1.
Ich sitze auf der Terrasse vor dem Haus meiner zukünftigen Schwiegereltern in den Weinbergen. Es ist Anfang August, und ich denke, dass ein Gewitter kommen wird. Riccarda schläft, und ihre Eltern sind ins Tal gefahren, um einzukaufen. Vor mir ist der Garten, der am Hang liegt. In der Mitte ist die Terrasse. Früher stand auf dem Beton-Fundament ein Pool. Danach wurden dort Spanferkel auf den Firmenfeiern von Riccardas Vater gegrillt. Ihm gehörte eine Aluminium-Firma, die Hälfte seiner 50 Mitarbeiter kam aus Frankreich. Die Firma hat er verkauft. Er ist noch stiller Teilhaber. In der unteren Garage stehen zwei Porsche 911, davor ein Tesla und in der oberen ein alter Porsche-Traktor in Rot.
Die Zigarette jedenfalls schmeckt nicht. Nach drei Zügen mache ich sie aus. Vielleicht ist es zu warm, denke ich. Vielleicht brauche ich etwas zu trinken. Ich hole mir ein kleines Bier. Kleine Biere bleiben im Verhältnis zu ihrem Volumen länger kalt, und die Kohlensäure geht nicht so schnell raus. Aber das kleine Bier schmeckt nicht.
Direkt beim ersten Schluck fühle ich mich dick. Ich spüre einen Druck um meinen Kopf. So, als ob ein Gürtel darum geschnallt wäre. Ich überlege, ob der Druck schon länger da ist und ich ihn erst jetzt bemerke oder ob dieser Druck gerade angefangen hat. Ich überlege, ob ich das Bier wegschütten soll. Ich stelle die Flasche mit dem Kronkorken darauf wieder in den Kühlschrank in der Küche und setze mich in den Liegestuhl. Ich denke darüber nach, ob das in Ordnung war, den Kronkorken wieder auf das Bier zu tun, oder einfach nur peinlich kleinbürgerlich.
Ich habe noch einen letzten Auftrag vor der Hochzeit angenommen. Die Plattenfirma hatte mich gefragt, ob ich eine Sängerin in London fotografieren wollte. Die Sängerin ist 16, ich hatte ihren Namen noch nie gehört. Sie singt von Depressionen, sagte man mir. Was ich natürlich dumm fand. Jeder vernünftige Mensch mit 16 ist doch depressiv. Sie schickten mir ein paar Videos von ihr. Und in den Augen dieses Fastnochkindes sah ich wirklich die Tragik und Schönheit des ganzen letzten Jahrhunderts der westlichen Welt. Deswegen sagte ich Ja. Das mit den Augen werde ich noch erklären.
Für die Fotos hat die Plattenfirma ein Studio in North Kensington gemietet. Bis heute glaube ich, dass man in Studios keine guten Fotos machen kann. Und erst recht nicht, wenn das Management, zwei Typen von der Plattenfirma, ein Stylist, eine Make-up-Frau und drei Praktikanten da rumstehen. Und meine Fotos entstehen eben nicht in Studios, sondern im Wald, oder auf Supermarktparkplätzen, eben dort, wo man sie eigentlich nicht macht.
Und jetzt denke ich, dass das vielleicht keine gute Idee war, den Auftrag anzunehmen. Ich renne durchs Haus, weil ich meine Kamera nicht finde. Hilf mir, ruf ich. Hilf mir doch. In letzter Zeit fühlte ich mich oft hilflos. Ich schreie Riccarda an. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber es ist wohl, weil mir das alles zu viel ist. Ich schlage meinen Kopf gegen den Kühlschrank, und für einen Moment werde ich ohnmächtig. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich die Kamera. Sie liegt auf dem Küchentisch direkt vor mir.
Riccarda geht nach draußen, und ich sitze noch einige Zeit auf dem Boden. Auf der Couch schlafe ich ein. Am frühen Morgen kommt das Taxi.
Der Flug ist pünktlich. Vom Flughafen fahre ich mit dem Expresszug zur Paddington Station. Es ist 7 Uhr Londoner Zeit. Je näher ich dem Zentrum komme, desto mehr Jungen und Mädchen in Schuluniformen steigen ein. In London sehen Kinder wie kleine Banker aus.
Sie tragen Kopfhörer. Meist große, teure Over-Ears mit Noise Cancelling-Funktion. Ich glaube, daran liegt das größte Problem der westlichen Welt. Es gibt keine Welt mehr, auf der alle sind. Jeder will in seiner eigenen leben, in der es nur so klingt, so aussieht, so riecht, wie man es selbst will, in der nur die politischen Gegebenheiten gelten, die das jeweilige Ich akzeptiert.
Schopenhauers wichtigster Satz ist: Die Welt ist meine Vorstellung. Aber heute gilt für die meisten: Meine Vorstellung ist die Welt. Egal ob Influencer, Dschihadist oder Grünen-Wählerin, wirklich alle denken so.
Menschen leben aus Bequemlichkeit in ihrer eigenen Welt. Sie hören die gleiche Musik oder Musik, die so ähnlich klingt wie ihre Musik und die ihnen deswegen von einem Algorithmus empfohlen wird. Menschen entdecken nichts Neues mehr. Und darum geht es doch eigentlich. Das Neue. Das Unbekannte. Das nie zuvor Gesehene. Mir ist es immer darum gegangen.
In unserer Gegenwart verschwimmen Schopenhauers Meine Vorstellung ist die Welt mit Warhols In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes und Beuys’ Jeder Mensch ist ein Künstler. Daraus entsteht das, was ich den Gott-Komplex nenne. Der Übergang der Zehner- in die Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts wird rückblickend die Zeit gewesen sein, in der die Wohlstandskinder dieser Erde kollektiv glaubten (sie sprachen es natürlich nicht aus, dazu waren sie zu unreflektiert), Götter zu werden.
Das fängt damit an, dass Krankenschwestern aus Jena und Tourismuskaufmänner aus Braunschweig Fotos von Avocado-Toasts mit englischen Texten versehen auf Instagram stellen. Dort haben sie 75 Follower, die aus einem Umkreis von 25 Kilometern kommen. Meine Schwester ist Pathologin und lebt in Düsseldorf. Sie ist 33, fleißig, aber nicht überdurchschnittlich intelligent, und nach der Geburt ihres Sohnes postete sie ein Foto, wie sie seine Füße in der Hand hält, sein Kopf ist unscharf im Hintergrund, das Baby gähnt, und darunter hat sie geschrieben:
#firstmothersday
#babyboy
#endlesslove
Ich weiß wirklich, dass meine Schwester mit niemandem befreundet ist, der Deutsch nicht als Muttersprache spricht. Aber ich glaube, dass in diesem Post alles drinsteckt; die Hoffnung oder die Sehnsucht einer durchschnittlichen Person, ein Star zu sein, von dem es interessant ist, zu wissen, wie das gähnende Baby aussieht. Und gleichzeitig eine Art göttliche Omnipräsenz, die eben nicht metaphysisch spirituell, sondern digital ist.
Ich fahre die letzte Strecke von der Paddington Station zum Studio mit einem Taxi. London hat die besten Taxis. Sogar mit einem Rollstuhl kann man einfach einsteigen, oder mit einem Kinderwagen. Alle Taxen haben eine große Tür und einen Platz für so was. Ich schaue durch das Fenster auf die Gehwege vor den Hochhäusern. Die Menschen in London gehen viel schneller als in Berlin oder München, schneller als in jeder deutschen Stadt. London ist eine Stadt, in der die Menschen Geld verdienen müssen. In Berlin braucht keiner Geld. In München ist es einfach da.
Das Studio liegt in einem Wendehammer eines Industriegebiets. Ich steige aus dem Taxi und erkenne das Haus sofort. Es ist das alte Studio von Juergen Teller. Ein sinnlicher Betonkasten in einer Straße am Ende der Zivilisation. Zwischen kaputten Häusern und überwucherten Zäunen. Ich hatte das mal in einem Magazin am Flughafen gesehen. Ich drücke die Klingel. Irgendjemand öffnet die Tür und führt mich an dem schon aufgebauten Studiolicht und der Leinwand vorbei.
Sie hat hellblondblau gefärbte Haare, ihr dunkelbrauner Ansatz kommt oben schon wieder durch. Sie steht in einem viel zu großen blau-weiß-roten Marc-Jacobs-Trainingsanzug der nächsten Kollektion vor dem aufgebauten Catering und hat schlechte Laune.
How the fuck should I eat this? I am fucking glutenfree. Don’t you get it?
Ich finde das absurd, aber auch schön. Ich meine, kein vernünftiger Mensch sagt mit 16, I’m glutenfree, und macht eine Szene, weil da ein Berg Sandwiches liegt. Und schon gar nicht, wenn eine Plattenfirma einem einen Millionenvorschuss gezahlt hat. Wer sich mit 16 nicht über Sandwiches freut, muss kaputt sein.
Aber dann wiederum, denke ich, gibt es natürlich nichts Richtigeres als das zu tun, wenn man ein Star ist, sein oder werden will. Beim Starsein geht es darum, in Erinnerung zu bleiben. Der Galerist Johann König hat einmal gesagt, er sei lieber der, der auf der Party auf den Teppich gekotzt hat, als der, der heimlich gegangen ist. Weil man sich an Letzteren niemals erinnern würde.
Ich sage also Hi, aber sie beachtet mich nicht. Sie stürmt an mir vorbei durch die offene Glastür und setzt sich im Innenhof auf eine Bank bei einer Wassertonne, in der Goldfische schwimmen. Daneben steht ein großer Baum. Ich stelle meine Tasche mit der Kamera auf einen Tisch und gehe hinaus. Ich zünde mir eine Zigarette an.
Hi, sage ich noch mal.
And you are the photographer? You don’t have a camera with you, sagt sie.
Und ich sage: And I didn’t know that the future of music would be glutenfree.
Sie sagt: I’m Billie, but you know that.
Berühmte Leute erwarten, dass man sie kennt. Sie erwarten, dass man eine Meinung zu ihnen hat. Sie sind es gewohnt, permanent Dinge gefragt zu werden. Und ihre Antworten sollen dann Platten, Filme, Kleidung oder Magazine verkaufen. Und so ist es eigentlich unmöglich, mit ihnen zu reden. Weil das, was sie sagen, keine Antworten sind, sondern Content, der irgendwas vermarkten soll. Deswegen erzähle ich, wenn ich Menschen fotografiere, immer das, was gerade in meinem Leben passiert. Nichtberühmte Menschen suchen häufig jemanden, der ihnen zuhört, aber Celebrities brauchen jemanden, der ihnen etwas erzählt. Sie können dann abschalten, müssen nicht mehr performen oder verkaufen. Menschen, deren Arbeit es ist, zu unterhalten, wollen auch mal unterhalten werden.
Und ich sage: I’m going to be a father soon.
Do you want that, fragt sie.
Ich meine: There’s this song by the White Stripes. We’re going to be friends. That’s what I’m going to play to my son on my guitar.
Und sie fragt: You wanna be friends with your son?
Und ich sage: I am going to be his father.
Und sie sagt: So you’ll start with a lie?
Ich schaue auf den Baum in der Mitte des quadratischen Lichthofs. Außen ist nur Beton und Glas. Der Baum überragt die Beton-Stockwerke. Er sieht aus wie ein Tier in einem viel zu kleinen Käfig. Seine Blätter sind rot und gelb.
Ich denke daran, wie meine Schwester durch den Lichtschacht aus dem Keller meinen damaligen Spitznamen rief. Ich stand oben vor der Haustür mit Frau Faller, meiner Kinderfrau, die ein Alkoholproblem hatte. Was auffiel, weil der Cognac-Dekanter zunächst leerer und dann wieder voller und der Cognac dünner wurde. Schluppi, rief meine Schwester aus dem Kellerfenster nach oben. Wegen Schlupp vom Grünen Stern. Und ich stand da und wusste, dass sie da unten war. Ich ging mit Frau Faller hinein. Ich hatte mir die Schuhe ausgezogen und die Wachsjacke. Und im Wohnzimmer hing diese von Picasso in wenigen Strichen gezeichnete Eule. Das war natürlich eine billige Lithografie. Aber so stellten sich meine Eltern Kunst vor: Ein Mann in einem gestreiften Pullover zeichnete was, und im Abonnenten-Shop der Zeit kann man das dann für 150 Mark kaufen.
Jedenfalls hatte meine Schwester der Nachbarin Frau Ulbricht, einer sehr netten, Kette rauchenden Putzfrau, die Zunge herausgestreckt, als die morgens um halb sieben an der Haustür klingelte und nach einem Fünf-Mark-Stück für den Zigarettenautomaten gefragt hatte. Und mein Vater fand, dass sie deswegen die Woche im Keller eingesperrt werden musste. Sie war zwölf damals. Und ich muss fünf gewesen sein. Zum Frühstück durfte sie raus. Dann musste sie in die Schule gehen und nach dem Mittagessen wieder in den Keller. Unsere Kinderfrau wusste auch Bescheid.
Es täte ihr wirklich leid, hat sie damals gesagt. Wie meine Mutter stand sie daneben und hat zugelassen, dass meine Schwester unter Tränen und Schreien jedes Mal erneut in den Keller gezwungen wurde und dort übernachten musste. Ein Klo gab es nicht. Sie bekam einen Nachttopf. Da unten. Im Dunkeln. Im Feuchten. Im Kalten. Das war 1994 in einem Vorort vor Bonn, ein Jahr bevor mein Vater einen eigenen Lehrstuhl bekam.
Ich habe nie mit meiner Schwester über all das gesprochen. Mit meiner Mutter auch nicht. Ich weiß das nur, weil sie das im Streit meinem Vater mal vorgeworfen hat.
Ich muss etwas komisch geschaut haben, in der Sekunde, in der ich an das alles gedacht habe. Denn Billie sagt: You should try Zoloft.
Und ich frage: What’s that?
Sie sagt: It’s my wife and my life.
Zoloft ist ein Antidepressivum.
Die Managerin, eine schwarze und sehr dünne und sehr große Frau mit einer Stoppelfrisur, kommt in den Innenhof. Sie hat ein rot-weißes Wollkleid von Gucci an.
Wie modern, denke ich, als ich sie anschaue. Aber auch, wie banal. Weil Gucci durch Alessandro Michele wieder zu einer ernst zu nehmenden Modefirma geworden ist und es deswegen toll ist, Gucci zu tragen, aber auch einfallslos. Jetzt Gucci zu tragen, ist so eine Politiker-Entscheidung, wenn man alles richtig machen möchte. Und dann liegt man damit trotzdem falsch.
Wobei Politiker natürlich niemals Gucci tragen. Zumindest in Deutschland. Weil sie es sich zwar leisten können, aber nicht trauen, es zu kaufen, weil dann irgendjemand auf Twitter ihren Rücktritt fordert. Und sich dann alles so hochschaukelt, dass sie wirklich zurücktreten müssen. Die Managerin schaut streng auf meine Zigarette. Und dann meint sie, she’s the popstar, you’re the photographer, let’s get to work.
Toxic Man