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Die schönsten Gartenbücher

Bücher für Gartenliebhaber

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Im Garten Zufriedenheit und neue Kraft finden

Vom Wachsen und WerdenVom Wachsen und Werden

Wie wir beim Gärtnern zu uns finden

Im Garten finden viele Menschen Entspannung, schöpfen neue Kraft und kommen zur Ruhe. Der Prozess des Pflanzens und Pflegens, Säens und Erntens beeinflusst unser Wohlbefinden, unsere Fähigkeit zur Selbstreflexion und unsere Kreativität. Gartenarbeit ist aber auch ein bewährtes Heilmittel zur Behandlung vieler psychischer Probleme – von Sucht- und Angststörungen bis hin zu Depressionen und Traumata. In diesem Buch zeigt die Psychiaterin und begeisterte Gärtnerin Sue Stuart-Smith, wie sich die Natur positiv auf unsere innere Welt auswirkt, uns Inspiration bietet und den Geist bereichert.

1 Die Anfänge

Heraus, das Licht der Dinge macht nicht blind:
Lass die Natur dein Lehrer sein!
William Wordsworth (1770–1850)


Lange bevor ich den Wunsch verspürte, Psychotherapeutin zu werden, lange bevor ich auch nur ahnte, dass das Gärtnern einmal eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen könnte, erinnerte ich mich gelegentlich daran, dass in meiner Familie darüber gesprochen wurde, wie mein Großvater nach dem Ersten Weltkrieg wieder ins Leben zurückfand.
Mein Großvater hieß Alfred Edward May, wurde aber von allen Ted genannt. Er war fast noch ein Kind, als er in die Royal Navy eintrat. Dort ließ er sich zum Marconi-Funker ausbilden und wurde Matrose auf einem U-Boot. In der Schlacht von Gallipoli im Frühjahr 1915 lief sein U-Boot in den Dardanellen auf Grund. Fast die gesamte Mannschaft überlebte, geriet aber in türkische Kriegsgefangenschaft. Die ersten Monate seiner Gefangenschaft hielt Ted in einem winzigen Tagebuch fest. Dann folgte eine Phase der Internierung in mehreren barbarischen Arbeitslagern, die nicht dokumentiert ist. Zuletzt arbeitete er in einer Zementfabrik am Marmarameer, aus der er im Jahr 1918 über das Meer entkommen konnte.
Ted wurde geborgen und auf einem britischen Lazarettschiff versorgt. Kaum war er wieder halbwegs bei Kräften, wagte er die lange Heimreise über den Landweg. Er wollte so schnell wie möglich seine Verlobte Fanny wiedersehen. Er hatte sie als stattlicher junger Mann verlassen, nun stand er in einem abgewetzten, alten Regenmantel und mit einem türkischen Fez auf dem Kopf vor ihrer Tür. Sie erkannte ihn kaum wieder, denn er wog gerade mal 38 Kilo und hatte seine Haare verloren. Er erzählte Fanny, dass die 4000 Meilen lange Reise „ein Horror“ gewesen sei. Seine Unterernährung war derart fortgeschritten, dass man ihm nach einer medizinischen Untersuchung im Krankenhaus der Navy nur noch wenige Monate gab.
Fanny pflegte Ted aufopferungsvoll, flößte ihm stündlich wenige Löffel voll Suppe und anderen Speisen ein, bis er langsam wieder in der Lage war, Nahrung zu verdauen. Nach und nach kam Ted wieder zu Kräften, und kurz darauf heirateten sie. In diesem ersten Jahr strich Ted oft stundenlang mit einer weichen Bürste über seinen kahlen Schädel, um seine Haare zum Wachsen zu animieren. Und tatsächlich wuchsen sie wieder, waren aber weiß geworden.
Mit Liebe, Geduld und Entschlossenheit trotzte Ted seiner düsteren Prognose, doch seine Erlebnisse der Kriegsgefangenschaft verließen ihn nicht und quälten ihn nachts. Vor allem Spinnen und Läuse machten ihm Angst, denn sie hatten die Gefangenen heimgesucht, wenn sie schlafen wollten. Noch jahrelang konnte er nicht allein im Dunkeln sein.
Die nächste Phase seiner Genesung begann im Jahr 1920, als er sich zu einem einjährigen Gartenbaulehrgang anmeldete; es war eine der vielen Maßnahmen, die in der Nachkriegszeit zur Wiedereingliederung von kriegsversehrten Veteranen durchgeführt wurden. Nach der Ausbildung reiste Ted nach Kanada, ohne Fanny. Er suchte nach neuen Arbeitsmöglichkeiten, auch in der Hoffnung, durch Landarbeit seine körperlichen und seelischen Kräfte wiederzugewinnen. Die kanadische Regierung hatte damals ein Programm aufgelegt, um ehemalige Weltkriegssoldaten ins Land zu holen. Tausende folgten ihrem Ruf und machten sich auf die lange Reise über den Atlantik.
Ted arbeitete zuerst in Winnipeg bei der Weizenernte und fand dann auf einer Rinderfarm in Alberta eine feste Anstellung als Gärtner. Zwei Jahre blieb er in Kanada, und einen guten Teil der Zeit war auch Fanny bei ihm, aber aus welchen Gründen auch immer kam ihr Traum eines neuen Lebens nicht zustande. Gleichwohl kehrte Ted gekräftigt und gesund nach England zurück.
Nach einigen Jahren erwarben die beiden einen kleinen Bauernhof in Hampshire, wo Ted Schweine, Bienen und Hühner hielt und Blumen, Obst und Gemüse anbaute. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er als Funker in der Admiralty Wireless Station in London. Meine Mutter erinnert sich noch an seinen mit Fleisch aus eigener Schlachtung und selbst gezogenem Gemüse vollgepackten schweinsledernen Koffer, mit dem er nach London reiste. Und dann kam er mit dem Koffer voll mit Zucker-, Butter- and Teevorräten wieder zurück. Nicht ohne Stolz erzählt sie, dass die Familie während des Kriegs niemals Margarine essen musste und dass Ted sogar seinen eigenen Tabak anbaute.
Ich erinnere mich an seinen Humor und an sein warmherziges Wesen. In meinen Kinderaugen war er ein Mann, der robust und mit sich selbst im Reinen zu sein schien. Ich musste keine Angst vor ihm haben, und er trug seine Kriegstraumata nicht nach außen. Er verbrachte Stunden mit der Arbeit im Garten und in den Gewächshäusern, immer die Pfeife dabei und den Tabaksbeutel in Reichweite. Teds langes und gesundes Leben – er wurde beinahe achtzig Jahre alt – und die Tatsache, dass er sich mit den in der Kriegsgefangenschaft erlittenen Misshandlungen abzufinden vermochte, ist Teil unseres Familienmythos über die regenerierende Wirkung von Gartenarbeit und Ackerbau geworden.
Ted starb ganz unerwartet an einem Aneurysma, als er gerade mit seinem geliebten Shetland Schäferhund spazieren ging. Ich war damals zwölf Jahre alt. Die Überschrift seines Nachrufs in der Lokalzeitung lautete: „Ehemals jüngster U-Boot-Matrose gestorben.“ Dort stand, dass Ted im Ersten Weltkrieg zweimal für tot erklärt worden war und dass er und die anderen Häftlinge, mit denen er aus der Zementfabrik geflohen war, sich 23 Tage lang nur von Wasser ernährt hatten. Der Schlusssatz des Nachrufs bezog sich auf seine Liebe zum Gärtnern: „Er widmete seine Freizeit der Pflege seines großen Gartens und erlangte mit einigen seltenen Orchideenarten lokale Berühmtheit.“
Vielleicht hat sich meine Mutter unbewusst daran ein Beispiel genommen, als mein Vater noch vor seinem fünfzigsten Geburtstag starb und sie als relativ junge Witwe zurückließ. Im zweiten Frühling nach seinem Tod zogen wir in ein anderes Haus, und sie machte sich daran, einen verwahrlosten Bauerngarten herzurichten. Selbst ich in meiner jugendlichen Selbstbezogenheit bemerkte, dass sie sich beim Graben und Jäten mit ihrem Verlust abfand.
In dieser Phase meines Lebens konnte ich mir nicht vorstellen, dass mich Gartenarbeit jemals intensiv beschäftigen würde. Mich interessierte die Welt der Literatur, und ich wollte mir das Leben des Geistes erschließen. Gartenarbeit war für mich eine Art ins Freie verlagerte Hausarbeit, und Unkraut zupfen kam mir genauso wenig in den Sinn wie Kuchen backen oder Vorhänge waschen.
Während meines Studiums war mein Vater immer wieder im Krankenhaus; er starb, als gerade mein letztes Studienjahr begonnen hatte. Die Nachricht erreichte mich in den frühen Morgenstunden per Telefon. Kaum war die Sonne aufgegangen, ging ich durch die stillen Straßen von Cambridge, durchquerte den Park und kam hinab zum Fluss. Es war ein heller, sonniger Oktobertag; die Welt war grün und still. Die Bäume, das Gras und das Wasser hatten etwas Tröstliches. Erst in dieser friedvollen Umgebung war ich fähig, mich der schrecklichen Wahrheit zu stellen, dass mein Vater diesen schönen Tag nicht mehr erleben konnte.
Vielleicht erinnerten mich das Grün und das Wasser an glücklichere Tage und an die ersten Landschaften, die als Kind Eindruck auf mich gemacht hatten. Mein Vater hatte ein Boot auf der Themse, und als mein Bruder und ich noch klein waren, verbrachten wir viele Ferien und Wochenenden auf dem Wasser. Einmal machten wir eine Expedition bis zur Quelle des Flusses, oder so nah wir ihr eben kamen. Ich erinnere mich noch an die Stille des Morgennebels, an meine Freiheitsgefühle, als wir auf den Sommerwiesen spielten. Angeln gehörte damals zu unseren Lieblingsbeschäftigungen.
Während meiner letzten Semester in Cambridge erschloss sich mir ein neuer, sehr emotionaler Zugang zur Lyrik. Meine Welt hatte sich unwiederbringlich geändert, und ich klammerte mich an Verse, die von der tröstenden Natur und vom Kreislauf des Lebens handelten. Dylan Thomas und T. S. Eliot waren mir eine Stütze, aber hauptsächlich wandte ich mich Wordsworth zu, jenem Dichter, der selbst erfahren hatte:

Zu betrachten die Natur
nicht mehr gedankenlos wie in der Jugend,
vernehmend oftmals nun den ruhigen,
getragenen Gesang der Menschheit …

Trauer macht einsam, selbst wenn sie gemeinsam erfahren wird. Ein Verlust, der eine Familie erschüttert, weckt das Bedürfnis, sich gegenseitig zu stützen; doch gleichzeitig verstummen die Menschen und erleiden einen seelischen Zusammenbruch. Sie entwickeln den Impuls, sich gegenseitig vor zu heftigen Gefühlen zu bewahren, und es erscheint ihnen einfacher, ihren Gefühlen im Stillen freien Lauf zu lassen. Bäume, Wasser, Steine und Himmel mögen menschlichen Gefühlen gegenüber gleichgültig sein, aber sie weisen uns auch nicht zurück. Die Natur ist von unseren Gefühlen unbeeindruckt, und da sie sich von uns nicht anstecken lässt, erfahren wir in ihr einen die Einsamkeit des Verlusts lindernden Trost.
In den ersten Jahren nach dem Tod meines Vaters fühlte ich mich zur Natur hingezogen – nicht zu Gärten, sondern zum Meer. Seine Asche war den Wassern des Solent übergeben worden, einer von Booten und Schiffen viel befahrenen Meerenge unweit seines an der Südküste gelegenen Elternhauses. Am meisten Trost fand ich jedoch an den langen, einsamen Stränden im Norden von Norfolk, wo kaum ein Boot in Sicht war. Der Horizont erschien mir so unendlich weit, als befände ich mich am äußersten Rand der bekannten Welt – und ihm so nahe, wie es irgend ging.
Für eine Prüfung an der Universität hatte ich mich mit Freuds psychoanalytischer Theorie beschäftigt. Mein Interesse für die Funktionsweise der menschlichen Psyche war geweckt. Meine angestrebte Promotion in Literatur gab ich auf und entschied mich für ein Studium der Medizin. Dann heiratete ich im dritten Studienjahr Tom, für den das Gärtnern Teil des Lebens war. Er liebte es so sehr, dass ich mich entschied, es ebenfalls zu lieben, wenngleich ich, ehrlich gesagt, immer noch eine Gartenskeptikerin war. Gärtnern war für mich lediglich eine zu erledigende Aufgabe, wenngleich es draußen im Freien – jedenfalls wenn die Sonne schien – schöner war als im Haus.
Nach einigen Jahren zogen wir mit Rose, unserem Baby, auf einen umgebauten Bauernhof unweit von Toms Familie in Serge Hill in Hertfordshire. Im Laufe der folgenden Jahre kamen noch unsere Söhne Ben und Harry hinzu. In dieser Zeit machten Tom und ich uns mit Feuereifer daran, einen von Grund auf neuen Garten anzulegen. The Barn (die Scheune), wie wir unser neues Zuhause nannten, war von Feldern und Wiesen umgeben und, da das Gelände sich an einem Nordhang erstreckte, Wind und Wetter ausgesetzt. Als Erstes bauten wir also einen Windschutz. Wir gruben an mehreren Stellen den steinigen Boden um, pflanzten Bäume und Hecken, hegten Flächen mit Flechtzaun ein und arbeiteten an der Verbesserung des Bodens. Dies alles wäre ohne die enorme Unterstützung und Ermutigung von Toms Eltern und einer Reihe von hilfsbereiten Freunden nicht möglich gewesen. Manchmal feierten wir Steinlesefeste; dann halfen Rose, ihre Großeltern, Tanten und Onkel und füllten Eimer um Eimer mit großen und kleinen Steinen, die weggeschafft werden mussten.
Ich war körperlich wie seelisch entwurzelt und musste erst wieder ein neues Heimatgefühl entwickeln, dennoch war mir damals noch nicht ganz bewusst, dass die Gartenarbeit mir möglicherweise dabei half, Wurzeln zu schlagen. Viel gegenwärtiger war mir die wachsende Bedeutung des Gartens im Leben unserer Kinder. Sie bauten Unterschlüpfe in den Büschen und verbrachten Stunden in selbst erschaffenen Fantasiewelten. Der Garten war ein Reich der Fantasie und zugleich ein realer Ort.
Toms kreative Energie und seine Vision trieben unsere Gartengestaltung voran. Erst als Harry, unser Jüngster, im Krabbelalter war, begann ich selbst etwas anzupflanzen. Ich interessierte mich für Kräuter und vertiefte mich in die einschlägige Literatur. Dieses neue Studiengebiet führte zu einigen Versuchen in der Küche und zu einem „eigenen“ kleinen Kräutergarten. Es gab auch ein paar gärtnerische Missgeschicke wie das Ausreißen eines kriechenden Borretschs und eines hartnäckigen Seifenkrauts, aber es war eine Bereicherung, unser Essen mit allen möglichen selbst gezogenen Kräutern zu würzen. Danach war es nur noch ein kleiner Schritt zum Gemüseanbau. Damals reizte es mich am meisten, selbst Lebensmittel anzubauen.
Ich war Mitte dreißig und arbeitete als Assistenzärztin für Psychiatrie im National Health Service. Die Gartenarbeit belohnte meine Mühen mit sichtbaren Erträgen und stellte ein Gegengewicht zu meinem Berufsleben dar, in dem ich mit den weniger greifbaren Eigenschaften der Psyche zu tun hatte. Die Arbeit auf der Station und in der Ambulanz fand vorwiegend in Innenräumen statt, wogegen die Gartenarbeit mich nach draußen brachte.
Ich entdeckte die Freude, mit frei schwebender Aufmerksamkeit durch den Garten zu schlendern und zu registrieren, wie sich die Pflanzen veränderten, wuchsen, kränkelten, Früchte hervorbrachten. Meine Einstellung zu profanen Tätigkeiten wie Unkrautjäten, Hacken und Gießen änderte sich. Ich stellte fest, dass es weniger wichtig war, alles zu erledigen, als sich ganz in die Arbeit zu vertiefen. Gießen beruhigt – solange man nicht in Eile ist –, und eigenartigerweise fühlt man sich nach getaner Arbeit ebenso erfrischt wie die eben gewässerten Pflanzen.
Bis heute begeistert mich beim Gärtnern am meisten, Pflanzen aus Samen zu ziehen. Samen verraten nicht, was einmal aus ihnen werden wird. Ihre Größe ist unabhängig von dem ihnen innewohnenden Leben. Bohnen keimen effektvoll und sind dabei nicht besonders schön, aber man spürt von Anfang an die sich in ihnen entfaltende impulsive Energie. Die Samen vom Ziertabak sind fein wie Staubkörnchen, man sieht sie eigentlich nicht beim Säen. Kaum vorstellbar, dass aus ihnen etwas entstehen könnte – Wolken von duftenden Blüten –, und doch ist es so. Ich spüre, wie das neue Leben eine Bindung schafft, wenn ich mich dabei ertappe, wie ich fast zwanghaft zurückkomme, um nach meinen Samen und Setzlingen zu sehen, wie ich zum Gewächshaus hinausgehe, mit angehaltenem Atem hineintrete, um ja nichts zu unterbrechen und die Stille des gerade entstehenden Lebens nicht zu stören.
Die Jahreszeiten lassen beim Gärtnern grundsätzlich nicht mit sich debattieren – vielleicht verzeihen sie einem einen kleinen Aufschub. Ich säe diese Samen oder pflanze jene Sämlinge erst am nächsten Wochenende aus. Doch an einem gewissen Punkt merkt man, dass eine Verzögerung zur verpassten Chance wird, zu einer ungenutzten Gelegenheit. Hat man jedoch seine Setzlinge in die Erde ausgebracht, wird man von der Energie des Erdenkalenders fortgetragen wie von einem Fluss.
Besonders liebe ich die Gartenarbeit im Frühsommer, wenn die Wachstumsenergie am stärksten ist und es viel zu pflanzen gibt. Habe ich einmal begonnen, will ich nicht mehr aufhören. Ich arbeite bis zum Einbruch der Dunkelheit, wenn ich fast nichts mehr sehe. Dann zieht mich der warme Schein der Lampen wieder ins Haus hinein. Und wenn ich mich am nächsten Morgen aus dem Haus schleiche, sehe ich es: An welchen Beeten ich auch gearbeitet habe, alle haben sich über Nacht gesetzt und eingelebt.
Natürlich muss man beim Gärtnern immer auch Niederlagen einstecken – insbesondere wenn man voller Erwartung den Garten betritt und mit den traurigen Überresten von allerliebsten jungen Salatpflänzchen oder Reihen von unbarmherzig kahl gefressenem Grünkohl konfrontiert wird. Zugegeben, das unbekümmerte Essgebaren der Schnecken und Kaninchen kann hilflose Wutanfälle auslösen, und die Beharrlichkeit und Ausdauer von Unkraut kann sehr, sehr zermürbend sein.
Die aus der Pflege von Pflanzen resultierende Befriedigung hat nicht nur mit dem Erschaffen von Neuem zu tun. Der Gartenarbeit ist auch ein destruktives Element eigen, aber das Gute daran ist, dass es nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig ist, denn wenn es nicht geschieht, wird man überwuchert. Viele Tätigkeiten bei der Gartenpflege sind also auch von Aggressionen durchdrungen – sei es beim Schneiden mit der Heckenschere, beim Rigolen des Gemüsebeets, beim Schneckenmorden, beim Vernichten von Blattläusen, beim Ausreißen von Gänsegras oder beim Ausgraben von Brennnesseln. Man kann sich rückhaltlos und ohne Probleme in diese Arbeiten stürzen, denn sie sind Formen der Destruktivität, die dem Wachstum dienen. Dauert solch eine Phase sehr lang, ist man möglicherweise vollkommen verausgabt, fühlt sich innerlich aber seltsam erneuert – gereinigt und gleichzeitig gestärkt, als hätte man bei diesem Vorgang an sich selbst gearbeitet. Eine Art Garten-Katharsis.

Jedes Jahr, wenn der Winter vorbei ist und die Welt im kalten Märzwind fröstelt, zieht mich das Gewächshaus mit seiner verlockenden Wärme an. Was macht das Betreten eines Gewächshauses so besonders? Liegt es an der Sauerstoffsättigung der Luft, an der Art des Lichts und der Wärme? Oder ist es einfach die Nähe der Pflanzen, ihr Grün und ihr Duft? Als wären alle Sinne in diesem intimen, geschützten Raum geschärft.
An einem verhangenen Tag im vorigen Jahr war ich mit Arbeiten im Gewächshaus beschäftigt – Gießen, Säen, Kompost umsetzen und überhaupt alles herrichten. Dann riss der Himmel auf, die Sonne strömte hinein und versetzte mich in eine Welt aus schillerndem Grün und vom Licht durchschienenen Blättern. Die Tropfen auf den frisch gegossenen Pflanzen fingen aufreizend funkelnd das Licht auf, und einen Augenblick lang wurde ich von einer Empfindung irdischer Güte überwältigt – einem Gefühl, das ich mir bewahrt habe, wie ein Geschenk zur rechten Zeit.
An diesem Tag säte ich im Gewächshaus Sonnenblumen aus. Als ich die Keimlinge ungefähr einen Monat später ins Freie pflanzte, dachte ich, dass es einige nicht schaffen würden. Die größeren sahen vielversprechend aus, andere jedoch wirkten im Freien schmächtig und ungeschützt. Zufrieden beobachtete ich, wie sie größer und allmählich auch kräftiger wurden, auch wenn ich das Gefühl hatte, sie immer noch besonders im Auge behalten zu müssen. Dann nahm ihr Wachstum Fahrt auf, und ich widmete mich anderen, empfindlicheren Setzlingen.
Für mich ist Gärtnern ein sich wiederholendes gegenseitiges Geben. Ich mache etwas, dann verrichtet die Natur ihren Teil, dann reagiere ich darauf und so weiter – fast wie in einem Gespräch. Es ist kein Flüstern, Schreien oder Sprechen, aber das Hin und Her ist ein verlangsamter, ununterbrochener Dialog. Ich gebe zu, dass ich manchmal die Langsame bin und mich etwas zurückhalte. Zum Glück gibt es Pflanzen, die trotz Vernachlässigung überleben. Und wenn man Zeit mit anderen Dingen verbracht hat, ist die Faszination bei der Rückkehr umso größer, als würde man entdecken, was der andere in seiner Abwesenheit ausgeheckt hat.
Eines Tages bemerkte ich, dass die ganze Reihe von Sonnenblumen kräftig gewachsen war und ihre knospenden Blüten hochmütig und selbstbewusst emporreckte – und ich fragte mich: Wann und wie seid ihr so groß geworden? Es verging nicht viel Zeit, und der erste vielversprechende Keimling – immer noch die kräftigste Pflanze von allen – blickte mit seinem strahlend gelben Blütenteller von weit oben auf mich herab. Ich kam mir in seiner Gegenwart sehr klein vor, fühlte mich aber eigenartig bestätigt, hatte ich doch sein Leben auf den Weg gebracht.
Wie sehr hatten die Sonnenblumen sich nach gut einem Monat verändert! Die Bienen hatten sie ausgesaugt; ihre Blütenblätter waren verblasst, und die größte Blume konnte kaum ihren herabhängenden Kopf stützen. Gerade noch so stolz, und jetzt so melancholisch! Ich hätte sie am liebsten alle abgeschnitten, aber ich wusste, dass sie, würde ich ihre desolate Traurigkeit noch eine Weile ertragen, sie in der Sonne bleichen und trocknen und mit dem heranziehenden Herbst eine andere Gestalt annehmen würden.

Von „Deutschlands bester Gärtnerin“ (Die Welt)

Gebrauchsanweisung fürs GärtnernGebrauchsanweisung fürs Gärtnern

Die einen träumen von Rosen, üppigem Wildwuchs oder selbst gezogenem Gemüse, andere vom modellierten Designgarten mit akkuraten Beeten. Gabriella Pape, Botanikerin, passionierte Gärtnerin und renommierte Gartengestalterin, weiß, welche Blüten die Leidenschaft zum Garten treiben kann. Fundiert und mit Augenzwinkern führt sie durch die sieben Jahreszeiten des Gartenjahrs – von der Planung im Winter und der Aussaat im Frühling über die Blütezeit bis hin zu den langen Wintermonaten. Sie erzählt, welche regionalen und klimatischen Unterschiede eine Rolle spielen. Warum wir in nördlichen Regionen so gern Lavendel pflanzen und wann die Zwiebelzeit beginnt. Weshalb Staudengewächse unterschätzt werden. Wie Rasenharken den Besuch des Fitnessstudios ersetzt. Dass auch Pflanzen manchmal unter Stress leiden und Entspannung brauchen. Warum Vorgärten oft zu Unrecht ein Schattendasein fristen und wie sogar im Großstadt-Hinterhof eine kleine Oase entsteht. Kurz: wie man im eigenen Flecken Grün glücklich wird.

1                               Einleitung


Es ist nicht der Mensch, der den Garten gestaltet, es ist der Garten, der den Menschen gestaltet.

Ob mein Leben tatsächlich so geworden ist, wie ich es mir einst vorgestellt habe, kann ich nicht sagen, aber mit dem, wie es heute ist, bin ich sehr glücklich. Das Gärtnern hat mir auf faszinierende Art und Weise beigebracht, dass Zuversicht, Ausdauer und Mut erlernbar sind; sie entspringen sozusagen der Geduld und der Demut, die das Gärtnern uns abverlangt. Deshalb bin ich auch der festen Überzeugung, dass fast alles, was mir im Leben so passiert ist, Angebote aus dem Universum waren, auf die ich mich dann einfach eingelassen habe.

Aus dem Bauch heraus wollte ich sehr jung – mit 15 Jahren – die Schule verlassen und Gärtnerin werden, und mit der gleichen Überzeugung und dem gleichen Bauchgefühl bin ich dann zwei Jahre später wieder in die Schule zurückgekehrt. Der Weg nach England war keineswegs mein Traum oder von meinen Eltern vorbestimmt; es war ein glücklicher Zufall, dem ich mich 22-jährig anvertraut habe. An den größten botanischen Garten der Welt zu gehen, hätte ich mir nie zugetraut, aber es gab im richtigen Moment die richtigen Menschen, um diesen Schritt zu wagen. Von Kew Gardens sehr jung in die Selbstständigkeit zu wechseln war für mich der einzig mögliche Weg, mein gerade erst erworbenes Selbstverständnis auf Stabilität zu testen. Es hat standgehalten. Bis heute habe ich eine unbändige Lust auf Leben und Zukunft, und mein wichtigster Begleiter, wo immer ich bin, ist der Garten. Er trägt meine Kraft, gibt mir Mut und kaum zu zügelnde Zuversicht.

Erst über die Jahre bin ich mir darüber klar geworden, dass mein größter Schatz mein Wissen um die Natur ist. Sie hat mich nicht nur Geduld, Demut und Zuversicht gelehrt, sondern mir vor allem beigebracht zu vertrauen. Manchmal gehen Dinge und das Leben schief, da kann man sich drehen und wenden, und nichts wird so, wie man es sich vorgestellt hat. Der Gärtnernde ist dafür gewappnet, denn im Garten geht nie etwas glatt, und wenn doch einmal etwas gleich von Anfang an klappt, sollte dieser Moment ausgiebig genossen werden, denn er wird nicht bleiben. Das Motto des Gartens ist „es wird“ und „es war“, und wenn es nichts wird, hat man immer noch die Chance, dass es vielleicht im nächsten Jahr doch noch funktioniert.

Das erinnert mich daran, dass die Engländer, wenn man ihre Gärten besucht, grundsätzlich behaupten, man sei entweder eine Woche zu früh oder eine Woche zu spät dran. Völlig unabhängig von der Jahreszeit wird man in jedem Garten entweder mit den Worten: „So sorry, you should have been here last week“ empfangen oder mit dem Satz: „So sorry, I think you are a week too early to see the garden at its best.“ Beide Aussagen kommen aufs Gleiche raus: Es geht um das ständige Streben nach dem perfekten Garten. Die Zähmung des Biestes. Wobei ich Ihnen versichern kann: Das Biest ist nicht zu zähmen, den perfekten Garten gibt es nicht – und genau das ist die Herausforderung.

Der Garten ist wie das richtige Leben: Er hört nicht auf einen und widerspricht regelmäßig, auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt. Sich Mühe geben ist zwar eine unserer erlernten Tugenden, dem Garten aber ziemlich egal, denn wer bei all seinen Bemühungen die Jahreszeiten nicht mit bedenkt, wird ohne Vorwarnung vom Garten abgestraft. Die Natur und der Garten hören nämlich vor allem auf eine Naturgewalt: die Jahreszeiten, und wer glaubt, dass er/sie erfolgreich gärtnern könnte, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, der wird den Garten als Schwerstarbeit empfinden.

Mein wichtigster Leitsatz für meine Gestaltungen ist: Der Garten hat die Aufgabe, die Seele durch das Jahr zu tragen. Das bedeutet, dass er zu jeder Jahreszeit etwas ganz Besonderes, für die Jahreszeit Typisches zu bieten hat, damit die Seele schon beim Blick aus dem Küchenfenster morgens weiß: Ah, es ist Herbst oder Sommer oder Frühling – das kann allerdings nur erleben, wer nicht in einem Koniferengarten wohnt.

Ich werde mich in diesem Buch entlang der vom Gärtner anerkannten sieben Jahreszeiten hangeln, um Ihnen zu vermitteln, wie lebenswichtig die Jahreszeiten für den Garten und den Gärtnernden sind. Auch wenn den meisten Menschen vier Jahreszeiten genügen, hat bereits der bekannte Gärtner und Gartenphilosoph Karl Foerster (1874–1970) diese Aufteilung für den Garten als völlig ungenügend befunden. Die Natur – also die Flora und Fauna – wird nämlich von einer Vielzahl von Kräften bestimmt, und dabei ist die Hauptkraft die Sonne oder vielmehr die Tageslänge. Während der Mensch viel Zeit damit verschwendet, gegen diese Kräfte anzugehen, indem er im Winter den Tag mit Kunstlicht verlängert und im Sommer durch Verdunkelung verkürzt, lebt die Natur jede kleine dieser Veränderungen. Diese Nuancen des Lichts sind es, die dem Gärtnernden einen ganz anderen Zugang zum Garten und der Natur geben, denn – und hier stimmt das Sprichwort „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ – wer die Möglichkeit hat, seinen Garten intensiv zu beobachten, wird feststellen, dass es viel mehr Jahreszeiten gibt als die vier gängigen. Das Licht verändert die Natur nämlich bereits viel früher, als es sich die meisten Menschen bewusst machen, wahrscheinlich weil sie einen Großteil des natürlichen Tages verschlafen. Ich zum Beispiel bin, wie so viele andere auch, kein Fan der langen Winter in Berlin, freue mich aber im Gegensatz zu ihnen jedes Jahr ungemein auf den 21. Dezember. Denn das ist der kürzeste Tag im Jahr, und spätestens in den ersten zwei Januarwochen kann ich dann die Lichtveränderung wahrnehmen und trotz Kälte merken, dass die Natur sich wandelt. Fast alle Pflanzen auf unserem Planeten – übrigens auch Hauspflanzen – sind fototrophisch, was vereinfacht bedeutet, dass sie ohne Licht nicht funktionieren, und deshalb beeinflussen die sich ständig ändernden Lichtverhältnisse, jeder Tag, den die Sonne länger oder kürzer scheint, die Vegetation.

Ich kann nur jedem Gärtner raten, sich ein wenig mehr Wissen zu diesem Thema anzueignen für einen leichteren Umgang mit dem Garten und ein besseres Verständnis der Pflanzen. Denn man mag zwar wissen und bestimmen, wann eine Pflanze in die Erde kommt, und sich wünschen, dass es ihr dort gefällt, aber letztendlich werden so viele andere Faktoren auf sie Einfluss nehmen, dass gärtnern zu können zweitrangig ist. Gärtnern zu wollen ist nämlich viel wichtiger, für die Pflanze und den Gärtnernden. Da spielt auch der grüne Daumen eine Rolle, der allerdings nicht nur denen geschenkt wird, die ihn begehren, sondern willkürlich verteilt wird. Und niemand weiß, ob er ihn hat oder nicht, bis man es ausprobiert. Vielleicht haben auch Sie ihn, und er schlummert ganz ungenutzt in Ihren Händen?

Wer „gärtnert“ und nicht „im Garten arbeitet“, hat eine wesentlich größere Chance, erfolgreich sein Stückchen Land in eine Oase zu verwandeln, denn wer aus einer Last eine Tätigkeit macht, der hat den ersten Schritt geschafft, das Gärtnern ins alltägliche Leben zu integrieren – schließlich kochen Sie ja auch und gehen nicht in der Küche arbeiten. Im Übrigen kann man sehr gut fühlen und hören, ob es den Pflanzen gefällt, was man da macht. Rasenmähen und Laubblasen werden von vielen Menschen als Last und somit als Arbeit empfunden, und wer häufig ganztägig mit lauten Maschinen durch den Garten rast, kann von der Natur nur enttäuscht werden. Wer weniger Rasen hat, muss sich auch nicht so viel Sorgen ums Laub machen, denn in den Beeten kann viel liegen bleiben.

Ich habe das große Privileg, schon seit mehr als fünfzig Jahren gärtnern zu dürfen, und kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass sich die Aufgaben im Garten jahrein, jahraus regelmäßig wiederholen, ohne dabei jemals monoton zu werden. Von welcher Beschäftigung kann man das schon sagen! Ganz genau vermag ich dieses Phänomen nicht zu erklären, ich bin mir aber sicher, dass alle (oder fast alle) Menschen, die schon lange gärtnern, es bestätigen werden. Im Gegensatz zum Abwaschen oder Staubsaugen ist beispielsweise Unkrautjäten absolut erfüllend. Ich habe selbst diese Tätigkeit immer als Pionierarbeit empfunden: Ich befreie andere Mitstreiter von kampflustigen Nachbarn und Nachbarinnen. Außerdem lüftet es den Boden (sorgt ab und an allerdings auch dafür, dass sich das ungewollte Kraut fröhlich vermehrt und aussät), und ich bin dabei in absoluter Tuchfühlung mit der Natur. Bei keiner anderen Tätigkeit kann ich so viel nachdenken und meinen Gedanken allen Freiraum zur Kreativität lassen. Unkrautjäten bedeutet, mit den Händen und der Nase dicht an den Pflanzen zu sein; es bedeutet, dicht am Ort des ewigen Anfangs zu sein.

Aus dieser unserer Erde wächst alles, was der Mensch zum Leben braucht. Leider ist ihm das immer öfter gar nicht klar, und es überwiegt dann die Wut auf all das Zeug, das man ungewollt im Garten findet: den Giersch, der eigentlich nur ein Zeichen von Vernachlässigung des Gartens ist, und die Ackerwinde, eigentlich eine sogenannte Zeigerpflanze, zeigt sie uns doch, dass der Boden zu verdichtet ist. Das Gleiche gilt für den Ackerschachtelhalm. Die Brennnessel wiederum weist auf sehr guten, gesunden Gartenboden hin; der Löwenzahn dagegen ist eher ein Vernachlässigungskraut, das auf verdichteten Böden wächst, als ein vom Teufel geschicktes Monster.

Zwei Dinge sollte man über Löwenzahn wissen. Erstens: nie bei Trockenheit versuchen ihn zu ziehen, sondern am besten wenn es regnet oder wenn es gerade geregnet hat. Bei Trockenheit krallt er sich förmlich im Boden fest, bei Regen aber entspannt er sich, und man bekommt die Wurzeln ohne Murren aus dem Boden. Es ist sozusagen die Entspannungsphase des Löwenzahns, die man ausnutzen sollte. Zweitens: den Löwenzahn nie auf den Komposthaufen werfen, auch nicht, wenn seine Blüten noch gar nicht ganz aufgeblüht sind, also noch keine Pusteblume entwickelt haben. Er gehört nämlich zu einer der wenigen Pflanzen, die einen schlauen Mechanismus entwickelt haben: die Nachreife (eigentlich eine Art Frühreife), die es der Pflanze ermöglicht, Saat ohne jegliche Bestäubung zu bilden. Die Saat reift sozusagen nach, und dies ganz fröhlich auf dem Komposthaufen, wenn Sie sie frisch gestochen dorthinwerfen. Da passt der schöne Lieblingssatz von Marianne Foerster, Gärtnerin wie ihr Vater Karl Foerster: „Wenn der Gärtner schläft, sät der Teufel Unkraut.“

Gardening, wie die Engländer es seit jeher nennen, ist ein sozialisierendes und vor allem solidarisierendes Thema. Es vermittelt zwischen den Menschen – ob alt und reich oder jung und arm, vom Garten werden alle gleich behandelt, hier stehen alle vor derselben Herausforderung: der Natur. Alles Materialistische interessiert den Garten nicht. Man kann mit viel Geld viel für den Garten kaufen, doch die Natur lässt sich nicht bestechen; ihr Interesse gilt nicht den materiellen, sondern den inneren Werten. Im Garten kann man sich weder Zeit noch Liebe erkaufen, wer seinen Garten nicht liebt und pflegt, wird scheitern. Time is money, heißt es so schön, aber Zeit heißt auch Garten. Wer seinem Garten mehr Zeit widmet, wird reich von ihm beschenkt.



2     Vorfrühling: Ende Februar bis Ende April oder Fastnacht bis späte Ostern


Woran merkt ein Gartenbesitzer, der Hilfe braucht, dass Frühling ist? Er bekommt keinen Gärtner! Jedes Jahr das gleiche Dilemma. Kaum wächst der erste Halm oder die Forsythie blüht, haben die Menschen Hummeln im Hintern und rasen los, als ob es schon morgen keine Blumen mehr gibt, wo’s doch auch schon keine Gärtner mehr gibt.

Nun würde ich vorschlagen, noch einmal zurückzuspulen, auf die Auspflanzung des Weihnachtsbaumes zu verzichten und die ekligen Monate Januar und Februar, also den Winter, dazu zu verwenden, das Gartenjahr zu planen und schon mal den Gärtner zu buchen. Das nämlich machen die Engländer: Sie sitzen gemütlich im ledernen Ohrenbackensessel am Kamin – natürlich mit einem Glas Whisky, kann auch Rotwein sein – und planen ihr Gartenjahr. Dieses Ritual habe ich aus England mitgebracht und mir genau aus diesem Grund auch einen kleinen Holzofen eingebaut. Dort sitze ich an den hässlichen Tagen bei gemütlichem Licht und wälze Blumen- und Kräutersamenkataloge, deren Abbildungen Hoffnung aufs kommende Jahr aufflackern lassen. Bei so vielen Blumen und Blüten tanzen nicht nur die Flammen im Feuer, sondern auch meine Zuversicht. Ich bestelle Sträucher, die ich nicht brauche, und Stauden, die ich nicht kenne, und manchmal, aber nur ganz selten frage ich meine Mitbewohner um Erlaubnis.

Ist das schön, damit kann man Wochen verbringen, Sie sollten es mal probieren! Hier ein paar tolle Adressen mit schönen Webseiten, die zum Stöbern geeignet sind: Gaißmayer für Stauden (immer ein paar Neuheiten bestellen!) und tolle Beschreibungen, dafür braucht man schon ein paar Tage: www.gaissmayer.de; dann Rühlemann’s für Kräuter – mir ist keine andere Kräutergärtnerei in Europa bekannt, die solch ein Sortiment hat und alle Pflanzen auch verschickt: www.kraeuter-und-duftpflanzen.de. Ich bin immer wieder fasziniert, was man alles essen kann! Für Blumen- und Gemüsesamen gibt es ganz viele deutsche Firmen in Erfurt, die schöne Kataloge haben, aber auch ein Blick nach England lohnt sich wie zum Beispiel zu Thompson & Morgan (www.thompson-morgan.com) und für Fortgeschrittene zu Chiltern Seeds (www.chilternseeds.co.uk).

Wenn all diese schönen Dinge, die sie in den Monaten Januar und Februar bestellt haben, im März bei Ihnen einflattern, ist zwar der Vorfrühling schon in vollem Gange, aber das Problem mit dem Gärtner noch immer nicht gelöst. Fazit: Auch der Gärtner sollte fairerweise bereits im Januar gebucht werden, es sei denn, man liebt diese jährliche Auseinandersetzung am Telefon im März, wieso er denn schon ausgebucht sei, wo er doch nun den ganzen Winter Zeit gehabt habe, sich aufs Frühjahr vorzubereiten. Auch hier stimmt wieder: „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, nicht der Gärtner sollte sich vorbereiten, sondern Sie, denn der Gärtner wie auch der Gartengestalter hat seine Kapazitäten schon recht früh ausgebucht – jedenfalls der gute.

Aus meiner Erfahrung kann ich Ihnen getrost verraten, dass Sie die Konfirmation Ihrer Tochter im Mai nicht auf der neuen Terrasse feiern werden, wenn Sie sich erst im März um die Planung kümmern. Und auch das liegt häufig am Bauherrn, der sich den Zeitablauf für all die zu fällenden Entschlüsse zu knapp steckt. Wer im Mai auf seiner neuen SCHÖNEN Terrasse sitzen möchte, sollte sie spätestens im Oktober des Vorjahres planen lassen. Übrigens gibt es heute kaum noch ein einheimisches Natursteinprodukt ab Lager. Das bedeutet, dass wir vielerorts – zum Beispiel in München, Köln oder Berlin – heute schon Lieferzeiten von Natursteinplatten für Terrassen von bis zu sechs Monaten haben. Das ist für die meisten Kunden, wenn sie sich dann mal für einen schönen, hochpreisigen Stein entschieden haben, schwer zu verstehen, und oft richtet sich der Frust gegen die ausführende Firma oder den Gestalter. Also, planen Sie rechtzeitig im Winter, dann kann der Frühling kommen.

Jede Jahreszeit hat ihre Farbgebung, und der Vorfrühling wird in der Natur von den Farben Gelb und Blau dominiert. Dann blühen die Winterlinge, die Kornelkirsche, die Zaubernuss, gefolgt von den Forsythien und den Osterglocken, um erst einmal die gelben zu nennen. Zeitgleich blühen die Puschkinien, Anemonen in Weiß und Blau, Blausternchen, Traubenhyazinthen sowie Krokus und Hasenglöckchen. So hat die Natur es vorgesehen, nur nehmen wir oft, getrieben von dem riesigen Angebot, davon kaum noch Kenntnis. Deshalb hier kurz zur Erinnerung: An Ostern muss nicht unbedingt alles blühen! Das ist bei dem gigantischen Marktangebot für den Gartenbesitzer schwer einzusehen, für ihn ist spätestens an Ostern Frühlingsanfang und im Garten, im wahrsten Sinne des Wortes, die Hölle los. Ostern ist sozusagen der Tag, an dem der Garten repräsentabel sein sollte, ganz gleich ob Ostern Mitte März oder Mitte April liegt.

Doch für die Natur macht das einen riesigen Unterschied, denn während der Garten in manchen Jahren im März noch recht verschlafen wirkt, kann das im April schon ganz anders aussehen. Es ist der Monat, in dem sich alles auf einmal zu ereignen scheint, dabei ist man eigentlich mit Ostern schon voll ausgelastet. Nun zeigt sich in aller Überflüssigkeit nicht nur das Unkraut in besorgniserregender Menge, sondern die Gartenarbeit generell. Der Rasen muss „exekutiert werden“, wie meine Freundin Isabelle es gerne nennt – gemeint ist das alljährliche Ritual, alles, was nicht Gras ist, rauszuwühlen aus der grünen Fläche inmitten des Gartens. Dieses Vorgehen resultiert nicht selten in einer gnadenlos hässlichen braunen Fläche ohne jegliches Grün, was dann wiederum dem Exekutieren recht ähnlich ist. Für diese rabiate Methode, den Rasen zu verunstalten, gibt es ein eigenes Kapitel in diesem Buch; ich gehe deshalb hier nicht weiter darauf ein. Nur so viel sei gesagt: Wer seinen Rasen regelmäßig harkt, kann auf diesen alljährlichen Spaß verzichten und macht diese Prozedur nur alle zwei bis drei Jahre.

Wo waren wir? Beim Rasen, genau, und kaum ist dieser vertikutiert – vielleicht hat der Gärtner auch gelüftet (aerifiziert), gesandet und neu angesät –, ist auch schon der Partner mit dem Schlauch da und fuchtelt mit dem Wasser rum. Neben den Aufgaben Rasenmähen, Heckenschneiden und Laubblasen wird der Mann nämlich auch gerne für die Bewässerung des Gartens verantwortlich gemacht. Das liegt nicht etwa daran, dass die Bewässerung des Gartens eine besondere technische Herausforderung wäre, sondern daran, dass der Mann sie gerne dazu macht. Auch hierzu verweise ich auf ein eigenes Kapitel im Buch. Ich wollte nur kurz andeuten, dass Frauen – ähnlich wie im Haushalt auch – oft eher praktisch, intuitiv und initiativ im Garten handeln, wohingegen Männer für die ihnen gestellte Aufgabe immer erst eine technische Lösung anvisieren, für die ihnen dann das passende Gerät fehlt, welches sie erst einmal besorgen müssen. Mit anderen Worten: Während der Mann stundenlang im Gartencenter nach der besten ökonomischen Bewässerungsanlage sucht, hat die Frau den Garten schon richtig gut mit dem alten Schlauch gewässert.

Ich zitiere an dieser Stelle gerne den alten Meister Karl Foerster: Die Natur hat lieber jemanden, der sich mit einem fruchtbaren Garteneinfall aus der Hängematte erhebt, als jemanden, der den ganzen Tag ohne Einfall im Garten umherrast. Apropos herumrasen: Wer mit seinem Garten im Frühjahr gänzlich unzufrieden ist, greift nicht selten zu Portemonnaie und Autoschlüssel und fährt ins nächste Gartencenter. Die werden schon wissen, was dem Garten fehlt.

Eine kleine Anekdote aus einem ganz normalen Vorfrühlingstag im Pflanzenverkauf bei uns in der Gartenakademie: Ein Ehepaar geht, weil es ja Frühling ist und die Sonne scheint, an einem Samstagvormittag gut gelaunt ins Gartencenter, um für die im Winter entstandenen Lücken im Beet ein paar passende Pflanzen zu erstehen. Mal abgesehen davon, dass es im März noch viel zu früh ist, um zu erkennen, ob die Pflanzen im Winter tatsächlich gestorben sind, will ich mal kein Spielverderber sein, schließlich leben wir von diesen Lusteinkäufen im Frühling, und wenn ich ehrlich sein darf, verfalle auch ich jedes Jahr erneut diesem Ruf in die Gärtnerei.

Sie kommen also zum Beispiel zu mir – auch ich bin manchmal dort –, und so fragen sie mich, ob ich ihnen für ihre kürzlich verstorbene (Pflanze) einen Ersatz empfehlen könne. Gut gelaunt stelle ich die Gegenfrage, ob es sich bei der Verstorbenen denn um ein Gehölz oder eine Staude handelt, woraufhin mich beide erschrocken ansehen. Nicht etwa, weil sie nicht wissen, ob Staude oder Gehölz, sondern weil sie nicht wissen, was eine Staude ist. Also ertappe ich sie dabei, wie sie tütteln, wie wir in Hamburg sagen, wenn jemand nicht ganz die Wahrheit sagt, und schnell antwortet der Mann siegessicher: „Ein Gehölz, wir hätten gerne ein Gehölz.“ Okay, ein Gehölz soll es also sein, Männer lieben Gehölze, die kann man schneiden.

„Soll es irgendein bestimmtes Gehölz sein?“, frage ich nun interessiert zurück. „Was soll es denn können, wie soll es aussehen, und an welche Größe hatten Sie gedacht?“

Sie schauen sich an, überlegen.

„Was stand denn an der Stelle vorher?“, wage ich nachzulegen, merke aber, die gute Laune kippt, eigentlich war das Paar guter Dinge in mein Geschäft gekommen, um mir eine Pflanze abzukaufen, und was ist der Dank? Ich malträtiere sie schon in den ersten drei Minuten mit so vielen Fragen, dass einem jegliche Lust vergehen könnte. Sie sind überfordert und leicht genervt. Ich schwenke also um auf eine altbewährte Taktik: Ich schlage eine Rose vor! Die kennen alle, die mögen alle, und prompt steigt die Stimmung rundum.

„Rose, ja!“, sagt sie.

Eine Rose ist die Lösung, sollte mich wundern, wenn das nicht auch eine Rose war, die da eingegangen ist. Ich möchte nicht wissen, wie viele Tausende von Taktikrosen so in die Gärten gelangen. Egal, Rose geht immer, und alle sind die lästigen Fragen los. Es hätte natürlich auch viel schlimmer ausgehen können. Sie hätten sagen können, Rosen haben sie schon genug, sie hätten lieber ein Gehölz mit grünen Blättern oben und innen Ästen. Das macht die Sache natürlich gleich wieder viel leichter für mich. Sie mögen jetzt lachen, vor allem die Wissenden unter Ihnen mögen mir nicht glauben, aber wenn Sie eine Ahnung hätten, was uns manchmal für Fragen gestellt werden, dann würden auch Sie zur Rose greifen.

Mein Ehepaar hatte zwar von mehreren Pflanzen gesprochen, ich habe mich aber dann getraut, ihm zu raten, doch noch ein wenig zu warten, bis man sichergehen kann, dass an der kahlen Stelle tatsächlich nichts mehr kommt, denn die meisten Stauden legen ja erst so ab Mitte April los. Gerettet! Zu Hause angekommen, muss meist der Mann das Loch graben und die Pflanze setzen; bei Stauden machen das die Frauen, wenn sie denn wissen, was eine Staude ist. Wässern macht dann wieder die Frau, weil der Mann noch immer die Bewässerungskataloge wälzt und überlegt, welches System sich am besten eignet.

Nun ist der Rasen gesät, die Rose gepflanzt, und eigentlich sieht der Garten schon wieder ganz manierlich aus, aber es scheint nichts zu kommen und auch nichts zu wachsen. Da wird dann gerne schon mal an der Rose gekratzt und der Gärtner angerufen, warum denn der Rasen nicht wächst und die Rose noch nicht blüht. An diesem Punkt kommen zwei Faktoren ins Spiel, die für die Gartenkultur ausschlaggebend sind. Einer ist Mythos und der andere maßgeblich: der grüne Daumen und die Geduld (siehe die Kapitel dazu).

Genau diese zwei Faktoren sollten Sie für das Gartenglück im Vorfrühling ernst nehmen, denn wachsen und kommen tun die Pflanzen im Garten erst so richtig im Frühling, und der ist laut Karl Foerster wirklich erst ab Mai. Weil heute alles früher, schneller, größer und vor allem besser sein muss, finde ich es sehr beruhigend, dass sich die Natur von diesen Dogmen nicht beeindrucken lässt. Die einzigen beiden Dinge, die sie wirklich beeinflussen, sind der Mond und die Sonne, denn erst durch das Äquinoktium – jenen Moment im Frühjahr, an dem der Tag und die Nacht im Äquilibrium, also gleich lang sind – beginnt ein Großteil der Natur vor unseren Augen zu erwachen. Dieser Frühlingspunkt fällt je nachdem, ob es sich um ein Schaltjahr handelt oder nicht, auf den 19., 20. oder 21. März. Deshalb gibt es eben jenen phänologischen Kalender, der nämlich auf die minuziösen Unterschiede in den Entwicklungsphasen der Pflanzen in variierenden Klimazonen achtet. Und genau das hat unser Herr Foerster bei seiner Bestimmung der Jahreszeiten auch gemacht, denn der phänologische Frühling teilt sich folgendermaßen auf: Vorfrühling, wenn die Schneeglöckchen blühen und sowohl Haselnuss als auch Salweiden ihren so reizvollen wie reizbaren Pollen verstreuen. Dann der Erstfrühling vor dem Vollfrühling. Die Brücke zwischen Vorfrühling und Erstfrühling schlägt für mich immer die atemberaubende Rapsblüte. Der Erstfrühling fängt meist mit der Rosenschneideindikatorpflanze, der Forsythie, an und endet etwa mit der Birnenblüte, bevor die Äpfel oder der Flieder blühen, erst dann sprechen wir Gärtner vom echten Vollfrühling. Gut ist an diesem Kalender, dass er uns dazu bringt, endlich aufzuhören, so gebannt auf die uns bekannten Monatsangaben auf dem Kalender zu starren, und uns mehr nach der Natur zu richten, denn die macht ihr Jahr und ihre Jahreszeiten so, wie es ihr gefällt, und ob wir das mögen, es für gut oder schlecht befinden, ist ihr völlig egal. Dass der meteorologische Frühlingsanfang am 1. März ist, interessiert die Natur nicht die Bohne.

Apropos Bohne: Im Vorfrühling kämpft man selbstverständlich nicht nur mit dem Rasen, dem Unkraut, der nicht funktionierenden Bewässerungsanlage und den lauten Nachbarn, sondern seit einigen Jahren ist es auch wieder ganz hip, selbst Gemüse zu ziehen. Mich bringt dieses Thema sehr zum Schmunzeln, denn der Gemüsewunsch kommt nicht selten von Eltern, die mir bereits bei der Begrüßung klargemacht haben, dass sie eigentlich für Garten gar keine Zeit haben und nur ab und an mal im Garten schlendern, sitzen, liegen wollen. Gut, da ist die Antwort ganz einfach: entweder schlendern, sitzen, liegen oder Gemüse. Ich werde diesem Thema ein kleines eigenes Kapitel widmen, da es sich nicht einfach so nebenher abhandeln lässt, zumal es momentan sehr populär ist.

Natürlich hat der Vorfrühling außer Schneeglöckchen und Forsythien vor allem viele köstlich duftende Sträucher im Sortiment, von denen ich an dieser Stelle gerne meine Favoriten nennen möchte wie die Scheinhasel (Corylopsis), die winterblühende Heckenkirsche (Lonicera purpusii) oder die Himalaya-Schleimbeere (Sarcococca humilis), die, auch wenn der Name es nicht hergibt, im März bezaubernd duftet. Auf diese kleinen, wenig platzeinnehmenden Vorfrühlingsboten sollte man nicht verzichten.

Die schlimmsten Feinde des Gärtners und wie man sie bekämpfen kann

Wie geht es den Bäumen in unseren Städten?

Blick ins Buch
Botschafter des LebensBotschafter des Lebens

Was Bäume in Städten erzählen

Eine botanische Entdeckungsreise durch unsere Städte
Wer faszinierende Bäume und ihre Geschichten kennenlernen will, muss dafür nicht tief im Wald verschwinden. In der Stadt genügt oft ein Schritt vor die eigene Haustür. Hier begegnet man mächtigen Riesen, begehrten Exoten und uralten Zeitzeugen. Sie erzählen von Hoffnungen und Träumen, von Aufbruch und Enttäuschung, von unmöglicher Liebe und davon, wie es ist, als Baum in der Stadt zu leben. Manche sind gut versteckt, andere so unscheinbar, dass man an ihnen vorbeilaufen würde. Wieder andere sind so berühmt, dass sie eigene Namen tragen oder in Gedichten verewigt wurden.

„Dieses Buch ist eine sehr gelungene Würdigung der stillen grünen Helden vor unserer Haustür.“ ― P.M. 

Caroline Ring hat die interessantesten und bedeutendsten Stadtbäume besucht und erzählt ihre Geschichten. Sie laden dazu ein, die Stadt mit anderen Augen zu sehen.

Vorwort 
In der Krone

Buckow | Apfel (Malus domestica) | Alter unbekannt

Denke ich an einen Baum, ist es der uralte Apfelbaum, der einst in unserem Garten stand. Ein großes, wild gewachsenes Ding, das jemand einmal mit vielen Sorten veredelt hatte. Für mich war er vor allem ein Kletterbaum. Der Weg in seine Krone führte über eine zappelige Strickleiter, die sich nur mit Geschick bezwingen ließ. Jemand von den Erwachsenen hatte sie über den untersten Ast geschlungen. Ich erinnere mich an das glatte, wackelige Rundholz, auf dem man balancieren musste, um in den Baum zu steigen, und an die Wärme der schrundigen, vermoosten Rinde unter den Fingern und den nackten Füßen, wenn man es einmal geschafft hatte.

Ab hier führte der Weg immer weiter weg von den anderen im Garten. Wülste und Astgabeln leiteten den Aufstieg in die Krone so sicher wie eine Treppe. Ich suchte mir einen starken Ast, den man rittlings umschlingen konnte, und beobachtete zwischen Blättern und Zweigen die Welt unter mir. Hier oben war ich geschützt und versteckt. Niemand konnte mir an diesen Ort folgen, und den Weg zurück kannte nur ich allein. Bis dahin war ich ein Teil des Baums, gegen alles Geschehen um mich herum genauso beständig und ihm zugleich genauso ausgesetzt. Hier oben stand die Zeit für mich still.

Meine Erinnerungen an diesen Baum sind über zwanzig Jahre alt. Der Garten, in den ich mich zurückdenke, befand sich im brandenburgischen Buckow auf einem kleinen Grundstück, das meine Eltern gepachtet hatten. Ich war damals zehn und ging noch in die Grundschule. Jedes Wochenende, wenn es das Wetter zuließ, fuhren wir mit unserem roten VW Passat raus aus Berlin in die Märkische Schweiz, eine gute Stunde östlich der Stadt, zu der kleinen Parzelle: ein Refugium ohne Strom und fließend Wasser, dafür mit wilden Hecken, alten Obstbäumen, kniehohem Gras, wenn es mein Vater nicht gerade mit der Sense geschnitten hatte, und einer Lagerfeuerstelle. Das war der Ort, der für mich Natur bedeutete.

Damals wohnten wir in Prenzlauer Berg. Es war Anfang der 1990er-Jahre, und der Stadtteil war weit von dem Chic und der Gediegenheit entfernt, die man heute mit seinem Namen verbindet. Straßen, Häuser, Autos und Menschen waren grau und staubig, ganz anders als das wilde Grün, die dichten Wälder und die alten Bäume, die einen außerhalb der Stadt erwarteten.

Der nächste Zeuge von Natur in unserer Straße war ein magerer Stadtbaum vor dem Küchenfenster. Sein Stamm maß keine zwanzig Zentimeter im Durchmesser, und das Beet, unter dem seine Wurzeln ungehindert Wasser erhalten konnten, war kaum größer als eine aufgeschlagene Zeitung. Es war ein unscheinbares Gewächs wie Tausende andere, dem ich keine weitere Beachtung schenkte. Richtig nahm ich ihn nur einmal wahr, als wir wie andere Anwohner in einem heißen und trockenen Sommer Wasser nach unten schleppten, um ihn vor dem Austrocknen zu bewahren. Echte Natur gab es für mich in der Stadt nicht. Obwohl ich an dem Baum vor dem Küchenfenster über Jahre hinweg fast täglich vorbeiging, erinnere ich mich kaum an ihn.

Plant Blindness nennen Forschende das Phänomen, wenn man Pflanzen in der eigenen Umgebung übersieht. Oft registriert man sie höchstens als Teil des Hintergrunds, vor dem sich Leben abspielt. In der Wahrnehmung von Menschen kommt anderen Menschen die wichtigste Rolle zu. Es fällt für gewöhnlich leicht, sich an die Person zu erinnern, die man zuletzt gesehen oder mit der man gesprochen hat. Auch an die Begegnung mit einem Tier kann man sich meist noch gut erinnern. Vielleicht war es der eigene Hund oder ein Vogel, der besonders laut und eifrig vor dem Fenster gesungen hat. Doch was ist mit der letzten Pflanze, an der man vorbeigelaufen ist? Welche Eigenschaften hatte sie, abgesehen davon, dass sie höchstwahrscheinlich grün war?

Pflanzen sind offensichtlich ganz anders als Tiere. Das führt dazu, dass sie oft übersehen oder als unwichtig erachtet werden. Studien zeigen, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene Bildern von Pflanzen viel weniger Aufmerksamkeit widmen als denen von Tieren. Die Fähigkeit, die häufigsten Pflanzen am eigenen Wohnort zu benennen, hat in den vergangenen Jahrhunderten stetig abgenommen. „Buche suche, Eiche weiche“, heißt es noch immer, aber dass man Buchen an ihrer glatten Rinde und Eichen an ihrer faltigen erkennt, dass Buchen meist in Wäldern stehen, die vor Gewittern Schutz bieten, und Eichen einsam auf Feldern, gerät oft in Vergessenheit. Wenn Biologiestudierende die Wahl haben, entscheiden sie sich häufiger für zoologische als für botanische Fächer. Ich selbst bin keine Ausnahme: Pflanzenphysiologie war für mich mehr Pflicht als Kür, und obwohl ich auch Kurse wie „Vertiefende organismische Botanik“ belegte, spezialisierte ich mich später auf die Evolution von Insekten, Spinnen und Krebsen.

Das wären nur Anekdoten, wenn sie nicht doch Konsequenzen hätten. Wenn man biologische Vielfalt nicht unterscheiden kann, wird sie zu einem gleichförmigen Hintergrundrauschen. Dann gerät in Vergessenheit, warum sie notwendig und besonders ist. Schutzprogramme für Pflanzen erhalten beispielsweise weniger Gelder als solche für Tiere. Dabei bilden Pflanzen die Grundlage für alles tierische Leben. Sie produzieren nicht nur Werkstoffe wie Holz, sondern auch Nahrung für Menschen und Tiere und vor allem lebenswichtigen Sauerstoff.

Bäume haben in der Wahrnehmung von Menschen immerhin einige Vorteile. Oft üben sie eine besondere Faszination aus, weil sie größer und älter werden können als alle anderen Lebewesen. Weil sie so imposant und mythenumrankt sind, werden sie gern herangezogen, wenn die Natur Stellvertreter braucht. „Ich glaube, wenn der Mensch an Natur denkt […], wenn man ihn schnell zwingt zu sagen: Denke an Natur, lass dir einen Begriff einfallen – er wird bestimmt zu 90 Prozent immer ›Baum‹ sagen […]“, äußerte der Künstler Joseph Beuys einmal in einem Interview. Bäume werden seit jeher besungen, fotografiert, gelobt – doch selten, wenn sie in direkter Nachbarschaft stehen. Giganten und Methusalems sind Eichen und Linden, die seit mehreren Hundert Jahren in Dorfzentren, einsam auf Feldern oder versteckt in Wäldern überdauern. Bäume in der Stadt sind dagegen oft nur „Straßenbegleitgrün“. Sie sollen Farbtupfer zwischen Beton und Asphalt sein, Schatten spenden und die Luft verbessern.

Dabei sind die Geschichten der Stadtbäume oft viel lebendiger als die ihrer Artgenossen auf dem Land oder im Wald. Stadtbäume erfüllen zwar selten Superlative. Sie sind alt, aber nicht die ältesten. Sie sind hoch, aber nicht die höchsten, geschweige denn die dicksten und selten die schönsten. Doch sie sind es, denen Menschen am häufigsten begegnen. Jeden Tag läuft man an ihnen vorbei, genießen Menschen ihren Schatten oder ärgern sich über die Vögel, die in ihren Zweigen nisten. In der Gegenwart des Straßenbaums in Prenzlauer Berg verbrachte ich viel längere Zeit meiner Kindheit als in der des Apfelbaums im Garten, an den ich mich lieber erinnere.

Unter den Kronen der Stadtbäume findet seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten Alltag statt. Sie sind Zeitzeugen von Königen, Kriegen, von Aufbruch und Neuanfängen. Viele von ihnen wurden gezielt gepflanzt: weil sie nützlich waren, selten oder modern. Manche von ihnen sind für ihre Besonderheiten bis heute bekannt. Andere gerieten in Vergessenheit und wurden zum Teil des grünen Hintergrundrauschens in der Stadt. Um die Geschichten der Bäume zu entdecken und sie zu erzählen, habe ich mit Förstern, Historikern, Stadtgrün-Angestellten und Enthusiasten gesprochen. Und ich besuchte die Bäume selbst, um zu verstehen, was sie ausmacht und wie sie und die Menschen mit ihnen leben.

Ihre Auswahl ist alles andere als vollständig. Sie orientiert sich nicht an Parametern wie Höhe oder Alter, die das Wesen eines Menschen genauso nichtssagend beschreiben, sondern an Anekdoten und Berichten. Manche von ihnen sind in der Umgebung ihres Standorts bekannt, doch oft verliert sich das Wissen um sie in anderen Teilen des Landes. Die Bäume, um die es in diesem Buch geht, sind in der Gegenwart abgebildet. Doch ihre Geschichten beginnen viel früher, manchmal vor mehreren Hundert Jahren. So war es zum Beispiel nur einem irrwitzigen Plan des Alten Fritz zu verdanken, dass einmal über eine Million Maulbeerbäume im damaligen Preußen gepflanzt wurden. Manche Zeugen aus dieser Zeit existieren heute noch, während Generationen von Menschen neben ihnen gelebt haben. Kastanien, die heute aufgrund neuer Schädlinge pflegeintensiv geworden sind, begründeten in München wegen ihrer einmaligen Eigenschaften vor über zweihundert Jahren die Biergartenkultur. Und auch Wilhelm I., König von Württemberg, ahnte nicht, dass seine Faszination für die neu entdeckten exotischen Mammutbäume 150 Jahre später das Stadtbild von Stuttgart völlig verändern würde.

Die Geschichten der Bäume zeigen, dass unsere Gestaltung von Natur in der Gegenwart immer Konsequenzen für die Zukunft hat. Wir werden nicht erleben, wie die Welt in zweihundert Jahren aussieht, und wir können nicht verändern, was unsere Umwelt zu dem gemacht hat, was sie ist. Aber die Bäume zeigen uns, dass wir in einer Welt leben, die jemand anderes einmal für sich und seine eigenen Bedürfnisse angepasst hat. Wenn wir sie sehen, blicken wir in die Vergangenheit und in die Zukunft zugleich.

 

Die Saat des Königs

Stuttgart | Riesenmammutbaum (Sequoiadendron giganteum) | 156 Jahre

Knöchelhohes Gras bedeckt den Boden. Schuppige Zweige winden sich durch die Halme: Abgeworfene Nadeln von den Baumriesen, die mich umringen. Wie rostrote Elefantenbeine dringen ihre Stämme aus der Erde. Sie sind so dick, dass meine Armspanne nicht ausreicht, um sie zu umfassen. Hier und da liegen knollige Zapfen verteilt. Ich nehme einen von ihnen in die Faust. Diese Bäume sind riesig, doch ihre Zapfen sind nicht mal so groß wie ein Hühnerei. In seinen Spalten entdecke ich winzige Samen: ovale Schiffchen mit Segeln zu beiden Seiten, kaum einen halben Zentimeter lang. Erst jetzt erkenne ich, dass sie überall verstreut liegen. Ich blicke auf. Spechte haben die Rinde vieler Bäume punktiert. Weit über mir schrauben sich lange, gebogene Äste die Stämme hinauf. An ihren Enden hängen Büschel von Nadeln in dunkelgrünen Quasten. Oben bilden die Kronen ein spitz zulaufendes Dach. Ich stehe in einer Kathedrale aus Bäumen.

Für einen Moment fühle ich mich nach Kalifornien versetzt. Sechs Jahre ist es her, dass ich den Sequoia-Nationalpark besucht habe. Eigentlich war ich auf der Suche nach bestimmten Insekten, die Fahrt in den Nationalpark war ein Abstecher. Dort, vier Autostunden südöstlich von San Francisco, findet sich eine weltweit einmalige Landschaft. Es ist die Heimat der Riesenmammutbäume, die zu den größten und ältesten Lebewesen der Erde gehören. Viele von ihnen sind mehr als tausend Jahre alt. Zwischen ihnen zu wandern machte mich stumm und ehrfürchtig. Unter den Kronen der Mammutbäume fühle ich mich heute wieder klein und verletzbar und zugleich beschützt und erhaben. Doch diesmal bin ich nicht in Kalifornien. Ich bin in Stuttgart.

Ich stehe im Mammutbaum-Hain der Wilhelma, dem botanisch-zoologischen Garten im Nordosten der Stadt. Es ist eine kleine Fläche, keine 100 Meter lang, kaum 50 Meter breit. Eng beieinander stehen hier Riesenmammutbäume, viele von ihnen über 30 Meter hoch. Das Wäldchen ist mit einem kniehohen Zaun abgesperrt. Normalerweise ist es nicht erlaubt, zwischen den Bäumen hindurchzugehen. Doch ich bin mit Micha Sonnenfroh hier, dem Fachbereichsleiter der Parkpflege, der mir die Bäume zeigt und von ihnen erzählt.

In keiner anderen Stadt in Deutschland, wenn nicht sogar in Europa, kann man so viele Mammutbäume sehen wie in Stuttgart. Es sind die letzten der „Wilhelma-Saat“: Einst kamen die Riesen als Samen gemeinsam nach Baden-Württemberg. Mit ihren gut 150 Jahren sind die Bäume heute bei Weitem nicht so alt wie die in Kalifornien. In Europa gehören sie jedoch zu den ältesten und größten ihrer Art. Überall in der Stadt sind die Mammutbäume zu finden. Hier, in der Wilhelma, zog man sie alle einst heran. Die meisten der Bäume wurden über ganz Württemberg verteilt. Achtzig blieben in der Wilhelma. In dem Hain, in dem ich stehe, überdauern 35 von ihnen bis heute.

Wilhelm I., König von Württemberg, veranlasste 1864 das Pflanzen der Mammutbäume. Wenige Jahre zuvor waren europäische Entdecker in den dichten Wäldern im Nordosten Kaliforniens erstmals auf diese Bäume gestoßen. Es waren nie zuvor gesehene Baumriesen, deren Kronen im Himmel verschwanden und deren Stämme so dick waren, dass man sie nur in einer Kette von Menschen umfassen konnte. Staunend und überwältigt von den Giganten reagierten die Entdecker der Bäume äußerst menschlich: Sie holzten sie ab. 1853 fällten fünf Männer den Discovery Tree, einen besonders starken Baum. 29 Meter maß er im Umfang. Auf 1244 Jahre kam man beim Zählen seiner Jahresringe. 25 Tage brauchten die Männer, um ihn zu fällen. Noch heute kann man den zurückgebliebenen Baumstumpf besichtigen. Eine kleine Treppe ist in sein Holz eingelassen, damit man das Plateau erklimmen kann.

Im Europa des 19. Jahrhunderts klangen die Berichte von den Bäumen aus den USA mehr sagenhaft als glaubwürdig. So große Bäume gab es hier schließlich bei Weitem nicht. Doch einen Baum von fast 100 Metern Höhe und an die zehn Meter Durchmesser als Beweis mit dem Schiff über das Meer zu bringen, war unmöglich. Mit einem Trick gelang es trotzdem, in Europa Eindruck zu schinden. 1854 suchte man zwischen den kalifornischen Riesen einen ähnlich großen Baum wie den gefällten Discovery Tree aus und machte sich daran, seine Rinde auf 35 Metern Höhe abzunehmen. Die Rindenhülle wurde zerlegt, 1857 nach London verschifft und dort anlässlich der Weltausstellung wieder zusammengesetzt. Die Nachbildung der Mother of the Forest, der Mutter des Waldes, erregte viel Aufsehen, doch genauso viel Kritik. Denn man hatte ein mehr als tausend Jahre altes Leben für ein paar Wochen Show geopfert. Seiner Rinde beraubt, konnte sich der Baum nicht mehr mit Nährstoffen versorgen. Nur vier Jahre später verlor er seine komplette Krone und starb ab.

In der Zeit der Weltausstellung muss auch König Wilhelm I. von den neu entdeckten Bäumen erfahren haben. Über einen Saatguthändler ließ er Samen der Bäume bestellen. Für seine Beweggründe gibt es zwei Lesarten. Die erste ist romantisch: Mitte des 19. Jahrhunderts war es unter gut betuchten Menschen in Europa Mode, neu entdeckte exotische Baumarten in den eigenen Gärten und Anlagen zu pflanzen. Wilhelm I. war dieser Lesart nach wie viele seiner Zeitgenossen von den Berichten über die Mammutbäume so beeindruckt, dass auch er ausschicken ließ, um die gigantischen Exoten auf seinen Ländereien nachzuziehen.

Die zweite Lesart ist dagegen weniger romantisch als vielmehr pragmatisch. Denn die Regentschaft von Wilhelm I. war vor allem in ihrer Anfangszeit durch wirtschaftliche Krisen und Versorgungsnöte geprägt. Missernten sorgten für Hungerwinter, die der König durch Erlässe und Verordnungen abzumildern versuchte. Er reformierte die Landwirtschaft und interessierte sich für neue Züchtungen von Nutztieren, um die Erträge der Bauern zu verbessern. Hinzu kam ein Phänomen, über dessen Ausmaß Historiker streiten. Denn mit der Erfindung und dem Einsatz der Dampfmaschine zu Wilhelms Zeit stieg der Bedarf an Brennholz in ganz Europa – und damit auch in Württemberg.

Manche Historiker nehmen an, dass es sogar zu einer Holznot kam, weil Wälder schneller abgeholzt wurden, als sie nachwachsen konnten. Berichte über Bäume, die so groß und so massiv waren wie keine anderen, müssen in dieser Zeit verheißungsvoll geklungen haben. Vielleicht war es daher weniger Pflanzenliebe, die den König beim Erwerb der Mammutbäume antrieb, als vielmehr seine Erfahrung mit Versorgungskrisen und die Aussicht, schnell viel Brennstoff zu gewinnen.

Für 90 Dollar orderte er 1863 über einen Zuckerfabrikanten Samen in Kalifornien. Dabei passierte womöglich ein folgenschwerer Irrtum. Denn Wilhelm I. bestellte eigentlich nur „ein Lot“ Samen, was ungefähr 15 Gramm entsprach. Durch einen Übersetzungsfehler wurde jedoch aus „ein Lot“ im Englischen a lot, also „eine Menge“. Und die bekam er auch. Statt wenigen Gramm erhielt der König ein knappes Pfund Samen – fast zehntausend Stück.

Unbeeindruckt von der großen Zahl nutzten Wilhelms Gärtner das gesamte Saatgut für die Anzucht. In einem Geschäftsbericht von 1865 heißt es, dass man fünftausend junge Mammutbäume habe heranziehen können. Man setzte sie in den königlichen Schloss- und Gartenanlagen, verteilte sie in der Stadt und verkaufte die überschüssigen Bäume „zum billigen Preis“, „weil so viele Empfänger der Pflanzen, die sie unentgeltlich empfangen, geringer Aufmerksamkeit widmen als den erkauften“. Für die Pflege der jungen Mammutbäume gab es genaue Protokolle: Im Winter mussten sie vor Frost geschützt werden, im Sommer vor zu starker Sonnenstrahlung. Nicht alle Keimlinge überlebten die ersten Jahre. Viele weitere Bäumchen gingen in den folgenden Jahrzehnten verloren. Heute existieren noch 325 Bäume der Wilhelma-Saat, knapp 120 von ihnen stehen in Stuttgart. König Wilhelm I. erlebte all das schon lange nicht mehr. Nur wenige Monate, nachdem das Saatgut eingetroffen war, starb er. Die Bäume, zu deren Kronen man heute in der Wilhelma und an vielen anderen Orten in der Stadt aufschaut, hat er nur als winzige Keimlinge erlebt.

Wir treten noch einmal über den kleinen Absperrzaun des Wäldchens. Bäume, die man trotz Verbot anfassen kann, sind an ihren äußersten Schichten abgerubbelt von Händen der Parkbesucher und von den Bäuchen, die sich an der Rinde gerieben haben bei dem Versuch, einen Baum zu umarmen. An den Stellen leuchtet das Holz orangerot. Ich lege einen Finger auf die Borke. Sie lässt sich ein wenig eindrücken, wie ein fester Schwamm. Ich nehme den Finger weg. Sofort gewinnt sie ihre vorherige Form zurück.

Obwohl das Holz der Bäume so massiv und stark ist – einmal geschlagen, lässt es sich in großer Menge forstwirtschaftlich kaum nutzen, sagt Sonnenfroh. Er deutet in eine Ecke des Hains. Dort stehen drei Bänke in Form vergrößerter Mammutbaum-Samen, die einmal aus dem Holz der Bäume geschnitzt waren. Doch schon innerhalb kurzer Zeit mussten sie ersetzt werden, weil sie sich so abgenutzt hatten. Auch als Brennholz taugen die Bäume wenig, und ihre Rinde kokelt selbst bei großen Feuern nur an. In ihrer Heimat sind Mammutbäume regelmäßig natürlichen Waldbränden ausgesetzt. Sie machen das Unterholz für die Keimlinge der Riesen frei. In den natürlichen Mammutbaum-Wäldern Kaliforniens findet sich kaum ein altes Exemplar ohne Brandnarben.

Nicht nur gegenüber Feuer sind die lebenden Bäume unheimlich robust. Auch Sturm kann ihnen kaum etwas anhaben. Obwohl Mammutbäume relativ flache Wurzeln haben, kennt Sonnenfroh keinen Bericht von einem Baum, der allein durch starken Wind umgeworfen wurde. Nur Gewitter können ihnen gefährlich werden: Alte Mammutbäume, die einzeln stehen, überragen oftmals ihre Umgebung. Sie sind deshalb prädestiniert für Blitzeinschläge. An drei Bäumen der Wilhelma-Saat, die in Baden-Württemberg isoliert in kleineren Orten stehen, hat man deshalb eigene Blitzableiter angebracht. Hier in der Wilhelma schützen sich die eng gepflanzten Bäume jedoch gegenseitig. Nur Trockenheit wird für sie zum Problem, die entsteht, wenn über lange Zeit Regen ausbleibt. Im Sommer 2019 veranlasste Sonnenfroh deshalb, den Hain abzusperren, den Boden mit Einstichen zu belüften und den Bewässerungsbedarf gezielt zu kontrollieren. Trotzdem kommt es vor, dass einzelne Bäume absterben. Sie sind meist winzigen Pilzen zum Opfer gefallen, die zum Beispiel durch beschädigte Wurzeln in das Holz der Riesen eingedrungen sind und es seitdem von innen zersetzen.

Wie verlassen den Hain und laufen einen asphaltierten Weg entlang. Rechts und links von uns färben sich die Blätter langsam gelb. Es ist Oktober, in ein paar Wochen werden die Laubbäume ihre Blätter verloren haben. Dunkelgrün prangen zwischen ihnen die Nadeln von Küstenmammutbäumen. Sie sind hier viel kleiner als die benachbarten Riesenmammutbäume, weil sie erst später gepflanzt wurden. Doch einmal ausgewachsen, können sie die Riesenmammutbäume sogar überragen. 112 Meter misst der höchste Baum der Welt, ein Küstenmammutbaum. Bis zu 130 Meter hoch könnten sie werden, schätzen Forscher. Höher kann kein Baum wachsen, so die Vermutung, weil es dann physikalisch und biologisch unmöglich wäre, noch Nährstoffe in die Nadeln zu transportieren.

Immer wieder tauchen Eichhörnchen vor uns auf, die wild in den Grünanlagen leben. Rehe und Schweine leben in den Gehegen neben dem Mammutbaum-Hain. Nur wenige Besucher sind um diese Zeit hier. Tatsächlich kommen die meisten Leute nicht wegen der Pflanzen, sondern wegen der Tiere in die Wilhelma, sagt Sonnenfroh. Auch ich ertappe mich dabei, wie ich den Eichhörnchen viel mehr Beachtung schenke als den Bäumen um uns herum.

Nach ein paar Schritten erreichen wir eine Aussichtsplattform. In einem Kessel erstreckt sich vor uns das Neckartal. Für die Mammutbäume der Wilhelma-Saat beginne nun eine spannende Zeit, sagt Sonnenfroh. Er deutet auf einen dunkelgrünen Hügel, der sich halbrund zwischen den Hausdächern erhebt. Ich finde einen weiteren und entdecke schließlich immer mehr, die aus der Stadt herauswachsen wie Pilze. Es sind die Spitzen der Mammutbäume aus der Wilhelma-Saat. Heute, nach über 150 Jahren, haben sie eine Höhe erreicht, in der sie nach und nach die Häuser um sich herum überragen. Sie werden zu unübersehbaren Landmarken, die das Stadtbild von Stuttgart stetig verändern. Sonnenfroh zeigt auf einen Punkt am gegenüberliegenden Rand des Kessels. Dort, in der Grabkapelle auf dem Württemberg, hat man König Wilhelm I. neben seiner zweiten Frau Katharina beigesetzt. Ein wenig abseits erkennt man eine dreieckige Silhouette, die das Haus überragt. Es ist ein weiterer riesiger Mammutbaum aus der Wilhelma-Saat, der hier zum Andenken an den König gepflanzt wurde.

Unkraut vergeht nicht

Die grüne HölleDie grüne Hölle

Mein wunderbarer Garten und ich

„Wer ein Leben lang glücklich sein will, der werde Gärtner“, sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Wer sich ein Leben lang ärgern will auch, würde Maarten ’t Hart ergänzen. Der Bestsellerautor ist selbst seit Jahrzehnten leidenschaftlicher Gärtner und weiß nur zu gut: Unkraut vergeht nicht. Niemals! Seine Geschichten über widerspenstige Gemüsesorten, raffgierige Vögel und den natürlichen Feind eines jeden Gärtners, die Nacktschnecke!, sind voller verzweifelter Komik, komischer Verzweiflung und blühender Lebensweisheit.

Dornen und Disteln
In den Niederlanden wohnen die meisten Menschen auf Sand, abgetragenem Moor, Klei oder verschmutztem Hafenschlamm. Ich selbst habe das Vergnügen, auf » altem­ Marschklei « zu wohnen. Das liebreizende Dorf, in dem ich lebe, liegt hingegen hoch auf einer uralten Düne, deren oberste Schicht aus leicht zu bearbeitendem fruchtbaren Geestboden besteht. Verlässt man jedoch das Dorf nach Westen, dann steigt man einen Meter­ hinab in den Polder.
Einst, in längst vergangenen Tagen, haben hier bei Hochwasser Seitenarme des Rheins, zwischen den jungen Dünen und der alten Düne, für Überschwemmungen gesorgt. Verzog sich das Wasser wieder, dann blieben Sedimente zurück. Auch konnte es geschehen, dass das Meer durch die Flussarme in das Gebiet zwischen der alten­ Düne und den jungen Dünen eindrang. Und auch dann blieben Sedimente zurück, wenn sich das Meer wieder zurückzog. Diese Sedimente, die hier wahrschein­lich öfter aus dem Meer als aus einem Seitenarm des Rheins stammen und die aus sehr feinen Teilchen bestehen, verdichteten sich zu See- und Flussklei.
Es ist nicht unbedingt einfach, auf Klei zu wohnen. Der Boden ist immer ein paar Grad kälter als der Sand. Man kann das hier im Dorf erstaunlich gut spüren. Wenn man beim Friedhof die alte Düne verlässt und in den ­Polder hinuntergeht, dann packt einen die Kälte bei der Kehle. Und nicht nur sind Luft und Erde kälter, es dauert auch länger, bis sie sich erwärmt haben. Wenn man auf dem alten Geestboden der Düne schon längst Bohnen pflanzen kann, muss ich noch mindestens zwei bis drei Wochen damit warten.
Eine Sandschicht ist enorm porös. Das Regenwasser versickert sehr schnell darin. Klei hält das Wasser gut fest, so gut sogar, dass man in einem nassen Sommer im Schlamm watet. Auf dem Klei ist also ein trockener Sommer­ besser. Allerdings haben wir in den Niederlanden selten einen trockenen Sommer ( Anfang Juni setzt fast immer der westeuropäische Monsun ein ), und dann darf der Sommer auch wieder nicht allzu warm und trocken sein, denn in diesem Fall wird der Klei steinhart und bekommt Risse. Außer einem sehr zähen Gras, Ely­trigia repens, alias die berüchtigte Gemeine Quecke, wächst dann wirklich nichts mehr.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Bauern, sowohl südöstlich als auch nordwestlich von meinem Wohnort, den Boden „ umgebrochen “ haben. Unter dem Klei befindet sich eine Schicht Torf, und darunter Sand. Sie haben vor einigen Jahren mithilfe eines recht komplizierten Verfahrens, bei dem Tiefenpflüge auf den Feldern eingesetzt wurden, den Klei unter den Torf gemischt und den Sand nach oben geholt. Auf dem Sand züchten sie nun schon seit Jahren Tulpenzwiebeln, die mit lauten Sprenkelanlagen bewässert werden.
Unseren Garten könnten wir jedoch nur „ umbrechen “, wenn wir zuvor das Haus und alle um das Grundstück herumstehenden Bäume entfernen würden. Selbstverständlich ist das ausgeschlossen, und daher plagen wir uns eben weiterhin auf dem alten Klei. Jahrein, jahraus führen wir einen erbitterten, ungleichen Kampf gegen den triumphierenden Holunder, die unaufhaltsamen Brombeeren, die schlaue Zaunwinde, die allgegenwär­tige Brennnessel, die unausrottbare Quecke, das hinterhältige Kletten-Labkraut. Genesis 3, 18 : Dornen und Dis­teln soll er dir tragen.
Schaut man aus dem Fenster, dann sieht man, „ wie die Holunderbüsche aus der Erde dringen, dieweil sie heiser, stotternd singen “. Und dem unbändigen, bereits nach einem Jahr mannshohen Holunder folgen Kastanien und Eichen auf dem Fuß und singen leise mit, und überall entdeckt man beginnenden Ahornwildwuchs. Auch der Rotdorn fühlt sich auf dem Klei heimisch. Seinem Namen Ehre machend, steht er mehr oder weniger den ganzen Juni über in üppiger Blüte. Auch die Schlehe, die bereits sehr früh im Jahr, noch ehe ihre zarten grünen Blättchen erscheinen, betrügerisch blüht, liebt ganz offensichtlich den Klei. Trotzdem erscheinen auch ihre grazilen Blüten – gleich Tausenden von schneeweißen Schmetterlingen, die sich auf den schwarzen Zweigen niedergelassen haben – erst, nachdem sie auf dem Sand bereits verblüht sind.
Es ist, auch wenn Rotdorn und Schlehe Trost spenden, nicht verwunderlich, dass auf dem Klei seit jeher ein schwermütiges, gebückt gehendes Geschlecht lebt. Wegen des Umgrabens, das schon vor Weihnachten erledigt sein muss, damit die fetten, schweren Brocken kaputtfrieren können, stets vom Hexenschuss geplagt. Auf dem Klei leben in den Niederlanden daher auch die Ultra­orthodoxen, die Pietisten, die Hardcore-Calvinisten. Und ich, auch so ein pietistischer Typ, allerdings mit einem­ Minuszeichen davor, wohne deshalb genau dort, wo ich hingehöre.

Echter Meerkohl
Als ich mich im Jahr 1982 auf Kleiboden niederließ, wollte ich besonderes Gemüse anbauen. Über Dicke Bohnen, Salat, Blumenkohl, Rübchen, Möhren rümpfte ich die Nase. Ich kaufte das Buch Besondere alte und neue Gemüse in Garten und Küche von Buishand und Houwing. Darin strich ich mir an : Echter Meerkohl, Radicchio, Senfkohl, Rucola, Knollen-Ziest, Große Klette, Komat­suna, Topinambur.
Es war nicht leicht, Samen für diese Pflanzen zu bekommen. Auf dem Dienstagsmarkt in der Groenoordhal in Leiden fand ich schöne kleine Senfkohlpflanzen. Auf dem kalten Klei jedoch verkümmerten die Pflänzchen. Den Schnecken schienen sie dennoch ganz hervorragend zu munden. Natürlich haben die von normalem holländischen Salat und gewöhnlichem Spitzkohl die Nase einigermaßen voll. Massenhaft machten sie sich daher über den Senfkohl her, hatten die grünen Blättchen in Nullkommanichts von den hübschen Pflanzen gerupft, und es blieb nur noch eine aus Blattnerven konstruierte Miniatur-Zadkine-Skulptur übrig.
Den Samen für den Echten Meerkohl bezog ich von einer renommierten Firma in Lisse. Gegen Zahlung ­einer erklecklichen Summe wurden mir sieben kleine Schoten gesandt. Diese musste man vorsichtig aufprokeln. Dann werde man, so stand es hinten auf der Packung, einen braunen Samen finden. In fünf der sieben Schoten befand sich überhaupt kein Samen. Die zwei, die ich entdeckte, tat ich auf Anweisung von Buishand und Houwing in Becher mit Substrat. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer sprossen die Pflänzchen schön empor. Als es draußen wärmer wurde, härtete ich sie zunächst ab und pflanzte sie dann an einer geschützten Stelle. Pflanze­ eins war nach zwei Tagen tot. Mit Pflanze zwei machten, obwohl ich sie mit einem großen Kreis aus Muschelgrus umgeben hatte, die Schnecken kurzen Prozess. Seitdem habe ich nicht wieder versucht, Echten Meerkohl zu züchten. Hin und wieder lese ich wehmütig in dem Buch von Buishand und Houwing : „ Echter Meerkohl ist ein interessantes Gemüse, das, was den Geschmack angeht, große Ähnlichkeit mit Spargel hat. “
Mit Radicchio, den Samen dafür konnte ich in der Schweiz erwerben, habe ich hingegen durchaus gute Erfah­rungen gemacht. Man muss ihn spät säen, sonst schießt er. Allerdings bleiben dann auf dem kalten Klei die Köpfe ziemlich klein. Die Pflanzen können einiges vertragen. Ein bisschen Frost jagt ihnen keinen Schrecken ein, und die Schnecken zeigen kaum Interesse. Was den Geschmack betrifft, erinnert Radicchio am ehesten an Chicorée. Roh schmeckt er herrlich.
Was die anderen Gemüsesorten, die ich weiter oben erwähnt habe, angeht : Abgesehen von Topinambur, war ich mit keiner einzigen erfolgreich. Wie gern würde ich zum Beispiel Knollen-Ziest züchten ! Die winzig kleine Knolle wächst zwar in meinem Garten, doch erstens findet man die Knollen kaum, und zweitens ist es kein kleines Kunststück, sie, wenn man sie gefunden hat, aus dem Klei zu pellen. Meist beschädigt man sie dabei so sehr, dass man sie nicht mehr zubereiten kann. Ach, Knollen-Ziest !
Von der Erdbirne, wie Topinambur auch genannt wird, die Buishand und Houwing als „ sehr schmackhaft “ bezeichnen, habe ich vor etwa zehn Jahren schöne Knollen ernten können. Wie bei der Kartoffel tut man eine Knolle in die Erde, und daraus wächst dann eine große Pflanze, die wiederum neue Knollen bildet. Als ich ­Topi­nambur das erste Mal anbaute, habe ich gleich eine ganze Reihe gepflanzt. Als all die Knollen sich zu Pflanzen entwickelt hatten, war der Anblick überwältigend. Man hätte meinen können, ich hätte eine besondere Art von Windschutz gepflanzt. Laut Buishand und Houwing werden Topinamburpflanzen „ leicht zwei bis drei Meter hoch, sie blühen jedoch spät oder gar nicht “. Na, zwei Meter hoch wurden meine Pflanzen nicht – die höchste reichte mir bis zum Kinn –, aber geblüht haben sie alle wie wild. Wunderschöne gelbe Blumen.
Ich ernte eine gewaltige Menge von Knollen. Nach Ansicht von Buishand und Houwing „ kommt der Geschmack dem der Artischocke nahe “. Das klingt vielversprechend, doch ich muss gestehen, dass mir der fade, süßliche Geschmack der Erdbirne nicht sonderlich zusagt. Ich habe sie seitdem nicht wieder angebaut. Doch auch ohne mein Zutun wächst jedes Jahr an den un­glaublichsten Stellen meines Gartens Topinambur. Saat­gewinnung mag in unserem Klima, laut Buishand und Houwing, nicht möglich sein, aber die Erdbirne sät sich eifrig selbst aus. Jedes Jahr blüht die Pflanze üppig als Symbol für meinen lächerlichen Versuch, nicht heimisches Gemüse auf dem kalten Klei zu züchten.

Von grünen Daumen und Lieblingsplätzen - im Garten mit den Stars

Stars in Gummistiefeln

Die Gartentricks der Prominenten

Warum die Queen die schönsten Rosen hat und Musical-Stars gerne Rasen mähen

Klatsch-Reporter Frank Gerdes hat genug von Sektempfang und Promi-Gala – er tauscht Smoking gegen Gummistiefel ein und erfüllt sich seinen Traum vom verwunschenen Garten. Das Problem ist nur: Weder weiß er, wie man einen anlegt, noch wie man ihn pflegt. Aber zum Glück sind da all die gartenverrückten Freunde aus Showgeschäft und Adelskreisen, die ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen. Und wenn Musical-Star Angelika Milster oder TV-Ikone Ruth-Maria Kubitschek mal nicht wissen, warum Magnolie, Agapantus-Töpfchen oder Narzissenwiese zicken, dann sind da ja immer noch Pflanzenversteher Prinz Charles oder Rasenmäher-Profi Carl Gustav von Schweden, an denen er sich ein Vorbild nehmen kann.

Von grünen Daumen und Lieblingsplätzen - im Garten mit den Stars

Gartentipps von Prince Charles, Jutta Speidel und Dagmar Koller

Einleitung
Es ist einer dieser Morgen, von denen ich früher nur träumen konnte. Na ja, vielleicht hatte ich so einen mal im Urlaub, aber nie waren sie Teil meines gewöhnlichen Alltags. Wenn ich ehrlich bin, kannte ich solche Momente nur aus der Werbung. Aber jetzt ist das anders. Nun scheint die Sonne, und ich sitze auf der Terrasse, schlürfe meinen Tee und genieße den Blick auf blühende Hortensien, duftende Rosen und in Form geschnittene Buchsbaumkugeln. Neben mir liegt die druckfrische Tageszeitung, und zu meinen Füßen rekelt sich mein Golden Retriever Bruno.
Vor drei Jahren hätte ich mir das nicht einmal im Traum vorzustellen gewagt. Zu oft hetzte ich von Konferenz zu Konferenz, jagte Schlagzeilen hinterher und schnüffelte schon fast manisch im Privatleben diverser Prominenter. Dann kam der Burn-out, und ich zog mich zurück in mein Haus im Hamburger Umland. Umgeben von einem kleinen Garten, versteckt es sich am Ende einer Sackgasse. Im Frühling blühen im Vorgarten die Tulpen mit der japanischen Zierkirsche um die Wette, und im Sommer versuchen mittlerweile Fingerhut und Echinacea den englischen Rosen die Show zu stehlen. Selbst im Herbst und im Winter lässt mein kleines Refugium mein erwachtes Gärtnerherz höherschlagen.
Mein Haus ist meine Burg. Hier begann mein neues, anderes Leben – abseits vom Scheinwerferlicht, roten Teppichen und knisternden Abendroben. Rückblickend kann ich nur sagen: Das war die richtige Entscheidung!
Heute weiß ich, dass ich das Glück gefunden habe. Natürlich ist in diesen drei Jahren auch viel passiert – meine Mutter ist an Krebs gestorben, bei meinem Vater haben die Ärzte einen Tumor im Magen diagnostiziert, und für meinen behinderten Bruder musste ich einen Platz in einem betreuten Wohnen finden. Ich will jetzt nicht behaupten, dass ich diese schmerzhaften Schicksalsschläge so einfach weggesteckt habe, aber mein Garten hat mir geholfen, das alles zu verkraften.
Und es ist immer noch so: Jedes Mal, wenn ich mit den Händen in der Erde wühle, überkommt mich eine Ruhe und Gelassenheit, die ich vorher so nicht kannte. Wenn ich meine Rosen setze und sie später ausputze, also von allem toten Holz und dem Verblühten befreie, breitet sich in meinem Herzen ein Frieden und ein Optimismus aus, der dort lange Jahre kaum einen Platz fand.
Aber einmal abgesehen von meiner Gefühlslage, die der Garten korrigiert hat, hat er mir auch noch eine berufliche Zukunft aufgezeigt.
Knapp ein Jahr nachdem ich mich von der Show-Branche verabschiedet hatte und schon wie ein fleißiger Maulwurf durch meinen Garten wühlte, launchte ich im Internet mein eigenes Blogazin. frankskleinergarten.de hat sich mittlerweile zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Blogazine entwickelt. Tausende Gartenfreunde schauen dort jeden Monat vorbei, um sich Tipps zu holen oder um sich ein bisschen aufmuntern zu lassen.
Ich schreibe auch wieder für Zeitschriften. Allerdings verliere ich kein Wort mehr über Prominente. Meine Stars sind jetzt die schönsten Gärten und die Menschen, die sie erschaffen haben. Am liebsten schreibe ich allerdings über meinen eigenen kleinen Garten und die Lebewesen, die sich dort so gerne tummeln. Egal, ob gern gesehene Gäste oder ungebetene – wie damals, als ich noch über Promi-Partys schrieb.
Nachdem ich nun mein eigenes, kleines Reich zum Blühen gebracht habe, möchte ich auch noch selbst gesätes Gemüse ernten. Schon lange träume ich von schmackhaften Tomaten aus dem eigenen Garten, von Zucchini, Auberginen, Gurken. Nur zu gerne möchte ich frischen Blattsalat direkt vor meinem Küchenfenster pflücken können. Am liebsten täglich. Damit auch dieser Traum wahr wird, habe ich mir ein Gewächshaus bei einer kleinen Firma im niedersächsischen Apen ausgesucht, gleich um die Ecke liegt das schöne Bad Zwischenahn.
Mein Gewächshaus ist nicht groß, vielleicht acht Quadratmeter, aber es sieht verdammt hübsch aus. Das Sicherheitsglas wird gehalten von grünen Alustreben, auf dem First thront eine Zierleiste, wie man sie von englischen Gewächshäusern kennt, und die Tür ist zweiteilig. Sie kann untenrum geschlossen bleiben, während sie oben offen die frische Luft ins Gewächshaus strömen lässt. Innen kann ich L-förmige Regale auf zwei Etagen anbringen, auf denen ich wunderbar meinen eigenen Salat in Töpfen ziehen werde.
Gestern wurden die Kartons mit den ersten Einzelteilen geliefert, heute kommt das Glas für Wände und Dach. Seit einer knappen Woche bin ich schon dabei, Platz zu schaffen, für mein Gewächshaus. Säckeweise habe ich Unkraut gezupft und zur Müllhalde gebracht. Erst gestern habe ich noch einige der Pflastersteine zwischen Haus und Acker ausgebuddelt. Heute geht’s endlich mit dem Aufbau gleich hinterm Carport los. Für das Gewächshaus ist es der schönste Platz im Garten: Ab dem späten Vormittag scheint hier die Sonne. Erst am frühen Abend breitet sich dort der kühle Schatten im Sommer aus. Natürlich hoffe ich nun, dass dieses Plätzchen unter Glas mich künftig mit reichen Ernten beschenken wird.
So wie Musical-Star Angelika Milster mich in mein Gartenleben schubste („Es wird Zeit, dass du dich schmutzig machst“), hat mich Ex-Bunte-Chefredakteurin Patricia Riekel zu meinem neuen Abenteuer verleitet. In höchsten Tönen schwärmte sie in unserem Gespräch von ihrem neuen, schönen Gewächshaus aus Italien. Ein Geburtstagsgeschenk ihres Lebensgefährten Helmut Markwort, wenn ich mich richtig erinnere. Er, der Erfinder des Nachrichtenmagazins Focus und jetziger Landtagsabgeordnete in München, erfüllte seiner Lebensgefährtin damit einen ihrer größten Wünsche. Was dort alles machbar sei, wie gut doch die eigenen, dort gezüchteten Tomaten schmecken würden – Patricia kam aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Das hat mich angesteckt.
Noch stapeln sich die Kartons in meinem weißen Carport. Aber sie warten schon begierig darauf, nach und nach geöffnet zu werden. Damit beginnt wieder eine neue Gartenreise für mich, ein neues Abenteuer. Und das, obwohl er noch immer nicht perfekt ist, mein Garten. Nein, das ist er wirklich nicht, wird er wahrscheinlich auch nie sein. „Aber das ist auch egal“, erklärt mir Marlene Charell nur zu gern. „Dein Garten muss dir guttun. Deinem Herzen, deiner Seele. Dafür ist er da. Wie andere ihn sehen, kann dir wirklich egal sein.“
Die deutsche Bühnenlegende weiß, wovon sie spricht. Für ihren schwerkranken Mann Roger ist er Medizin und Psychiater-Coach gleichermaßen. „Wenn Roger morgens im Garten steht und die Vögel beobachtet, vielleicht ein neues Nest entdeckt, kommt er anschließend glücklich ins Haus. Dann sind die Schmerzen, die seine Krankheit verursachen, mit einem Mal und für einen Moment vergessen.“
So erging es mir auch, so geht es mir noch immer. Mein Garten ist meine Welt. Sie hält jedem Sturm, jedem äußerlichen Unbill stand. Hier kann ich sein, hier bin ich. Nur die Natur stellt auf meinen ganz eigenen achthundert Quadratmetern Regeln auf. Sonst niemand.
Natürlich war am Anfang nicht alles Gold, was glänzte, und ich erlebte in meinem Garten Niederlage um Niederlage, wie ich es vorher nicht kannte. Ich musste aber auch feststellen, dass der Garten hin und wieder erschreckende Parallelen zu der Welt aufzeigte, in der ich vorher lebte und arbeitete. Meinem Humor hat es aber nicht geschadet. Meiner Gesundheit auch nicht. Im Gegenteil: Mit zunehmendem Abstand konnte ich über so vieles lachen, was mich vorher enttäuschte. Auch in diesem Punkt hat mein Garten mir geholfen.
Als Klatschreporter fühlte ich mich natürlich sicherer auf dem Society-Parkett. Die Regeln dort kannte ich – egal ob Fürstenhochzeit oder Filmball. Im Garten war das anders. Da brauchte und brauche ich noch immer hin und wieder Hilfe oder wenigstens einen guten Ratschlag aus erfahrenem Munde.
Wie gut, dass ich auch als ehemaliger Klatschreporter noch ein dickes Telefonbuch voll mit den Nummern gartenverrückter Prominenter besitze. Sie konnte und kann ich anrufen, mich mit ihnen verabreden und mir schließlich wichtige Tipps geben lassen.
Die wichtigsten Momente und schönsten Gespräche habe ich hier niedergeschrieben. Ich hoffe, damit wunderbar zu unterhalten und aus diesen Gesprächen ebenso viel Gartenwissen wie Gartenweisheiten weiterzugeben.
Frank Gerdes


1. Kapitel
Manchmal kommt es anders und zweitens als man denkt
Hamburg schmuddelt sich mal wieder durch den Februar. Es ist kalt, feucht und grau – das ist so typisch für diese Stadt. Man spürt regelrecht, wie dieser hanseatische Winter die Hosenbeine heraufkrabbelt und bleiben will. Er lässt sich selbst dann nur schwer verscheuchen, wenn man, wie ich gerade, in einem gut geheizten Büro hockt. Reflexartig wünscht sich doch jeder an so einem Kuddelmuddel-Tag den nächsten Frühling herbei, oder? Wenigstens einen Hauch davon.
Mir geht es jedenfalls so, denn eigentlich bin ich ein Sonnenkind. Ich liebe den Sommer, sitze gerne auf der Café-Terrasse und schlürfe einen Latte oder plansche bei schönstem Sonnenschein im Pool und gönne mir mal ein leckeres Eis. Ich liege auch gerne auf einem Rasen im Park und beobachte die vorbeiziehenden Wolken, während der warme Wind meinen Bauch kitzelt. Das ist herrlich!
Aber noch ist das alles ganz, ganz weit weg. Leider. Statt in der Sommersonne zu brutzeln, halte ich mich an einer Tasse dampfendem Tee fest und lasse die Ausführungen von Frau Doktor Eva Schmidt-Neuenfels über mich ergehen. Wenigstens ein bisschen Frühling wäre schön, denke ich und schaue zum Fenster hinaus. In Bayern liegt wenigstens Schnee. Aber Winter im Norden ist ja nichts Halbes und nichts Ganzes.
Also lümmle ich mich jetzt auf dem braunen Ledersofa von Frau Doktor. Mein Hausarzt hat mich zu ihr geschickt. Sie sei in Hamburg die Beste ihres Faches, erklärte er mir. „Da gehen Sie mal hin, verlieren können Sie ohnehin nichts“, lautete sein Befehl. Also habe ich mir einen Termin geben lassen. Mir blieb nichts anderes übrig. Meinem Hausarzt widerspricht man besser nicht. Und nun bin ich hier.
Es stimmt: Mir geht es nicht gut. Und dennoch gebe ich mich fröhlich. So schlimm kann das schließlich alles nicht sein. Ist doch nichts Körperliches. Immerhin. Ich fühle mich nur leer, schlapp, ausgelaugt. Immerzu den Tränen nahe. Oder wütend. So wütend, dass ich am liebsten die ganze Einrichtung zertrümmern würde. Und mir fehlen die Worte. Immer wieder fehlen mir die Worte. Das ist tödlich in meinem Job. Schließich bin ich Journalist, genauer gesagt: Klatschreporter. Meine Geschichten werden in den bunten Blättern veröffentlicht, einige sogar weltweit. Früher hat mir dieser Job großen Spaß gemacht. Jetzt schleppe ich mich nur noch zur Arbeit. Kaum hinterm Schreibtisch, würde ich am liebsten wieder gehen.
Seit zwanzig Jahren verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit Geschichten aus der Welt der Promis und erlebte wunderbare, aber auch skandalöse Momente: Ich habe mit der englischen Königin das Abendbrot geteilt und am Krankenbett eines mir lieb gewordenen Stars gewacht. Er starb, während ich bei ihm saß. Das war vielleicht ein Theater! Fürchterlich traurig, aber eine gute Story. Ein Prinz betrog vor meinen Augen seine Frau. Das war eine noch bessere Geschichte.
Ich durfte auf Fürstenhochzeiten unterm Sternenhimmel tanzen und habe Models beim Koksen erwischt. Eine Zeit lang aß ich des Öfteren mit einem Bundeskanzler in Berlin zu Mittag und diskutierte mit amerikanischen Präsidenten auf Empfängen in New York. Der schwedischen Kronprinzessin gratulierte ich in Stockholm zur Hochzeit, und das Formel-Eins-Rennen in Monaco schaute ich mir vom Achterdeck einer noblen Jacht aus an. Einer unserer größten Schlagersänger traf sich zum Essen mit seiner heimlichen Geliebten – natürlich saß ich am Nebentisch.
Klatschreporter ist man rund um die Uhr. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber das hatte mir bisher nichts ausgemacht. Denn kaum etwas anderes hat mich so sehr fasziniert, wie die Welt der Reichen und Schönen, der Berühmten und Berüchtigten. Ihre falsche Moral, das liderliche Leben, die Scheinheiligkeit. Allerdings zerrt die Leidenschaft für diesen Beruf an der Gesundheit. Sie kostet Freundschaften, die Familie leidet, und so manche Beziehung ist daran gescheitert.
„Frank, das geht so nicht weiter. Sie brauchen eine Auszeit, und zwar dringend“, erklärt mir Frau Doktor Eva Schmidt-Neuenfels nun in ihrer noblen Hamburger Klinik. „Das Beste ist, Sie ziehen erst einmal für acht Wochen bei uns hier ein. Machen Sie das nicht, werde ich Sie mit Sicherheit bald für längere Zeit aus dem Verkehr ziehen müssen, und das wollen wir doch nicht, oder?“
Also ehrlich! „Eva, wie stellen Sie sich das vor? Ich habe Termine, Verpflichtungen, dann der Druck aus der Redaktion“, erkläre ich leise und streiche dabei meine rote Chino glatt. Ich zupfe das Hemd aus dem rechten Jackettärmel, richte den silbernen Manschettenknopf und stehe langsam auf. „Vielen Dank für das Gespräch, Eva. Sie haben mir sehr geholfen. Ich werde Ihre Ratschläge sehr ernst nehmen. Aber jetzt muss ich los. Die Redaktion ruft.“ Mit dem Mantel über dem Arm verlasse ich das Zimmer. Fluchtartig.
Sanft fällt die Autotür ins Schloss. Ich kuschle mich in den Fahrersitz, schließe die Augen und atme tief durch. In meinem Landrover ist die Welt noch in Ordnung. Hier fühle ich mich sicher und geborgen. Das warme Leder der Sitze schenkt mir Behaglichkeit. Ist es wirklich so schlimm? Mein Bauch brüllt unumwunden: „JA!“ Mein Kopf flüstert dagegen: „Nein.“ Ja, was denn nun? Aus den Lautsprechern rieselt leise das Doppelkonzert für zwei Violinen und Streichorchester von Johann Sebastian Bach. Erst vor Kurzem habe ich irgendwo gelesen, dass diese Musik Blutdruck und Herzfrequenz in ähnlicher Weise wie Medikamente senken soll. Wenn’s auch so geht, warum sollte ich mich dann in einer Klinik einquartieren? Nein! Noch einmal tief Luft holen, und dann geht’s ab in Richtung Innenstadt. Auf in die Redaktion. Auf in den Trubel. Langsam versuche ich, Frau Doktor hinter mir zu lassen. So ganz klappt das nicht.
Frau Doktors Diagnose kommt mit in die Stadt. Das ist kein leichtes Gepäck. Wirklich nicht. Immerhin hat sie mir mit klaren Worten deutlich gemacht, dass ich mich in einem Burn-out befinde. Mittendrin quasi. So wie bisher könne es also nicht weitergehen. Auf gar keinen Fall! In diesem Punkt war sie sich ziemlich sicher.
Ich sei total ausgebrannt. In einem Zustand der Frustration. Schuld seien unrealistische Erwartungen an mich und andere. Das habe zu einem Energieverschleiß geführt, hat sie mit fester Stimme erklärt. Ich und andere haben mich überfordert. Nun sei ich eben einfach erschöpft. Das würde alles erklären – die Wut, die Tränen, die Müdigkeit, den Sprachverlust.
Aber keine Sorge, ich sei nicht der Erste, dem das passiert, und schämen müsste ich mich schon gar nicht dafür. Vor allem Männer im mittleren Management seien davon betroffen. Und Menschen, die beruflich intensive Beziehungen zu anderen Menschen unterhalten. Nun, beides träfe wohl auf mich zu. Da dürfe ich mich nicht wundern. Allerdings müsste ich mein Leben ändern. Und zwar rucki zucki.
Immerhin bin ich in prominenter Gesellschaft, tröste ich mich: Skispringer Sven Hannawald hat es auch schon erwischt, erfuhr man aus den Medien. Schlimm war das damals. Oder Fernsehkoch Tim Mälzer. Der wollte wohl Trost im Alkohol finden, war überall zu lesen. Das war aber eine Sackgasse. Auch Schlagerstar Michelle musste da durch. Damit sich die Schlagersängerin erholt, wurde sie schließlich in ein künstliches Koma versetzt. Oder Hollywood-Sunnyboy Owen Wilson. Er litt ebenfalls jahrelang an einem Burn-out, zudem noch an Depressionen. Eine Therapie hat das Schlimmste verhindert. „Toll, da bin ich ja mal wieder in prominenter Gesellschaft“, murmle ich, als mich das Klingeln meines Handys aus dieser bunten Gedankenwelt reißt. Auf dem Display blinkt eine Schweizer Telefonnummer.
„Süßer, wo bist du? Ich hab schon versucht, dich in der Redaktion zu erreichen. Da sprang leider nur der Anrufbeantworter an“, flötet Musical-Star Angelika Milster ins Telefon. Mit der beliebten Schauspielerin bin ich seit rund zwanzig Jahren befreundet. Berühmt wurde sie als Grizabella im Musical „Cats“. Der Song „Memory“ machte sie zum Star. Das war in Wien. In Berlin wurden wir Freunde.
„Gerade komme ich vom Arzt und überlege nun so grundsätzlich, wie es weitergehen soll“, erkläre ich. Dabei versuche ich, ruhig und souverän zu klingen. Stille am anderen Ende. Unachtsam rase ich mit meinem Auto durch eine Pfütze. Das dreckige Wasser spritzt auf den Gehweg. Ein Fußgänger bekommt es ab und schimpft.
Ich erzähle ihr von der Diagnose und zucke mit den Schultern, als ich auf das Wie-soll’s-weitergehen zu sprechen komme. Am Horizont schimmert das Klinkerrot des Verlagsgebäudes. Die Ampel wird gelb. Ich gehe vom Gas.
„Du willst doch jetzt wohl nicht in die Redaktion? Kommt gar nicht in Frage! Ab nach Hause – und nachdenken“, Angelika wird resolut. „Wir reden weiter, sobald du dort angekommen bist.“ Alles klar. Recht hat sie. So wird’s gemacht. Also fahre ich brav nach Hause. Raus aufs Land.
Während ich über die Autobahn rase, schweifen meine Gedanken ab. Die Erinnerung an ein Gespräch mit TV-Liebling Ruth-Maria Kubitschek kommt mir in den Sinn. Wir trafen uns in München und haben danach noch mehrmals telefoniert. Ich hielt die Grande Dame der deutschen Fernsehunterhaltung immer für, nun ja, leicht exzentrisch. Der Eindruck verfestigte sich, als sie mir von ihrem Garten „Aphrodite“ erzählte.
Ende der 1990er hatte sie ein viertausend Quadratmeter großes Grundstück unterhalb ihres Hauses am Bodensee gekauft. Danach verschwand sie für ein ganzes Jahr von der Bildfläche, um aus der Wildnis zu ihren Füßen eine parkähnliche Landschaft zu zaubern. Sie wollte das Fleckchen der Natur zurückgeben, versicherte sie gerne und pflanzte Apfelbäume, Rosen, Jasmin, Flieder. Dazwischen kamen in Form geschnittene Buchsbaumkugeln, griechische Statuen und Buddha-Figuren.
„Wir brauchen alle eine Zeit der Stille, um wieder gesund zu werden“, behauptete sie in einem unserer Gespräche. Kubi schwärmte schließlich auch gerne davon, wie sie morgens barfuß über ihren nassen Rasen wandert. Kurz nach dem Aufstehen, ungeduscht, ungeschminkt, noch vor dem ersten Tee. Dann hört sie die Vögel zwitschern und spürt die ersten wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrer nackten Haut. Klingt irgendwie schön, war bisher aber nicht meins. Das kann sich jetzt ändern.
Wieder klingelt mein Handy. Es ist die Redaktion. Das Chef-Sekretariat. Ob ich denn heute noch kommen würde? Was los sei? Und überhaupt. Ich hätte mich ja wenigstens mal melden können. Muss ich jetzt nicht mehr. Ich bin krank. Ich bleibe zu Hause. Wie lange? Weiß ich noch nicht. Auf alle Fälle den Rest der Woche. Jaja, die Krankschreibung folgt. Der Chef will mich noch sprechen. Nein, geht jetzt nicht. Er soll mir eine Mail schicken, wenn’s was Dringendes ist. Was denn nun mit meinen offenen Storys sei? Weiß ich nicht. Die müssen warten. Meine Termine? Neu besetzen, verschieben, absagen. Ich lege auf. Atme tief ein und langsam aus.
Die Landschaft fliegt an mir vorbei. Ich trommle ungeduldig mit den Fingern auf das lederne Lenkrad. Meine Ausfahrt kommt. Im Radio gibt TV-Star Hendrik Duryn gerade ein Telefoninterview.
Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte ich ihn selbst an der Strippe. Ein Meinungsforschungsinstitut hatte herausgefunden, dass der Leipziger zu den Top-Drei der beliebtesten, deutschen Serienstars gehört. Grund genug für ein Gespräch. Hendrik erzählte mir von dem Freiheitsgefühl, das er empfindet, wenn er durch die Kronen der hohen Bäume in seinem Garten klettert oder die Bäume im nahe gelegenen Wald erobert.
Ob ich mir vorstellen könne, wie das sei, dort oben in schwindelerregender Höhe, wollte er wissen. Nein, konnte ich nicht, kann ich immer noch nicht. Ich klettere ja nicht einmal auf eine Haushaltsleiter. Ich habe Höhenangst! Aber Hendrik beschrieb voller Leidenschaft, wie es ist, wenn man auf einem Baumwipfel sitzt und sich dem Himmel nah fühlt. Die Zweige wiegen sich sachte im Wind, der Blick wandert über die anderen Wipfel hinweg. Man ist befreit. Von allem so weit weg. Herrlich. Da oben kann man angeblich unbeschwert durchatmen. Aber muss man denn unbedingt so hoch hinaus, um den täglichen Ärger zu vergessen? Um Abstand zu gewinnen und wieder runterzukommen?
Die Füße hochlegen, die Sterne beobachten und dazu ein kühles Bier. Hauptsache draußen. Frische Luft atmen, nicht den Redaktionsmief. Versuch’s mal. Ein eigener Garten ist was Feines, schwärmte der Schauspieler im Interview. Auch wenn der Garten nicht groß ist, er schenkt dir Seelenfrieden. Hast du die Hände im Dreck, fällt der Stress ab. Zupfst du Unkraut, findest du Zufriedenheit. Und Holzhacken ist wie Meditation.
„Garten ist für jeden aber etwas anderes. Die einen mögen den englischen Rasen, die anderen die wilde Wiese. Für mich darf er wild und natürlich sein, will aber auch gepflegt werden“, erklärt mir Schauspieler Sascha Hehn in einem Interview. Der „Traumschiff“-Kapitän lebt auf dem Land. Abgeschieden, idyllisch, bodenständig. Vor dem Haus dichter Wald, dahinter ein kleiner Bach. „Ein Garten soll dich glücklich machen. Klingt kitschig, ist aber so.“
Erst Kubi, dann Duryn und nun auch noch „Traumschiff“-Star Sascha Hehn. Na, super! Also einfach die Lackschuhe gegen ein Paar Gummistiefel tauschen? Den roten Teppich gegen den grünen Rasen? Noch kann ich nicht glauben, dass das wirklich helfen soll. Aber immerhin komme ich ins Grübeln. Wenn ein bisschen Erde und ein paar Blümchen einen Menschen wirklich glücklich machen, dann könnte das vielleicht eine Lösung sein. Zugegeben: Ich bin skeptisch. Sehr skeptisch. Aber da ich schon einmal ein Haus auf dem Lande besitze, könnte ich diesen Weg doch eigentlich in Erwägung ziehen. Ein Versuch ist es wert – oder? Nur, wie soll das gehen? So ganz genau?
Seit rund zehn Jahren pendle ich mittlerweile nahezu täglich zwischen Stadt und Land. Morgens geht’s rein in die Stadt, abends wieder raus aufs Land. Insgesamt achtundachtzig Kilometer Fahrweg täglich. Macht aber nix. Dafür wohnen wir sehr schön. Damals hatte uns, also meinen Mann und mich, das Landlust-Fieber gepackt. Plötzlich wollten wir unsere Marmelade selber kochen, Gemüse auf dem eigenen Acker ziehen und im Sommer an den Rosen vor der Terrasse schnuppern. Viele unserer Freunde fanden das bescheuert, einige finden das heute noch dämlich. Aber die haben auch keine Terrasse, auf der sie sich zur Cocktail-Stunde fläzen und Gin-Tonics schlürfen können. Wir hingegen machen es uns dann in unseren Deckchairs aus zertifiziertem Teak-Holz gemütlich und tüdeln uns einen an. Vorausgesetzt, wir sind zu Hause.
My Home is my Castle – unseres steht im Heidedorf Jesteburg, direkt vor den Toren Hamburgs. Ein niedliches Örtchen: reetgedeckte Häuser, viel Wald und noch mehr Wiesen. Drei Supermärkte, vier Apotheken, fünf Friseure, ein Buchladen, ein Piercingstudio, vier Nutten und ein diskussionsfreudiger Gemeinderat. Also ein ganz entspanntes Dörfchen. Das Grundstück ist nicht so wahnsinnig groß, vielleicht achthundert Quadratmeter. Aber das reicht uns. Den Kaufvertrag haben wir übrigens per Handschlag abgeschlossen. Unfassbar, aber so läuft das noch immer auf dem Land.
Gebaut hat unser Haus ein Unternehmer aus einem Nachbarort. Modell niedersächsisches Landhaus: roter Klinker, anthrazitfarbene Dachziegel, Regenrinnen aus Kupfer, Stichbögen über den Fenstern, vorne und hinten ein Erker. Alles auf antik getrimmt und natürlich viel zu groß für zwei, aber wir haben es so gewollt. Und was habe ich davon? Viel zu wenig! Jedenfalls bislang.
Ich wohne zwar dort, lebe aber bisher nicht in dem Haus und noch weniger in dem Dorf. Das eine hat wenig mit dem anderen zu tun. Meine Nachbarn kenne ich nur flüchtig, das Örtchen kaum. Morgens geht es ab nach Hamburg, abends über Autobahn und Landstraße wieder zurück – falls ich nicht gerade anderswo in der Weltgeschichte unterwegs bin. Da hätte ich eigentlich auch in der Stadt bleiben können, höre ich nur zu oft. Ich hatte mir das eigentlich auch ganz anders vorgestellt.
Zu Hause angekommen, klingelt mein Handy. Schon wieder. Angelika. „Bist du draußen? Gut! Ab mit dir in den Garten. Jetzt schaust du dort erst einmal nach dem Rechten“, verlangt der Musical-Star.
„Wonach soll ich sehen? Nach dem Rechten? Im Garten? Du bist ja lustig. Worauf soll ich denn achten?“
„Ist jetzt egal. Guck dir deine Beete an. Bei diesem Wetter kannst du auch über den Rasen laufen. Es liegt schließlich kein Schnee, und gefroren hat es bei euch auch nicht.“
Na, die ist ja gut drauf. Sommercocktails trinken auf der Terrasse – okay, aber mitten im Februar durch das tote Grünzeug stapfen? Ich bin doch nicht bescheuert und ruiniere mir meine teuren Schuhe!
„Geh einfach mal in Richtung Beete, und guck, was da los ist. Vielleicht hat der letzte Frost den einen oder anderen Staudenballen nach oben gequetscht, oder der Winterschutz für deine Hortensien muss in Ordnung gebracht werden. Und was ist mit deinen Rosen? Hast du genügend Erde angehäufelt?“
„Angelika, wovon sprichst du? Winterschutz? Anhäufeln? Keine Ahnung, was du meinst.“
„Nun stell dich mal nicht dümmer, als du bist.“
„Bisher hat sich Herr Schmidt um unser Grundstück gekümmert. Ich hab dafür keine Zeit.“
Also gut: Nahezu todesmutig begebe ich mich in der heranbrechenden Dämmerung auf den Rasen. Er ist matschig. Glitschig. So ganz anders als der Sommerrasen, auf dem ich gerne liege. Nein, so mag ich ihn nicht. Aber wenn’s Angelika befiehlt, bleibt mir wohl nichts anderes übrig.
Ich schlage den Kragen meines Burberry-Trenchcoats höher, werfe rasch einen Blick auf meine gewienerten Budapester, und schon tapse ich los, das Handy am Ohr.
„Es wird Zeit, dass du dich schmutzig machst“, verkündet La Milster. „Steck deine Hände in die Erde. Das ist die beste Medizin – glaub mir. Das wird dir jeder sagen, der ein wenig Ahnung hat. Abgesehen davon, macht es irre viel Spaß. Ich mach’s auch.“
Irgendwo habe ich gelesen, dass sich kranke Menschen bei der Arbeit im Grünen als nützlich erleben, der Garten hilft ihnen beim Erkennen und Akzeptieren der Krankheit. Die ollen Ägypter sollen Gartenarbeit zur Heilung von geistig Umnachteten eingesetzt haben. Ob’s geholfen hat, weiß heute allerdings keiner mehr. Dennoch sind solche Heilgärten gerade der ganz große Trend in der Medizin.
Erst vor Kurzem habe ich während der Recherche für einen Bericht gelesen, dass bestimmte Gärten viel mehr als nur schön sind, sie sind Kraftquellen. Man kann die Natur dort sehen, hören, riechen, fühlen und manchmal auch schmecken. Kindheitserinnerungen werden geweckt und der Körper beansprucht. Ein Garten hat also therapeutische Wirkung. Meiner auch? Unfassbar, auf was für Ideen ich komme, während ich über einen patschnassen Rasen schliddere. Typisch.
„Was bedeutet dir denn dein Garten?“, frage ich. Angelika schweigt, denkt nach. Die Sekunden verstreichen. „In meinem Garten kann ich wieder richtig durchatmen. Vergessen. Gärtnern ist für mich wie Yoga. Bin ich in meinem Garten, komme ich mit mir und der Welt ins Reine“, erklärt sie schließlich mit leiser, warmer Stimme.
„Das Schönste für mich ist immer, dass ich leise mit den Blumen sprechen kann“, erzählt La Milster. „Ich bin aber nicht so eine vor sich hin brabbelnde Alte. Um Himmels willen, nein! Das findet alles in meinem Kopf statt und nur, wenn ich mit meinen Pflanzen zu Gange bin.“
„Du willst mir doch jetzt nicht sagen, dass du wirklich mit deinen Pflanzen sprichst?“
„Klar, warum denn nicht. Wenn so ein Busch nicht mehr kann, dann muntere ich ihn eben wieder etwas auf. Dann sage ich auch mal: ›Los komm, Kleiner. Das wird schon wieder.‹ So helfen wir uns gegenseitig – mein Garten und ich.“
Jetzt ist es dunkel. Der Garten, die Beete – alles sieht noch trostloser aus. Tot. Traurig. Das passt zu meiner Stimmung. Die Arme eng um den Körper geschlungen und in matschverschmierten Schuhen gehe ich zur Terrasse und setze mich auf einen der Gartenstühle. Mir ist kalt.
„Meine Großeltern hatten einen tollen Garten, in dem ich als Kind viel gespielt habe. Natürlich musste ich auch mal mithelfen. Unkraut jäten, Äpfel ernten. Ich denke, so fing meine Liebe zum Gärtnern an. Heute könnte ich mir ein Leben ohne Garten gar nicht mehr vorstellen“, schwärmt Angelika. Sie ist in Plauderlaune.
„Kannst du dich noch an meinen Berliner Balkon erinnern? Als ich dort noch lebte, habe ich ihn immer bepflanzt und mit Grünzeug zugestellt, bis gar nichts mehr ging. Mein Mann André hat dann irgendwann den Befehl ausgegeben, dass nur noch Pflanzen gekauft werden, wenn eine Machete mitgeliefert wird – damit er sich einen Weg durch diesen Dschungel freischlagen kann.“ Sie lacht, ich lächle.
Scheinbar macht Gärtnern wirklich selig und schenkt ein gutes Gefühl. „Wer in meinen Garten schaut, schaut in mein Herz“, wird der legendäre Gartenarchitekt Hermann von Pückler-Muskau gerne zitiert. Dieser wunderbare Gärtner hat nicht nur ein Eis erfunden, sondern auch die schönsten Schlossgärten angelegt, klärte mich einst Farah Diba auf, die letzte persische Kaiserin, mit der ich mich auf einer Party unterhielt.
„Auf meinem Berliner Balkon stand einmal eine große Schale, in der wuchsen Hornveilchen. Eines Tages schaue ich zum Fenster hinaus und sehe, wie dort eine Ente ihre Eier ausbrütet. Wunderbar. So findet die Natur immer einen Weg. Selbst in der Stadt. Das ist doch großartig – findest du nicht?“, lacht Angelika durchs Handy.
Je länger ich meinem liebsten Musical-Star zuhöre, desto mehr überzeugt sie mich: Ein Garten kann wirklich glücklich machen. Und wenn dann auch noch Ruth-Maria Kubitschek, Hendrik Duryn und Sascha Hehn ins selbe Horn tröten, muss ja etwas dran sein.
Aber was ist Glück eigentlich? Nur ein Gefühl? Ein Zustand? Schaffe ich das mit meinem Garten auch? Und wie lange dauert das überhaupt? Vielleicht sollte ich meinen Job als Klatschreporter erst einmal dafür aufgeben. Wenigstens für kurze Zeit. Sechs Monate, ein Jahr – für immer? Werde ich ihn vermissen?
Schon als kleiner Junge wollte ich unbedingt Klatschreporter werden. Damals saß ich bei meiner Großmutter auf dem Sofa und blätterte fasziniert durch die bunten Zeitschriften. Für so ein Magazin wollte ich auch arbeiten. Raus aus dem miefigen Ostfriesland, rein in die große, bunte Glitzerwelt. Eines Tages. Das habe ich mir geschworen. Und jetzt die Rolle rückwärts? Mit Ende vierzig?
Groß ist mein Garten nun wirklich nicht. Im Vergleich zu Kubis Garten „Aphrodite“ ist er eher ein Schrebergarten. Aber auch Schrebergärtner sollen glücklichere Menschen sein. Dennoch frage ich mich: Ist Rasen trimmen, Rosen schneiden oder Unkraut zupfen wirklich das Richtige für mich?
„Du könntest dir einen Komposthaufen zulegen und darauf Kürbisse ziehen. Das ist toll. Auf meinem wuchs ein so schöner Kürbis! Als er reif war, habe ich ihn golden angemalt und in der Weihnachtszeit als Deko vor die Tür gestellt. Das sah großartig aus“, erinnert sich Angelika Milster.
„Aber ich habe doch überhaupt keine Ahnung, kann nicht einmal Staude von Unkraut unterscheiden.“
„Mach es dir einfach. Verzichte auf eigensinnige Pflanzen, und setz bloß keine Dahlien oder andere Knollenpflanzen, die du zum Herbst wieder ausbuddeln musst. Das braucht Zeit, Kraft und Platz. Schließlich müssen die von dir auch noch irgendwo gelagert werden.“
„Ach so? Na, wenn du das sagst …“
„Deine Pflanzen sollten vor allem winterfest sein. Setze Stauden und Sträucher, sodass du das ganze Jahr etwas davon hast. Egal, zu welcher Jahreszeit.“
„Was würdest du denn gar nicht pflanzen?“
„Ich habe zum Beispiel keine Rosen, weil sie viel Pflege brauchen und ich dafür zu oft von zu Hause weg bin. Ich könnte mich gar nicht genügend um sie kümmern. Darum habe ich Cosmeen. Das sind bescheidene Pflanzen. Und von Kapuzinerkresse bekomme ich nicht genug.“
Warum lange sabbeln? Lieber gleich Nägel mit Köpfen machen! Und gleich gibt es eine Gebrauchsanweisung. So ist Angelika. Wunderbar! Stimmt ja auch. Gar nicht lange und unnötig zögern. Viel besser ist es, mit geradem Blick nach vorne weiterzumarschieren – immer dem Glück entgegen. Die Trübsal muss doch besiegt werden, die Traurigkeit abklingen.
Ich will meine Leichtigkeit zurück, meine Fröhlichkeit. Früher saß ich zwanglos mit den Prominenten zusammen. Wir hatten Spaß, lachten, tanzten und tranken – meine Berichte über die Glamour-Society schrieben sich fast wie von alleine. Das ist vorbei. Heute bin ich ausgebrannt, wie mir Frau Doktor Neuenfels noch am Vormittag erklärte. Also muss sich etwas ändern. Aber zackig.
Angelika legt auf. Ich gehe rein. Aufwärmen. Jetzt erst einmal eine Tasse Ostfriesentee vor dem Kamin. Als der Kluntje im heißen Tee zerspringt, kommt mir meine letzte Sitzung mit Attila in den Sinn. Attila ist Coach. Einer, der Führungskräfte beruflich wieder auf den richtigen Weg bringt, wenn die Karriere in Schieflage geraten oder die Unzufriedenheit im Job zu groß ist. Attila berät mich einmal die Woche.
„Woran hast du Spaß? Was könnte dir nachhaltig Freude bereiten?“, fragte er mich das letzte Mal. Ich musste wirklich sehr lange nachdenken, bevor ich ihm nur eine halbwegs passable Antwort geben konnte. Und natürlich kam auch unweigerlich die Frage nach dem Glück. Ja, er wollte tatsächlich wissen, was mich im Job glücklich machen könnte. Auch da musste ich lange überlegen, und mir fiel nichts mehr ein.
Vielleicht sollte ich jetzt erst einmal mit meinem Garten beginnen. Vielleicht haben die ja alle recht. Warum auch nicht? Nach mehr als zwanzig Jahren Promi-Partys, dem Gejette rund um die Welt und dem Wühlen in der Wäsche anderer Leute ist die Gelegenheit doch günstig, um etwas Neues zu beginnen. Erst einmal versuchsweise. Wer weiß, was daraus werden kann.
Erfordert das Mut? Nein! Angst habe ich keine. Auch nicht vor der Niederlage. Ich probiere mich aus. Vielleicht eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Wer weiß?

Das perfekte Geschenk für den Gartenfreund!

Blick ins Buch
Der Regenwurm ist immer der Gärtner

Das geheime Leben des Regenwurms

Der Regenwurm bohrt, gräbt und mischt – und hält damit im buchstäblichen Sinne die Welt zusammen. Kaum einem anderen Tier verdanken wir so viel, denn erst reiche, lockere Erde ermöglicht das wuchernde Grün unserer Gärten, Felder und Fluren. Die amerikanische Bestsellerautorin und leidenschaftliche Gärtnerin Amy Stewart buddelt und experimentiert, sucht Experten auf und reist zum weltweit einzigen Wurmmuseum. Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an das Leben unter unseren Füßen und eine Verneigung vor Charles Darwin, der dem Gemeinen Regenwurm einen Großteil seines Forscherlebens widmete.

Vorbemerkung
Die Leserinnen und Leser dieses Buches werden sehr schnell entdecken,
dass ich keine Wissenschaftlerin bin, sondern nur eine
ganz normale Gärtnerin, die sich für Regenwürmer interessiert.
Meine Nachforschungen zu den Gewohnheiten und Lebensweisen
von Würmern brachten mich mit Dutzenden von Biologinnen,
Botanikern und Systematikern in Kontakt, die sich allesamt große
Mühe gaben, ihre komplizierte Forschungsarbeit so zu erklären,
dass selbst ich sie begreifen konnte. Mit ihrer Hilfe kämpfte ich
mich durch Fachaufsätze und Biologiebücher, die sich mir sonst
niemals erschlossen hätten. Irrtümer, Auslassungen oder sonstige
Versäumnisse sind allein meine Schuld; wenn ich etwas richtig
gemacht habe, dann ist das ausschließlich das Verdienst der
„Wurmforscher“ oder Oligochaetologen.
Sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt, verwende ich die
Begriffe „Wurm“ und „Regenwurm“ im ganzen Buch als Synonym;
in jedem Fall beziehe ich mich auf terrestrische Würmer, jene Lebewesen,
die zur Klasse der Oligochaeta zählen. Kohlweißlinge,
Erdraupen, Raupen des Schwarzen Schwalbenschwanzes und
Tomatenschwärmer sind keine Würmer, sondern Motten oder
Schmetterlingsraupen. Spulwürmer, Bandwürmer, Plattwürmer
und Schnurwürmer sind jeder für sich genommen interessante
Geschöpfe, aber nicht Gegenstand dieses Buches.

Er dachte
an all die unendlich kleinen Bewegungen der Welt,
an das hartnäckige, herzzerreißende Vorankriechen
eines Regenwurms,
der sich durch Fressen seinen Weg bahnt.
Carrie Brown, Rose’s Garden


Prolog

An der Wand über meinem Schreibtisch hängt das Bild eines
Apfelbaums – eines ganzen Apfelbaumes; das heißt, auf der Zeichnung
sind die Wurzeln ebenso wie Stamm und Zweige zu sehen.
Der Baum selbst ist nur 1,50 bis 1,80 Meter hoch, die Wurzeln
dagegen reichen erstaunliche vier Meter tief in die Erde und verzweigen
sich deutlich über die äußere Baumkronengrenze hinaus.
Das Faszinierende an der Zeichnung ist dies: Der Teil des Baumes,
den wir im Allgemeinen für den Apfelbaum halten, ist in Wirklichkeit
ein ziemlich unbedeutender Teil der gesamten Pflanze. Er
ist nichts weiter als eine gedrungene, knorrige Aufwölbung über
einem eleganten ausgedehnten Wurzelsystem.
Ist der Baum in der Zeichnung überhaupt oben? Man könnte
auch meinen, der Baum befinde sich in Wirklichkeit unterhalb seines
imposanten Wurzelsystems. Wenn ich das Bild herumdrehe,
sodass die Wurzeln oben sind und der Baum darunter, ergibt sich
ein viel anmutigeres Bild. Die Äste fließen wie Flüsse in alle Richtungen.
Das Wurzelsystem hat eine perfekte Form, so luftig und
symmetrisch, wie es sich ein Baumpfleger überhaupt nur wünschen
kann nach Jahren sorgfältigen Zurückschneidens.
Wenn die Zeichnung so auf dem Kopf steht, denke ich zwangsläufig
ganz anders als bisher über die Funktion des Baumes nach.
Natürlich sind Zweige, Blätter und Früchte nach wie vor von Bedeutung;
sie liefern Pollen für die Bienen, Zweige für die nistenden
Vögel, Obst für den Gärtner und auch Blätter, die die immerwährende Produktion von Sauerstoff sicherstellen. Aber jetzt, da
ich genauer hingeschaut habe, erkenne ich, dass die Wurzeln der
eigentliche Körper des Baumes sind, und mache mir zum ersten
Mal wirklich Gedanken darüber, was für ein Leben diese Wurzeln
wohl dort unter der Erde führen. Wie tief dringt das Regenwasser
ein? Wie sieht die Erde unter der Oberfläche aus? Auf die
Frage, wie das Meer unter der Wasseroberfläche aussieht, würde
man von den meisten Leuten eine einigermaßen präzise Beschreibung
bekommen. Wie wenig wissen wir dagegen vom Leben unter
der Erde, selbst wenn es sich im Garten hinter dem eigenen Haus
abspielt?
Mir wurde bewusst, dass ich von dem Stück Land unter meinem
Haus so gut wie keine Ahnung hatte. Habe ich überhaupt
einen Rechtsanspruch auf diesen Boden in vier Meter Tiefe? Und
wie verhält es sich nach fünf, zehn oder auch fünfzig Metern? Hier
an der Küste, wo ich lebe, reicht die Erdkruste rund zwanzig Kilometer
tief. Darunter kommt dann der Erdmantel, der Tausende
von Kilometern mächtig ist. Gehört dieses kleine Stück Erde wirklich
mir, bis hinunter zur rot glühenden Mitte? An irgendeinem
Punkt da unten ist mein Anspruch mit Sicherheit verwirkt, und
mein Stück verliert sich in einem riesigen unerforschten Territorium,
das keines Menschen Eigentum ist.
Und wer lebt da unten, unter meinem Haus? Wenn ich mir
mein Grundstück nicht einfach nur bis drüben zum Nachbarzaun
und bis hinten zu dem schmalen Weg ausgedehnt vorstelle, sondern
auch dreißig Meter oder mehr nach unten, dann dämmert
mir allmählich, dass ich eine lächerliche Summe bezahlt habe für
ein Königreich, auf dem zufällig oben ein Haus steht. Millionen,
nein Milliarden Organismen bewohnen mein kleines Stück Land,
und ich erschrecke richtig bei dem Gedanken, wie wenig ich über
sie weiß.
Der erste Bodenbewohner, der mir auffiel, war ein Regenwurm.
Schließlich bin ich Gärtnerin; ich kann die Tatsache nicht übersehen,
dass Gärtner und Regenwürmer beim Bestellen des Landes
und der Versorgung der Pflanzen Hand in Hand arbeiten. Trotzdem
hatte ich schon immer den Verdacht, an der Geschichte mit
den Regenwürmern könnte noch mehr dran sein als das. Vielleicht
halten sie doch noch die eine oder andere Überraschung für
mich bereit, dachte ich und begann, mich mit ihren Gewohnheiten
zu beschäftigen. Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass
sie für fast alles, was sich unter der Erde abspielt, den Schlüssel
besitzen.
Ich bewahre das Bild vom Apfelbaum auf, weil es mich noch
an etwas anderes erinnert: Die eigentliche Schönheit einer Pflanze,
ihre wahre Bestimmung, liegt vielleicht gar nicht über der Erde in
meinem winzigen Gartenreich. In einem Apfelbaum steckt mehr,
als wir mit unseren Augen sehen, viel mehr. Um den Boden in seinem
Wesen zu erkennen, um seinen Puls zu fühlen, seine Seele
bloßzulegen, muss man sich unter die Erde begeben, dorthin, wo
er lebt und atmet.


Darwins Würmer

Es darf bezweifelt werden,
dass sich noch viel mehr solcher Tiere finden lassen,
die in der Weltgeschichte eine derart wichtige Rolle gespielt
haben wie diese einfach organisierten Lebewesen.
Charles Darwin,
The Formation of Vegetable Mould, Through the Action
of Worms, With Observations on Their Habits, 1881
Als ich das erste Mal einen Wurm in der Hand hielt, war ich
überrascht, wie leicht er war, wie harmlos. Er schlängelte sich
nicht herum und versuchte auch nicht, mir zu entkommen. Nein,
er lag still zusammengerollt in einem fast perfekten Kreis, als ob er
sich bereits in sein Schicksal ergeben hätte.
Der Wurm in meiner Hand war ein Kompostwurm mit dem
lateinischen Namen Eisenia fetida. In vielerlei Hinsicht ist er die
Quintessenz eines Wurmes, klein und zartrosa, mit zarten Streifen
zwischen jedem Segment. Er ist ein Meister im Kompostieren
und mag einen Haufen verrottenden Abfalls lieber als alles
andere. Wenn man irgendwo in Schweinefutter herumwühlt, in
Stalldung oder auch in einem Haufen feuchter Blätter, dann hat
man gute Chancen, solche Kompostwürmer zu finden, beim Fressen
oder wie sie im „Schmutz“ gerade ihre Kokons ablegen. Die
Würmer selbst aber sind überhaupt nicht schmutzig; dieser hier
war vollkommen sauber, als er aus seinem Abfallhaufen herausgeglitten
kam.
Er kam aus meinem Wurmkomposter – einer kleinen Kompostieranlage
auf meiner rückwärtigen Veranda, in dem ich meine
Küchenabfälle entsorge. Ich weiß nicht, wie viele dieser Würmer
es darin gibt – vielleicht zehntausend. Wenn ich darin herumstochere,
liegen die Würmer manchmal so dicht aufeinander, dass sie
aussehen wie Rinderhack, das sich bewegt, eine Masse sich heftig
windender Leiber. Man kann sie sich kaum als Einzelwesen vorstellen;
als ich dann aber einen herausholen und auf meine Handfläche
legen wollte, schaute ich sie mir da unten doch noch etwas
genauer an; ich wollte ja den richtigen auswählen. Ein gutes kräftiges
Exemplar arbeitete sich gerade an der Seitenwand der Kiste
hoch, als sei er auf Abenteuer aus.
Warum ich mir einen Wurm aussuchte und in die Hand nahm?
Weil mir aufgefallen war, dass ich in all den Jahren, die ich Würmer
in meinem Kompost hielt, eigentlich kein einziges Mal einen
angefasst hatte. Irgendwie seltsam, dass ich eine solche Abneigung
dagegen hatte, einen Wurm direkt an meine Haut zu lassen. Wie
sollte ich etwas über den dunklen feuchten Ort da unten erfahren,
in den meine Pflanzen im Garten ihre Wurzeln trieben, wenn
ich nicht bereit war, engeren Kontakt mit einem Regenwurm aufzunehmen?
Ich stupste den Wurm in meiner Hand mit dem Finger an. Er
war völlig schlaff. Ich konnte eine violette Ader sehen, die über
seine ganze Länge lief, direkt unter der Haut. Dann wölbte ich
meine Hand um den Wurm und faltete ihn mehrmals zusammen.
Er zeigte keinerlei Reaktion. Langsam fragte ich mich, wie
eine derart schwache Kreatur überhaupt irgendetwas fertigbringen
konnte, und sei es auch nur, sich durch Erde zu wühlen. Wenige
Sekunden später schien er dann von dieser Unternehmung genug zu haben. Er hob das eine Ende hoch – den Kopf vermutlich
– und streckte sich in die Luft, ein Segment nach dem anderen.
Und jetzt bewegte er sich endlich und hinterließ etwas Schleim auf
meiner Hand. Ich schüttelte mich, ließ ihn aber nicht fallen. Dieser
Schleim, dieser Wurmauswurf, war seine Art, auf Stress zu reagieren
– auf den Stress, den ich ausgelöst hatte, indem ich ihn aus
seinem Kompostbett holte und dem Licht aussetzte. Der Wurm
bewegte sich zum Rand meiner Hand hin und wendete den Kopf
diesmal nach unten Richtung Wurmkomposter, Richtung Heimat.
Er wollte jetzt unbedingt nach Hause. In diesem Augenblick
machte er den Eindruck, als sei er doch zu eigener Aktivität in der
Lage. Er bewegte sich zielgerichtet, im Bestreben, zu entkommen
und in seine vertraute Umgebung zurückzukehren. Ich entließ ihn
wieder in den Behälter, wo er unter einer Schicht von feuchtem
Zeitungspapier abtauchte und verschwand.
Danach nahm ich noch oft Würmer in die Hand – nicht nur
aus dem Wurmkomposter. Regelmäßig holte ich vier oder fünf
gleichzeitig heraus und erlaubte ihnen, sich zwischen meinen Fingern
zu kringeln. Nach und nach hob ich auch Würmer auf, die
ich im Garten fand, insbesondere die riesigen Gemeinen Regenwürmer,
Lumbricus terrestris, die sich über die ganze Länge meiner
Hand ausstreckten. Der Regenwurm drückte sein Schwanzende
gern gegen mein Handgelenk, so meine Erfahrung, als suche er
dort Bodenhaftung, und streckte dann den Kopf bis über das Ende
meines Mittelfingers hoch. An regnerischen Tagen konnte es vorkommen,
dass ich so ein halbes Dutzend Regenwürmer zwischen
den Fingern hatte. Es ist ein faszinierendes, aber auch irgendwie
verstörendes Gefühl, etwas einfach so aus dem Boden zu ziehen
und anzustarren, etwas, das hier oben bei uns gar nichts zu suchen
hat.

Wenn ich so auf einem Fleckchen Erde stehe und darüber nachdenke,
was sich unter meinen Füßen alles abspielt, dann bin ich
damit nicht allein. Gärtnerinnen und Gärtner sind von Natur aus
neugierig; wir sind Entdecker; wir drehen gerne ein Stück Holz
um oder ziehen Pflanzen an den Wurzeln heraus, um zu sehen, was
da alles los ist. Die meisten Gärtner, die ich kenne, interessieren
sich durchaus für Regenwürmer, so wie ich, für die Arbeit, die sie
leisten, wie sie den Boden durchwühlen und neue Erde herstellen.
Wir nehmen die Erde in die Hand, drücken sie zusammen,
riechen daran wie beim Prüfen einer reifen Melone und lassen sie
prüfend durch die Hände rieseln, um zu sehen, was sich darin verbirgt.
Fragen Sie nur einmal eine Gärtnerin nach den Regenwürmern
in ihrem Garten – ich garantiere Ihnen, dass sie dazu einiges
zu sagen weiß.
So ist es eigentlich merkwürdig, dass die meisten Wissenschaftler
vor Charles Darwin es nicht für lohnend hielten, sich mit
Würmern zu beschäftigen. Im neunzehnten Jahrhundert wusste
man ganz wenig über sie. Dann tauchte Darwin auf als eine Art
Vorkämpfer in Sachen Würmer und widmete sein letztes Buch
einer bis in die letzten Einzelheiten gehenden Untersuchung zu
Physiologie
und Verhalten der Würmer. The Formation of Vegetable
Mould, Through the Action of Worms, With Observations on Their
Habits (dt. Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer,
mit Beobachtungen zu ihren Gewohnheiten) wurde im Jahr 1881
veröffentlicht. Zu dem Zeitpunkt, als er das Buch schrieb, war er
ein alter Mann; das Thema aber hatte ihn schon jahrzehntelang
fasziniert.
Wie konnte ein so unbedeutendes Lebewesen die Aufmerksamkeit
eines so herausragenden Forschers wie Darwin erregen? Seit
seiner Jugendzeit war ihm klar, dass Regenwürmer viel mehr leisten
konnten, als die Wissenschaftler ihnen zutrauten. Wie kein anderer Forscher vor ihm hatte er erkannt, dass sie die Fähigkeit
besaßen, über Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte hin schrittweise
geologische Veränderungen zu bewerkstelligen. Dieser Gedanke –
dass nämlich die kleinsten Veränderungen enorme Auswirkungen
haben konnten – fügte sich hervorragend in seine Arbeit über
Evolution und den Ursprung der Arten ein.
Die Geschichte von Darwin und seinen Würmern beginnt im
Jahr 1837, als Darwin noch nicht einmal 30 Jahre alt war. Er war
gerade von einer Weltreise auf der Beagle, einem britischen Segelschiff,
zurückgekehrt. Man hatte ihn auf die Fahrt eingeladen,
weil der Kapitän, Robert FitzRoy, einen Gentleman an Bord zu
haben wünschte, der ihm am Kapitänstisch Gesellschaft leistete.
Ziel der Schiffsreise war die Küste Südamerikas, wo Darwin reichlich
Gelegenheit haben würde, naturwissenschaftlich zu arbeiten,
Musterexemplare zu sammeln und seine Beobachtungen aufzuschreiben.
Dieser Gelegenheit konnte Darwin nicht widerstehen –
er war zu der Zeit gerade dabei, einen Ausweg aus der Karriere zu
suchen, die sein Vater für ihn vorgezeichnet hatte, nämlich der
eines Pastors in einer Landpfarrei, wo der junge Darwin zwischen
seinen Pflichten gegenüber der Gemeinde viel Zeit haben würde,
Schmetterlinge und Käfer zu jagen. Für den Mann, der einmal als
der Vater der Evolution berühmt werden sollte, war dies nicht gerade
der optimale Berufsweg. Um es mit den Worten eines seiner
Biografen zu sagen: „Es gab da, unnötig zu erwähnen, ein kleines
Problem: seinen Glauben.“ Eine Weltreise würde diese lästigen
Fragen eine Zeit lang aufschieben, und so willigte sein Vater in die
Expedition ein. Als er dann aber an Bord war, wurde Darwin klar,
dass dies nicht das idyllische Abenteuer werden würde, das er sich
erträumt hatte: Die Mannschaft musste sich ungewöhnlich oft
mit gefährlichen Stürmen herumschlagen, auf halbem Weg erlitt
der Kapitän eine Art Zusammenbruch, und auch Darwin selbst war oft krank und mutlos. Dennoch war er ununterbrochen am
Arbeiten, sammelte Artefakte und machte sich Notizen.
Fünf Jahre war er unterwegs, länger als erwartet, und er kam mit
weit mehr neuen Entdeckungen nach Hause, als er sich je hätte
träumen lassen. Als er an Land ging, hatte er mehr als zweitausend
Seiten Notizbücher bei sich, dazu fünfzehnhundert konservierte
Tier- und Pflanzenarten und fast viertausend Häute, Knochen und
getrocknete Anschauungsexemplare. Er würde Jahre brauchen,
um das alles zu sichten und zu ordnen, und noch länger, um die
ganze Bedeutung dessen zu erkennen, was er hier gesammelt hatte;
denn genau hier, in dieser Sammlung von Fossilien, Insekten und
Vogelskeletten, würde er Schritt für Schritt jene Muster erkennen,
die ihn dann auf die Spur einer Theorie der Evolution bringen sollten.
Die idyllische Vorstellung eines ländlichen Pfarrhauses war
längst vergessen. Darwin hatte sich nun für ein Leben als Wissenschaftler
entschieden.
Das war allerdings kein leichter Weg; für einen Mann mit seiner
Begabung gab es keine Position in fester Anstellung. Als er
von der Reise mit der Beagle zurückkehrte, war er erschöpft, überfordert
von der Arbeit, die vor ihm lag, und im Ungewissen, was
seine weitere Zukunft betraf. Zunächst arbeitete er wie besessen
an seiner Sammlung von Notizen und Forschungstagebüchern; es
dauerte jedoch nicht lange, bis seine Gesundheit derart angegriffen
war, dass Freunde ihn dazu überredeten, ein paar Wochen auf
dem Land zu verbringen. Er reiste nach Shrewsbury, um sich im
Hause seines Onkels Josiah Wedgwood zu erholen. Bei der Ankunft
in Wedgwoods Haus hatte er noch kaum Zeit gehabt, seinen
Hut abzulegen, als der Onkel ihn schon hinaus auf die Weiden
führte; dort zeigte er ihm Schlacke und zerbrochene Ziegel, die vor
Jahren hier überall auf dem Boden verstreut wurden und inzwischen
einige Zentimeter tief unter der Erde lagen. Wedgwood war überzeugt, dass die Objekte infolge der Aktivitäten von Regenwürmern
mit Erde bedeckt waren, eine Leistung, die weitaus mehr
Kraft, Vorsatz und Zielstrebigkeit voraussetzte, als man sie dem
niedrigen Wurm bislang zugetraut hatte.
Obwohl er auf seiner Reise um die Welt ja nun wirklich viel
gesehen hatte, war Darwin doch stark beeindruckt von der Entdeckung,
die sein Onkel im eigenen Garten gemacht hatte. Im
gleichen Jahr noch hielt Darwin zu dem Thema einen Vortrag vor
der Londoner Geological Society. Damals stellten Wissenschaftler
noch so scheinbar simple Fragen wie: Wo kommt Erde her? Warum
fällt auf hoher See auf Schiffe Staub? (Die letztere Frage behandelte
Darwin in einem Aufsatz, dem er in seiner typischen direkten
Art folgenden Titel gab: An Account of the Fine Dust Which Often
Falls on Vessels in the Atlantic Ocean (dt. „Eine Beschreibung des
feinen Staubs, der oft auf Schiffe im Atlantischen Ozean fällt“).
Nach seinem Besuch im Haus des Onkels kam er immer mehr
zu der Überzeugung, dass Regenwürmer, und zwar ausschließlich
Regenwürmer, für die fruchtbare oberste Erdschicht verantwortlich
waren, die man zu seiner Zeit „Ackererde“ nannte.
Auch wenn er seinen ersten Aufsatz über die Regenwürmer in
Teilen überarbeitete und ein paar Jahre später erneut in der Zeitschrift
der Geological Society veröffentlichen ließ, hatte er sich doch
inzwischen auf die Veröffentlichung seines Reiseberichts mit der
Beagle konzentriert und auch bereits mit einer Reihe anderer Projekte
begonnen, unter anderem mit dem Manuskript, aus dem
später On the Origin of Species (dt. Über die Entstehung der Arten)
werden sollte.
Im Lauf der nächsten Jahrzehnte veröffentlichte er dann Bücher
über die Bewegungen der Schlingpflanzen, den Ausdruck der
Gemütsbewegungen beim Menschen, die Befruchtung von Orchideen
durch Insekten und die Variationen bei domestizierten Tieren. In der gleichen Zeit fuhr er auch mit der Überarbeitung seiner
bekanntesten Werke fort, The Descent of Man (dt. „Abstammung
des Menschen“) und der „Entstehung der Arten“. Falls er sich in
jenen Jahren überhaupt gedanklich mit den Regenwürmern beschäftigte,
so traten sie in seinen Veröffentlichungen jedenfalls
kaum in Erscheinung.
Als er dann aber als alter Mann zu den Regenwürmern zurückkehrte,
erwies sich das Buch, das er zum Thema schrieb, als überraschend
populär. „Soweit ich es beurteilen kann, wird es ein kurioses
kleines Buch“, schrieb er kurz vor dem Erscheinen der „Bildung
der Ackererde“. „Das Thema war immer mein Steckenpferd, und
ich bin vielleicht auf eine etwas alberne Weise ins Detail gegangen.
“ Und doch sprach das Buch Leser aus dem nichtwissenschaftlichen
Bereich an, die sich an der klaren, kraftvollen Sprache und
den überraschenden Schlussfolgerungen erfreuten.
Er beschrieb, wie viel Erde die Regenwürmer verschlingen und
als Exkremente oder Wurmhumus wieder auswerfen, und berichtete,
dass ein halber Hektar Gartenboden mehr als 50 000 Regenwürmer
enthalten und achtzehn Tonnen Wurmhumus pro Jahr liefern
kann. Des Weiteren beschäftigte er sich mit der Fähigkeit der
Regenwürmer, Gegenstände im Boden zu vergraben, von einer
am Boden verstreuten Handvoll Kalk bis zu römischen Ruinen,
die, wie er meinte, von einer fleißigen Regenwurmpopulation versenkt
und zum Wohle der Archäologen erhalten worden waren.
Die größte Anerkennung zollte er ihnen allerdings für die Umwandlung
des Bodens selbst. „Ihre Hauptarbeit besteht darin, wie
ein Sieb die feineren von den gröberen Partikeln zu trennen, das
Ganze mit pflanzlichem Abfall zu vermischen und mit ihren Darmsekreten
anzureichern. … keiner, der die Tatsachen im Auge hat …
wird, da bin ich sicher, hinfort noch bezweifeln, dass Würmer in
der Natur eine wichtige Rolle spielen.“
Zur damaligen Zeit hielt man seine Einschätzungen für grob
überzeichnet und seine Behauptungen für übertrieben. Vor Darwin
hatte sich noch kein Wissenschaftler auf eine solche Weise
für unterirdische Lebewesen interessiert. Regenwürmer wurden
im Allgemeinen immer noch für Gartenschädlinge gehalten, die
den Wurzeln der Pflanzen nicht guttaten und den sauberen grünen
Rasen mit ihren Ausscheidungen ruinierten. Man hielt ihnen bestenfalls
zugute, dass sie den Menschen einen kleinen Dienst erwiesen,
indem sie Löcher durch die Erde bohrten und so dem Wasser
den Weg bahnten. Unter den Kritikern von Darwins frühen Abhandlungen
gab es auf jeden Fall einen, der auf dem Standpunkt
beharrte, sie seien zu klein und zu schwach, um die enormen Erdbewegungen,
die Darwin ihnen zuschrieb, überhaupt auszuführen.
Ein anderer Kritiker bemerkte trocken: „In den Augen der meisten
Menschen … ist der Regenwurm nichts anderes als ein blindes,
stummes, empfindungsloses und unangenehm schleimiges Exemplar
aus dem Stamm der Anneliden. Nun hat sich Mr Darwin vorgenommen,
seinen Charakter zu rehabilitieren, und augenblicklich
tritt der Regenwurm als eine intelligente und wohltätige
Persönlichkeit hervor, welche riesige geologische Veränderungen
bewirkt, ganze Berghänge einebnet … kurzum: als ein Freund des
Menschen.“
Die Kritik der Kollegen konnte Darwin nichts anhaben. „Das
Thema mag ja unbedeutend scheinen“, räumte er ein, „wir werden
aber sehen, dass es durchaus interessante Aspekte besitzt.“ Nur mit
Mühe konnte er sich zurückhalten, bevor er dann seine zentrale
These entwarf: seine erstaunliche Überzeugung, dass „die gesamte
Ackererde überall im Land viele Male durch die Darmkanäle der
Würmer gegangen ist und dies auch noch viele Male tun wird“.
Das ist eine bemerkenswerte Leistung für ein Lebewesen, das blind
und taub ist, weder Rückgrat noch Zähne hat und eine Länge von nicht mehr als fünf bis sieben Zentimetern aufweist. Die damaligen
Wissenschaftler konnten das kaum glauben und gaben umgehend
ihrer Skepsis Ausdruck.
Darwin kannte diese Kritik schon von den Reaktionen auf die
erste Abhandlung her, die er der Geographical Society vorgestellt
hatte, und nutzte die günstige Gelegenheit, um seine Kritiker zu
widerlegen und ihnen gleichzeitig in Erinnerung zu rufen, mit
wem sie es zu tun hatten. Schließlich hatte er fast sein ganzes Leben
lang um Akzeptanz für seine Evolutionstheorie gekämpft, und für
ihn lagen die Parallelen zwischen seiner Arbeit zum Thema Evolution
und zu den Würmern auf der Hand.
Ein Wissenschaftler schrieb beim Rückblick auf Darwins Werk:
„Der Schlüssel zu seinem Genie war die Fähigkeit, seine Vorstellungskraft
so auszudehnen, dass sie geologische Zeiträume erfassen
konnte – Tausende von Jahren, Hunderttausende von Jahren.“ Er
war in der Lage zu begreifen, dass winzige, schrittweise Umweltveränderungen
die Evolution einer Art herbeiführen konnten. Es
war genau dieser Ansatz, der ihm erlaubte zu verstehen, dass der
Boden im Lauf der Zeit durch die Anstrengungen von Regenwürmern
umgewandelt werden konnte.
„Hier haben wir“, schrieb er im Blick auf seine Gegner, „ein
Beispiel jener Unfähigkeit, die Wirkungen einer ständig wiederkehrenden
Ursache aufzusummieren, einer Unfähigkeit, die den
Fortschritt der Wissenschaft schon oft aufgehalten hat, wie in früheren
Jahren im Fall der Geologie und in jüngerer Zeit im Fall des
Evolutionsprinzips.“ Er machte kurzen Prozess mit einem französischen
Wissenschaftler, der seinen Schlussfolgerungen, was die
Fähigkeiten der Regenwürmer betraf, nicht zustimmte, mit der gelassenen
Bemerkung, der Franzose „muss wohl aus seiner Bewusstseinslage
heraus und nicht aufgrund von Beobachtung so argumentiert
haben“, denn Darwins eigene Beobachtungen stimmten mit der Wahrheit überein. Die Kraft der Regenwürmer kam also
nicht aus ihrer individuellen, sondern aus ihrer kollektiven Stärke.
Dass man bei Regenwürmern zu einem solchen Fazit kommen
kann, wirkt überraschend egalitär und ist nur bei einem Mann
vorstellbar, der eine große Vision, aber auch eine große Zuneigung
zu den Lebewesen selbst besaß.
Unter den heutigen Regenwurmforschern ist Darwin so etwas
wie ein Prüfstein, eine Muse. Er schaute mit echtem Interesse in
den Boden hinein und behandelte die dunkle Erde wie das geheimnisvolle
unerforschte Reich, das sie ja wirklich ist. Er lebte in einer
für Forscher aufregenden Zeit: An allen Ecken und Enden der
Welt warteten exotische Pflanzen, Vögel und Fossilien auf ihre Entdeckung.
Er aber entschied sich dazu, unter die Erde zu schauen,
dem Regenwurm nachzuspüren. Heute wissen wir, dass Darwin nur
einen kleinen Blick auf die potenzielle Macht der Würmer erhascht
hat: Seine Schlussfolgerung, dass auf einem halben Hektar Land
mehr als 50 000 Würmer leben könnten, lag in Wirklichkeit viel
zu niedrig.
Wissenschaftler haben inzwischen nachgewiesen, dass diese
Zahl bei einer Million liegt. Die Regenwürmer im Niltal können
bis zu tausend Tonnen Wurmhumus pro halben Hektar ablegen,
was die erstaunliche Fruchtbarkeit der landwirtschaftlichen
Flächen in Ägypten erklären hilft. Wie Darwin gerade erst ansatzweise
vermutete, befördern Regenwürmer tatsächlich jedes Jahr
die oberen Zentimeter Erde durch ihr Gedärm. Das macht sie zu
Lebewesen, mit denen man rechnen muss, eine Kraft des Wandels
unter mehr Aspekten, als selbst er sich träumen ließ.
Im Lauf der letzten hundert Jahre haben Regenwurmforscher
(sogenannte Oligochaetologen nach der taxonomischen Klasse,
zu der die Regenwürmer gehören, den Oligochaeta) quantifiziert,
was die Bauern schon immer gewusst haben: dass Würmer nämlich die Erde durch ihre Aktivitäten substanziell verändern. Sie modifizieren
die Zusammensetzung der Erde, sie erhöhen ihre Fähigkeit,
Wasser zu absorbieren und zu halten, und sie bewirken einen
Zuwachs an Nährstoffen und Mikroorganismen. Kurzum, sie bereiten
den Boden für die Landwirtschaft vor. Sie arbeiten Seite an
Seite mit den Menschen; beide gewinnen ihren Lebensunterhalt
aus dem Land. Sie bewegen die Erde, eine bemerkenswerte Leistung
für ein Lebewesen, das nur ein paar Gramm wiegt.
Ein Regenwurm ist im Boden unterwegs; dabei schiebt er die
einen Partikel zur Seite, die anderen nimmt er auf. Wenn auch die
Teilchen, die er sich als Nahrung auswählt, bei flüchtiger Beobachtung
vielleicht alle gleich aussehen, geht der Wurm in Wirklichkeit
prüfend den Boden durch und wählt aus, immer auf der
Suche nach winzigen Stückchen vermodernder organischer Substanzen,
die er dann mit etwas Ton- oder Sandpartikeln verschluckt.
Während er sich fortbewegt, baut er eine dauerhafte Wohnröhre.
Nachts kommt er in der Röhre zur Oberfläche hoch und wirft um
den Eingang herum einen kleinen Hügel aus Exkrementen auf.
Er sucht nach Nahrung und holt sich Blätter, Kiefernnadeln und
anderen Gartenabfall in seine Röhre. Dieses simple Programm
reicht aus, um ihn beim Bauern oder Gärtner sehr beliebt zu machen.
Auf seiner nächtlichen Futtersuche agiert er wie ein kleiner,
äußerst wirkungsvoller Pflug.
Der Körper eines Regenwurms ist für sein Leben unter Tage
perfekt geformt. In der unterirdischen Welt muss man nicht sehen
können; Lichtempfindlichkeit ist alles, was ein Wurm braucht, um
sich nicht versehentlich aus seinem Lebensraum heraus zu verirren.
In den beengten Verhältnissen einer Röhre sind Lungen wenig
sinnvoll; stattdessen atmet der Regenwurm durch seine Haut; er
tauscht Sauerstoff gegen Kohlendioxid und verlässt sich darauf, dass die feuchten Bedingungen ihm bei der Absorption des Sauerstoffs
in ähnlicher Weise behilflich sind, wie das feuchte Innere
einer Säugetierlunge den Übergang von Luft in den Körper erleichtert.
Seine Form macht den Regenwurm zu einem ungewöhnlich
guten Behälter für Erde. Er ist bestens geeignet, Erde aufzunehmen,
zu transportieren und umzuwandeln.
„Der Pflug ist eine der ältesten und wertvollsten Erfindungen
des Menschen; aber eigentlich wurde das Land schon lange vor
dessen Erscheinen regelmäßig gepflügt; das geschieht auch weiterhin,
und zwar durch den Regenwurm“, schrieb Darwin. Obwohl
er sich mit vielen Aspekten zu Biologie und Verhalten des Regenwurms
beschäftigte, war der illustre Forscher doch ganz besonders
fasziniert von dessen Fähigkeit, die Erde zu durchzusieben und
zu sortieren. Er beobachtete die Regenwürmer, wie sie nachts aus
ihren Röhren auftauchten und Zweige und Blätter hineinzogen
oder sogar kleine Steine über einen Kiesweg zerrten, bis diese an
der Öffnung der Röhre einen Haufen bildeten. Er schlich sich
hinaus
und zog aus den Röhren den Stöpsel heraus, und zwar aus
so vielen, dass er nun sicher wusste, dass die Würmer gleich dahinter
lagen. Ihre Köpfe waren leicht erkennbar, direkt unter der
Oberfläche. Versteckten sie sich vor Fressfeinden? Ging es darum,
das Regenwasser draußen zu halten? Vielleicht schützten sie sich
auch einfach nur vor der kalten Nachtluft. Was auch immer der
Grund für dieses Verhalten war, dieses nächtliche Sammeln von
Material und das systematische Hereinholen von Blättern und
Verstopfen der Röhren waren ein klarer Beweis für ihre unerwartete
physische Kraft und technische Geschicklichkeit.
Angenommen, jemand hätte vor, Blätter oder Zweige in ein
Loch hineinzuziehen, so Darwins Überlegung, dann würde er das
Objekt an seinem schmalsten Ende packen und hereinholen. Wäre
das Objekt lang und dünn wie das Loch selbst – also zum Beispiel ein Zweig oder Stiel –, würde er wahrscheinlich das dickste,
schwerste Ende zuerst hineinziehen. Mit Instinkt allein konnte
man die Art und Weise, wie ein Wurm Material für seine Röhre
auswählte, ganz sicher nicht erklären. Es musste Intelligenz sein,
was ihn leitete, stellte Darwin fest. Wenn die Würmer im Umkreis
ihrer Röhren nach heruntergefallenen Blättern und Zweigen griffen,
wählten sie das beste verfügbare Material aus. Sie bewerteten,
sie experimentierten, sie trafen Entscheidungen.
Ich sage das bewusst noch einmal: Sie trafen Entscheidungen –
wirkliche Entscheidungen; und die trafen sie, nachdem sie mehrere
Möglichkeiten ausprobiert hatten und dann diejenige auswählten,
die für die jeweilige Situation die beste zu sein schien. Dies ist
vielleicht die verblüffendste Entdeckung in Darwins Buch. Zweifellos
hatten die Regenwürmer dies alles schon seit Ewigkeiten so
gemacht; nun aber bekamen sie einen neuen und unerwarteten
Fürsprecher in Charles Darwin. Er verfügte über Zeit, Ressourcen
und die wissenschaftliche Methode, um zu beweisen, dass die Aktivitäten
der Regenwürmer nicht allein auf den Zufall zurückzuführen
waren.

Wie Orchideen und Lilien nach Europa kamen

Pflanzenjäger

In fernen Welten auf der Suche nach dem Paradies

Durch Pflanzenjäger wurden europäische Gärten zu blühenden Paradiesen, kamen exotische Pflanzen in unsere Gewächshäuser und Wintergärten. Wer waren die Männer und Frauen, die oft unter Lebensgefahr ferne Länder bereisten, um „grünes Gold“ zu erbeuten? Zu den berühmtesten gehören Alexander von Humboldt und Adelbert von Chamisso. Die Autorinnen erzählen von wissenschaftlicher Neugier und Ehrgeiz, von Gewinnstreben und Abenteuerlust, von aufregenden, gefährlichen Reisen und wunderbaren Pflanzen.

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Das etwas andere Gartenbuch

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Gemeine GewächseGemeine Gewächse

Das A bis Z der Pflanzen, die morden, verstümmeln, berauschen und uns anderweitig ärgern

Ein Baum, der Giftpfeilen abfeuert. Ein leuchtend roter Samen, der den Herzschlag stoppt. Ein Strauch, der unerträgliche Schmerzen verursacht, eine Kletterpflanze, die berauscht, ein Blatt, das einen Krieg auslöst. Dieses Buch hält alle wichtigen Informationen zu den fiesesten Pflanzen, den bösesten Blumen und gemeinsten Gewächsen bereit: Sie lauern nicht nur in fernen Ländern, sondern direkt in unseren Vorgärten und Wohnzimmern. Amy Stewart erzählt uns von diesen botanischen Teufeleien und gleichzeitig aus Geschichte, Literatur, Politik und Sage. Ein Buch wie aus Harry Potters Handbibliothek, eine Chronik des Skurrilen und des alltäglichen Zaubers.

Seien Sie gewarnt

Ein Baum, der Giftdolche abfeuert. Ein leuchtend roter Samen, der den Herzschlag stoppt. Ein Strauch, der unerträgliche Schmerzen verursacht, eine Kletterpflanze, die berauscht, ein Blatt, das einen Krieg auslöst: Im Reich der Pflanzen lauern unermessliche Gefahren. 1844 beschrieb Nathaniel Hawthorne in seiner Erzählung „Der Garten des Bösen“ einen bejahrten Arzt, der einen verwunschenen, von Mauern umgebenen Garten pflegte. Sobald sich der alte Mann in der Nähe seiner Sträucher und Schlingpflanzen befand, war es, „als ginge er unter bösen Gewalten einher, wilden Furien, todbringenden Schlangen, bösen Geistern, von denen ihm furchtbares Unheil drohe im kleinsten unbeherrschten Augenblick“. Der Held der Geschichte, der junge Giovanni, beobachtete dies von seinem Fenster aus und fand es höchst beunruhigend, „diese Unsicherheit an einem Menschen zu beobachten, der einen Garten pflegt, bei dieser einfachsten und unschuldigsten aller menschlichen Beschäftigungen“. Unschuldig? So sah Giovanni die üppige Vegetation unter seinem Fenster, und genauso nähern sich die meisten von uns den Pflanzen in unseren Gärten und in der freien Natur: mit blindem Gottvertrauen. Nie würden wir aus einer am Straßenrand abgestellten Kaffeetasse trinken, doch auf Wanderungen naschen wir von unbekannten Beeren, als wären sie nur dazu da, unseren Hunger zu stillen. Wir brauen Arzneitee aus fremdartigen Rinden und Blättern, die uns ein Freund geschenkt hat, und glauben, alles Natürliche könne nichts anderes als gesund sein. Und kommt ein Baby ins Haus, laufen wir los und besorgen Sicherheitskappen für die Steckdosen, übersehen aber die Zimmerpflanze in der Küche und den Strauch neben der Haustür – und das, obwohl allein in den USA jährlich gerade einmal 3900 Menschen durch Stromschläge zu Schaden kommen, während knapp 70 000 durch Pflanzen vergiftet werden. Sie können jahrelang im Garten arbeiten, ohne von der fatalen Wirkung des Eisenhuts auch nur zu ahnen, dessen strahlend blaue Blüten ein Gift enthalten, das zum Erstickungstod führt. Sie können meilenweit wandern, ohne je auf den Coyotillostrauch zu stoßen, dessen Beeren bei Verzehr eine langsame, aber tödlich verlaufende Lähmung verursachen. Doch eines Tages könnten auch Sie den dunklen Mächten des Pflanzenreichs gegenüberstehen. Und wenn das geschieht, sollten Sie vorbereitet sein.   ICH HABE DIESES BUCH nicht geschrieben, um den Menschen Angst einzujagen. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass es uns allen guttut, mehr Zeit in der Natur zu verbringen – allerdings sollten wir begreifen, welche Macht sie hat. Ich lebe an der zerklüfteten Küste Nordkaliforniens, und jeden Sommer schleicht sich der Pazifik im Rücken von Familien heran, die sich gerade noch eines unbeschwerten Tages am Meer erfreuten, und fordert Menschenleben. Wir, die hier leben, wissen, dass die sogenannten Schläferwellen ohne jede Vorwarnung töten können. Ich liebe das Meer, aber nie würde ich ihm den Rücken zukehren. Pflanzen verdienen dieselbe respektvolle Vorsicht. Sie können uns nähren und heilen, aber sie können auch zerstören. Einige der Pflanzen in diesem Buch haben eine wahrhaft skandalträchtige Geschichte. Ein Unkraut tötete Abraham Lincolns Mutter. Ein Strauch hätte beinahe Frederick Law Olmsted, Amerikas berühmtesten Landschaftsarchitekten, das Augenlicht gekostet. Eine blühende Blumenzwiebel ließ die Männer der Lewis-und-Clark-Expedition erkranken, Schierling tötete Sokrates, und das gemeinste aller Gewächse – Tabak – hat 90 Millionen Leben gekostet. Ein anregender kleiner Busch in Kolumbien und Bolivien, Erythroxylum coca, hat einen weltweiten Drogenkrieg angezettelt, und in einem der ersten Fälle chemischer Kriegsführung setzten die alten Griechen Nieswurz ein. Aber auch Pflanzen mit sagenhaft schlechten Manieren verdienen es, hier erwähnt zu werden: Kudzu hat im amerikanischen Süden ganze Autos und Gebäude verschlungen, und ein Seegras, bekannt als Killeralge, erstickt weltweit die Meeresböden, seit es aus Jacques Cousteaus Aquarium in Monaco entkommen konnte. Die abscheuliche Leichenblume riecht nach Verwesung, die Fleischfressende Nepenthes truncata kann ganze Mäuse verspeisen, und die Flötenakazie beherbergt Armeen von aggressiven Ameisen, die jeden angreifen, der sich dem Baum auch nur nähert. Sollte dieses Buch Sie gleichzeitig unterhalten, warnen und aufklären, habe ich alles richtig gemacht. Ich bin weder Botanikerin noch Wissenschaftlerin, sondern eine naturbegeisterte Autorin und Gärtnerin. Für dieses Buch habe ich unter Tausenden von Pflanzen rund um den Globus die faszinierendsten und gemeinsten ausgewählt. Und für die, die sich für die Bestimmung giftiger Pflanzen interessieren, habe ich einige Lesetipps im Literaturverzeichnis zusammengestellt. Falls Sie glauben, jemand wurde durch eine Pflanze vergiftet, verlieren Sie bitte keine wertvolle Zeit, indem Sie dieses Buch nach Symptomen oder Diagnosen durchforsten. Wenn ich auch die möglichen oder wahrscheinlichen Wirkungen vieler Toxine beschreibe, so hängt ihre tatsächliche Stärke doch von vielen Faktoren ab: Wann und wie wurde welcher Teil der Pflanze bei welcher Temperatur gegessen? Versuchen Sie erst gar nicht, es selbst herauszufinden. Rufen Sie lieber den Giftnotruf Ihrer Stadt an oder suchen Sie schleunigst einen Arzt auf. Und schließlich: Experimentieren Sie nicht mit unbekannten Pflanzen und unterschätzen Sie nicht deren Macht. Tragen Sie während der Gartenarbeit Handschuhe. Überlegen Sie es sich gut, ob Sie wirklich diese Beere am Wegesrand hinunterschlucken oder jene Wurzel in den Suppentopf werfen wollen. Sollten Sie kleine Kinder haben, bringen Sie ihnen bei, keine Pflanzen in den Mund zu nehmen. Sollten Sie Tiere haben, entfernen Sie giftige Pflanzen aus ihrer Umgebung. Die Gartenbaubranche kennzeichnet giftige Pflanzen leider nur sehr lax. Teilen Sie dem Gartencenter Ihres Vertrauens mit, dass Sie gut sichtbare und präzise beschriftete Schilder an gefährlichen Pflanzen begrüßen würden. Verwenden Sie verlässliche Quellen zur Bestimmung giftiger, heilkräftiger und essbarer Pflanzen. (Im Internet kursiert eine Unzahl an Falschinformationen, mit tragischen Folgen.) Ich habe mich nicht davor gescheut, Pflanzen mit berauschender Wirkung aufzunehmen, allerdings, um vor ihnen zu warnen, keinesfalls, um zu ihrem Gebrauch zu ermutigen. ICH GESTEHE, DASS mich das kriminelle Element im Reich der Pflanzen magisch anzieht, und ich auf einer Gartenshow von einem Prachtexemplar der Euphorbia tirucalli, des Bleistiftstrauchs, dessen Milchsaft Striemen auf der Haut hinterlässt, genauso fasziniert bin wie von einer halluzinogenen Mondblume, Datura inoxia, die einsam in der Wüste blüht. Es hat etwas Betörendes, ihre dunklen kleinen Geheimnisse zu kennen. Und diese Geheimnisse lauern nicht nur in entlegenen Dschungelwelten. Sie warten im heimischen Garten.

 

Alraune

MANDRAGORA OFFICINARUM FAMILIE: Solanaceae (Nachtschattengewächse)
HABITAT: Felder und sonnige Freiflächen
VERBREITUNG: Europa
NAMEN: Satansapfel  

Geh, fang einen Stern, der fällt, Schwängere mir den Alraun, Sag, wo blieb die Zeit der Welt? Wer hat des Teufels Huf zerhaun? John Donne

Die Alraune mag zwar nicht der verschlagenste Verbrecher aus der Nachtschattenfamilie sein, aber sie hat ganz sicher den fürchterlichsten Ruf. Oberirdisch ist sie eine unscheinbare kleine Pflanze mit einer 30 Zentimeter hohen Blattrosette, blassgrünen Blüten und leicht giftigen Früchten, die kleinen unreifen Tomaten ähneln. Doch die Macht der Alraune verbirgt sich unter der Erde. Ihre langen spitzen Wurzeln wachsen bis zu einem Meter tief und verzweigen sich wie Karotten, die in steiniger Erde wachsen. In der Antike sagte man, die gegabelte haarige Wurzel sähe wie eine teuflische kleine Person aus. Die Römer glaubten, mit Alraunen Dämonen austreiben zu können, und die Griechen meinten, eine Ähnlichkeit zum männlichen Glied zu erkennen und nutzten die Wurzel folglich als Potenzmittel. Weit verbreitet war auch der Glaube, dass die Alraune zu kreischen begänne, sobald man sie aus der Erde zog – so laut, dass ihre Schreie jeden töten würden, der sie hörte. Flavius Josephus, ein jüdischer Historiker aus dem 1. Jahrhundert vor Christus, beschrieb in seinen Schriften eine Möglichkeit, die schrecklichen Schreie der Alraunen zu überleben. Man band einen Hund an den Fuß der Pflanze und sein Besitzer zog sich auf eine sichere Entfernung zurück. Sobald der Hund loslief, würde er die Wurzel aus dem Boden reißen. Selbst wenn die Schreie ihn töten sollten, könnte man im Anschluss die Wurzel auflesen und verwerten. Alraunen wurden mit Wein zu einem starken Beruhigungsmittel vermischt, mit dem man auch Feinden zusetzen konnte. Während einer Schlacht um die nordafrikanische Stadt Karthago entwickelte der Feldherr Hannibal circa 200 v. Chr. eine Frühform chemischer Kriegsführung, als er sich aus der Stadt zurückzog und ein Festbankett hinterließ, dessen Getränk aus Mandragora bestand, einem betäubenden Wein, der mit Alraunen angereichert war. Die afrikanischen Krieger tranken und schliefen bald, bis sie von Hannibals zurückkehrenden Truppen hinterhältig überfallen und getötet wurden. William Shakespeare dachte vielleicht an dieses Ereignis, als er dem Gift in Romeo und Julia eine Rolle auf den Leib schrieb. Der Mönch übergibt Julia mit dem folgenden düsteren Versprechen ein Schlafmittel:   Der Lippen und der Wangen Rosen werden Wie Asche fahl; die Augenlider sinken, Wie wenn der Tod abschließt den Lebenstag; Die Alraune verdankt ihre einschläfernde Magie vielen jener Alkaloide, die auch ihre Nachtschatten-Cousins zu einer tödlichen Plage machen. (Alkaloide sind organische Verbindungen mit oftmals pharmakologischer Wirkung auf den menschlichen und tierischen Organismus.) Atropin, Hyoscyamin und Scopolamin sind Wirkstoffe dieser Pflanze, können das Nervensystem lähmen und einen komatösen Zustand herbeiführen. Hat man von der Frucht gegessen, kann das starke Gegengift Physostigmin helfen, das ironischerweise aus der noch giftigeren Kalabarbohne stammt. Familienbande: Zur berüchtigten Nachtschattenfamilie gehören u. a. Paprika, Tomaten und Kartoffeln, aber auch die Tollkirsche.

 

PFEILGIFTE

Ureinwohner in Südamerika und Afrika verarbeiten seit Jahrhunderten toxische Pflanzen zu Pfeilgiften. Der giftige Saft tropischer Ranken, auf eine Pfeilspitze gerieben, ist für Krieger und Jäger gleichermaßen eine wirkungsvolle Waffe. Viele Pfeilgifte, darunter der tropische Kletterstrauch Curare, verursachen Lähmungen. Die Lungen versagen ihren Dienst und das Herz hört auf zu schlagen, obwohl äußerlich noch keine Anzeichen eines Todeskampfes zu erkennen sind.

CURARE                                                                                                                                  Chondrodendron tomentosum Die robuste, holzige Kletterpflanze ist in ganz Südamerika zu Hause. Sie enthält das starke Alkaloid D-Tubocurarin, das die Muskeln bis zur Bewegungsunfähigkeit entspannt und somit ideal für Jäger ist, da es binnen kürzester Zeit die Beute lähmt, und getroffene Vögel einfach von den Bäumen fallen. Dabei kann Wild, das mit Curarepfeilen erlegt wurde, bedenkenlos verzehrt werden, weil das Toxin nur dann wirkt, wenn es direkt in den Blutkreislauf und nicht lediglich über den Verdauungstrakt in den Körper gelangt. Sollte das Tier (oder der Feind) nicht sofort geschlachtet werden, tritt nach wenigen Stunden der Tod durch Atemlähmung ein. Experimente an Tieren, die auf diese Weise vergiftet wurden, haben gezeigt, dass das Herz noch kurze Zeit nach Aussetzen der Lungentätigkeit weiter schlägt, obschon die arme Kreatur bereits tot zu sein scheint. Die Wirkung dieses Mittels entging auch den Medizinern des 19. und 20. Jahrhunderts nicht, als sie bemerkten, dass man damit Patienten während einer Operation hervorragend stillhalten konnte. Zwar hat Curare keine schmerzlindernde Wirkung, doch immerhin erlaubte es dem Arzt, seine Arbeit ohne die Störung durch wild um sich schlagende Patienten zu erledigen. Lediglich die Lungentätigkeit musste während der Operation mithilfe künstlicher Beatmung aufrechterhalten werden – die Wirkung des Curare ließ schließlich nach und es blieben keine dauerhaften Schäden zurück. Man benutzte die Extrakte der Pflanze in Kombination mit anderen anästhetischen Mitteln fast während des gesamten 20. Jahrhunderts, bis sie von neuen, verbesserten Medikamenten abgelöst wurden. Der Begriff curare bezeichnet allgemeiner eine Vielzahl von Pfeilgiften, die aus Pflanzen gewonnen werden, darunter:

GIFTBRECHNUSS                                                                                                                                      Strychnos toxifera Ein südamerikanischer Kletterstrauch und naher Verwandter des Strychninbaums Strychnos nux-vomica. Wie Curare verursacht er Lähmungserscheinungen. Beide werden oft zusammen verwendet. KOMBE                                                                                                                                                     Strophanthus kombe Die afrikanische Liane enthält ein Glykosid, das direkt auf das Herz wirkt. Zwar führen hohe Dosen zu Herzstillstand, in geringer Konzentration setzte man das Mittel jedoch bei Herzinsuffizienz oder Herzrhythmusstörungen ein. Als der Pflanzenforscher Sir John Kirk im 19. Jahrhundert für die königlichen Kew Gardens in London Kombeproben erwarb, nahm er versehentlich ein medizinisches Experiment auf sich: Durch Zufall gelangte etwas Pflanzensaft auf Kirks Zahnbürste, was er erst nach dem Zähneputzen durch den schnellen Abfall seines Pulsschlags bemerkte.

UPASBAUM                                                                                                                                                     Antiaris toxicaria Ein in China und anderen Teilen Asiens beheimatetes Mitglied der Maulbeerenfamilie. Rinde und Blätter produzieren einen hochgiftigen Milchsaft. Charles Darwins Großvater Erasmus behauptete, dass allein die Düfte dieses Baums jeden töten könnten, der sich auf zwei Meilen heranwagte. Zwar handelt es sich dabei nur um eine Legende, doch Hinweise auf die gesundheitsschädlichen Ausdünstungen des Upasbaums finden sich auch in Texten von Charles Dickens, Lord Byron und Charlotte Brontë. Eine Figur aus einem Roman Dorothy L. Sayers’ beschrieb einen Serienmörder als „Cousin ersten Grades des Upasbaums“. Wie auch andere Pfeilgifte enthält der Saft ein starkes Alkaloid, das zu Herzversagen führen kann.

ACOKANTHERA                                                                                                                                            Acokanthera spp. Dieser Busch gehört zur Familie der – nomen est omen – Hundsgiftgewächse und stammt aus Südafrika. Dort wurde er auf besonders hinterlistige Weise eingesetzt: Man schmierte seinen Saft auf die scharfkantigen Samen des Erdsternchens (Tribulus terrestris). Dieser Samen hat die Form eines Krähenfußes, einer einfachen Waffe mit meist vier spitzen Stacheln, von denen einer immer nach oben zeigt. Eisenvarianten dieser Waffe sind seit der Römerzeit in Gebrauch: Zur Verteidigung schleuderte man sie einfach in die Laufwege sich nähernder Feinde. Ähnlich bohren sich auch mit Acokanthera beschmierte Erdsternchensamen rasch in die Füße der Angreifer und bremsen mit ihren zentimeterlangen Dornen merklich deren Elan.

„Ein sinnliches und poetisches Buch voller Lust und Leidenschaft." - Mitteldeutscher Rundfunk

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