Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*

Debütromane 2024

Die besten deutschen Romandebüts des Jahres 2024

Warum Sie diese literarischen Debüts 2024 kennen sollten

Die literarische Welt ist voller großartiger Debütromane und aufregender neuer Autor:innen. In diesem Blog werfen wir einen Blick auf einige der besten deutschen Romandebüts des Jahres 2024. Diese spannenden Neuerscheinungen stammen von talentierten jungen Debütautor:innen, die uns mit ihren einzigartigen Stimmen und Geschichten begeistert haben. Begleiten Sie diese außergewöhnlichen Talente auf ihrer schriftstellerischen Reise, die Sie hoffentlich genauso begeistern wird wie uns!

„Auf mehr von Res Sigusch darf man gespannt sein."

Buchkultur

Blick ins Buch
Wesentliche BedürfnisseWesentliche Bedürfnisse

Roman

Kunstprofessor Benjamin Leiser hat alles – Geld, Status, Beziehungen – und ist dennoch nicht zufrieden. Als er auf den Studenten Konstantin trifft, erwählt er ihn zum Sohn, den er nie hatte, aber immer wollte, und erinnert sich an das Jahr '89, als seine Träume noch realisierbar schienen: Maler werden, Vater sein, das Glück finden. 30 Jahre später versucht er, sich diese „wesentlichen Bedürfnisse“ auf kreative Weise zu erfüllen. Ein Künstlerroman und eine Wendegeschichte über verpasste Gelegenheiten und scheinbares Versagen, erzählt mit filmischer Lebendigkeit und multiperspektivischem Witz.

„Das ist meisterlich und sehr raffiniert, wie Res Sigusch Perspektiven wechselt, wie unser Blick geführt wird und unsere Wahrnehmung. Sodass wir, je nachdem, durch welche Augen und zu welchem Zeitpunkt wir auf diesen Mann und den Mikrokosmos des Kunstbetriebs schauen, das Gefühl haben, er ist ohne Moral – oder aber voller Mitgefühl und Liebe. Am Ende steht da ein echter Mensch; und der bleibt.“ Sandra Hoffmann

I


Benjamin ist auf dem Weg zur Galerie. Frisch gewaschenes Haar, Wintermantel, schwarze Jeans und dazu passende Lederschuhe. An der Ecke biegt er in die Straße ein: Gelächter, das Klirren von Sektgläsern, Zigarettenrauch weht ihm entgegen. Die Gäste stehen in ihren Mänteln, königsblau und creme, unter der Leuchtschrift der Galerie. Vorteilhaftes Licht, denkt er.

Er geht auf die Gruppe zu, in der er Stephan stehen sieht. Gratulation, sagt Benjamin zu ihm und meint es fast so.

Stephan klopft ihm auf die Schulter. Na endlich, sagt er, ich dachte schon, du kneifst.

Bevor er antworten kann, hat sich Stephans Frau Katharina dicht neben ihn gestellt. Ich bin so gespannt auf deine Laudatio, sagt sie und stößt ihm den Ellenbogen in die Seite. Wieder so ein Appell an den Betrieb?

Benjamin lächelt. Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Für solche rebellischen Sachen bin ich zu alt.

Stephan lacht laut auf. Du bist fünfzig, du bist nicht alt. Fünfzig ist das neue dreißig.

Er versteht, dass Stephan an diese Dinge glaubt.

Eine junge Frau tritt aus der Galerie, sie balanciert ein Tablett mit Sektgläsern, hält es dezent in seine Richtung, ohne ihn anzusehen. Pflichtpraktikum, wahrscheinlich Kulturwissenschaften, von ihnen sieht er viele. Dankend lehnt er ab.

Dann ist sechzig also auch das neue vierzig?, will Katharina wissen und zwinkert ihrem Mann zu, aber Stephan ist bereits von Frauke, der Galeristin, abgelenkt.

Jetzt, wo der Herr Professor da ist, kann es ja losgehen. Die Nachbar*innen hier …, Frauke verdreht die Augen. Nach zehn Uhr darfst du nicht mal mit dem Schlüssel klimpern. Sie wendet sich ab, ruft: Husch, husch, zur Kunst, und Benjamin möchte im Boden versinken. An der Tür lässt er Stephan und Katharina den Vortritt, sieht das Plakat für Stephans Ausstellung. Es leuchtet schweinchenrosa und blutfarben im Fenster wie die Auslage einer Fleischerei. Der Titel in weißen Buchstaben darüber: Berührung und andere wesentliche Bedürfnisse.

 

Malen soll man nur, was man berührt hat, ist sein erster Satz. Katharina bekommt eine Gänsehaut. Zum einen wegen der Kälte (Frauke ist geizig und heizt kaum). Zum anderen ist Benjamin ein überraschend guter Redner, obwohl er normalerweise entweder gar nichts sagt oder alles ironisch meint. Er fährt fort, über die verschiedenen Arten von Berührung zu sprechen, die physische und die metaphysische, die materielle und die immaterielle. Er sagt, man müsse sich von der Welt berühren lassen, nah herantreten. Katharina schaut auf Stephan, der vor dem Fenster steht und an seinem Sekt nippt. Seit Jahren schon hat er nur noch das berührt, was sich für ihn lohnt (siehe Frauke). Es macht ihr nichts mehr aus, zu wissen, dass er mit Galeristinnen und Praktikanten, mit Fotografen und Journalistinnen schläft, wahrscheinlich hat er auch mit Benjamin geschlafen für dessen Laudatio. Sie lächelt in sich hinein, stellt sich vor, wie Stephan nackt auf dem Bauch liegt, Benjamin küsst seinen Hintern. Sie würde es ihm beinahe gönnen, von Anfang an hat sie Benjamins unglückliches Liebesleben mitverfolgt. Wann immer es um das Thema geht, sagt Stephan, Benjamin habe unrealistische Ansprüche. Katharina ärgert sich hin und wieder, dass sie wegen der Sache damals nicht noch mehr mit Benjamin geflirtet hat. Selbst jetzt, wenn sie es versucht, begreift er es nicht (oder will es nicht begreifen). Schade, dass Beziehungen immer so festgelegt sein müssen. Einmal ein Freund, immer nur Freund. Einmal die Ehefrau des Künstlers, nie etwas anderes als die Ehefrau des Künstlers. Einmal die Mutter von Zwillingen, immer Mutter von Zwillingen. Manchmal würde sie gern wieder achtzehn sein und alles, worauf sie sich irgendwann einmal festgelegt hat, offenlassen. Sexualität, Beruf, Wohnort, Partner, Kinder. Wer wäre sie dann? Wäre sie überhaupt jemand? Sie kann nicht verstehen, dass Leute an ihrer Identität festhalten, ja sie sogar aufbauen und stärken wollen, wenn es doch das Beste wäre, sie an den Nagel zu hängen. Laut würde sie das niemals sagen, vor allem nicht vor Frauke, die in Wahrheit nicht mit Kunst, sondern mit Identitäten ihr Geld macht. Dass sie die Einzelausstellung eines alten weißen Malers in ihrer Galerie duldet, kann nur eins bedeuten. Katharina atmet schwer aus und denkt an ihren Qi-Gong-Lehrer, loslassen und entspannen, loslassen und entspannen.

Benjamin spricht jetzt davon, dass Stephans Arbeiten die Angstlosigkeit des Künstlers zeigen, selbst die schwersten Umstände der menschlichen Existenz nicht unberührt zu lassen (die Stephan selbst natürlich nie erlebt hat).

– Themen, die die aufmerksame Beobachterin erahnen kann.

Katharina freut sich über diesen schön gegenderten Seitenhieb. Benjamin weiß natürlich genau, dass es so etwas wie aufmerksame Beobachterinnen auf Vernissagen nicht gibt. Alle sind wegen des Sekts gekommen oder wegen der Kontakte. Sie verlagert ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, räuspert sich leise, hört wieder hin.

– wie wir in Berührung zu uns selbst stehen, zum anderen, zur vermeintlichen Wirklichkeit. Wie können wir uns selbst berühren? Berührt werden?

Eine perfekte Pause. Katharina würde wetten, dass in diesen zwei Sekunden alle, ausnahmslose alle, an Sex denken.

– Was passiert, wenn Berührung ausbleibt? Stephan Pragers Bilder erinnern uns an die heute mehr denn je entscheidende Frage: Welche Spuren wollen wir hinterlassen, auf unseren Körpern, den Körpern der anderen, in der Welt?

Es herrscht Stille, dann nickt Benjamin abschließend, und alle klatschen. Stephan geht nach vorn, umarmt seinen Freund und klopft ihm dabei kräftig auf den Rücken. Blitzlicht hier und da, dann tritt Benjamin zur Seite, während Stephan strahlend den Fotografen und dann Frauke zunickt, das Sektglas hebt. Katharina geht auf Benjamin zu, beugt sich zu ihm und sagt leise: Du kannst es nicht lassen, wieder ein Appell. Aber ein schöner. Benjamin schaut sie abwesend an und entschuldigt sich. Er müsse zur Toilette.

 

Eine Weile schließt er sich im Badezimmer ein, schaut in den Spiegel, streicht das Haar hinter die Ohren, bald vollkommen grau. Heute sieht er besonders müde aus, die Falten liegen tief. Tränenflüssigkeit sammelt sich unerwartet in seinen Augen. Die Leute draußen erscheinen ihm weit entfernt, selbst das Gesicht im Spiegel kommt ihm beliebig vor. Er wischt sich über die Lider. Wie armselig. Da predigt er über Berührung und Nähe, die Bedeutung von Gemeinschaft und Beteiligung, dabei ist er derjenige, der einsam im Badezimmer steht und sentimentalen Gedanken nachhängt. Dreißig Jahre sind vergangen, seitdem Stephan zum ersten Mal zu ihm gesagt hat: Malen sollte man nur, was man berührt hat. Es war in Stephans Wohnung auf einer seiner ständigen Feiern während Benjamins erstem Semester. Stephan war die meiste Zeit betrunken, das ist er heute auch.

Benjamin atmet schwer aus und wirft die Papiertücher in den Mülleimer. Ein letzter Blick in den Spiegel, dann öffnet er mit einem leichten Kopfschütteln die Tür.

Stephan ist immer noch von Leuten umringt und beachtet ihn nicht. Draußen vor der Fensterfront unterhalten sich Katharina und Frauke, beide rauchen. Benjamin stellt sich dazu, und wieder hält ihm die Praktikantin das Tablett hin. Dieses Mal lächelt sie ihn an, fragt: Einen Sekt, Professor Leiser, und er nimmt ein Glas. Dabei bemerkt er, dass sie in der Januarkälte leicht zittert.

Frauke, fragt er, was versprichst du eigentlich deinen Mitarbeiterinnen für unbezahlte Arbeit an Samstagabenden?

Katharina kichert. Attacke, sagt sie.

Wer sagt, dass es unbezahlte Arbeit ist, antwortet Frauke. Einblicke in die Cultural Industries, Förderung von Management- und Social-Media-Skills. Ich würde das nicht unbezahlt nennen. Sie zieht an ihrer Zigarette und bläst den Rauch hinauf, er wabert um die Leuchtschrift der Galerie. Das rote Licht, das auf Fraukes Kurzhaarfrisur fällt, lässt sie teuflisch aussehen.

Nennen wir es Sektausschenken, sagt er, für den Werdegang.

Die Mundwinkel der Praktikantin zucken. Dann erschrickt sie. Jemand hat ihr eine Hand auf den Rücken gelegt und sagt: Da bist du, hab dich gesucht. Sie tritt ein Stück zur Seite und gibt die Sicht auf einen Mann frei, den sie als ihren Freund vorstellt. Konstantin Mai.

Der junge Mann grüßt, sein Blick fällt auf Benjamin, der ihm direkt gegenübersteht. Auch Benjamin erschrickt. Er fühlt ein Kribbeln im Nacken, das ihm die Wirbelsäule hinunterrinnt, in die Beine fährt, die ihm plötzlich unangenehm bewusst sind: wie er dasteht, so ungelenk, und Konstantin anstarrt, seine Augen nicht braun, nicht grün, ein Fastgelb mit kleinen dunklen Punkten darin. Er schaut Benjamin noch für einen Moment an, bevor er sich Frauke zuwendet. Die sagt: Ach, hallo, schön, dass wir uns kennenlernen. Jorinde hat so viel von dir erzählt. Du studierst auch Kunst?

Benjamins Blick klebt immer noch an Konstantin, der nickt und sieht dabei aus, als könnte er nicht glauben, dass man viel über ihn geredet haben soll.

Wir sprechen gerade über Werdegänge, erklärt Jorinde. Lebensläufe und wie man sie poliert.

Benjamin räuspert sich. Mit Sekt zum Beispiel, sagt er und trinkt sein Glas leer.

Jorinde lächelt. Haben Sie sich das eigentlich ausgedacht? Das mit dem Nur malen, was man berührt hat?

Benjamin überlegt, ob er einen Witz machen soll, aber ihm fällt keiner ein. Also antwortet er: Der Satz stammt ursprünglich von meinem Vater. Er hat in einem Fischereibetrieb gearbeitet und immer gesagt, man solle besser nur töten, was man angefasst habe. Das mache es schwerer. Stephan hat den Satz vor vielen Jahren auf die Kunst umgemünzt.

Und? Macht es das? Schwerer, meine ich, fragt Konstantin, der auf Benjamins leeres Sektglas schaut.

Das müssten Sie meinen Vater fragen.

Ich wusste gar nicht, dass dein Vater in einer Fischerei gearbeitet hat, sagt Katharina, als hätte sie etwas Wichtiges verpasst.

Benjamin wechselt das Thema: Und Sie studieren Malerei?

Konstantin Mai schaut auf. Medienkunst, zweites Semester.

Das erstaunt ihn. Der junge Mann wirkt nicht wie jemand aus dem zweiten Semester. Er muss über dreißig sein. Wenn fünfzig das neue dreißig ist, ist dreißig vielleicht auch das neue zehn, denkt Benjamin, aber er merkt, dass das keinen Sinn ergibt.

Ich geh mal den Sekt auffüllen, sagt Jorinde, und Konstantin antwortet schnell: Ich komm mit.

Hastig nimmt sich Benjamin ein neues Glas vom Tablett, bevor Jorinde mit ihrem Freund verschwindet. Er trinkt es in einem Zug aus, denkt, nein, es ist albern. Manch einer hat fastgelbe Augen und sieht jemandem ähnlich. Er fängt an, Gespenster zu sehen, weil er nach der Rede an früher hat denken müssen. Er strafft die Schultern und hört Katharina sagen: Knuffiges Paar, die beiden.

Jorinde ist eine echte Bereicherung, antwortet Frauke, so zuverlässig. Ich meine, ich brauche schlicht und einfach keine Leute, die Freitagabend 19 Uhr zum Yoga müssen. So hält man Kultur nicht am Laufen. Sie schaut Benjamin von der Seite an. Manche Menschen haben eben Spaß an ihrer Arbeit. Trotz angeblicher Unterbezahlung. Das Wort Spaß betont sie, als hätte sie ihre Zweifel, dass er weiß, was es bedeutet.

Er überlegt, ob er sich wieder mit Frauke anlegen soll. Stattdessen geht er zurück in die Galerie. Stephan kommt von der Toilette und reibt sich die Hände an der Hose ab. Danke für die warmen Worte, Benji, sagt er und grinst.

Ich hoffe, du hast die Anspielung verstanden.

Falls du mein Gebot von früher meinst: Na klar.

Benjamin grinst zurück. Damals hattest du wenigstens noch Prinzipien.

Die habe ich auch heute noch, bloß heißen sie jetzt anders: Nur malen, was Geld bringt, zum Beispiel. Stephan breitet die Arme aus. Und siehe da.

Wenigstens einer von uns hat erreicht, was er wollte.

Jetzt schau nicht so deprimiert, Benji-Biene. Lass uns lieber noch was trinken.

Stephan legt ihm den Arm um die Schultern und schüttelt ihn. Ein Teil von Benjamin mag es, Biene genannt und geschüttelt zu werden. Niemand anderes als Stephan würde das wagen. Dafür liebt er ihn. Dem anderen Teil ist das alles schrecklich unangenehm.

 

Nach dem vierten Sekt tritt Benjamin vor die Tür und bittet Katharina um eine Zigarette. Du rauchst doch nicht mehr, sagt sie und gibt ihm Feuer, hält dabei die Hände ganz nah an sein Gesicht. Bevor sie ihn in ein Gespräch verwickeln kann, zieht er das Handy aus der Tasche und runzelt die Stirn, als hätte er eine wichtige Nachricht bekommen. Tatsächlich hat seine Mutter zwei Mal versucht, ihn zu erreichen.

Ich muss kurz, sagt er und winkt mit dem Telefon.

An der Straßenecke öffnet er den Browser, tippt ein: Konstantin Mai. Er ist sich bewusst, dass er größere Beherrschung an den Tag legen sollte. Es ist der Alkohol. Neben ihm, unter dem Schild an der Ecke, liegt eins der ersten Weihnachtsopfer des neuen Jahres. Ein toter Baum, Splitter einer Christbaumkugel glitzern zwischen den Gehwegplatten. Er schaut zurück aufs Telefon. Wahrscheinlich gibt es diesen Namen so häufig wie Fische im Meer, aber trotzdem. Das erste Ergebnis ist die Webseite eines Komikers, geboren 1988, das kann er nicht sein. Danach folgen Einträge von Branchenseiten: Konstantin Mai, Head of Analytics; Konstantin Mai, Sales Manager; dann das Profil eines Mitarbeiters des Opernhauses: Konstantin Mai, Flötist.

Er steckt das Telefon zurück in die Manteltasche, beobachtet, wie sich jemand bei Frauke verabschiedet. Selbst aus der Entfernung hört er Stephans Lachen. Einen Augenblick steht Benjamin da, zieht noch einmal an der Zigarette, bevor er sie auf den Boden wirft. Sie landet neben dem Weihnachtsbaum. Der ist recht klein, vielleicht einen Meter lang. Er beugt sich über ihn, betrachtet die bräunlichen Nadeln. Dann, ruckartig, als müsste er sich losreißen, geht er, ohne sich zu verabschieden, in Richtung U-Bahn-Haltestelle davon.




Am Sonntagmorgen schlägt Benjamin um 11:27 Uhr die Augen auf. Er liegt da, lauscht den Autos, die über das Kopfsteinpflaster fahren, unter dem Fenster bellt ein Hund, jemand brüllt: Ey, weg da! Seine Wohnung wird einzig von einem Kachelofen beheizt, und weil das Feuer heruntergebrannt ist, herrscht Eiseskälte im Zimmer. Die Wohnung ist in all den Jahren nie renoviert worden. Er hat einen dieser selten gewordenen Vermieter, der alle in Frieden lässt. Die Wände haben nie eine Raufasertapete gesehen, die Dielen kein Schleifgerät. Es fällt ihm schwer, aufzustehen, bei 15 Grad. Wie jeden Winter denkt er über einen Umzug nach, aber wenn etwas in seinem Leben einem eigenen Kind am nächsten kommt, dann diese Wohnung.

Das Schlafzimmer ist sparsam eingerichtet, wie auch der Rest der 65 Quadratmeter: ein Kleiderschrank in der Ecke, eine Kommode neben der Tür und das Massivholzbett, in dem er liegt. Darüber, genau in der Mitte, hängt das einzig Dekorative in diesem Raum, ein Plakat aus der Hamburger Kunsthalle. Ein Bild von Gerhard Richter: Brücke (am Meer), von 1969, Benjamins Zeugungsjahr, handsigniert.

Unter dem melancholischen Bild dreht er sich schwerfällig um, als würde ihm etwas wehtun. Er schlüpft in die Hausschuhe, greift nach dem anthrazitfarbenen Bademantel. Ein Schauer breitet sich auf seinen Armen und Beinen aus, als der kalte Stoff die Haut berührt. Er geht zum Ofen, hockt sich davor. Mit einer Sprühflasche befeuchtet er die Luft, um die Rußpartikel zu binden, die er mit der Bürste aufwirbelt. Er greift nach Holzscheiten und Anzündholz, stapelt es, wie er es seit drei Jahrzehnten stapelt. In die Spalte legt er Anzünder und hält das Feuerzeug daran. Sofort schießen die Flammen auf. Er beobachtet, wie das Feuer am Holz leckt, lauscht dem Knistern, wärmt sein Gesicht, dann vibriert das Telefon auf dem Nachttisch. Er steht auf, legt sich zurück ins Bett und liest: Stephan sagt, er hat den Kater des Jahres (und es ist erst Januar!). Musste ihn nach Hause schleppen. Du wurdest sehnlichst vermisst. Benjamin legt das Telefon weg. Er kann mit solchen Nachrichten wenig anfangen. Soll er darin einen Vorwurf lesen oder Zärtlichkeit? Es ist ihm nicht entgangen, dass Katharina gestern wieder versucht hat, ihn mit zweideutigen Bemerkungen in Verlegenheit zu bringen. Vielleicht braucht sie eine Herausforderung, vielleicht reizt sie das Drama – der beste Freund des Ehemannes und so weiter. Benjamin ist nie darauf eingegangen, Katharina ist nicht sein Typ. Sie findet alle nett oder schauspielert überzeugend. Immerhin ist sie Lehrerin, wahrscheinlich gehört das zum Berufsbild, vor den Kindern zu stehen und gut gelaunt zu sein, egal, wie lästig sie tatsächlich sind. Vielleicht trinkt sie deshalb mit Stephans Affäre Sekt, als könnte nichts sie stören, als hätte sie alles im Griff. Er ist sich sicher, dass es ihr bei diesen Annäherungsversuchen nicht um ihn geht. Sie meint ihn nicht wirklich. Stephan würde sagen, Benjamin habe zu hohe Ansprüche. Uli hätte gesagt, er interpretiere zu viel rein. Er würde sagen, das sei doch das Mindeste.

Er nimmt das Telefon wieder vom Nachttisch und antwortet: Mein Beileid zum Kater. Fünfzig ist wohl doch nicht das neue dreißig. Irgendwie beruhigend.

Sein Daumen verharrt über dem Display. Er hebt den Kopf, blickt in die Zimmerecke, dann zur Tür, als würde er jemanden erwarten. Er schaut zurück aufs Telefon, löscht Irgendwie beruhigend und schickt die Nachricht ab.

 

Die Frau hinter dem Tresen ist neu. Sie fragt, was er will, dabei nimmt er immer dasselbe und muss es normalerweise nicht sagen, weil Jeremia weiß, was er will. Aber der arbeitet sonntags nicht, das einzig Richtige, findet Benjamin. Trotzdem schade.

Aeropress, sagt er.

Welche Bohne, fragt die Neue und hält zwei Tüten in die Höhe.

Er seufzt in sich hinein. Die Kolumbianische.

Sie nickt und dreht sich um, wiegt die korrekte Menge Kaffeebohnen ab. Er beobachtet ihre Handbewegungen, wie sie die Tüte aufnestelt, die Bohnen in einen silbernen Becher schüttet, der auf einer Küchenwaage steht. Jeremia hält seine Nase immer dicht an die Tütenöffnung und atmet tief ein. Seine Mimik spricht von der Liebe für das, was er tut. Jeremia zeigt sich Benjamin gegenüber jedes Mal dankbar, dass er einen Aeropress-Kaffee bestellt, den er, Jeremia, zubereiten darf. Nicht irgendeinen Hafermilch-Latte. Dass diese Liebe der Neuen abgeht, ist offensichtlich. Gleichzeitig ist Benjamin natürlich bewusst, dass Lohnarbeit ein Fluch ist, den man niemals lieben darf. Er weiß auch, dass es verwerflich ist, sich in einem Café, in dem der kleine Cappuccino 3,50 Euro kostet, zu den Stammkund*innen zu zählen. Oder überhaupt Kaffee zu trinken, der auf Plantagen am anderen Ende der Welt zum Trocknen in der Klimawandeldürre ausliegt oder in einem endlosen, ressourcenverschwendenden Prozess von seinem Fruchtfleisch rein gewaschen wird.

Die Neue arrangiert die Aeropress auf der Waage, dreht sich zur Mühle, kippt die Bohnen hinein. Über das laute Mahlgeräusch hinweg sagt sie: 4,70 Euro macht das dann.

Benjamin bezahlt sonst erst, wenn er den Kaffee entgegengenommen hat. Schweigend hält er die Bankkarte hoch und fügt ein bemühtes Lächeln hinzu.

Die Frau tippt etwas in die Kasse, deutet auf das Kartenlesegerät und wendet sich wieder der Aeropress zu. Das Gerät fragt, ob er 10, 15, 20 oder 30 Prozent Trinkgeld geben will. Er tippt auf die 10, im nächsten Moment bereut er es.

Hier, bitte schön, sagt die Neue und reicht ihm Kanne und Tasse auf einem silbernen Tablett.

Vielen Dank, sagt er und geht auf seinen Fensterplatz im hinteren Teil des Ladens zu.

Er schenkt sich einen Schluck Kaffee ein, bewegt die Tasse kreisend in der rechten Hand und atmet den Dampf ein. Na ja, denkt er und trinkt. Er holt das Telefon aus der Manteltasche und öffnet, ohne darüber nachzudenken, den Browser. Er schaut auf die zuletzt besuchte Webseite, dann erinnert er sich an Konstantin Mai und seine von Sekt und Sentimentalität provozierte Schwäche, den armen Medienkünstler durch eine Suchmaschine zu jagen. So etwas Albernes. Das Telefon klingelt in seiner Hand, er erschrickt. Es könnte wieder seine Mutter sein. Aber auf dem Display steht Sibylla Melani.

Sibylla, sagt er, und seine Stimme klingt weich.

Hey, Benjamin.

Ich hoffe nicht, dass du dich meldest, um für heute Abend abzusagen.

Im Gegenteil.

Er lächelt, als er sie das sagen hört.

Ich wollte dir vorschlagen, ins Theater zu gehen. Ich habe was gefunden, dachte, das wäre was für dich.

Was denn?

Warten auf Godot.

Er lacht. Weil ich vergeblich auf jemanden warte?

Sibylla lacht auch. Ich dachte, du merkst es nicht.

Was?

Mein pädagogisches Motiv.

Inwiefern hältst du es für pädagogisch wertvoll, mich zu Warten auf Godot einzuladen?

Ach, jetzt lade ich dich also ein? Nice move.

Für einen Moment genießt er Sibyllas Spitzfindigkeit.

Also, gehen wir?

Wie könnte ich ablehnen, Sibylla?

Brav. Ich schick dir die Infos. Bis später.

Sie legt auf, und Benjamin nimmt seine Tasse, lehnt sich zurück. Der Kaffee schmeckt doch besser als erwartet. Er notiert sich in Gedanken, nächsten Sonntag wiederzukommen. Jede*r verdient eine zweite Chance.

 

Benjamin, denkt sie, Benjamin, Benjamin, als könnte sie ihn so herbeizitieren. Wie immer ist er zu spät, und sie ist pünktlich. Sie könnte ebenfalls später kommen, wo sie doch weiß, sie wird warten müssen. Aber dann würde sie sich an sein Verhalten, sein Fehlverhalten, um genau zu sein, anpassen. So weit kommt’s noch, denkt sie und friert.

Sibylla hat vor dem Verlassen des Hauses die Wetter-App gecheckt und sich deswegen für die olivgrüne Winterfunktionsjacke entschieden. Dabei wollte sie eigentlich den roten Mantel tragen, die attraktivere Wahl. Für den hatte selbst Benjamin schon anerkennende Worte übrig, aber niemals würde sie so tief sinken, ihre Kleiderwahl von seinem Geschmack abhängig zu machen. Sie wippt ein wenig in den Knien, in der Hoffnung, ihre Beine aufzuwärmen. Sie streicht an ihren Haaren herum, justiert die Spange am Hinterkopf neu. Insgeheim mag sie es, auf Benjamin zu warten. Es erinnert sie an die Unverbindlichkeit ihres Arrangements. Er könnte kommen oder sie versetzen, könnte sie innig lieben oder übermorgen alles beenden. Allermeist ist er aber doch sehr gewillt, ihren Wünschen nachzukommen, Fußmassagen zum Beispiel oder Füßeküssen, Unverbindlichkeit hin oder her.

Seit einem Jahr treffen sie sich, höchstens vierzehntäglich, für ein Abendessen im Restaurant, einen Museumsbesuch, einen Spaziergang – mit anschließendem Sex. Ihr Mann Andrew sitzt währenddessen zu Hause, weiß von allem und freut sich oder trifft seinerseits eine Bekanntschaft, von der Sibylla ebenfalls weiß und wegen der sie sich dann mehr oder weniger für Andrew freut. Sie hat Benjamin an der Universität kennengelernt, als sie für ein Semester als Gastdozentin jungen, aufstrebenden Menschen zu vermitteln versucht hat, dass der Kunstbetrieb nichts weiter ist als eine sausage party und sie sich glücklich schätzen können, wenn sie während der Studienzeit eine selbst organisierte, honorarfreie Ausstellung in der Stadt auf die Beine stellen dürfen und hinterher mit Fieber und Gliederschmerzen im Bett liegen.

Da eins von Benjamins Seminaren in jenem Semester den Titel Werk, Markt, Wert – Eine Betriebsanalyse trug, war absehbar, dass sie auf der Weihnachtsfeier des Instituts Wein um Wein miteinander trinken würden, während sie sich permanent gegenseitig recht gaben. Kurz darauf verabredeten sie sich zu einem ersten Abendessen, bei dem Sibylla das Gespräch elegant auf seinen Beziehungsstatus lenkte, woraufhin er sagte: Nein, nein, eine feste Beziehung wäre sowieso nichts für mich, ich bin innerlich viel zu rigide und außerdem zu alt. Sie dachte: Zu alt, als ob. Wenn er nur sehen könnte, mit was für lüsternen Blicken ihn Frauen, Männer und alle dazwischen verschlingen, ganz egal welchen Alters. Mit Sicherheit verlieben sich früher oder später 98 Prozent aller Studierenden in ihn, der Rest identifiziert sich als aromantisch.

In diesem Moment kommt Benjamin die U-Bahn-Treppe hinauf, das Licht des Haltestellenschildes liegt sanft auf seinen Schultern. Sie beobachtet, wie er am Aufgang kurz stehen bleibt, das Telefon aus der Tasche zieht und es gleich wieder einsteckt.

Na, sagt sie und lächelt ihn an, als er nur noch wenige Schritte entfernt ist. Ungebetene Anrufer*innen? Würde mich nicht wundern, wenn dich jemand stalkt.

Ich nehme an, das ist eines deiner versteckten Komplimente, antwortet er. Aber ich muss dich enttäuschen, es war nur meine Mutter.

Und du gehst nicht ran? Wie ungezogen.

Da würde sie sicher zustimmen. Willst du noch eine rauchen, fragt er und holt eine frische Schachtel Zigaretten aus der Manteltasche.

Gewagt, denkt sie, in Anbetracht der Uhrzeit. Und überhaupt, seit wann raucht er?

Wieso nicht, sagt sie, und er zündet ihnen beiden eine Zigarette an.

Ich habe auf dem Weg hierher zwei Kritiken gelesen, sagt er. Es hieß, die Inszenierung sei eine metamoderne Interpretation der vergeblichen Hoffnung auf einen Systemwandel beziehungsweise die perfekte Darstellung des horror vacui.

Sibylla lacht. Kein Wunder, dass kaum noch jemand ins Theater geht, Metamodernismus, gute Nacht. Sie schüttelt sich unwillkürlich.

Ist dir kalt?

Nein, ich musste nur den Gedanken an unseren Elfenbeinturm loswerden.

Immerhin bist du so ehrlich und zählst dich dazu.

Das ist doch Teil unserer Attitüde, sagt sie, aber Benjamin hört nicht zu.

Er holt sein Telefon hervor und seufzt. Schon wieder meine Mutter.

Hartnäckig, sagt Sibylla und hofft, dass er nicht rangeht. In fünf Minuten beginnt das Stück, und sie haben noch nicht einmal ihre Jacken abgegeben. Zur Toilette will sie eigentlich auch noch.

Benjamin nimmt ab. Er formt ein lautloses Sorry mit den Lippen und entfernt sich ein Stück.

Sie hört ihn laut und fröhlich sagen: Nur keine Sorge, Mutti. Dann schweigt er. Sibylla stellt sich vor, wie Benjamins Mutter über seine spärlichen Besuche klagt. Er sagt etwas, zu leise dieses Mal. Vielleicht erzählt er ihr, dass er mit einer ehemaligen Kollegin ins Theater geht, dass er sich beeilen muss. Die Mutter wahrscheinlich daraufhin: Mit mir gehst du nie ins Theater. Sibylla lächelt und zieht an ihrer Zigarette. Benjamin scharrt mit der Schuhspitze ein paar Kieselsteine auf dem Gehweg zusammen, fährt sich mit ungeduldiger Geste durch die Haare und schaut entschuldigend zu ihr hinüber. Ganz sicher, hört sie ihn fragen, jetzt wieder etwas lauter. Dann Schweigen, ein Nicken, verabschiedende Worte, und er legt auf.

Alles in Ordnung, fragt Sibylla und geht ein paar Schritte, um ihn sanft in Richtung Theatereingang zu bewegen. In drei Minuten beginnt das Stück. Aber Benjamin rührt sich nicht.

Mein Vater ist krank beziehungsweise noch kränker als sonst.

Sibylla bleibt stehen. Schlimm?

Demenz. Er ist schon seit anderthalb Jahren im Heim. Seniorenresidenz, meine ich.

Sie schaut ihn an, sucht in seiner Mimik die Verbitterung, die sie in seiner Stimme zu hören glaubt. Und jetzt?

Vielleicht geht es ihm wirklich schlecht. Manchmal … Er zuckt mit den Schultern und seufzt.

Sibylla hat plötzlich den Eindruck, dass sich etwas zwischen ihnen verschoben hat. Nie haben sie über persönliche Dinge gesprochen, jedenfalls keine, die diesen Blick in Benjamins Augen ausgelöst hätten. Er sieht aus wie ein kleiner Junge, der mit seiner Klassenlehrerin vor der Schule steht und seit Stunden oder Tagen oder Jahren darauf wartet, dass seine Mutter ihn abholt.

Willst du lieber nach Hause?

Er lächelt, schaut an der Theaterfassade hinauf. Nein. Ich will mir lieber diese metamoderne Darstellung des horror vacui ansehen. Komm!

Your choice, sagt sie und denkt: Auf die Minute genau.

Als Benjamin in Richtung Eingang vorangeht, schließt sie zu ihm auf und nimmt, zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit, seine Hand.

Die ergreifende Geschichte einer Selbstbefreiung, kunstvoll erzählt

Meine Mutter ist Borderlinerin - und wer bin ich?

Blick ins Buch
Sei nicht soSei nicht so

Roman

Der Kampf einer Tochter um die eigene Identität

Alice steht als Comedienne im Rampenlicht und oft neben sich. Ihre Mutter lebt seit Wochen mit den Füßen im Wasser, weil die Badewanne übergelaufen ist, ihr Vater hat sich mit den Worten „die Pipeline ist defekt“ ins Jenseits verabschiedet, und ihr Publikum weiß nicht, ob es über ihre Witze lachen oder weinen soll. Dann erfährt Alice von einer Zufallsbekanntschaft auch noch, dass sie keine eigene Persönlichkeit hat. 
Wie soll das alles weitergehen – vor allem, wenn das Gehen an sich infrage gestellt wird?

In ihrem Debütroman erzählt Kirstin Warnke davon, wie Alice sich befreit. Mit viel Humor, Situationskomik und Empathie.

»Der Roman hat mich zum Lachen gebracht, mich durchgeschüttelt, mich wahnsinnig gemacht und mir die Tränen in die Augen getrieben. Was für eine schriftstellerische Leistung!«  Christian Ehring, „Extra 3“

„Sprachlich beste Literatur, intensiv und mitreißend geschrieben, dabei voller Komik des Alltags.“ Michael Pöppl,Tagesspiegel

„Kirstin Warnke hat nun einen großen Roman geschrieben, irgendwo zwischen Heinz Strunk und Wilhelm Meister.“ Edo Reents, FAZ

„Man staunt darüber, was Warnke der guten alten Thomas-Mann-Leitidee von der Sehnsucht nach Gewöhnlichkeit auf sehr zeitgenössische Art abzugewinnen vermag.“ Edo Reents, FAZ

„Dabei gedeiht in diesem Schattendasein eine Erkenntnistiefe, die grelle Schlaglichter wirft – auf die Familie wie auf die in glänzenden essayistschen Passagen sezierte vermeintliche Normalität der anderen.“ Edo Reents, FAZ

In den Warenkorb
„Was für ein Buch!“

FAZ Podcast

Blick ins Buch
Wir sind hier für die StilleWir sind hier für die Stille

Roman

Über eine außergewöhnliche Jugend am Fuße der Karpaten

Die Geschichte einer Kindheit als soziales Experiment: Anfang der 1990er Jahre wandert die fast sechsjährige Judith mit ihren Eltern von Deutschland nach Rumänien aus. Ihr Ziel ist ein abgelegenes Dorf in Transsilvanien am Rande der Karpaten. Judith soll in einer ursprünglichen, vom Kapitalismus freien Gemeinschaft aufwachsen. Mit wachem Blick erkundet sie den Ort, seine Menschen, Geschichte und Sprache. Bald wird sie zur Wahlenkelin der alten Siebenbürger Sächsin Lizitanti. Und sie lernt Irina kennen, die mit ihrer Ziege im Milchauto mitfährt. Irina ist eine Romni. Judith möchte das auch sein, Irina aber lehnt das kategorisch ab. Bald stellt der Widerspruch zwischen mitgebrachter Utopie und vorgefundener Realität die Familie vor immer größere Probleme.

„Ist Fremdsein eine unüberwindbare Grenze – auch wenn man den Alltag miteinander teilt? Mit Dorothee Riese betritt eine Autorin die literarische Bühne, der es gelingt, mit den Mitteln der Sprache das, was hinter der Sprache liegt, spürbar zu machen.“ Jenny Erpenbeck

In den Warenkorb
„Eine sehr lustvolle, sehr schöne Erzählung.“

Deutschlandfunk Kultur

Blick ins Buch
Schreib den Namen deiner MutterSchreib den Namen deiner Mutter

Roman

Alex schreibt an einem Essay. Und kommt nicht voran. Das Thema: Worüber meine Mutter und ich nicht sprechen. Ein Besuch in der glamourös kaputten Provinzvilla der überreizten Mutter soll weiterhelfen, doch er zeigt nur: Sie sprechen gar nicht miteinander. Nicht über Alex’ Queerness, nicht über die Antidepressiva, die sie offensichtlich beide nehmen, nicht über die Traumata der Familie. Als die Mutter Alex beim Schützenfest (versehentlich!) anschießt, ist klar, dass nicht nur die Arbeit am Essay gescheitert ist. 
Ein grandios lakonischer Roman darüber, was Familien trennt und zusammenhält – das Unausgesprochene.

Hart und verletzlich, kühl und komisch – ein knallgegenwärtiger Roman über familiäre Leerstellen

In den Warenkorb
„Ein ergreifender Roman“ Spiegel online

Eine bewegende Familiengeschichte zwischen Unterdrückung, Flucht und dem Traum von einem freien Leben

Blick ins Buch
Natürlich kann man hier nicht lebenNatürlich kann man hier nicht lebenNatürlich kann man hier nicht leben

Roman

Nilay will los. Am liebsten noch heute Nacht, von Berlin nach Istanbul. Seit Wochen verfolgt sie mit ihren Eltern die Nachrichten vom Taksim-Platz: die Bilder der Proteste, das Rufen nach Freiheit. Selim und Hülya sind außer sich. Sie selbst waren Kinder in den Straßen Izmirs. Dann kam der Putsch, im September 1980. Es folgten Jahre der Willkür, doch sie glaubten an eine Zukunft in der Türkei. Schließlich hatten sie sich und fanden Wege des Widerstands. Dreißig Jahre später zieht es ihre Tochter in das Land, das sie hinter sich ließen, in der Hoffnung, anderswo frei zu sein.

Mit großer Dringlichkeit und Hellsicht erzählt Özge İnan die Geschichte einer Familie, die nicht aufgibt. Eine Geschichte von Freundschaft und Verrat, von Liebe und Wut.

„Özge İnan erzählt von Menschen, die tausend Gründe hätten, keinen Widerstand zu leisten – und die dennoch nicht zu brechen sind. Ein so lebendig erzählter, beeindruckender Roman.“ Shida Bazyar

2013

Am Abend vor ihrem sechzehnten Geburtstag wusste Nilay, was sie tun musste. Es leuchtete in ihrem Kopf auf wie ein Warnlicht, das umso hartnäckiger blinkte, je länger sie es ignorierte. Ein kleiner Teil von ihr befürchtete, ihre Eltern könnten es ihr ansehen. Aber Hülyas und Selims Blicke hingen am Fernseher fest, als sie am Wohnzimmer vorbei in ihr Zimmer schlich. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und alles vorfand wie zuvor, ihr ungemachtes Bett, den vollgestellten Schreibtisch, den Haufen Schmutzwäsche neben dem Schrank, drehte sie sich um und ging zurück ins Wohnzimmer.

Ihre Eltern schienen nicht bemerkt zu haben, dass es draußen bereits dämmerte. Die einzige Lichtquelle war der Fernseher. Statt des üblichen Obsttellers stand eine Schale Pistazien auf dem Sofatisch, und alle paar Minuten kam ein leises Knacken aus Selims Richtung. In den Nachrichten war eine verrauchte Straßenecke zu sehen, auch ohne den Untertitel erkannte Nilay das Taksimviertel: Erneut Ausschreitungen bei Gezi-Protesten. Aus dem dichten Nebel traten zwei Demonstranten, unkenntlich mit ihren Atemschutzmasken und Bauarbeiterhelmen, aber es waren eindeutig Jugendliche. Sie warfen etwas, vielleicht Flaschen oder Pflastersteine, und waren wieder aus dem Bild verschwunden, bevor der Strahl eines Wasserwerfers sie treffen konnte. Die Kamera folgte ihnen, und man sah gerade noch, wie sie in einen Hauseingang sprinteten. Wie Superhelden sehen sie aus, dachte Nilay, zu zweit gegen die Ungerechtigkeit der Welt. Die Nachrichtensprecherin kam zum nächsten Thema.

„Pinguine“, murmelte Hülya ihr Handy an.

„Was?“, fragte Nilay.

Selim stellte den Fernseher leiser.

„Auf CNN Türk zeigen sie eine Dokumentation über Pinguine.“ Hülya tippte mehrfach auf das Display, bis sie den Vollbildmodus gefunden hatte, und hielt es Nilay unangenehm nah vor die Augen. Offenbar hatte jemand mit zitternden Händen einen Röhrenfernseher abgefilmt. Mit Mühe erkannte sie, wie eine Gruppe kleiner Pinguine durch eine endlose Eislandschaft watschelte. Tatsächlich, Nilay entdeckte das Logo von CNN Türk in der oberen Ecke des Bildes. „Das hat mir deine Tante Banu geschickt. Das ist von gerade eben. Gerade eben! Während Istanbul brennt! Das kann doch nicht wahr sein!“ Sie schüttelte den Kopf, drehte sich zu Selim und wiederholte: „Selim, in Gottes Namen, das kann doch nicht wahr sein. Wo sind wir denn?“

In Deutschland, warum auch immer, dachte Nilay.

„Das ist nun einmal die Türkei“, sagte Selim. „Da kann alles wahr sein.“

„Warum bist du eigentlich so entspannt?“ Nilays Frage platzte in den Raum wie ein ungebetener Gast.

Selim hatte ihren anklagenden Ton entweder nicht bemerkt oder entschieden, nicht darauf einzugehen. „Du weißt, wir kennen das schon“, sagte er und nahm sich eine Handvoll Pistazien aus der Schale. „Die Leute gehen auf die Straße, der Staat tut so lange, als wäre nichts, bis es knallt, dann ist eine Weile Ruhe, und es geht wieder von vorne los.“ Zufrieden kaute er seine Pistazien. „Wir sind jetzt in Phase zwei. Daher die Pinguine.“

Nilay holte Luft, um etwas zu entgegnen, aber sie fand die Worte nicht. In ihrer Brust drückte und zog es, als wolle etwas hinaus. „Die können doch nicht einfach alles niederschlagen“, sagte sie schließlich. „Nicht, wenn dabei die ganze Welt zuschaut.“

„Wenn ich eins gelernt habe, dann, dass die sogenannte ganze Welt gar nicht so aufmerksam ist, wie man denkt“, sagte Selim.

Nilay sagte nichts. Das ist nicht fair, dachte sie. In Istanbul wurde Geschichte geschrieben, und sie musste sich in zweitausend Kilometer Entfernung die Weisheiten ihres Vaters anhören. Morgen würde er zur Arbeit gehen und die Ereignisse des Tages in ein Radiomikrofon sprechen, und das würde sein einziger Beitrag zu den Vorgängen in seiner Heimat bleiben. Wie er sich auch nur im Geringsten damit zufriedengeben konnte, war ihr ein Rätsel.

„Dein Bruder hat zu tun“, rief ihr Hülya hinterher, als Nilay aufstand und in Richtung von Emres Zimmer ging. Sie tat, als hätte sie es über den Ton des Fernsehers nicht gehört.

Das Zimmer war in das schwache Licht der Nachttischlampe getaucht. Emre lag auf seinem Bett, den Laptop auf dem Bauch, das Kinn wie die Stirn in Falten. Er warf ihr einen Blick zu. „Was hast du da?“

„Cornflakes.“

„Okay, pass auf, dass du nicht kleckerst.“

Nilay schloss die Tür und setzte sich aufs Sofa. Die Idee, die ihr in der Küche gekommen war, sprang in ihrem Bauch hin und her und ließ keinen Platz für die aufgeweichten Cornflakes. Nutzlos lag die Schüssel in ihrem Schoß und kühlte ihre Oberschenkel. Als sie nach einigen Minuten weder angefangen hatte zu essen noch zu reden, setzte Emre sich auf.

„Was ist los?“

„Nichts“, sagte Nilay, ohne nachzudenken. „Du musst dir keine Sorgen machen, Emre. Baba sagt, es ist ganz normal, dass man sein Studium abbricht“, schob sie nach einer Weile hinterher und kam sich im nächsten Moment vor wie ein Kind.

Emre schien das Gleiche zu denken. Er schnaubte und sprach zur Wand, als würde er seinem Vater, der wenige Meter dahinter saß, direkt antworten. „Baba sagt auch, wir sollen uns wegen Gezi keine Hoffnungen machen, und trotzdem klebt er ununterbrochen am Fernseher und verschlingt jede noch so winzige Neuigkeit.“

Nilays Puls schoss so heftig in die Höhe, dass sie ihn in den Schläfen spüren konnte. „Merkwürdig, oder? Als hätte er nichts weiter damit zu tun.“

„Du musst nicht alles glauben, was er sagt. Wenn er was nicht erträgt, blendet er es aus. Und das hier erträgt er nicht. Ein einziges Mal im Leben hat er sich etwas erhofft, und du weißt, was daraus wurde. Noch mal packt er das einfach nicht. Deshalb tut er, als wäre es nicht weiter schlimm, dass diese Proteste scheitern, und aus dem gleichen Grund tut er auch, als fände er es normal, dass sein Sohn die Uni nicht packt.“

„Blödsinn“, warf Nilay ein, sie bemühte sich, ruhig zu klingen.

Emre wandte sich zu ihr, er schien ein Grinsen zu unterdrücken. „Was davon?“

„Die Proteste werden nicht scheitern“, sagte Nilay. „Sie brauchen einfach gute Leute, auch aus dem Ausland. Leute wie uns. Im Camp haben sie jetzt angefangen, Foren abzuhalten, jeden Abend. Es geht nicht mehr nur um die Demos. Es geht um das ganze System und was sie vorhaben, wenn sie es geschafft haben. Was danach kommt. Das würden sie doch nicht machen, das wäre doch Zeitverschwendung, wenn …“

Die Zimmertür flog auf, und Hülya stellte einen Teller mit geschnittener Honigmelone auf den Couchtisch.

„Nilay, dein Bruder hat zu tun“, wiederholte sie, und weil Nilay nicht noch einmal so tun konnte, als hätte sie nichts gehört, stand sie auf, um ihrer Mutter aus dem Zimmer zu folgen. Emre bedeutete ihr, sich wieder hinzusetzen.

„Was soll das heißen?“, fragte er, als sie wieder allein waren. „Sie brauchen Leute wie uns?“

Nilay holte tief Luft. „Ich gehe nach Istanbul.“

Ihr Bruder tat nichts von dem, was sie erwartet hätte. Er hob für eine Sekunde die Augenbrauen, klappte seinen Laptop zu und streckte den Rücken durch. „Woher kommt das denn jetzt?“, fragte er.

„Ich habe es vorhin in der Küche beschlossen“, sagte sie und fragte sich, ob sie lieber hätte lügen sollen. Er hätte es ohnehin gemerkt, dachte sie und beschloss, die ganze Wahrheit zu sagen. „Während ich mir Cornflakes gemacht und die Nachrichten aus dem Wohnzimmer gehört habe, dachte ich, eigentlich ist es Quatsch, dass ich hier bin. Eigentlich müsste man jetzt da sein.“

Emre nickte, aber es lag keine Zustimmung darin. „Und wie kommst du darauf?“

Nilay wurde schlagartig klar, dass ihr gesamter Plan davon abhing, ob er sie jetzt verstehen würde. Und wie immer, wenn es auf die richtigen Worte ankam, wollten sie ihr nicht einfallen. Vielleicht hätte ich heimlich gehen und einen Brief dalassen sollen, dachte sie, wie im Film. Aber dann hätte Emre sie einfach angerufen. Um seinem forschenden Blick zu entgehen, fokussierte sie die Melonenstücke, die im Licht der Nachttischlampe glänzten. „Da entsteht gerade etwas. Ich weiß das. Seit ich denken kann, ist da derselbe Typ an der Macht, und jetzt könnte er endlich gestürzt werden. Ist das nicht aufregend? Aber damit das klappt, reichen die Leute nicht, die schon immer da waren. Es wird eine ganz neue Türkei, etwas, besser als alles, was wir kennen. Und ich könnte dazu beitragen. Ich wäre da einfach richtig.“ Sie suchte in seinem Gesicht nach einem Anflug von Verständnis, aber er sah sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen. „Verstehst du?“, schob sie hinterher.

„Wie habe ich mir diesen Beitrag vorzustellen?“, fragte Emre. „Du hast gerade mal einen mittleren Schulabschluss. Deine Interessen sind komische Musik und das Internet. Mein Gott, Nilay, du bist fünfzehn Jahre alt. Wie stellst du dir …“

„Sechzehn.“

Emre schnalzte mit der Zunge. „Siehst du! Das meine ich. Hast du eine Ahnung, wie jung man sein muss, um sein eigenes Alter nach oben zu korrigieren?“

Nilay blickte zur Tür und wünschte sich, ihre Mutter käme zurück. Immerhin hätte sie dann etwas Zeit, sich eine schlagfertige Antwort zu überlegen. Wenn sie ihren Plan schon nicht vor Emre verteidigen konnte, brauchte sie es bei ihren Eltern gar nicht erst zu versuchen. Sie kaute mit den Schneidezähnen auf ihrer Unterlippe herum, bis sich ein Hautfetzen abgelöst hatte. Der Gedanke an das Gespräch mit ihren Eltern verlor seinen Schrecken, je länger sie an ihrem Bruder vorbei an die Wand sah, hinter der sie saßen. Eigentlich war sie es niemandem schuldig, um Erlaubnis zu bitten.

„Was glaubst du denn in der Türkei vorzufinden?“, fragte Emre, nachdem sie eine Weile wortlos aneinander vorbeigestarrt hatten. Er klang, wie er immer klang, wenn sie kurz vor einem Streit standen. „Schon unter normalen Umständen ist Istanbul ein verdammtes Loch. Erinnerst du dich an den einen Abend letzten Sommer, als wir uns in Taksim mit Zeynep und ihren Freunden getroffen haben? Als du im Bad warst, um dich fertig zu machen, hat Baba zu mir gesagt: Wenn irgendjemand sie anfasst, fang keinen Streit an, man weiß nie, wer ein Messer dabeihat.“

Sie versuchte, seinem Blick auszuweichen, aber diesmal ließ er es nicht zu.

„Ist das der Ort, an dem du deine neue Welt aufbauen willst?“

„Ja“, antwortete sie und schob das Kinn in die Höhe.

Emre seufzte. „Alles, was du kannst, hast du hier gelernt, Nilay. Fast alles, was du weißt, haben dir Deutsche beigebracht. Das ist dir klar, oder?“

„Was soll das heißen?“

„Du hast keine Ahnung, was die Türkei für ein Land ist. Nicht die geringste, winzigste Ahnung. Du kennst eine Postkartenversion davon.“ Wieder schien er zu grinsen. „Eigentlich weißt du nicht mehr als jeder deutsche Tourist.“

Nilay stand so abrupt auf, dass ihr um ein Haar die Cornflakes aus der Hand gefallen wären. Ich muss mir das nicht anhören, dachte sie, ich muss überhaupt nicht mit diesem Menschen reden. Ohne ein weiteres Wort ging sie aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich, so leise, dass ihre Eltern es nicht mitbekamen, und gerade laut genug, dass Emre verstand, wie wütend sie war. Nachdem sie einige Augenblicke im dunklen Flur gestanden hatte, schlüpfte sie in ihre Turnschuhe, rief „Ich gehe kurz zum Späti!“ ins Wohnzimmer und verließ die Wohnung.

 

Auf der Heinrich-Heine-Straße war es so laut, dass sie ihre eigenen Schritte kaum hörte. Doch gegen das Rasen in ihrem Kopf half es nichts. Sie vergrub die Hände in den Taschen ihrer Jogginghose und umklammerte ihr Handy. Mit ihrer Ausrede hatte sie sich vielleicht fünfzehn Minuten erkauft, wenn es hochkam. Der Gedanke, dass ihre Freundinnen in solchen Situationen einfach gingen, erst am nächsten Morgen zurückkamen und niemand auch nur etwas fragte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Weil sie ihren Schlüssel vergessen hatte, würde sie klingeln und an der Tür ihrer Mutter erklären müssen, warum sie mit leeren Händen vom Kiosk kam. Sie war beinahe am Ende der Straße angekommen, dort würde sie entscheiden müssen, ob sie umkehren oder einmal um den Block laufen wollte. Ihre kleine Freiheit. Der Gedanke ärgerte sie nur noch mehr. Ein junges Paar kam ihr entgegen, vielleicht um die zwanzig. Es war Nilay unangenehm, die beiden anzusehen, so vertieft waren sie ineinander. Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, sah sie auf ihr Handy. In eineinhalb Stunden würde sie sechzehn sein. Was für ein Start, dachte sie und hätte vor Schreck fast aufgeschrien, als plötzlich Emre neben ihr stand.

„Was willst du?“, fauchte sie und wischte sich unauffällig die Tränen weg.

„Dein Schlüssel hing noch im Flur, und du hast kein Portemonnaie dabei“, sagte er gleichmütig. „Da du also nicht wirklich zum Späti gehst, wollte ich schauen, was du machst.“

Inzwischen waren sie an der Ecke Dresdener Straße angekommen. Nilay drehte um. „Das geht dich überhaupt nichts an.“

„Alles, was du machst, geht mich etwas an“, sagte Emre, als würde er ihr ein Naturgesetz erklären. „Deshalb gehst du auch nicht nach Istanbul. Ich mache mich nicht dafür verantwortlich, dass du im Gefängnis landest oder im Krankenhaus oder …“

„Natürlich“, unterbrach Nilay und wandte den Kopf ab. „Für mich Dummkopf gibt es natürlich nur das. Knast oder Krankenhaus.“ Sie lief schneller. „Ich kann ja nichts“, rief sie. „Ich bin ja niemand.“

Emre schnalzte so laut mit der Zunge, dass sie es über den Autolärm hören konnte. „Mein Gott, keiner sagt, dass du nichts kannst. Das Problem bist nicht du, das Problem ist die Türkei. Du bist einfach nicht von da, Nilay, du bist von hier.“

Nilay drehte sich so schnell um, dass Emre fast in sie hineinlief. „Wie kannst du so was sagen?“

„Worüber regst du dich eigentlich auf?“, fragte er, offenbar aufrichtig verwirrt. „Was ist dein verdammtes Problem damit, von hier zu sein?“

Nilay lief weiter. Allmählich näherten sie sich ihrem Haus. Sie konnte es entweder ein letztes Mal versuchen oder es tatsächlich sein lassen und einfach verschwinden, am besten gleich morgen.

„Ich habe kein Problem damit.“ Sie versuchte, so erwachsen zu klingen wie möglich. Jetzt standen sie vor der Haustür. „Es stimmt bloß einfach nicht. Wären wir von hier, würden wir leben, wie man hier lebt. Aber wie du siehst“ – sie deutete vage hinauf in den sechsten Stock, auf ihr ganzes enges Leben in der Wohnung, in der sie wohnten, seit Nilay denken konnte –, „wie du siehst, ist das nicht der Fall.“

Als Emre nichts erwiderte, ließ sie sich auf die Treppenstufen vor dem Hauseingang fallen, in denen noch etwas von der Restwärme des Tages gespeichert war. „Die Deutschen planen gerade ihren Sommerurlaub, bei uns geht es darum, wie viele heute wieder bei den Protesten verletzt wurden und ob das Militär bald eingreift. Letztens musste ich mich in der Schule abmelden, weil ich Kopfschmerzen hatte. Weißt du, was die Sekretärin zu mir gesagt hat, als ich ihr unseren Nachnamen sagte? Gesundheit. Das passiert dir nicht, wenn du von hier bist. So einfach ist das.“ Trotz der Dunkelheit traute sie sich nicht, Emre anzusehen.

Er setzte sich neben sie und schwieg so lange, dass sie fürchtete, ihre Eltern würden gleich anrufen. Dann gab er einen tiefen Seufzer von sich.

„Du willst gar nicht nach Istanbul“, sagte er. Er hatte das Kinn auf beide Handrücken gestützt und schien zu der Grünanlage gegenüber zu sprechen. „Du willst einfach nur raus aus Deutschland.“

Nilay setzte an zu protestieren, aber er ließ sich nicht unterbrechen.

„Du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Wir sind hier geboren, und wir leben hier. Es ist übrigens nicht so, als hätten die Deutschen keine Probleme. Ich kann dir aus dem Stand fünf nennen, denen es schlechter geht als dir. Ob du’s glaubst oder nicht, es gibt schlimmere Schicksale, als Migrantenkind zu sein. Und ich weiß nicht, ob dir das klar ist, aber frag zehn Leute auf den Straßen von Istanbul, neun von ihnen würden sofort mit dir tauschen.“

„Das ist der größte Quatsch, den ich je gehört habe“, erwiderte Nilay. Zum ersten Mal an diesem Abend lachten sie zusammen, und obwohl sie aus verschiedenen Gründen lachten, fühlte Nilay das Rasen in ihrem Kopf langsamer werden.

„Doch, es stimmt“, sagte Emre schließlich. „Die ganzen Leute haben nicht zum Spaß das Land verlassen und sind hierhergekommen. Anne und Baba am allerwenigsten.“

„Ich habe sie nicht darum gebeten.“

„Wäre es dir lieber, sie wären dageblieben?“

Nilay musterte sein Gesicht. Schon immer hatte er ausgesehen wie Selim, doch inzwischen war es nicht mehr der Selim auf den schwarz-weißen Klassenfotos, der unter vierzig uniformierten Jungen in die Kamera lachte. Nein, inzwischen sah er dem Selim auf den Farbfotos ähnlicher, auf denen er Hülya umarmte und beide merkwürdig fremd aussahen, weil sie ein Liebespaar waren und nicht ihre Eltern. „Sie hätten uns so oder so bekommen“, sagte sie. „Wir hätten das Leben gehabt, das wir hätten haben sollen.“

„Wirst du jetzt auch noch spirituell?“

Nilay kniff ihm in die Schulter. „Daran ist überhaupt nichts spirituell. Denkst du nie darüber nach, wie es gewesen wäre, wenn wir in der Türkei geboren wären?“

„Ich tu’s gerade.“ Ächzend stand Emre auf und machte sich daran, die Tür aufzuschließen. „Gefällt mir gar nicht. Ich habe genug Probleme, ich brauche nicht auch noch eine Revolution.“

Da sie keinen Schlüssel hatte, lief Nilay notgedrungen hinterher. Wie sehr sie sich auch gegen den Gedanken wehrte, im Spiegel des Fahrstuhls sahen ihr ein Mann und ein Kind entgegen. „Also glaubst du, dass es klappen kann?“

„Dass was klappen kann?“

„Die Revolution.“

„Wir werden sehen.“



1980

„Izmir-Zentrum! Bus nach Izmir-Zentrum!“

Selim wusste, dass der Bus noch lange nicht abfahren würde. Trotzdem beschleunigte er seinen Schritt und schob sich nervös durch die Mittel- und Oberschüler aus den umliegenden Dörfern. Sein erster Tag als Zehntklässler, und es ging mit der gleichen Drängelei los wie jeder frühere Montag auch. Ein wenig freute er sich, endlich nicht mehr zu den Jüngsten am Internat zu gehören. Die Fahrt mit dem Dolmuş von Eskigüney nach Uşak, von wo aus ein weiterer Bus nach Izmir fuhr, hatte er damit verbracht, so lange durch seine schwarzen Locken zu wühlen, bis sie ihm im Spiegelbild der Fensterscheibe angemessen unordentlich erschienen. Wenn es für ihn eine Sache gab, die an Peinlichkeit nicht zu überbieten war, dann waren es Zehntklässler mit glatt gekämmten Haaren.

Noch während sich der Bus mit plappernden Schülern füllte, empfand er eine Art vorauseilender Erschöpfung. In den Sommerferien war in Istanbul ein Gewerkschafter erschossen worden. Selim hatte gerade mit seinen älteren Brüdern vor dem Café auf der Hauptstraße des Dorfes gesessen, endlich bei den Männern, als man sie hineinrief, wo alle mit bleichen Gesichtern um das Radio herumstanden.

Es war nicht der erste und, dessen war sich Selim sicher, nicht der letzte politische Mord in diesen Tagen. Schon seit Jahren bestimmten blutige Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen die Schlagzeilen. Die Gerüchte über eine nahende Intervention des Militärs rissen nicht ab. Vor Kurzem war Selim von seiner Organisation, dem ILD, einer neunten Klasse als Mentor zugeteilt worden. Gerade fühlte er sich wenig revolutionär, auch wenn sie sich so nannten. Rekrutierungsarbeit, dachte er. Jetzt war er endgültig kein Neuling mehr in den Reihen der Linken, allmählich kannte man seinen Namen an der Atatürk-Jungenoberschule. In den nächsten Wochen würde er kaum zum Schlafen kommen, es gab viel zu tun.

Gähnend stapfte er durch den Bus, als sein Blick auf einen schlanken, groß gewachsenen Jungen fiel, der allein am Fenster saß. Er wirkte kaum älter als dreizehn oder vierzehn Jahre. Selim deutete auf den leeren Sitz neben ihm, auf dem eine nagelneue Schultasche aus hellbraunem Leder lag.

„Ist hier frei?“, fragte er, um einen lässigen Ton bemüht.

Der Junge sah verschreckt auf, musterte Selim und lächelte. „Ja, klar. Tut mir leid, ich dachte, in Uşak steigt eh kaum jemand zu.“ Hastig räumte er den Platz.

„Du bist wohl neu hier“, lachte Selim, krempelte die Ärmel seines Jacketts hoch und setzte sich. Im Gegensatz zu seinen eigenen saßen die Sachen des Jungen wie angegossen. Der Bus setzte sich in Bewegung.

„Ja, ich fahre die Strecke zum ersten Mal. Ich komme aus Ankara. Und du?“

„Aus der Nähe von Uşak.“

Eine ganze Weile schwiegen die beiden. Beinahe bereute Selim es, sich neben einen so offensichtlich wohlhabenden Acht- oder Neuntklässler aus der Großstadt gesetzt zu haben. Dass mit so einem kein interessantes Gespräch zustande kommen würde, hätte er sich denken können. Während er aus dem Fenster in die hügelige grüne Landschaft schaute, dachte er über seine neue Aufgabe nach. Es war eine Tradition des ILD, die Jüngeren am Internat willkommen zu heißen, sie mit den Klassen-, Aufenthalts- und Schlafräumen des neunzig Jahre alten Schulgebäudes vertraut zu machen, ihnen nachmittags bei ihren Schulaufgaben zu helfen und sie, wenn sie Interesse an der politischen Arbeit zeigten, in der Theorie zu bilden. Auch Selim war auf diese Weise zum ILD gekommen und nahm einmal in der Woche an einem Kurs in marxistischer Ökonomie teil, den ein Elftklässler leitete. Gerade fiel ihm ein, dass er noch dringend einen Taschenrechner besorgen musste, als der Junge ihn aus den Gedanken riss.

„Kennst du dich in Izmir aus? Ich bin mir nicht sicher, wie ich zu meiner Schule komme …“ Er zog einen kleinen, sauber beschrifteten Zettel aus seiner Innentasche. „Das hier ist die Adresse.“

Atatürk Jungenoberschule

Lozan-Platz 4

35220 Konak/Izmir

Selim lächelte. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte er.

„Ozan.“

 

In den ersten Tagen des neuen Schuljahres hatte Selim, wie erwartet, kaum eine ruhige Minute. Trotzdem sah er Ozan erstaunlich oft, und es wunderte ihn ein bisschen, bis ihm dämmerte, dass Ozan ihn verfolgte. Er machte den Eindruck, als ob er Selim etwas sagen wollte und sich jedes Mal im letzten Moment umentschied. Am Donnerstag setzte Ozan sich endlich beim Mittagessen zu ihm.

„Na, wie findest du unsere hohe Institution bis jetzt?“, fragte Selim. „Mach mal den Kragen locker, Junge, wir sind hier nicht in der englischen Botschaft.“

„Ja, darüber wollte ich eigentlich nicht mit dir reden“, antwortete Ozan, begann aber sofort, an seiner Krawatte zu nesteln. „Selim, du bist doch … ich habe dich bei den, na ja, bei den Revolutionären gesehen.“

Stolz richtete Selim sich auf. Eigentlich nichts Besonderes, dachte er, jeder kannte die grünen Parkas und die langen Haare, und doch fühlte es sich an wie ein Kompliment.

Ozan schaute auf seine Fingernägel. „Ich wollte dich fragen, ob ich bei euch mitmachen kann.“

„Natürlich“, antwortete Selim und kam sich im nächsten Moment albern vor. Fast wäre seine Stimme abgeknickt wie bei einem Zwölfjährigen. Ausgerechnet jetzt, dachte er, wo die Lage immer beängstigender wird, will dieser schmale Junge dabei sein. Sie vereinbarten, sich am nächsten Tag im Café des Lehrervereins TÖB-DER in der Nähe der Schule zu treffen. Der Verein war so etwas wie die schützende Hand der Lehrerschaft über den politischen Schülern, und seine Räumlichkeiten waren das inoffizielle Informationszentrum der Bewegung.

„Ich muss los“, sagte Selim direkt nach dem Essen, während er sein Geschirr zusammenräumte. „Muss noch ein paar Sachen abholen. Wir wollen heute Abend plakatieren gehen.“

Ozan öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Selim sah ihn fragend an.

„Kann ich mitkommen?“, platzte es aus Ozan heraus.

Selim stockte. Offensichtlich war es ihm ernst. Die Aufregung ließ seine runden braunen Augen beinahe kindlich wirken. Eigentlich konnte er keinen Neuntklässler zum Plakatieren mitnehmen, schon gar nicht einen, den er erst seit vier Tagen kannte. Der Junge kommt aus gutem Hause, dachte er, wer weiß, ob der überhaupt rennen kann.

„Das ist nicht ganz ungefährlich“, sagte Selim vorsichtig. „Wenn du erwischt wirst, lieferst du der Polizei die Information, dass du zu uns gehörst, gleich mit. Außerdem sind“, er überlegte, welches Wort er benutzen sollte, und entschied sich für das neutralste, „Rechte unterwegs, die einen entweder verprügeln oder verpfeifen. Die Polizei hat manchmal keine Lust auf die Drecksarbeit und ruft die … die Rechten dazu, damit die sich um uns kümmern.“

Ozan zuckte nur mit den Achseln.

Sie konnten jede helfende Hand brauchen. Wenn er den anderen vorher ankündigte, dass Ozan neu dabei war, und ihm genauestens erklärte, worauf er zu achten hatte, würde schon nichts schiefgehen. Er musste nur gut auf ihn aufpassen.

 

Am Abend hatten sich acht Schüler unweit des Lozan-Platzes versammelt. Der Kopf ihrer Bezirkseinheit, der Verantwortliche, wie sie ihn nannten, war auch da: ein etwas klein geratener, kräftiger Elftklässler namens Turgut. Selim hatte großen Respekt vor ihm. Er koordinierte nicht nur die politischen Aktivitäten, sondern auch die Kurse des ILD. Und obwohl Turgut manchmal darüber klagte, wie sehr ihn die ganze Leserei anödete und dass er einfach für die Praxis gemacht war, war sich Selim sicher, dass es keinen linken Theoretiker gab, den Turgut nicht gelesen hatte. Außerdem pflegte Turgut als einziger Schüler der Schule direkte Kontakte in den Vorstand der TKP. Die Spitze der kommunistischen Partei bestand, davon war Selim überzeugt, aus den klügsten Köpfen des Landes. Sie wussten zu jeder Zeit, was zu tun war, und Selim hatte noch nie erlebt, dass sich eine ihrer Entscheidungen als falsch herausgestellt hatte.

„Die Polizei verhält sich seit ein paar Tagen merkwürdig aggressiv, schlimmer als sonst“, erklärte Turgut. „Ihr wisst, in der Partei wird schon länger spekuliert, dass es bald eskalieren könnte. Wir müssen verdammt aufpassen. Ich will keine Heldentaten sehen. Alles klar?“ Nacheinander sah er in alle sieben Augenpaare. „Zumindest von keinem, der nicht vorhat, morgen früh mit einem Knüppel über dem Kopf in einer Zelle aufzuwachen.“

Selim sah zu Ozan. In der einen Hand hielt er einen Blecheimer mit weißem Kleister, in der anderen einen Tapetenquast. Im Halbdunkel der Straßenlaternen konnte er seinen Gesichtsausdruck nicht richtig deuten, aber er schien nicht besonders verängstigt zu sein. Selim war überrascht. Hatte der Junge überhaupt verstanden, wovon Turgut redete? War es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, ihn mitzunehmen? Bevor er den Gedanken weiterverfolgen konnte, klopfte Turgut ihnen aufmunternd auf die Schulter.

„Seid vorsichtig, aber habt keine Angst. Ihr wisst, was ihr zu tun habt. Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier. Passt aufeinander auf.“ Und schon im nächsten Moment war er hinter der nächsten Straßenecke verschwunden.

Die Gruppe teilte sich auf, Selim und Ozan hatten den sichersten Straßenzug nördlich der Schule zugewiesen bekommen.

Zwanzig Minuten lang sprachen sie kaum ein Wort miteinander. Wie abgemacht strich Ozan die Hauswände dick mit Kleister ein, Selim klebte ein Plakat darüber, und sie liefen weiter. Er fragte sich, ob er Ozan das Plakat erklären sollte. Der Kopf des getöteten Gewerkschafters war darauf zu sehen, darunter die Worte IHR WERDET BEZAHLEN. Er hätte zugeben müssen, dass er nicht genau wusste, wer eigentlich für die Tat bezahlen sollte. Er hatte Gerüchte gehört, der Vorsitzende der rechten Partei habe den Befehl persönlich erteilt. Vielleicht, dachte Selim, rufen wir gerade zum Mord an einem Politiker auf. Ozan strich konzentriert die Wand an, als würde er eine Schulaufgabe lösen. Selim entschied sich gegen eine Erklärung.

Es war eine anstrengende, monotone Arbeit, und wie immer geriet Selim dabei ins Grübeln. Wie kam ein reicher Junge aus Ankara dazu, sich direkt in der ersten Woche an einer neuen Schule, in einer neuen Stadt den erstbesten Linken anzuschließen?

Er wollte ihn gerade darauf ansprechen, als sie vor einer Sackgasse zu stehen kamen. Ozan zögerte.

„Wollen wir – sollten wir da vielleicht lieber nicht rein?“, murmelte er.

„Passiert schon nichts“, flüsterte Selim zurück. „Wir wissen ja, was wir zu tun haben. Mach dir keine Sorgen.“ Das waren Turguts Worte, fiel ihm plötzlich auf. Ohne darüber nachzudenken, hatte er sie wiederholt.

Sie hatten die Mauer am Ende der Straße gerade erreicht, als hinter ihnen eine Sirene aufheulte. Selim fühlte sich, als würde sein Herz stehen bleiben. Seine Ohren rauschten, eine unerträgliche Hitze stieg ihm in den Kopf. Ruckartig drehte er sich um und sah direkt in einen Scheinwerfer, eine Sekunde lang war ihm schwarz vor Augen. Das Erste, was im gleißenden Licht wieder Form annahm, waren die Läufe von zwei Schnellfeuergewehren.

So fühlt es sich also an, wenn man gleich stirbt, dachte Selim, und noch bevor er irgendetwas anderes denken konnte, sah er zu Ozan. Und obwohl seine Trommelfelle fast bis zum Zerreißen spannten, obwohl die Panik gegen seinen Brustkorb hämmerte und seine Glieder lähmte, hatte er beim Anblick von Ozans kreidebleichem Gesicht im kalten Licht der Polizeiwagen nur einen einzigen, unerklärlichen Gedanken. Er dachte, dass er sich schon immer einen kleinen Bruder gewünscht hatte.

„Hände hoch“, brüllte eine Stimme, deren Ursprung irgendwo hinter dem Scheinwerfer und den Gewehren lag.

Selim und Ozan hoben die Hände. Mit einem lauten Scheppern schlug der Eimer auf dem Boden auf, der Kleister verteilte sich über den Asphalt. Fünf oder sechs Beamte traten aus dem Licht, rissen sie herum, fixierten ihre Hände an der Wand und durchsuchten sie.

Wir sterben ja doch nicht, dachte Selim. Natürlich sterben wir nicht. Warum sollten sie uns mitten auf der Straße erschießen. Jeder weiß, dass die einem bei jeder Gelegenheit ihre Waffen vor die Nase halten.

Das Herzklopfen ließ ein wenig nach. Die Polizisten legten ihnen Handschellen an und luden sie in einen ihrer Wagen, einen umgebauten Minibus. Ozan saß hinter ihm, links und rechts von ihnen jeweils ein Polizist, es war so eng, dass er sich kaum bewegen konnte. Der Wagen setzte sich in Bewegung, und Selim versuchte, durch die vergitterten Fenster den Weg im Auge zu behalten. Es geht zur Polizeiwache im Stadtzentrum, dachte er. Allzu schlimm konnte es jetzt nicht mehr werden. Auf der Wache würden sie vielleicht verprügelt werden, aber sie mussten sie telefonieren lassen, und er hatte alle Nummern, die sie brauchten, auswendig gelernt. Wenn er Ozan doch nur ein Zeichen geben könnte. Er entspannte sich ein wenig und drehte sich so unauffällig wie möglich nach ihm um.

„Guck nach vorne, du Hurensohn“, zischte einer der Polizisten, als er seinen Kopf nur wenige Zentimeter bewegt hatte. Sofort schaute er wieder nach vorn.

 

Es war etwa ein Uhr morgens, als sie die Wache verlassen durften. Gegen Turgut und einige der Älteren waren Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Der Anwalt, den Selim angerufen hatte, hatte der Polizei sein Wort gegeben, er werde persönlich dafür sorgen, dass sie zu den Terminen erscheinen. Ozan, Selim und zwei weitere Zehntklässler hatten der Auflage, sich von der TKP und allen ihr nahestehenden Organisationen fernzuhalten, gewissenhaft zugestimmt.

Flüsternd trat die Gruppe auf den von Laternen beleuchteten Vorplatz. Fast wäre Selim in Turgut hineingestolpert, als die Gruppe ins Stocken geriet. In einiger Entfernung, auf der großen Eşrefpaşa-Straße, sah er schemenhaft eine Reihe Panzer entlangrollen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte vergeblich, das Ende der Kolonne auszumachen. In der Partei wird eine Eskalation befürchtet, hatte Turgut immer wieder gesagt. Selim spürte, wie sein Herz wieder zu rasen begann. Auch Ozan, der die ganze Zeit still gewesen war, schien der Anblick wachgerüttelt zu haben. Er ging einige Schritte auf die Panzer zu, die anderen standen weiter wie angewurzelt da, dann drehte er sich zu ihnen um und lächelte. „Leute, was auch immer das soll, können wir jetzt bitte zurück? Ich bin hundemüde.“

„Ich glaube, es ist ziemlich offensichtlich, was das soll“, murmelte Turgut, vergrub die Hände in seinen Taschen und schlug den Weg in Richtung des Internats ein. „Hoffen wir, dass ich mich irre.“

 

Turgut warf eine Hürriyet in die Mitte des Tisches, an dem seine Mitschüler frühstückten, ließ sich auf einen freien Stuhl neben Selim fallen und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Die Neuigkeiten hatten sich bereits vor Stunden in der ganzen Schule verbreitet. Selim war um sechs Uhr morgens von Yakup, seinem Zimmernachbarn, geweckt worden, hatte sich in Windeseile angezogen und war hinunter in die Mensa gerannt. Jetzt schob er die rot-weiße Untertasse mit seinem Teeglas beiseite, drehte die Zeitung zu sich herum und las die Schlagzeilen vor: „Ausnahmezustand im ganzen Land ausgerufen. Die Armee hat die Führung übernommen. Regierung und Parlament sind außer Kraft gesetzt. Aktivitäten der politischen Parteien sind beendet. Immunitäten der Parlamentarier sind aufge…“

„Danke, Selim, das reicht dann auch wieder“, sagte Yakup.

Die Jungen lachten kurz auf und setzten wortlos ihr Frühstück fort. Doch Selim konnte seinen Blick nicht von der Zeitung lösen. Neben den großen schwarzen Lettern war eine farbige Zeichnung abgedruckt, die den unter seiner Dienstmütze milde lächelnden Generalstabschef Kenan Evren zeigte.

„Wo warst du eigentlich den ganzen Morgen, Turgut?“, fragte Selim.

„Ich habe versucht, jemanden aus der Partei zu erreichen“, antwortete Turgut und drehte die Gabel in seiner Hand. „Hat natürlich nicht geklappt.“

„Aber wir hören doch bestimmt bald was von ihnen, oder?“

Turgut ließ die Gabel stillstehen. „Was meinst du?“

„Na ja, sie werden uns doch die Tage sagen, was wir machen sollen?“

Nachdem er ein paarmal geblinzelt hatte, stieß Turgut einen tiefen Seufzer aus.

Obwohl die ganze Mensa am Diskutieren war, drückte dieses Seufzen alles aus, was es zu sagen gab. Seit Yakup ihn vor zwei Stunden wach gerüttelt hatte, war sein Kopf wie leer gefegt. Die besorgten Schüler, der blaue Linoleumboden der Mensa, die aufgeregten Diskussionen in der Luft, das Teeglas und Evrens spöttisches Grinsen fühlten sich an wie die Kulisse eines Theaterstücks. Die Partei wird uns auftragen, uns zu bewaffnen, dachte er, sie muss es tun. Und wir werden verlieren. Er blickte in Turguts freundliches rundes Gesicht und fragte sich, ob er deshalb versucht hatte, sie zu kontaktieren, weil er genau den gleichen Befehl erwartete.

In diesem Moment schlugen die Türen der Kantine auf. Die Gespräche verstummten, ein ohrenbetäubendes Gebrüll erfüllte die Luft.

„Auf den Boden! Alle auf den Boden legen! Hände über den Kopf! Auf den Boden!“

Innerhalb von Sekunden füllte sich der Saal mit Polizisten und Soldaten. Sie verteilten sich an den Wänden, richteten ihre Gewehre auf die Schüler und luden durch. Selim war wie an den Stuhl gefesselt. Er konnte nichts denken, konnte die Anweisungen nicht erfassen. Alles, was er spürte, war glühend heiße Angst, die aus seinem Bauch über die Brust hinauf in seine Stirn stieg.

„Auf den Boden!“

Nicht schon wieder, schoss es Selim durch den Kopf. Bevor er sich in Bewegung setzen konnte, packte Turgut ihn am Arm und riss ihn zu Boden. Selim landete mit dem Gesicht auf dem kalten, stinkenden Linoleum und spürte sofort, dass ihm Blut aus der Nase lief. Sein Gesicht pochte und hämmerte, als wäre ihm sein Nasenbein mit voller Kraft in den Kopf gerammt worden. Noch bevor es anfing, richtig wehzutun, spürte er den Druck eines stumpfen Gegenstandes im Rücken.

„Hände an den Kopf, du Hund!“

Er riss die Arme hoch und faltete die Hände über dem Hinterkopf. Der Druck ließ nach. Selim sah aus dem Augenwinkel die Hacken schwarzer Stiefel, die sich von ihm entfernten. Wieder nicht gestorben, dachte er. Plötzlich kam der Schmerz in seinem Gehirn an und machte ihn taub für das Gebrüll der Beamten. Er wusste nicht, wie lange er dort lag – es hätten zehn Sekunden, vielleicht auch mehrere Minuten sein können –, als er an den Oberarmen gepackt und hochgezerrt wurde.

„Was ist denn mit dem passiert?“, fragte einer der Soldaten.

Erst jetzt fiel Selim auf, dass er die ganze Zeit heftig aus der Nase geblutet hatte.

„Hast du vor Panik Nasenbluten gekriegt, mein Lämmchen?“, fragte der andere und tätschelte ihm die Wange.

In Selim stieg eine unbändige Wut auf. Er hatte den Drang, ihm wehzutun, ihm ins Gesicht zu spucken, ihn anzuschreien. Aber er tat nichts davon. Sie würden schon sehen, was Panik heißt. Sie würden nachts kein Auge mehr zumachen. Er atmete tief durch, blickte an den Soldaten vorbei und fixierte einen umgekippten Stuhl in einigen Schritten Entfernung. Um ihn herum lagen nur noch wenige Jungen auf dem Boden, auch Turgut war nirgendwo mehr zu sehen. Sie führten die Schüler einzeln ab. Die beiden Soldaten, offenbar enttäuscht von Selims ausbleibender Reaktion, zerrten ihn aus der Mensa und durch das Foyer hinaus ins Freie.

Vor dem Schultor standen ein olivgrüner Lastwagen, zwei Militärbusse und Dutzende Autos der Polizei. Selim zählte auf die Schnelle zehn Mann, die den Lastwagen bewachten. Ihre Gewehre zeigten auf die Schüler, die bereits nach draußen geführt worden waren und nun wieder mit dem Gesicht nach unten und den Händen hinter dem Kopf auf dem Boden lagen.

„Turgut!“ Selim wollte zu ihm laufen.

Er saß in Handschellen und mit einem geschwollenen Auge neben einigen der älteren Schüler auf der Ladefläche. Es müssen die sein, gegen die es einen Haftbefehl gibt, dachte Selim. Die beiden Soldaten zerrten ihn zurück und schubsten ihn zu den anderen.

„Halt’s Maul und leg dich hin!“

Mit erhobenen Händen legte er sich auf den Asphalt. Und so wartete er, bis alle herausgeführt worden waren. Selim wurde nicht schlau daraus: Warum wurden nur ein paar von ihnen auf den Laster gebracht? Zwei Stunden lag er auf dem Hof der Schule. Als sie fertig waren, schlugen die Beamten die graue Plane des Lasters herunter. Die Soldaten stiegen in ihre Busse, die Polizisten in ihre Autos, und sie fuhren ohne ein weiteres Wort davon.

 

Die folgenden Wochen vergingen wie in Zeitlupe. Selim ging in den Unterricht, in die Mensa und abends auf sein Zimmer, es war wie vorher. Aber es gab für ihn nichts mehr zu tun. Noch am Abend der Polizeiaktion hatten sie im Radio gehört, dass ab sofort alle Parteien und Vereine verboten waren. Was ändert es schon? Selim spürte leise Ernüchterung. Aus den elften Klassen waren fast alle ILD-Mitglieder verhaftet worden. Am zweiten Tag hörten sie, dass jede Berichterstattung über illegale politische Aktivitäten untersagt war, und lachten. Nach einer Woche kamen einige der verhafteten Schüler zurück, Turgut war nicht dabei. Sie erzählten, dass in den Gefängnissen Gerüchte die Runde machten. Die Politischen, sagten die einen, würden bald alle aufgehängt, egal ob links oder rechts, und die anderen warfen ein, dass das nichts als Panikmache sei. Selim wusste nicht, was er glauben sollte. Mit jeder neuen Nachricht wuchs seine Ungeduld. Er hatte schon am zwölften September fest damit gerechnet, dass die TKP zum Widerstand aufrufen würde. Es musste einen Grund geben, warum sie noch nichts gehört hatten – es musste jeden Tag so weit sein.

 

An einem Samstagnachmittag im November saßen Ozan und Selim zusammen am Schreibtisch in Selims Zimmer und tranken Tee, als Yakup hereinkam.

„Es gibt Neuigkeiten.“ Ohne sie richtig anzusehen, ließ er sich auf das untere Bett fallen.

„Wenn es was Schlechtes ist, geh bitte wieder“, sagte Ozan.

Die beiden lächelten kurz, aber Yakups ernstes Gesicht ließ sie aufhorchen.

„In Mamak soll wieder jemand gestorben sein.“

Selim dachte sofort an Turgut.

Yakup schluckte. „İlhan Erdost. Einer der Verleger von Sol Yayınları.“

Ozan schlug die Hand vor den Mund. Selim stand auf und begann, ziellos in dem kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. Zu seiner eigenen Überraschung spürte er mehr Wut als Trauer. Ein Verleger, wunderte er sich. Was wollen die von einem Verleger? Nach einigen Momenten der Stille blieb er stehen und sah aus dem Fenster. An der Kreuzung vor der Schule patrouillierten vier Soldaten, wie immer, zwei in die eine, zwei in die entgegengesetzte Richtung. Obwohl er sie jeden Tag sah, begannen beim Anblick der Uniformen seine Knie zu zittern.

„Wisst ihr, was ich glaube? Die da draußen warten genauso auf eine Reaktion der Partei wie wir. Deshalb wurden bis ins letzte Dorf die Waffen eingesammelt. Deshalb ist eine einfache Wachpatrouille ausgerüstet, als würde sie in den Krieg ziehen. Guckt euch das doch mal an.“ Er deutete auf die Soldaten an der Kreuzung. „Das ist doch nicht normal.“

„Was ist denn hier bitte noch normal?“, erwiderte Ozan. „Komm, setz dich hin. Mach dich nicht so fertig, das hilft doch keinem.“

Selim setzte sich zurück an den Tisch. „Wir verlieren jeden Tag Leute. Aus dem Gewerkschaftsbund ergeben sich manche, weil es drinnen sicherer ist als draußen. Und was hören wir von drinnen? Tote, jeden verdammten Tag Tote. Ich versteh nicht, worauf die warten.“ Er fuhr sich durch die Haare und blieb mit den Fingern in den Locken hängen. Das plötzliche Ziepen trieb ihm Tränen in die Augen. „Und ich verstehe nicht“, rief er, „warum ihr so entspannt seid.“

Yakup zog die Augenbrauen hoch. „Entspannt?“

„Keine Ahnung“, sagte Selim und sah die beiden herausfordernd an. „Immer wenn ich versuche, jemanden von der Partei zu erreichen, bin ich allein. Immer wenn sie mir sagen, dass wir noch warten sollen, muss ich sehen, wie ich damit klarkomme. Außer mir und den Anwälten kümmert sich kein Mensch um Turgut. Stört es euch überhaupt nicht, dass wir hier rumsitzen und zugucken, wie sie der Reihe nach unsere besten Leute einbuchten?“

Yakup holte tief Luft. Schon in diesem Moment bereute Selim seine Worte.

„Meine große Schwester wird gesucht. Hast du wohl vergessen“, sagte er scharf. „Die schicken meinen Eltern jeden Tag die Gendarmerie ins Dorf. Jeden einzelnen Tag, pünktlich um fünf Uhr morgens. Hast du irgendeine Ahnung, wie das in Kurdistan aussieht, wenn die Gendarmerie vorbeikommt? Dagegen ist das hier der reinste Rosengarten.“

„Du hast recht, ich …“

„Weder meine Eltern noch ich wissen, wo sie ist. Alles, was ich weiß, ist, dass die Partei sie ins Ausland schicken wird. Aber ob sie in Sicherheit ist, ob sie vielleicht heute noch festgenommen wird oder morgen – ich weiß einfach nichts. Also, wenn ich auf dich so wirke, als würde mich das alles hier nicht stören, kann ich dir versichern, dass du dich irrst.“ Er stand auf und lief zur Tür.

Selim hielt ihn am Unterarm fest. „Tut mir leid. Daran habe ich nicht gedacht. Tut mir wirklich leid, Yakup.“

Yakup setzte sich zurück auf sein Bett und atmete tief durch. Ozan setzte sich zu ihm.

„Mach dir keine Sorgen. Unsere Leute wissen, was sie tun. Es sind schon ganz viele ins Ausland gegangen. Und denen ist überhaupt nichts passiert.“

„Ich weiß“, sagte Yakup und knackte mit den Fingern. „Aber langsam frage ich mich schon, ob bei denen alles …“, er schien nach Worten zu suchen, „na ja … ob da noch alles nach Plan läuft.“

Jetzt atmete auch Selim auf. Endlich sprach jemand die Zweifel aus, die seit Wochen in ihm brannten. Mit jedem Tag, an dem keiner seiner Kontakte aus der TKP ans Telefon ging, mit jedem Treffpunkt, den er leer vorfand, wurde es schlimmer, und außer ihm schien es kaum jemandem aufzufallen. Noch einmal betrachtete er die Soldaten vor dem Fenster. Es hatte etwas Hypnotisierendes, wie sie im Gleichschritt ihre Runden drehten, als wären sie ein Organismus in vier Körpern.

Ausgerechnet Ozan fand seine Worte als Erster wieder. „Du hast doch gesagt, in der Partei wird seit Monaten davon gesprochen, dass es zum Putsch kommt. Denkst du wirklich, sie haben jetzt keinen Plan? Das wäre doch absurd.“

Selim setzte sich und strich mit der Fingerkuppe über den Rand seines Teeglases, dass es leise quietschte. „Was, wenn genau das der Plan ist?“

„Was?“, fragte Ozan.

Mit einer weit ausholenden Geste deutete Selim in die Regungslosigkeit des kleinen Zimmers. „Nichts tun. Ausharren. Kader ins Ausland schaffen und warten, dass es vorbeigeht.“

Preisgekrönte Bestseller-Romane von Debütautor:innen

Diese Piper-Debüts haben bereits ihre außergewöhnliche Qualität bewiesen

Bemerkenswerte Debütromane, die wachrütteln
PIPER-Debütautor:innen

Debütromane sind immer etwas Besonderes. Es ist der erste Schritt von Autor:innen in die Welt der Literatur und häufig auch ein großer Schritt in deren Leben. Die Bücher bringen neue Perspektiven, Themen und vor allem neue Ideen in die literarische Welt ...und einige Bucherscheinungen schaffen es auch auf Anhieb auf die Bestseller-Liste.

Montag, 18. November 2024 von Piper Verlag


Kommentare

1. Frau:
Helga Breitem am 27.03.2023

Toxic Man

Kommentieren Sie diesen Beitrag:

Mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtangaben und müssen ausgefüllt werden.