Einführung
Zoologie zu studieren, gab mir das Gefühl, eine bedauernswerte Außenseiterin zu sein. Nicht weil ich Spinnen liebte, gerne tote Tiere zerlegte, die ich am Straßenrand gefunden hatte, oder begeistert in Tierkot herumstocherte, um herauszufinden, was seine Urheber gefressen hatten. Alle meine Mitstudent:innen teilten diese seltsamen Vorlieben mit mir, das musste einem also nicht peinlich sein. Nein, der Quell meines Unbehagens war mein Geschlecht. Weiblich zu sein, bedeutete nur eines: Ich war eine Verliererin.
„Das weibliche Geschlecht wird ausgebeutet, und die grundlegende evolutionäre Basis für diese Ausbeutung ist die Tatsache, daß Eizellen größer sind als Samenzellen“, schrieb mein Hochschullehrer Richard Dawkins in seinem Evolutions-Bestseller Das egoistische Gen.
Den Lehren der Zoologie zufolge kamen wir Eizellen-Produzentinnen durch unsere massigen Gameten schon immer zu kurz. Da wir unser genetisches Erbe wenigen nährstoffreichen Eizellen anvertrauen und es nicht in Millionen von beweglichen Spermien stecken, haben unsere Urahninnen in der Lotterie des Lebens offensichtlich den Kürzeren gezogen. Somit müssen wir bis in alle Ewigkeit die zweite Geige hinter den Spermaproduzenten spielen, als weibliche Randnotiz zum männlichen Hauptereignis.
Man lehrte mich, dass dieser offensichtlich triviale Unterschied zwischen unseren Geschlechtszellen die Ungleichheit der Geschlechter fest zementiert habe. „Wie wir sehen werden, lassen sich alle anderen Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus diesem einen grundlegenden Unterschied ableiten“, so Dawkins. „Damit beginnt die Ausbeutung des weiblichen Geschlechts.“
Männliche Tiere führten demnach ein verwegenes Leben, stets vorwärtsdrängend und aktiv. Sie kämpften miteinander um die Herrschaft oder den Besitz von Weibchen. Sie paarten sich immer und überall, getrieben von dem biologischen Imperativ, ihren Samen möglichst weit zu verbreiten. Und sie dominierten sozial; Weibchen folgten widerspruchslos den männlichen Anführern. Die Rolle des Weibchens war von Natur aus die der selbstlosen Mutter; somit hielt man alle mütterlichen Anstrengungen für gleichartig: Bei uns gab es keinerlei Konkurrenzdenken. Sex war eher eine Pflicht als ein Trieb.
Im Hinblick auf die Evolution galten die Männchen als treibende Kraft des Wandels. Wir Weibchen konnten dank gemeinsamer DNA auf den Zug mit aufspringen, solange wir schön brav waren und nicht den Mund aufmachten.
Als Eizellen produzierende Studentin der Evolutionswissenschaft fand ich mich in diesem 50er-Jahre-Modell der Geschlechterrollen einfach nicht wieder. War ich als Frau etwa vollkommen aus der Art geschlagen?
Die Antwort auf diese Frage lautet zum Glück: nein.
Um die Biologie ist eine sexistische Mythologie gewoben worden, die unsere Wahrnehmung der weiblichen Tiere verzerrt. Tatsächlich gibt es in der Natur eine enorme Vielfalt weiblicher Formen und Rollen, die ein faszinierend breites Spektrum an anatomischen Eigenschaften und Verhaltensweisen abdeckt. Ja, darunter sind auch die hingebungsvollen Mütter, ebenso aber die weiblichen Blatthühnchen, die sich einen Harem aus mehreren Männchen halten und Brut sowie Jungenaufzucht diesen überlassen. Weibchen können durchaus treu sein, doch nur sieben Prozent der Arten sind sexuell monogam – somit sind viele Weibchen „untreu“ und suchen sich mehrere Partner. Zudem sind bei Weitem nicht alle tierischen Gesellschaften männlich dominiert. In den verschiedensten Tierklassen gibt es Alphaweibchen, die ihre Autorität auf unterschiedlichste Weise ausüben, von wohlwollend (Bonobos) bis brutal (Bienen). Weibchen können ebenso heftig miteinander konkurrieren wie Männchen: Topiweibchen (eine Leierantilope) kämpfen mit beachtlichen Hörnern erbittert um den Zugang zu den besten Männchen, und Erdmännchen-Matriarchinnen zählen zu den mörderischsten Säugetieren unseres Planeten; sie töten die Jungen ihrer Konkurrentinnen und unterdrücken deren Fortpflanzung. Schließlich wären da noch die Femmes fatales: kannibalistische Spinnenweibchen, die ihre Partner als post- oder gar präkoitale Snacks verputzen, sowie „lesbische“ Echsen, die gar keine Männchen mehr brauchen und sich nur noch per Klonen fortpflanzen.
In den letzten Jahrzehnten wurde unser Wissen darüber, was es bedeutet, weiblich zu sein, völlig revolutioniert. Von diesem Umbruch handelt das vorliegende Buch. Ich werde Ihnen darin eine (im Wortsinne) wilde Auswahl bemerkenswerter weiblicher Tiere und der Wissenschaftler:innen, die diese erforschen, präsentieren. Gemeinsam haben sie nicht nur den Begriff des Weiblichen für die Arten, sondern auch die evolutionär wirkenden Kräfte an sich neu definiert.
Wenn wir den Ursprung dieser verzerrten Sicht auf die Natur verstehen wollen, müssen wir ins England des 19. Jahrhunderts zurückgehen, in die Zeit meines wissenschaftlichen Idols: Charles Darwin. Seine Theorie der Evolution durch natürliche Selektion erklärte, wie sich aus einem gemeinsamen Urahn die ganze Vielfalt des Lebens entwickeln konnte. Organismen, die besser an ihre Umwelt angepasst sind als andere, haben eine größere Chance, zu überleben und jene Gene weiterzugeben, die ihnen zu diesem Erfolg verholfen haben. Dieser Prozess führt dazu, dass sich Arten im Lauf der Zeit verändern und aufspalten. Oft mit dem fälschlich „zitierten“ survival of the fittest (auf Deutsch: „Überleben der am besten Angepassten“) umschrieben – die Wendung stammt von dem Philosophen Herbert Spencer und wurde von Darwin auf Druck von außen erst in die fünfte Auflage von Über den Ursprung der Arten (1859) aufgenommen –, ist diese Idee so brillant wie einfach und wird zu Recht als eine der größten intellektuellen Errungenschaften aller Zeiten gefeiert.
Bei aller Genialität kann die natürliche Selektion jedoch nicht alles erklären, was wir in der Natur vorfinden. Darwins Evolutionstheorie wies einige große Erklärungslücken auf, etwa hinsichtlich ausgeprägter Merkmale wie dem Hirschgeweih oder dem Schwanz des männlichen Pfaus. Solche Extravaganzen bieten keinen allgemeinen Überlebensvorteil, sie können sogar das tägliche Leben erschweren. Somit konnten sie nicht durch die utilitaristische Kraft der natürlichen Selektion geformt worden sein. Darwin erkannte dies, was ihn lange quälte. Ihm war klar, dass hier ein anderer Evolutionsmechanismus am Werk sein musste, der eine eigene Zielsetzung hatte. Diese bestand, wie er schließlich realisierte, im Streben nach Sex, und so schuf er den Begriff der geschlechtlichen Zuchtwahl, sprich: der sexuellen Selektion.
Für Darwin erklärte diese weitere evolutionäre Kraft die auffälligen Merkmale – ihr einziger Zweck musste ihm zufolge darin bestehen, das andere Geschlecht für sich zu gewinnen oder anzulocken. Diese Nachrangigkeit drückte Darwin mit der Bezeichnung „secundäre Sexualcharaktere“ (sekundäre Geschlechtsmerkmale) aus, um sie von den primären Geschlechtsmerkmalen (wie Fortpflanzungsorganen und äußeren Genitalien) zu unterscheiden, die für den Fortbestand des Lebens essenziell sind.
Ein gutes Jahrzehnt nachdem Darwin der Welt sein Konzept der natürlichen Selektion präsentiert hatte, veröffentlichte er sein zweites theoretisches Meisterwerk: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871). In diesem kraftvollen Folgewerk skizzierte er seine neue Theorie der sexuellen Selektion, die die von ihm beobachteten grundlegenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern erklärte. Bei der natürlichen Selektion geht es ums Überleben, bei der sexuellen Selektion letztlich um die Konkurrenz um Sexualpartner. Und in Darwins Augen war dieses Konkurrieren ganz überwiegend Männersache.
„… die Männchen beinahe aller Thiere [haben] stärkere Leidenschaften … als die Weibchen. Daher sind es die Männchen, welche miteinander kämpfen und eifrig ihre Reize vor den Weibchen entfalten“, so Darwin. „Das Weibchen ist andererseits mit sehr seltenen Ausnahmen weniger begierig als das Männchen. … [es] verlangt … im Allgemeinen geworben zu werden, es ist spröde …“
In Darwins Augen erstreckte sich der Geschlechtsdimorphismus, also die körperlichen Unterschiede zwischen Geschlechtern, somit auch auf die Verhaltensweisen. Diese Geschlechterrollen waren so vorhersagbar wie körperliche Merkmale. Die Männchen treiben die Evolution voran, indem sie mit extra dafür entwickelten „Waffen“ oder „Reizen“ um den „Besitz“ der Weibchen kämpfen. Die Konkurrenz bewirkt bei den Männchen einen sehr unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg, und diese sexuelle Selektion bringt die weitere Evolution siegreicher Merkmale mit sich. Weibchen stehen unter geringerem Variationsdruck; ihre Rolle besteht darin, sich den männlichen Merkmalen zu unterwerfen und diese weiterzugeben.
Darwin war sich nicht sicher, warum dieser Unterschied bestand, er vermutete aber, dass sich dies unter anderem auf die Geschlechtszellen und den Energieaufwand der Weibchen für die Jungenaufzucht (mütterliches Investment) zurückführen ließe.
Darwin wusste, dass die sexuelle Selektion neben der Konkurrenz unter den Männchen auch das Element einer Auswahl durch die Weibchen erforderte. Dies zu erklären, war schwieriger, denn es gestand dem schwachen Geschlecht eine unangenehm aktive Rolle bei der Gestaltung der Männchen zu – was im viktorianischen England nicht wohlgelitten war und, wie wir in Kapitel 2 erfahren werden, Darwins Theorie der sexuellen Selektion für das wissenschaftliche Patriarchat besonders ungenießbar machte. Daher mühte sich Darwin nach Kräften, diese weibliche Macht herunterzuspielen, indem er beschrieb, dass diese „vergleichsweise passiv“ und auf nicht bedrohliche Art erreicht wird, indem die Weibchen der männlichen Prahlerei „als scheinbar unbeteiligte Zuschauerin“ beiwohnen.
Darwins Darstellung der Geschlechter als aktiv (Männchen) und passiv (Weibchen) hätte sich eine teure Werbeagentur mit unbegrenztem Budget nicht besser ausdenken können, bedient sie doch jene säuberliche Art von Dichotomie – wie richtig oder falsch, schwarz oder weiß, Freund oder Feind –, die das menschliche Gehirn so schätzt, weil es sie intuitiv als richtig empfindet.
Doch Darwin war vermutlich nicht der Erfinder dieser bequemen Klassifikation der Geschlechter. Gut möglich, dass er hier Anleihen bei Aristoteles genommen hatte, dem Vater der Zoologie. Im 4. Jahrhundert v. Chr. verfasste der griechische Philosoph den wohl ersten Almanach der Tiere: Über die Zeugung der Geschöpfe (De generatione animalium), eine Abhandlung über die Fortpflanzung. Dieses akademische Grundlagenwerk hatte Darwin sicherlich gelesen, was vielleicht erklärt, warum eine gewisse Ähnlichkeit zu Aristoteles’ Aufteilung der Geschlechterrollen besteht:
„Bei jenen Tieren, die … zwei Geschlechter aufweisen …, steht das Männliche für das Effektive und Aktive … und das Weibliche … für das Passive.“
Die Stereotype von weiblicher Passivität und männlicher Tatkraft sind so alt wie die Zoologie selbst. Dass der Zahn der Zeit so wenig an ihnen genagt hat, lässt vermuten, dass sie sich für Generationen von Wissenschaftlern „richtig“ angefühlt haben – was nicht bedeutet, dass sie das auch sind. Die Wissenschaft hat uns auf jedem Gebiet gelehrt, dass unsere Intuition uns oft in die Irre leitet. Das größte Problem bei dieser netten binären Klassifikation: Sie stimmt nicht.
Versuchen Sie doch einmal, die Notwendigkeit von Passivität einem dominanten Tüpfelhyänenweibchen zu erklären – es wird Ihnen ins Gesicht lachen (nachdem es es zerbissen hat). Weibliche Tiere sind genauso promisk, kompetitiv, aggressiv, dominant und dynamisch wie männliche. Sie lenken den evolutionären Wandel genauso wie die Männchen. Darwin und all die anderen Herren Zoologen, die zu seiner Erläuterung beisteuerten, konnten (oder wollten) sie nur nicht so sehen. Der größte Erkenntnisschritt in der Biologie, ja vielleicht in der gesamten Naturwissenschaft, wurde von einer Gruppe Männer Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen, und dementsprechend finden sich darin bestimmte Annahmen bezüglich der Natur von sozialem und biologischem Geschlecht.
Dazu sei fairerweise angemerkt, dass Darwin nicht gerade ein ausgewiesener Experte für das andere Geschlecht war. Er hatte seine Cousine Emma geheiratet, nachdem er zuvor eine Pro-und-Contra-Liste zum Thema Ehe erstellt hatte. Diese aufschlussreiche romantische Auflistung, auf die Rückseite eines Briefes an einen Freund gekritzelt, hat beschämenderweise überdauert und enthüllt nun seine intimsten Gedanken, sodass alle Welt darüber für immer urteilen kann.
In zwei kurzen Spalten („heiraten“ und „nicht heiraten“) fasste Darwin seine innere Zerrissenheit zum Thema Heirat zusammen. Besondere Sorge bereitete ihm, dass er vielleicht weniger „Unterhaltungen mit klugen Männern in Clubs“ führen und damit „fett und faul“ werden könnte, oder schlimmer noch: die mögliche „Verbannung und Erniedrigung mit indolentem faulem Dummkopf“ (was wohl nicht ganz dem entsprach, wie Emma sich von ihrem geliebten Bräutigam gern umschrieben gesehen hätte). Als Argument dafür notierte er allerdings, dass er jemanden hätte, der „das Haus versorgt“, und eine „nette, sanfte Frau auf einem Sofa“ sei „jedenfalls besser als ein Hund“. Also stürzte sich Darwin mutig in die Ehe.
Man könnte meinen, dass Darwins Beweggründe, obwohl er Vater von zehn Kindern werden sollte, eher vernünftiger als fleischlicher Natur waren. Möglicherweise war er nicht sehr vertraut mit dem weiblichen Geschlecht, ja nicht einmal besonders interessiert daran. Darum war es vielleicht an sich schon unwahrscheinlich, dass er die Evolution auch aus weiblicher Sicht betrachtete, ganz unbesehen der Gesellschaft, in die er hineingeboren worden war.
Selbst die innovativsten und gewissenhaftesten Wissenschaftler:innen sind nicht immun gegen kulturelle Einflüsse. Darwins androzentrische Sicht auf die Geschlechter war zweifellos vom vorherrschenden Chauvinismus seiner Zeit geprägt. In der Oberschicht des 19. Jahrhunderts hatten Frauen nur eine einzige wichtige Rolle im Leben: Sie sollten heiraten, Kinder bekommen und vielleicht noch ihren Ehemann in seinen Interessen und seinem Beruf unterstützen. Sie sollten also vor allem unterstützend und im häuslichen Bereich wirken, denn Frauen wurden – körperlich und intellektuell – als das „schwächere“ Geschlecht definiert. Sie waren in jeder Hinsicht der männlichen Autorität untergeordnet, sei es der von Vätern, Ehemännern, Brüdern oder gar erwachsenen Söhnen.
Dieses soziale Vorurteil wurde von den Ansichten der zeitgenössischen Naturwissenschaft praktischerweise noch gestützt. Die führenden akademischen Köpfe des 19. Jahrhunderts sahen in den Geschlechtern grundverschiedene Kreaturen, ja eigentlich absolute Gegensätze. Man glaubte, dass weibliche Wesen in ihrer Entwicklung quasi stehen blieben; sie ähnelten jungen Individuen ihrer Art, da sie kleiner, schwächer und weniger farbenfroh waren. Männliche Wesen steckten ihre Energie ins Wachstum, die weibliche Energie dagegen wurde gebraucht, um Eizellen zu produzieren und Junge auszutragen. Da männliche Wesen meist größer gebaut waren, hielt man sie für komplexer, variabler und mental leistungsfähiger als weibliche. Diese galten als durchschnittlich intelligent; die bei den männlichen Wesen angenommene große Variabilität dagegen schloss auch intelligente Überflieger mit ein, wie man sie beim anderen Geschlecht nicht sah. Insgesamt betrachtete man männliche Wesen als höher entwickelt als weibliche.
Diese Ansichten flossen allesamt in Darwins Werk Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl ein, das, wie der Titel schon verrät, die Evolution des Menschen und die im 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellungen zu Geschlechtsunterschieden mit der sexuellen und der natürlichen Selektion erklärte.
„Der hauptsächlichste Unterschied in den intellectuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer grösseren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildung, oder bloss den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern“, so Darwin. „Hierdurch ist schliesslich der Mann dem Weibe überlegen geworden.“
Darwins Theorie der sexuellen Selektion entstand in einer Welt der Misogynie, daher verwundert es nicht, dass das weibliche Tier darin so verzerrt dargestellt, so gering beachtet und unverstanden ist wie eine viktorianische Hausfrau. Viel überraschender und folgenschwerer ist vielleicht, welche Schwierigkeiten es bis heute bereitet, die Wissenschaft von diesem sexistischen Beigeschmack zu bereinigen, und wie sehr sie davon durchdrungen ist.
Darwins Genie war da keine Hilfe. Er wurde geradezu vergöttert, sodass ihm nachfolgende Biologen unter einem chronischen Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) litten. Sie suchten nach Belegen für die „typisch weibliche“ Passivität und sahen nur, was sie sehen wollten. Bei Ausnahmen, etwa der ausgeprägten Promiskuität von Löwinnen, die sich während des Östrus begeistert etliche Male am Tag mit verschiedenen Männchen paaren, schauten sie geflissentlich weg. Und schlimmer noch: Versuchsergebnisse, die nicht ins Muster passten, wurden sogar geschickt statistisch manipuliert, um das „korrekte“ wissenschaftliche Modell zu stützen (mehr dazu später).
Ein zentrales Dogma der Wissenschaft ist das Sparsamkeitsprinzip, auch „Ockhams Rasiermesser“ genannt. Es lehrt Wissenschaftler:innen, Beobachtungen zu trauen und die einfachste Erklärung für diese zu wählen, da sie wahrscheinlich zugleich die beste ist. Darwins strenge Geschlechterrollen bewirkten eine Abwendung von diesem grundlegenden Wissenschaftsprinzip, da Forscher mit immer verschraubteren Argumentationen weibliche Verhaltensweisen „wegerklären“ mussten, die nicht dem Stereotyp entsprachen.
Ein Beispiel dafür ist der Nackt- oder Schlankschnabelhäher (Gymnorhinus cyanocephalus). Diese kobaltblauen Rabenvögel leben im Nordwesten der USA und bilden dort lärmende Trupps von 50 bis 500 Tieren. Hochintelligente Lebewesen mit einem derart aktiven Sozialleben verfügen wahrscheinlich über Mittel, um ihre sozialen Aktivitäten zu ordnen, kurzum: ein Dominanzgefüge. Andernfalls würde Chaos herrschen. Die Ornithologen John Marzluff und Russell Balda, die die Häher mehr als 20 Jahre lang erforschten und in den 1990er-Jahren ein Standardwerk über sie veröffentlichten, interessierten sich für die soziale Hierarchie der Tiere. Daher machten sie sich auf die Suche nach dem „Alphamännchen“.
Das erforderte einigen Einfallsreichtum. Wie sich zeigte, sind die Hähermännchen strikte Pazifisten und tragen praktisch nie Kämpfe aus. Die eifrigen Ornithologen errichteten also Futterstationen mit Leckereien wie fettigem Popcorn und Mehlwürmern, um möglichst territorialen Unfrieden zu stiften. Doch noch immer kämpften die Häher nicht miteinander. Die Forscher mussten ihre Skala der kämpferischen Aktivität nach recht subtilen Hinweisen ausrichten, etwa Seitenblicken. Warf das dominante Männchen dem rangniederen Männchen auch nur einen scharfen Blick zu, verließ Letzteres die Futterstelle. Das war nicht ganz im Stile von Game of Thrones, doch die Forscher dokumentierten eifrig etwa zweieinhalbtausend solcher „aggressiven“ Begegnungen.
Als es an die Auswertung der Statistik ging, wurde die Verwirrung noch größer. Nur 14 von 200 Mitgliedern des Trupps qualifizierten sich für einen Platz im Dominanzgefüge, und eine lineare Hierarchie gab es nicht. Die Männchen kehrten die Rangfolge um, und rangniedere zeigten sich „aggressiv“ gegen ranghöhere. Trotz dieser verwirrenden Ergebnisse und nicht vorhandener Macho-Feindseligkeit erklärten die Wissenschaftler zufrieden: „Es besteht kaum Zweifel daran, dass Männchen aggressiv Kontrolle ausüben.“
Kurioserweise hatten die Forscher durchaus Häher bei deutlich handfesteren Auseinandersetzungen beobachtet als dem Austausch schiefer Blicke. Sie dokumentierten dramatische Luftkämpfe, bei denen sich die beteiligten Individuen im Flug gegenseitig packten und „wild flatternd zu Boden fielen“, wo sie „einander heftig mit den Schnäbeln pickten“. Diese Zusammenstöße waren „das aggressivste Verhalten, das wir im gesamten Jahr beobachteten“, doch sie wurden von den Wissenschaftlern in kein Dominanzschema eingearbeitet, weil die Beteiligten nicht männlich waren. Es waren allesamt Weibchen. Die Autoren folgerten, dass dieses „gereizte“ weibliche Verhalten hormonell bedingt sein musste. Sie vermuteten, dass die Häherweibchen aufgrund eines Hormonschubs im Frühling unter dem „Vogel-Äquivalent zum PMS, von uns PBS (pre-breeding syndrome) genannt“, litten.
So etwas wie das aviäre PBS gibt es nicht. Hätten Marzluff und Balda das aggressive Verhalten der Häherweibchen unvoreingenommen beobachtet und mit Ockhams Rasiermesser den Staub von ihrer Schlussfolgerung geschabt, wären sie der Entschlüsselung des komplexen Sozialsystems der Nacktschnabelhäher ziemlich nahe gekommen. Die Hinweise darauf, dass unter den Weibchen tatsächlich eine starke Konkurrenz besteht und sie eine entscheidende Rolle in der Hierarchie der Tiere spielen, finden sich allesamt in ihren sorgfältig aufgezeichneten Daten, aber sie erkannten sie nicht. Stattdessen stießen sie dogmatisch noch weiter vor und suchten nach der „Krönung eines neuen Königs“, die auch ihre Überzeugung gekrönt hätte – und natürlich nie stattfand.
Hier ist keine Verschwörung am Werk, lediglich bornierte Wissenschaft. Marzluff und Balda zeigen beispielhaft, wie gute Wissenschaftler unter böser Voreingenommenheit leiden können. Die beiden Ornithologen hatten völlig neuartige Verhaltensweisen beobachtet, die sie innerhalb eines falschen Rahmenwerks interpretierten. Und mit diesem Fehler stehen sie keineswegs allein da. Die Wissenschaft ist, so zeigt sich, von unabsichtlichem Sexismus durchdrungen.
Erschwerend kommt hinzu, dass das akademische Establishment von Männern dominiert war und oftmals noch ist, die das Tierreich naturgemäß von ihrem Standpunkt aus betrachten; die Fragen, die der Forschung zugrunde lagen, wurden also aus männlicher Perspektive gestellt. Viele Forscher interessierten sich schlichtweg nicht für weibliche Lebewesen. Männchen waren das Hauptereignis und wurden zum Standardorganismus – das Grundmodell, von dem die Weibchen abwichen, der Standard, nach dem die Art beurteilt wurde. Weibliche Tiere mit ihrem „Hormondurcheinander“ waren Randerscheinungen, lenkten vom Hauptnarrativ ab und rechtfertigten nicht dasselbe Maß an wissenschaftlicher Gründlichkeit. Ihre Körper und Verhaltensweisen blieben weitgehend unerforscht, und die resultierende Datenlücke wurde dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Weibliche Lebewesen gelten bis heute als eine invariante, träge Begleiterscheinung des männlichen Strebens – weil es keine Daten gibt, die ein anderes Bild von ihnen zeichnen.
Das Gefährlichste an der sexistischen Voreingenommenheit ist ihr Bumerangeffekt. Was als chauvinistische Kultur des 19. Jahrhunderts begann, wurde in der Wissenschaft ein Jahrhundert lang bebrütet und dann wieder in die Gesellschaft ausgespuckt, als politische Waffe, versehen mit dem Etikett „Darwin“. Dies verlieh einer Handvoll vornehmlich männlicher Verfechter des neuen Wissenschaftszweiges der evolutionären Psychologie die ideologische Autorität zu behaupten, dass verschiedenste üble männliche Verhaltensweisen – von der Vergewaltigung über zwanghaftes Schürzenjägertum bis hin zum Überlegenheitsempfinden – menschlich nur „natürlich“ wären, das hätte schließlich schon Darwin so festgestellt. Frauen wurde gesagt, sie hätten dysfunktionale Orgasmen, könnten nie die gläserne Decke durchstoßen, weil ihnen der Ehrgeiz fehle, und sollten sich aufs Muttersein beschränken.
Dieses Psychogebrabbel der Jahrtausendwende wurde von einer neuen Sorte von Männermagazinen gierig aufgegriffen, die diese sexistische „Wissenschaft“ in den Mainstream verlagerten. In Buch-Bestsellern und Kolumnen in der populären Presse krähten Journalisten wie Robert Wright, dass der Feminismus dem Untergang geweiht sei, weil er diese wissenschaftlichen Wahrheiten nicht anerkennen wolle. Von seinem ideologischen Sockel herab produzierte Wright anmaßende Artikel mit Titeln wie „Feminists, Meet Mr Darwin“ („Feministinnen, darf ich vorstellen: Mr Darwin“), verlieh seinen Kritiker:innen „eine Drei im Grundkurs Biologie“ und behauptete, dass „keine einzige namhafte Feministin genug über modernen Darwinismus weiß, um sich ein Urteil darüber zu erlauben“.
Doch das taten die Feminist:innen sehr wohl. Die zweite Welle des Feminismus hatte einst verschlossene Labortüren aufgestoßen; Frauen gingen in den besten Universitäten ein und aus und studierten selbst Darwin. Sie betrieben Feldforschung und beobachteten weibliche Tiere mit derselben Neugierde wie männliche. Sie entdeckten sexuell frühreife Affenweibchen, und statt diese zu ignorieren, wie es ihre männlichen Vorgänger getan hatten, fragten sie sich, warum sich diese so verhielten. Sie entwickelten standardisierte Methoden zur Erfassung von Verhaltensweisen, die dieselbe Aufmerksamkeit für beide Geschlechter erforderten. Sie nutzten neue Techniken, um Vogelweibchen auszukundschaften, und fanden heraus, dass diese keineswegs Opfer der männlichen Dominanz waren, sondern tatsächlich den Ton angaben. Und sie wiederholten Experimente, die Darwins Geschlechts-Stereotype empirisch untermauerten – und stellten fest, dass die Ergebnisse verzerrt waren.
Es braucht Mut, Darwin infrage zu stellen. Er ist mehr als ein ikonischer Intellekt; er ist (zumindest in Großbritannien) ein Nationalheiligtum. Wie mir ein ehemaliger Professor erklärte, kommt es akademischer Gotteslästerung gleich, wenn man anderer Ansicht ist als Darwin; dies hat bewirkt, dass die Evolutionsforschung in unserem Land eher konservativ ist. Vielleicht wurde die Saat der Rebellion deshalb auf der anderen Seite des Atlantiks ausgebracht, von einer Handvoll US-amerikanischer Wissenschaftler:innen, die sich aufmachten, alternative Narrative zu Evolution, Geschlecht und Sexualität zu entwickeln.
Sie werden diese intellektuellen Kriegerinnen auf den folgenden Seiten kennenlernen. Einige von ihnen traf ich beim Mittagessen auf einer Walnussfarm in Kalifornien, wo wir unter anderem über Darwin, Orgasmen und Geier diskutierten. Sarah Blaffer Hrdy, Jeanne Altmann, Mary Jane West-Eberhard und Patricia Gowaty sind die aufrührerischen Matriarchinnen des modernen Darwinismus, die es wagten, der wissenschaftlichen Phallokratie mit Daten und Logik entgegenzutreten. Sie nennen sich selbst „The Broads“ („die Weiber“) und treffen sich seit 30 Jahren alljährlich bei Hrdy daheim, um sich über Evolutionsforschung auszutauschen. Ich hatte das Glück, eine Einladung zu ihrer jährlichen geistigen Sause zu erhalten. Obwohl sie sich inzwischen zum Teil im Ruhestand befinden, treffen sich diese wegbereitenden Professorinnen immer noch, um einander zu unterstützen, neue Ideen zu diskutieren und die Entwicklung der Evolutionsbiologie generell auf einem guten Kurs zu halten. Ja, sie sind Feministinnen, aber sie äußern klar, was das für sie bedeutet: die gleichberechtigte Repräsentation beider Geschlechter, nicht die unverdiente Vorherrschaft nur des einen.
Ihre wissenschaftliche Arbeit hat eine neue Generation von Biolog:innen in die Lage versetzt, die weibliche Seite einer Art mit all ihren faszinierenden Eigenschaften zu betrachten – indem sie weibliche Körper und Verhaltensweisen untersuchten und sich fragten, wie Selektion aus der Sicht einer Tochter, Schwester, Mutter und Konkurrentin wirkt. Diese Wissenschaftler:innen sind willens, hinter die kulturellen Normen zu blicken, unorthodoxe Ideen zur Wechselhaftigkeit von Geschlechterrollen zu verfolgen und dabei dem – unbeabsichtigten oder sonstigen – Machismo in der Evolutionsbiologie ein Ende zu setzen. Viele von ihnen sind Frauen, aber wie wir noch erfahren werden, ist die wissenschaftliche Meuterei keine rein weibliche Angelegenheit. Alle biologischen und sozialen Geschlechter spielen dabei eine Rolle. Auf den Seiten dieses Buches werden Ihnen viele männliche Wissenschaftler begegnen. Die Pionierleistungen von Frans de Waal, William Eberhard und David Crews, um nur einige zu nennen, machen deutlich, dass man sich nicht als Frau identifizieren muss, um Wissenschaft feministisch zu betreiben. Neue Perspektiven aus der LGBTQ-Wissenschaftscommunity tragen zudem entscheidend dazu bei, die heteronormative Kurzsichtigkeit und das binäre Dogma der Zoologie anzugehen. Biolog:innen wie Anne Fausto-Sterling, Joan Roughgarden und andere haben auf die erstaunliche Vielfalt der geschlechtlichen Ausprägungen im Tierreich ebenso aufmerksam gemacht wie auf die entscheidende Rolle, die Diversität als Triebkraft der Evolution einnimmt.
Das Ergebnis ist nicht nur eine viel umfassendere, lebensnahe Darstellung des weiblichen Tiers, sondern auch eine Vielzahl erstaunlicher Erkenntnisse über die komplizierten Mechanismen der Evolution. Dies sind aufregende Zeiten für Evolutionsbiolog:innen. In der Theorie der sexuellen Selektion zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Empirische Befunde stellen bisherige „Tatsachen“ auf den Kopf, und konzeptuelle Veränderungen weisen althergebrachten Annahmen die Tür. Dabei lag Darwin keinesfalls insgesamt daneben. Männliche Konkurrenz und weibliche Partnerwahl sind Triebkräfte der sexuellen Selektion, aber sie sind nur ein Teil des evolutionären Gesamtbildes. Darwin betrachtete die Natur sozusagen durch eine viktorianische Lochkamera. Das Wissen um das weibliche Geschlecht liefert uns nun ein Panoramabild vom Leben auf der Erde in voller Farbenpracht, was die Geschichte umso faszinierender macht.
In diesem Buch begebe ich mich auf eine Abenteuerreise um die Welt, zu den Tieren und zu den Wissenschaftler:innen, die die überkommene patriarchale Sicht auf die Evolution mit neuen Erkenntnissen überschreiben und die weibliche Seite der Arten neu definieren.
Auf Madagaskar erfahren wir, warum weibliche Lemuren – unsere entfernteste Primatenverwandtschaft – die männlichen physisch und geradezu politisch taktierend dominieren. In den schneebedeckten Bergen Kaliforniens entdecken wir, wie ein Roboter-Beifußhuhnweibchen Darwins Mythos vom passiven Weibchen zerlegt. Auf Hawaii lernen wir verliebte, langjährige Albatrosweibchen-Paare kennen, die traditionellen Geschlechterrollen zum Trotz ihre Jungen gemeinsam aufziehen. Und vor der Küste des US-Bundesstaates Washington fühlen wir uns einer Schwertwal-Matriarchin nahe, der weisen alten Anführerin ihrer Jagdgemeinschaft und Angehörigen einer der nur fünf bekannten Arten (einschließlich des Menschen), bei denen die weiblichen Individuen eine Menopause durchleben.
Mit meiner Erkundung aufkommender Berichte aus der Randzone des Weiblichen zeichne ich hoffentlich ein neuartiges, diverses Bild des weiblichen Tieres. Außerdem möchte ich herausfinden, was diese Erkenntnisse, wenn überhaupt, über uns Menschen aussagen.
Mindestens seit Äsops Zeiten sehen wir Tiere als Illustration und Abbild menschlichen Verhaltens. Viele glauben (nicht ganz zu Recht), dass die Natur menschlichen Gesellschaften vermittelt, was gut und richtig ist – der Denkfehler des Naturalismus. Überleben ist jedoch eine unsentimentale Angelegenheit, und tierisches Verhalten begleitet weibliche Narrative von fabelhafter Macht bis zur grauenvollsten Unterdrückung. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu weiblichen Tieren können Streitigkeiten beiderseits des feministischen Gartenzauns befeuern; Tiere als ideologische Waffen einzusetzen, ist jedoch ein gefährliches Spiel. Zu wissen, was es bedeutet, ein weibliches Tier zu sein, kann jedoch dabei helfen, faulen Argumenten und strapazierten androzentrischen Stereotypen entgegenzutreten; es kann unsere Annahmen darüber, was natürlich, normal, ja sogar möglich ist, ins Schwanken bringen. Wenn das Weiblichsein neu definiert wird, dann nicht durch strenge, altbackene Regeln und Erwartungen, sondern durch seine dynamische und vielfältige Natur.
Die „Bitches“ in diesem Buch zeigen uns, inwiefern weibliche Lebewesen nicht bloß passive Handlangerinnen sind, sondern ums Überleben kämpfen. Darwins Theorie der sexuellen Selektion trieb einen Keil zwischen die Geschlechter, indem sie den Fokus auf die Unterschiede legte, doch diese Unterschiede sind eher kultureller als biologischer Art. Merkmale von Tieren, ob körperlich oder im Verhalten, sind sowohl vielfältig als auch plastisch. Sie können sich den Launen einer Selektion anpassen, und das macht Geschlechtsmerkmale flexibel und formbar. Die Eigenschaften eines weiblichen Tieres lassen sich nicht aus der Kristallkugel seines Geschlechts ablesen, denn Umwelt, Zeit und Zufall haben allesamt Einfluss auf ihre Form. Wie wir in Kapitel 1 erfahren werden, bestehen zwischen Weibchen und Männchen weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede – so viele, dass es manchmal schwerfällt, die Grenze zwischen beiden zu ziehen.
sehr viele interessante und auch kontroverse themen.gefällt mir.