden und dort mit ihm wandern zu gehen! Schließlich habe ich als Kind bereits die Winter mit meiner Familie in Andalusien verbracht.
Damals hatten meine Eltern gerade ein über 300 Jahre altes und mehr als renovierungsbedürftiges Bauernhaus gekauft. Es war weder anständig isoliert, noch hatten wir zu Beginn bewohnbare Zimmer. Zuerst gab es nur ein Plumpsklo im Garten, doch nach und nach kamen ein improvisiertes Badezimmer und eine Wohnküche dazu, in der der erste Kachelofen installiert wurde. Dafür, dass das mit Efeu bewachsene Häuschen beim Einzug eher einer Scheune glich, haben meine Eltern mit der Zeit, Kraft und dem Geld, das ihnen zur Verfügung stand, alles rausgeholt, was möglich war. Im Winter jedoch brauchten die Öfen so viel Futter, dass meine Eltern beschlossen, es sei günstiger, in den kalten Monaten einfach mit dem Wohnwagen in den Süden zu fahren, anstatt zu Hause zu heizen. So verbrachten mein Papa, meine Mama, mein kleiner Bruder Kalle und ich die Winter, bevor ich in die Schule kam, auf Campingplätzen in Andalusien.
Diese Zeit weckt in mir unbeschreiblich schöne Kindheitserinnerungen. Ein Ort ist mir besonders stark im Kopf geblieben – womöglich auch deshalb, weil eines meiner Lieblingsfotos dort entstand. Auf dem Bild ist meine Mama zu sehen, wie sie mit Kalle auf dem Arm und mir an der linken Hand glückselig über eine riesige Sanddüne spaziert, im Hintergrund ist eine felsige Bergspitze. Ich liebe dieses Foto. Zum einen, weil ich die Gelassenheit, den Frohsinn, die Unerschrockenheit und die Reiselust meiner Eltern spüre, und zum anderen, weil ich mittlerweile weiß, welche Arbeit und Anstrengung sich in Wahrheit dahinter verbarg.
Wäre es nicht großartig, diesen Ort, an dem meine Familie so glücklich war, wiederzufinden und mit Jonny dorthin zu reisen? Gemeinsam mit ihm würde ich über diese Sanddünen spazieren und die Vergangenheit Revue passieren lassen.
Lange Strecken könnten wir nicht zurücklegen, um an unser Ziel zu gelangen, denn ich möchte Jonny keine allzu weiten Fahrten zumuten. Eselgerechtes Reisen steht an erster Stelle. Erst einmal möchte ich sehen, wie Jonny sich in seiner Box verhält. Da wir keinen Zeitdruck haben, rechne ich mit etwa drei Stunden Fahrt pro Tag, mit ein bis zwei Stopps zwischendrin. Nach den Etappen würden wir einfach länger pausieren – auf der Hinfahrt vielleicht ein bis zwei Tage und danach möglichst länger – und wandern gehen. Ich möchte Tag für Tag beobachten, wie Jonny diese Art des Unterwegsseins gefällt. Es könnte also auch sein, dass wir nach zwei Tagen wieder umkehren … Wir wären voll und ganz im Moment, ohne ausgefeilten Plan, aber mit einem heimlichen Traumziel. Es wäre ein wahrhaftiges Abenteuer!
Doch bevor ich weiterträumen kann, darf mein Eselchen erst einmal lernen einzusteigen.
Wir stehen gemeinsam vor der aufgeklappten Einstiegsrampe. Jonny spitzt die Ohren und scheint ebenso aufgeregt zu sein wie ich. „Ich glaube, du bist so weit, mein Großer. Wollen wir’s mal ausprobieren?“ Ich lasse seinen Führstrick lang, setze mich in seine Box und beobachte, ob Jonny mir folgt und einen Schritt auf die Rampe wagt.
„Schau’s dir in Ruhe an. Es muss nicht sofort klappen.“ Ich halte still, beobachte Jonny und lasse es langsam angehen. Fürs Erste wäre es bereits ein Erfolg, wenn er sich mit nur einem Huf auf die Rampe trauen würde. Mein Langohr steht jedoch etwas bedröppelt davor und scheint dem Braten noch nicht zu trauen. Fragend blickt er zu mir, als würde er sich entschuldigen wollen, dass er womöglich nicht ganz verstanden hat, was ich von ihm möchte. Ich rede ihm gut zu und locke ihn mit einem Stückchen trockenem Brot näher heran. Doch statt einen Schritt auf die Rampe zu wagen, streckt Jonny seinen Hals und geht um das Hindernis herum. So landet er neben der Rampe und kann leicht das Brot erhaschen.
„So geht das nicht, Jonny. Komm, wir versuchen’s noch mal.“ Ich klettere hinaus, stelle mich neben ihn, hebe vorsichtig seinen Huf und setze ihn auf die Einstiegsrampe. Doch sogleich zieht Jonny ihn wieder zurück. Das Ganze ist ihm noch nicht geheuer. Ein paar Anläufe später aber klappt es! Kaum habe ich den ersten Huf erneut auf die Rampe gehoben, lässt er die nächsten folgen und schreitet schneller, als ich erwartet habe, in seine Box hinein.
Am 30. Juli steht mein Eselchen das erste Mal neugierig dreinschauend in meinem selbst ausgebauten Wohnmobil-Eseltransporter, spitzt die Ohren und späht nach dem Stückchen trockenen Brot, das ich in der Hand halte. Ich bin begeistert: „Jonny! Du hast es geschafft! Mega! Du bist echt der coolste Esel auf der ganzen Welt!“
Was für ein Meilenstein!
Der letzte Schliff
Im Sommer bekomme ich zum Glück wieder einige Jobaufträge und lerne Stefan kennen. Er ist Ende zwanzig, leidenschaftlicher Kitesurfer, Kletterer und Mountainbiker und ganz aus dem Häuschen, als ich ihm meinen STA-LL zeige und erkläre, dass auch Jonny darin seinen Platz hat. Stefan hat einen VW-Bus zum Wohnmobil umgebaut, um den Sommer in den Bergen auszukosten, und nahezu jedes Wochenende verabreden wir uns mit Freunden zum Kitesurfen.
Stefan ist ein ruhiger, ausgeglichener, sportlicher und verdammt gut aussehender junger Mann. Er hat dunkelblonde Locken, die ihm gerade so über die Ohren reichen und eine anziehende Ausstrahlung. Wir verstehen uns fabelhaft. Er ist für jeden Spaß zu haben, und egal, um was es geht, er ist hilfsbereit, unkompliziert und ehrlich. Nach und nach lernen wir uns besser kennen, und unsere Gespräche werden tiefgründiger.
Doch ist er wirklich nur ein guter Kumpel?
Eigentlich habe ich momentan überhaupt keine Lust, jemanden kennenzulernen. Ich habe beschlossen, mit Jonny im Winter eine neue Reise anzutreten, und kann daher keine Männergeschichte brauchen. Außerdem habe ich gerade erst mein Gleichgewicht wiedergefunden und genieße diesen Zustand so sehr, dass ich Stefan, als er nach einem Date fragt, einen Korb gebe.
So kommt es, dass wir monatelang nur Freunde sind, doch irgendetwas scheint sich trotzdem in meinem Bauch zu tun. Sind das etwa Schmetterlinge? Immerhin überrascht mich Stefan bei jedem Treffen aufs Neue mit seiner Art. Er ist so herrlich ehrlich, aufmerksam, unkompliziert und vor allem ganz er selbst. Seit Kurzem haben wir doch ein kleines bisschen zu flirten begonnen, und ich muss zugeben, dass ich mich Tag für Tag mehr zu ihm hingezogen fühle. Auf einer gemeinsamen Bergtour, bei der wir an einem See nahe dem Gipfel unter freiem Himmel in unseren Schlafsäcken übernachten, lassen sich unsere Gefühle füreinander nicht länger verleugnen. Am Lagerfeuer unter einem atemberaubenden Sternenhimmel nimmt Stefan all seinen Mut zusammen und küsst mich.
So haben wir als Freunde diesen Berg bestiegen und kehren am nächsten Morgen als Paar zurück ins Tal. Zum Sterben romantisch, man könnte fast annehmen, eine Überdosis Kitsch. Wir aber haben jede Sekunde genossen!
So glücklich und frisch verliebt ich auch bin, wird mir etwas flau im Magen. Kann ich nun überhaupt für mehrere Monate mit Jonny verreisen, wo sich doch gerade eine Beziehung entwickelt? Ich teile meine Bedenken mit Stefan. Er lächelt beruhigend. „Wieso soll das nicht klappen? Es wird nicht leicht, ich werde dich sicher sehr vermissen, aber es sind nur drei Monate, die du verreisen willst, und ehrlich gesagt hoffe ich, dass ich dich für immer an meiner Seite haben darf. Was sind da schon ein paar Wochen?“ Seine Ungetrübtheit ermutigt mich. „Außerdem hab ich ohnehin noch viele Überstunden. Wenn ich die alle auf einmal nehme, könnte ich euch eine Zeit lang begleiten. Am liebsten wäre ich die komplette Reise dabei.“
Ich strahle ihn an und könnte platzen vor Glück. Mein Freund, der mit mir gemeinsam verreisen möchte. Wie lange hatte ich mir so etwas gewünscht!
Stefan hilft mir sogar beim letzten Feinschliff am Stall. Wir schrauben gemeinsam die Dachterrasse fest und installieren die Solaranlage. Mithilfe meines Elektrikerkumpels Matze geht uns im Oktober auch endlich ein Licht auf. Die Gasflaschen bekommen eine anständige Befestigung, und für Jonnys Box entwirft Stefan eine Wanne aus Edelstahl mit Ablauf im Boden, falls Jonny sein Geschäft während der Fahrt verrichtet. So läuft nichts in Küche oder Bodenisolierung. Ich bin überwältigt von Stefans Hilfsbereitschaft, seiner Begeisterung und seiner großzügigen Art. Womit habe ich nur einen so tollen Mann verdient?
Am 1. Dezember soll unsere Reise losgehen. Doch als Stefan und ich im November mit Jonny, der mittlerweile recht flott einsteigt, eine Probefahrt in der finalen Transportbox machen, bemerke ich, dass der kleine Kerl beim Fahren auf seiner „Antirutschmatte“ aus Gummi stetig ausrutscht, sobald es nur minimal schaukelt. So können wir keinesfalls starten! Auch die zweite Matte, diesmal eine Lochringmatte mit dickem Profil, eignet sich nicht. Jonny steht darauf zwar stabil, doch die Matte selbst rutscht in der Edelstahlwanne munter herum, sobald es bergauf oder bergab geht. Wir werden unsere Abreise wohl verschieben müssen.
Bei ungemütlichem Schneeregen fahre ich am 1. Dezember erneut zum Baumarkt, um etwas Passenderes zu suchen, und werde fündig. Eine aus Gummifetzen zusammengepresste Unterlage, die eigentlich einen Trockner vom Herumwandern abhalten soll, dürfte doch auch einem Esel einen stabilen Stand ermöglichen. Völlig überladen mit diesen bleischweren Matten, schleppe ich mich zurück auf den Parkplatz. Als sie mir fast aus den Armen gleiten, öffnet mir eine junge Frau flott die Bustür und betrachtet dann neugierig meinen Ausbau. Ich erkläre Alex in ein paar Sätzen mein Vorhaben. Sie ist begeistert: „Camping mit Esel? So was hab ich noch nie gehört. Ich hab eine Freundin, die mit ihrem Hund im Wohnmobil auf einem Hühnerhof in Portugal lebt. Bestimmt könnt ihr sie besuchen. Sonja freut sich sicher.“
Nun freue auch ich mich umso mehr auf Portugal und fasse neuen Mut, dass es endlich losgeht.
Am nächsten Morgen verabschieden Stefan und ich uns schweren Herzens voneinander, obwohl ich mir noch gar nicht sicher bin, ob wir heute wirklich aufbrechen. Schließlich ist es wichtig, dass Jonny stabil auf seiner neuen Matte steht und dass es ihm bei der Fahrt gut geht. Ich habe mir nur kurze Strecken mit Pausen dazwischen vorgenommen. Es geht nicht darum, möglichst schnell in den Süden zu kommen. Der Weg soll das Ziel sein. Mit Jonny im Gepäck, einem klapprigen Transporter und einer unbekannten Route kann ich ohnehin nicht genau planen. Ich lasse mich einfach auf den Moment ein. Darin haben wir beide bereits Übung.
Stefan und ich halten uns noch lange in den Armen, bis er sich schließlich auf den Weg zur Arbeit machen muss. Ich winke ihm nach und gehe dann entschlossen auf unseren Stall Eddy zu, um noch einmal nach dem bisher einsortierten Gepäck zu sehen.
„Eddy, der Stall“ habe ich unseren türkisblauen Ford getauft. „Stall“ wegen seines Nutzens und des zufällig passenden Kennzeichens. Und „Eddy“, weil der Spitzname meines Papas „Erdi“ war und er hervorragend Auto, Lkw, Motorrad und sonstige Ungetüme fahren konnte. Ich habe mich als Beifahrerin immer sicher gefühlt, und er war der beste Fahrlehrer, den ich mir nur wünschen konnte. Da ich meinen Bus aber auch nicht wie meinen Papa nennen möchte, habe ich den Namen in „Eddy“ umgewandelt. Mit Eddy werden wir bestimmt stets sicher auf der Straße unterwegs sein.
Was das Gepäck angeht, war es gar nicht so leicht, das richtige Zeug zu packen, da ich noch keine Ahnung habe, was wirklich auf uns zukommt. Zumindest müssen wir für jede Temperatur gewappnet sein, denn hier schneit es bereits, und in Portugal hat es sonnige zwanzig Grad. Ich habe unseren Stall also mit Folgendem beladen:
Für Jonny:
Heunetz, Laubtonne, Heu, Wasser, Schüssel, Eimer, Hufschuhe, Hufauskratzer, Striegel, gefütterte Regendecke, Wanderdecke, Halfter, Führstrick, Equidenpass, Veterinäramtsbescheinigung, Desinfektionsspray, Schaufel, alte Waschmaschinentrommel als Feuerschale und Eselsäpfelbehältnis, mobiler Weidezaun, Vorzelt
Für mich:
Klamotten für kalt und warm, Wanderschuhe, Turnschuhe, Essen, Wasser, Kochutensilien, Gasflaschen, Bettzeug und Schlafsack, Zelt, Isomatte, Kamera-Equipment, Stirnlampe, Taschenmesser, Pfefferspray, Handy und Ladegeräte, Tagebuch, Naturseife, Zahnbürste, Zahnpaste, Verlängerungskabel, Pass, Brille & Kontaktlinsen, Kitesurf-Equipment, Surfponcho, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk für Stefan
Ich kontrolliere unser Gepäck. Alles da. Nun fehlt nur noch mein treuherziger Begleiter. Mein Herz pocht, als ich Jonny am Eselstall rufe: „Jonny! Jonny! Na komm.“ Jonny trabt rufend herbei. Sein schräges „Iiii-h“, das eher einem erkälteten Hahn oder einer quietschenden Luftpumpe ähnelt und nur selten mit einem „ah“ endet, lässt mich vor Freude strahlen! Nachdem ich ihn ausgiebig gestriegelt habe, führe ich ihn entschlossen geradewegs auf die Einstiegsrampe zu, auf der ich wegen Rutschgefahr noch mehrere kleine Holzsprossen aufgeschraubt habe. Er spitzt die Ohren und folgt mir aufmerksam. Vor dem ersten Schritt auf das Holz bleibt er jedoch stehen. „Ja, das hält. Probier’s aus.“
Kaum hat Jonny den ersten Huf abgesetzt, lässt er sogleich die anderen folgen und steigt ganz lässig ein. Was für ein Glück! Ich gebe ihm ein Stückchen trockenes Brot und lobe ihn. Um sicherzugehen, dass Jonny auf der neuen Matte gut steht, befestige ich noch die Kamera am Küchenblock, denn so kann ich während der Fahrt nicht nur seinen Kopf durchs Gitter sehen, sondern auch seine Hufe und seinen Stand aufzeichnen. Dann nehme ich auf dem Fahrersitz Platz, schnalle mich an und atme tief durch. Los geht’s!