„Kriminalität endet, wie auch im Buch, entweder im Gefängnis oder auf dem Friedhof.“
Hier werden Kriminalromane nicht von Literaturkritikern rezensiert, sondern von denen, die sich am besten mit dem Thema auskennen: Kriminelle. Der aktuelle Krimi von Jørn Lier Horst „Wisting und der Tag der Vermissten“ wird von Henry-Oliver Jakobs rezensiert. Ein rehabilitierter Ex-Krimineller mit einer jahrzehntelangen, düsteren Vergangenheit, die ihn 1995 schlussendlich zum Mörder werden ließ.
Vor ein paar Wochen hat mich der PIPER Verlag angesprochen und mich gebeten, den Kriminalroman von Jørn Lier Horst „Wisting und der Tag der Vermissten“ zu rezensieren. Sie meinten, sie wollten eine Rezension aus meiner Sicht haben, also aus der Sicht eines Ex-Kriminellen. Die Idee fand ich im ersten Moment irgendwie schräg, aber auch interessant. Mal was anderes. Ich bin natürlich nicht mehr derselbe, der ich früher war.
Mit dem Kriminellsein habe ich abgeschlossen und den Verein Gefangene Helfen e. V.gegründet. Dort helfen wir Jugendlichen bei Themen wie Gewaltprävention und Mobbing, und irgendwie muss das ja finanziert werden.
Kriminalromane konnte ich persönlich nie wirklich leiden. Wissen Sie, mit meinem kriminellen Hintergrund und meiner Erfahrung kann ich über die meisten Krimis nur lachen. Ich kann sie einfach nicht ernst nehmen, selbst wenn ich weiß, dass es nur Unterhaltung ist. Die sind teilweise so weit weg von der Realität, ich würde die meisten Krimis eher unter Fantasy einordnen.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass ich eine wahre Geschichte gelesen habe.“
Als ich „Wisting und der Tag der Vermissten“ gelesen habe, war ich ehrlich gesagt etwas überrascht. In dem Buch geht es um einen Polizisten, den ein alter Fall, der schon 20 Jahre zurückliegt, einfach nicht loslässt. 20 Jahre … fast genau der Zeitraum, den ich im Knast verbracht habe. Das ist eine lange Zeit. In meinem Leben habe ich viele Polizisten kennengelernt, und die ticken wirklich so. So ein ungelöster Fall kann einen Ermittler ein Leben lang verfolgen. Das hat mich schon am Anfang des Buches gut abgeholt.
Dann aber gleich der erste Dämpfer: Jørn schreibt direkt zu Beginn, dass er die originalen Fallakten zu Hause liegen hat. Die bleiben schön im Polizeiarchiv und sicher nicht bei irgendeinem Polizisten im Kleiderschrank in einer Kiste. Tatsächlich bin ich über die ein oder andere Sache gestolpert. Ich nenne sie mal die Krimi-Klassiker: zum Beispiel das Polizeiverhör. Das würde im echten Leben nie so ablaufen. Wenn jemand befragt wird und schon mal im Knast war, sagt der kein Wort ohne seinen Anwalt. Und dass der Polizist ihm einen „Deal“ anbietet … das kann der gar nicht, höchstens der Richter oder der Staatsanwalt. Und das weiß auch jeder. Oder dass der Kommissar einen Hubschrauber anfordert und den sofort nach einem Anruf bekommt. Also da haben die mal den ganzen Papierkram, der für den Helikopter benötigt wird, übersprungen. Gut, ich will mal fair bleiben, das wäre sicherlich auch eine sehr langweilige Stelle in dem Buch, wenn der Polizist erst die Anträge ausfüllt.
Eine weitere Sache ist die Zusammenarbeit mit der Presse. Jørn Lier Horst schreibt, dass die Polizei sich an die Presse wendet, damit sie einen Artikel über den Fall veröffentlichen. Damit will er den Druck auf den gesuchten Täter erhöhen. Zwei Dinge: Erstens lässt sich die Presse nicht sagen, worüber sie berichten soll, und das ist auch gut so. Man stelle sich mal vor, die Polizei kann der Presse Ansagen machen, worüber die schreiben soll. Zweitens hat es auch nicht den Effekt, den man da suggeriert. Ein Bekannter von mir hat nach einem Bankraub lange Zeit „unerwischt“ weitergelebt. Die Presse hatte damals darüber berichtet, aber die Tatsache, dass sie keine Videoaufnahmen oder Fahndungsfotos von ihm hatten, hatte ihn eher darin bestärkt, dass er alles richtig gemacht hat und erst mal weiter auf freiem Fuß weiterleben kann. Aber mit Leben hatte das nicht mehr viel zu tun.
Mit ihm ist psychologisch dasselbe passiert wie bei dem Täter in dem Buch. Die Figur lebt total zurückgezogen und einsam. So ist es auch meinem Bekannten ergangen. Man fängt an sich zu isolieren, um sich nicht zu verplappern. Neue Menschen will man nicht mehr kennenlernen, weil man nicht weiß, ob man ihnen vertrauen kann. Das steigert sich bis hin zur Paranoia. Jeder Blickkontakt mit Fremden wird in Frage gestellt. Ich habe nicht wenige im Knast kennengelernt, die sich gestellt haben, nur um das nicht mehr ertragen zu müssen. Für die war klar, lieber Knast und danach ein neues „normales“ Leben anfangen als in ständiger Angst zu leben, irgendwann aufzufliegen. Das ist es auch, was ich den Kids in den Schulen sage: Verbrechen lohnt sich nicht! Und wer was anderes sagt, der lügt.
Neben der Paranoia sind da auch noch die Schuldgefühle, die auf einem lasten. Da kann sich keiner von frei machen. Egal wie hart jemand tut. Genau wie in dem Buch. Schuld ist natürlich eine individuelle Sache und kommt auf die jeweilige Situation und Person an. Aber besonders bei Verbrechen wie in diesem Roman, die emotionaler Natur sind, da lastet die Schuld deutlich schwerer auf einem. Aber genau das hat auf der Seite der Polizei wiederum den Effekt, dass die Ermittler umso schwerer von solchen „emotionalen“ Fällen loslassen können.
Ich muss ehrlich sagen, abgesehen von den teilweise etwas vereinfacht dargestellten Polizeiverfahren fand ich es erstaunlich, wie gut und tiefgründig die Charaktere dargestellt werden. Sowohl die Ermittler als auch die Täter und vor allem wie sie sich gegenseitig bedingen und beeinflussen – bewusst und unbewusst. Die Protagonisten haben mich durch ihr authentisches Innenleben voll in die Geschichte gezogen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass ich eine wahre Geschichte gelesen habe. Zumindest hatte ich viele „Ja, das kenn ich“-Momente – gute wie schlechte.
Tja, vielleicht muss ich meine Meinung doch noch mal überdenken. Meine Vorurteile über Kriminalromane sind zwar jetzt nicht plötzlich weg, aber mir ist klar geworden, dass Kriminalroman nicht gleich Kriminalroman ist. Kommt eben darauf an, wer ihn schreibt. Also Hut ab, Herr Jørn Lier Horst … Hut ab!
„So ein ungelöster Fall kann einen Ermittler ein Leben lang verfolgen.“
Biografie von Henry-Oliver Jakobs
Henry-Oliver Jakobs wurde 1970 in Hamburg geboren und ist auf St. Pauli aufgewachsen. Im Alter von 8 Jahren beging er seine ersten Diebstähle – der Start einer kriminellen Karriere. Es folgten unzählige Einbrüche, Raubüberfälle, Schlägereien, schwere Körperverletzungen sowie verschiedenste Drogendelikte.
Trotzdem beendete er die Schule mit der mittleren Reife und absolvierte erfolgreich eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Im Anschluss gründete er mit 18 Jahren sein eigenes An- und Verkaufsunternehmen. Doch auch in dieser Zeit blieb er dem kriminellen Milieu treu – bis er 1995 zum Mörder wurde: Nach einem Streit mit Geschäftspartnern erschoss er einen von ihnen und verletzte einen weiteren schwer. Kurz darauf wurde Henry-Oliver Jakobs verhaftet und zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Durch diverse familiäre Schicksalsschläge und die Hilfe von Psychologen setzte bei ihm ein Wandlungsprozess ein. So eignete er sich im Gefängnis die Ausbildereignungsprüfung an und engagiert sich seit dem Jahr 2000 ehrenamtlich in der Präventionsarbeit mit kriminellen Jugendlichen und gibt seine Erfahrungen bis heute in Form von Anti-Gewalt-Trainings weiter.
Weitere Links zu Henry-Oliver Jakobs:
www.gefangene-helfen.de
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Eine sehr mutige Idee dieses Buch von einem Ex-Kriminellen lesen zu lassen. Ich persönlich fand diese, sehr ungewöhnliche Perspektive, sehr interessant. Vielen Dank dafür!
Interessant. Bringt eine faszinierende, neue Sichtweise, welche sich direkt beim Lesen des Buches bemerkbar macht.