Einführung
Ursprünglich habe ich Paläoökologie studiert.
Mit dieser Bemerkung habe ich noch jedes Partygespräch zuverlässig zum Erliegen gebracht, weil die wenigsten Menschen wissen, was das sein soll (ganz zu schweigen davon, wie man das schreibt).
Tatsächlich handelt es sich um einen faszinierenden Zweig der Wissenschaft, der anhand versteinerter Pflanzenüberreste rekonstruiert, wie sich die Vegetation im Laufe der Zeit durch klimatische Veränderungen, menschliche Einwirkung und andere Umwelteinflüsse verändert hat. Daraus lassen sich wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen, etwa zum Landschaftsbild der Vorzeit oder zur Frage, wie die Flora auf Klimawandel reagiert. Das bedeutete allerdings, dass ich mich ausschließlich mit längst toten Pflanzen beschäftigte. Der Löwenanteil meiner Arbeit fand unter dem Mikroskop statt, durch dessen Okular ich meinen Blick auf pflanzliches Material richtete, das oft mehrere Tausend Jahre alt war und seine ursprüngliche Farbe, seine Gestalt und seinen Geruch längst eingebüßt hatte. Versteinertes Pflanzenmaterial hat oft seine eigene Schönheit – vor allem versteinerte Pollen (zu meinen Lieblingen zählt der Gänseblümchenpollen, der an eine Vulkanlandschaft erinnert, aber auch das von Mondkratern übersäte Pollenkorn des Knöterichs sowie die stachelige Aster und die dreieckige Myrte) –, doch im Alltag beschränkte sich mein Umgang mit lebenden Pflanzen weitgehend auf das Gießen der traurigen Basilikumtöpfe vor meinem Küchenfenster und die Freude an den Bäumen, an denen ich beim Radfahren ins Büro vorüberstrampelte.
Meine berufliche Beziehung zu Pflanzen erweiterte sich beträchtlich, als ich Gründungsdirektorin des Instituts für Biodiversität an der Universität Oxford wurde. Das Institut, das heute in das weitgespannte Oxford Biodiversity Network eingebunden ist, trug dazu bei, eine solide wissenschaftliche Basis zu schaffen, auf deren Grundlage Strategien zum Schutz der unglaublichen biologischen Vielfalt unserer Erde entwickelt werden können. Meine Perspektive verschob sich ins Globale: Wir wollten herausfinden, welche ökologischen und evolutionären Vorgänge die Bedingungen schaffen, unter denen Ökosysteme Widerstandsfähigkeit und Beständigkeit entwickeln und irreversible Veränderungen verhindert werden können. Und doch nahm mein täglicher Umgang mit lebenden Pflanzen dadurch nicht wesentlich zu.
Das änderte sich im Jahr 2013, als ich von Oxford abgeordnet wurde, die wissenschaftliche Leitung der Königlichen Botanischen Gärten in Kew, London, zu übernehmen. Fünf Jahre lang war ich von Pflanzen umgeben: von den Rasenanlagen und Beeten der öffentlichen Gärten vor meinem Bürofenster über die Gewächshäuser mit Palmen aus aller Welt bis hin zu den japanischen Gärten, den Mittelmeergärten und noch vielen mehr. In einer einzigen Mittagspause konnte ich einmal um die ganze Pflanzenwelt reisen. Durch diesen täglichen Umgang mit Pflanzen änderte sich auch mein Verhältnis zu ihnen. Sie erschienen mir in einem ganz anderen Licht, nicht mehr nur flach auf die Seiten der Fachliteratur gedruckt oder als großes, abstraktes Ökosystem. Ich war in einem Paralleluniversum gelandet. Und ich war überrascht, wie viele Besucher die Pflanzen nicht nur kurz ansahen oder an ihnen vorüberspazierten, sondern stehen blieben, um ihren Duft einzuatmen, sich in ihrem Schatten zu erfrischen, die Blätter zu berühren und die Rinde zu streicheln, ohne sich im Geringsten um die strengen englischen Verbotsschilder zu kümmern, auf denen „Bitte nicht berühren“ oder „Rasen betreten verboten“ stand. Ich begann, sie ebenso zu ignorieren.
Mit der Zeit hörte ich auf, während meiner Streifzüge durch die Gärten von Kew auf die lateinischen Pflanzennamen zu achten oder zu versuchen, die jeweilige Pflanzenfamilie zu bestimmen (was nicht heißt, dass mir derartige Details keine Freude mehr machen). Vielmehr begann ich, im Geiste die Pflanzen nach ihrer Statur, Blattform, Farbe, Oberfläche einzuordnen, nach ihrem Geruch, ja sogar nach dem Geräusch, das ich hörte, wenn der Wind um sie strich. Jetzt betrachtete ich die Pflanzen nicht mehr bloß durchs Mikroskopobjektiv, sondern als Wesen mit einer komplexen Rolle innerhalb eines Ökosystems. Sie waren für mich „lebendig“ geworden, erlebbar mit allen meinen Sinnen.
Und noch etwas bemerkte ich auf meinen mittäglichen Runden: Ich fühlte mich glücklicher, ruhiger, klarer im Kopf. Ich empfand meinen Spaziergang durch die Gärten als so heilsam, dass ich mir bald auch an stressigen Tagen die Zeit für ihn nahm, weil er in mir ein so tiefes Gefühl des Wohlbefindens heraufbeförderte. Und es entging mir nicht, dass ein Straßenspaziergang von gleicher Dauer nicht die gleiche Wirksamkeit entfaltete. Diese hing eindeutig mit der Umgebung zusammen, in der ich mich bewegte.
Ich dachte nicht weiter über meine persönlichen Beobachtungen nach, bis man mich bat, einen Text für ein internationales Projekt zu verfassen, das sich mit den Vorteilen beschäftigte, die wir als Gesellschaft aus Pflanzen ziehen. Ich wurde nach konkreten Beispielen für die gesundheitlichen Vorteile gebeten, die der tägliche Umgang mit Pflanzen mit sich bringt – etwa die Rolle von Stadtbäumen, die Feinstaub aus der Luft filtern und so die Luftqualität verbessern.
Beim Durchforsten der Archive stieß ich kurioserweise immer wieder auf Erwähnungen einer bestimmten Studie. Sie war im Jahre 1984 in der Zeitschrift Science erschienen und drehte sich um die bemerkenswerte Beobachtung, dass Gallenblasenoperierte, deren Krankenbett einen Blick auf Bäume bot, sich schneller erholten als diejenigen, deren Fenster auf nacktes Mauerwerk hinausgingen.[i] Auch ihr seelisches Befinden nach Operationen war besser und der Bedarf an starken Schmerzmitteln geringer. Erstaunlicherweise kam die Studie zu dem Schluss, dass der bloße Anblick von Pflanzen sich vorteilhaft auf die Gesundheit der Genesenden auswirken kann. Diese Untersuchung unterschied sich insofern von allem, was ich vorher zum Thema gelesen hatte, als sie nahelegte, dass es nicht die Pflanze selbst oder ihr Einfluss auf ihre Umgebung waren, die diese positive Wirkung auf den Genesungsverlauf auslösten, sondern dass es eine unmittelbarere Beziehung zwischen unserer sinnlichen (hier: visuellen) Erfahrung der Pflanze und gesundheitlichen Auswirkungen gab.
Jetzt wollte ich es genauer wissen. Je mehr ich mich vertiefte, desto mehr wissenschaftliche Belege fand ich, dass neben dem Anblick auch das Riechen, Hören und sogar Berühren bestimmter Pflanzen messbare (und manchmal lang anhaltende) Prozesse in Gang setzen können, die sich positiv auf Körper und Geist auswirken.
Aber wissen wir nicht schon seit Langem, dass der Umgang mit Pflanzen uns guttut? Dieser Meinung wenigstens sind Schriftsteller und Philosophen zu allen Zeiten gewesen. Die Stoa beispielsweise, eine Denkschule, die auf den griechischen Philosophen Zenon von Kition im 4. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht, vertrat die Auffassung, das Individuum müsse im Einklang mit der Natur leben, um eine „philosophische“ Geisteshaltung einnehmen zu können, in der der Mensch richtig denken und gedeihen könne. Ungefähr im 6. Jahrhundert v. Chr. machte es Siddhartha Gautama zu einer Kernthese des Buddhismus, dass Meditation zur Erleuchtung führen könne, wenn jene mit den Rhythmen der Natur im Gleichtakt stehe; als idealer Ort, um diese Form der geistigen Übung zu praktizieren, galten insbesondere Wälder. Die gotische Architektur des Christentums integrierte in ihre aufragenden Säulen und Gewölbedecken die Formen von Bäumen und weitgespannten Ästen, um über die Betrachtung von Naturbildern die Augen der Gläubigen gen Himmel zu lenken. Und die Dichter der Romantik schilderten, wie die „Macht der Harmonie“, die die Natur bot, dem „Lärm der Städte“ (in Wordsworths Worten) „ruhiges Genesen“ entgegensetzen konnte.
In jüngerer Zeit vertrat Edward O. Wilson, ein bedeutender Ökologieprofessor an der Universität Harvard, in seinem 1984 erschienenen Werk Biophilia die Ansicht, dass unsere angeborene Neigung zur Natur ein evolutionäres Überbleibsel sei, das entscheidend zu unserer Gesundheit, Leistungsfähigkeit und unserem Wohlbefinden beiträgt.[ii] Er regte an, die Natur nicht nur aus materiellen Erwägungen zu bewahren und wiederherzustellen, sondern auch wegen ihres positiven Einflusses auf das menschliche Wohlbefinden.
Diese evolutionäre Hypothese hat in den letzten Jahrzehnten reichlich Gegenwind erfahren.[iii] Was, so ließ sich einwenden, hatten unsere frühzeitlichen Vorfahren davon, dass sie im Grünen entspannter waren? Natürlich konnte eine bestimmte Art von Vegetation Schutz und Nahrung bieten und somit weniger Stress bedeuten, doch daraus folgte noch lange nicht, dass der Anblick einiger grün belaubter Bäume in der Landschaft die frühmenschlichen Überlebenschancen signifikant steigerte. Die wissenschaftliche Beweislage zur These, unsere Wahrnehmung der Pflanzenwelt sei mit unserer Gesundheit verknüpft, war wenig eindeutig, weswegen manche Skeptiker die Idee als „Hokuspokus“ und deren Verfechter als „Bäumeumarmer“ verspotteten.
Doch nach und nach werden diese Zwischenrufe leiser. Das liegt zum großen Teil daran, dass es der jüngeren Forschung zunehmend gelingt, die schwer zu greifenden Belege für einen direkten Zusammenhang zwischen positiven gesundheitlichen Entwicklungen und dem Zusammenspiel unserer Sinnesorgane mit der Pflanzenwelt zu erbringen. Meine Recherchen zeigten mir schnell, dass sich gerade ein ganz neuer Wissenschaftszweig herausbildete, der eine nicht zu überschätzende medizinische Verbindung zwischen unserer sinnlichen Wahrnehmung der Natur und unserer Gesundheit aufzeigt.
Dieser Trend spiegelt sich in der Geschichte des japanischen Shinrin-Yoku oder „Waldbadens“ wider. Das Wort setzt sich aus drei japanischen Schriftzeichen zusammen: 森林浴. Das erste (森) steht für einen Wald, dargestellt durch drei Bäume. Das zweite (林) stellt ein Gehölz aus zwei Bäumen dar. Das dritte (浴), das für „baden“ steht, zeigt ein Haus mit fließendem Gewässer auf der linken und einem Tal auf der rechten Seite. Shinrin-Yoku bedeutet wörtlich „die Atmosphäre des Waldes mit allen Sinnen aufnehmen“. Sowohl das Wort als auch die Handlungen, die es beschreibt, klingen nach einer jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealten Tradition. Tatsächlich wurde der Begriff in den 1980er-Jahren als Werbeslogan geschaffen, um Besucher in die zahlreichen prächtigen Wälder Japans zu locken. Allen großspurigen Werbeversprechen zum Trotz mangelte es damals weitgehend an wissenschaftlichen Belegen für die gesundheitsfördernde Wirkung des Waldbadens.
Erst Anfang der 1990er machten sich mehrere namhafte Forschungsteams aus Japan daran, diese Hypothese zu beweisen.[iv] Dazu führten sie unter anderem eine Reihe umfangreicher medizinischer und psychologischer Tests durch, bei denen einige Versuchspersonen im Wald spazieren gingen oder dort einfach nur saßen, während andere im gleichen Zeitraum dasselbe in einem nahe gelegenen Stadtgebiet taten. Die Ergebnisse hätten eindeutiger nicht sein können. Teilnehmer, die eine Viertelstunde im Wald unterwegs waren, hatten im Vergleich zu denjenigen im Stadtgebiet um 16 Prozent geringere Mengen des Stresshormons Kortisol im Speichel, und ihre Herzfrequenz und ihr Blutdruck sanken signifikant. Auch eine deutliche Aktivitätssteigerung des parasympathischen Nervensystems (wie sie von Entspannungsphasen bekannt ist) wurde bei den Waldspaziergängern oder den im Wald Sitzenden gemessen. Anschließend gaben die Probanden an, sich seelisch entspannter und insgesamt besser gelaunt zu fühlen. Dank neuer wissenschaftlicher Belege gilt die Heilwirkung von Shinrin-Yoku heute als ernst zu nehmendes Phänomen.
Seit diesen frühen Versuchen sind vergleichbare Belegstudien zum medizinischen Nutzen des Waldbadens wie Pilze aus dem Boden geschossen.[v] Und obwohl diese Experimente überwiegend in Japan und China durchgeführt worden sind, hat sich die vorteilhafte Wirkung auch in anderen Teilen Asiens, in Europa und den USA nachweisen lassen – beispielsweise im Zusammenhang mit einer Verbesserung des Immunsystems, des Herz-Kreislauf-Systems und des Atemapparats sowie mit der Linderung von Depressionen, nervöser Unruhe und Stress.
Aber müssen wir uns zwingend in die Wälder begeben, um von dieser Wirkung zu profitieren, oder reichen dafür unsere städtischen Parkanlagen, ein Spaziergang durch Straßen mit Baumbestand oder das Jäten im eigenen Garten? Glücklicherweise haben wir dank Biobanken und Satellitenbildern endlich Datenmaterial in ausreichendem Maßstab und Umfang, um diese und andere Fragen zu beantworten.
Außerhalb des medizinischen Bereichs ist der Begriff „Biobank“ wenig bekannt – und doch zählen diese in den letzten Jahrzehnten gewachsenen „Banken“ zu den wohl bedeutendsten Datensammlungen überhaupt, wenn Trends und Muster in Bezug auf die menschliche Gesundheit erfasst, erforscht und verstanden werden sollen.
Bevölkerungsbiobanken bestehen, wie der Name verrät, aus zusammengetragenen Proben biologischen Materials (Blut, DNA usw.) sowie Anamnesen von einzelnen Personen quer durch die Bevölkerung, also nicht nur von denen, die man gezielt aufgrund einer bestimmten Krankheit erfasst hat. Einzelpersonen werden aufgerufen, zu diesen Bevölkerungsbiobanken beizutragen und ihre persönlichen Daten, Krankengeschichten und Gewebeproben dort ablegen zu lassen. Zudem gibt es einige Datenspeicher, die lediglich die öffentlich zugänglichen Daten bündeln (zum Beispiel Sterblichkeit und Todesursache). Dadurch bilden diese Banken gleichsam eine Momentaufnahme der Bevölkerung, einen Querschnitt durch Altersgruppen, Geschlecht, sozioökonomische Zugehörigkeit und Wohnort. Mittlerweile entwickeln zahlreiche Länder solche Datenbanken über die Gesundheit ihrer Bevölkerung. Ihr Potenzial, ein besseres Verständnis der Zusammenhänge zwischen Umwelt und menschlicher Gesundheit zu vermitteln, ist enorm.
Parallel zu den Bevölkerungsbiobanken ist eine weitere bedeutende Datenquelle entwickelt worden: Umgebungssensoren an Satelliten. Diese Sensoren sind in der Lage, Umweltdaten ganzer Kontinente in sehr hoher Auflösung (ein Pixel pro dreißig Meter) aufzuzeichnen. Dabei erweist sich eine bestimmte Satellitenmessung als besonders wertvoll, um die Zusammenhänge zwischen Natur und Gesundheit zu beleuchten: der „normalisierte differenzierte Vegetationsindex“, kurz NDVI, der die Gesundheit, also die Vitalität beziehungsweise den Grünheitsgrad der Vegetation an jedem Ort messen kann. Der NDVI wird anhand des Reflexionsgrads des sichtbaren „roten Lichts“ und aus dem „nahen Infrarotbereich“ berechnet, der bei gesunden und kranken Pflanzen unterschiedlich ist.
Derartige NDVI-Messungen haben einige der faszinierendsten Zusammenhänge zwischen Umwelt und menschlicher Gesundheit offenbart. Je grüner beispielsweise die Umgebung eines Hauses, desto geringer das Depressionsrisiko seiner Bewohner.[vi] Diese bahnbrechende Studie zeigte mithilfe des NDVI und der britischen Biobank, wie effektiv eine grüne Umgebung vor Depressionen schützen kann, selbst wenn Faktoren wie Alter, sozioökonomischer Status oder kulturelle Unterschiede berücksichtigt werden: Je grüner das Lebensumfeld eines Menschen, desto seltener und milder fielen die Diagnosen seelischer Krankheiten aus. Bei Frauen war dieser Zusammenhang noch ausgeprägter, insbesondere bei unter Sechzigjährigen und solchen, die in Gebieten mit niedrigem sozioökonomischen Status oder hoher Bebauungsdichte lebten. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen – wenn auch auf Grundlage kleinerer Stichproben – Städte in den Vereinigten Staaten, Spanien, Frankreich und Südafrika.
Eine weitere Studie, die sich auf breit gefächerte Gesundheitsdaten aus der Bevölkerung sowie Satellitenbilddaten stützte, fand einen Zusammenhang zwischen dem Absterben von Millionen Stadtbäumen und einer Übersterblichkeit von 21 000 Personen durch Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.[vii] Die Forscher stellten eine interessante Frage: Wirkt es sich negativ auf die Gesundheit der Bürger aus, wenn man Bäume – und damit auch ihr prächtiges grünes Laubwerk – aus dem Straßenbild entfernt? Sie stellten einen Zusammenhang zwischen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sowie der unteren Atemwege und der raschen Ausbreitung des Asiatischen Eschenprachtkäfers her, der die Alleen amerikanischer Städte heimsuchte. Die Plage, die befallene Bäume binnen zwei Jahren absterben lässt, wanderte in den 2000er-Jahren wellenförmig von Ost nach West und vernichtete dabei über 100 Millionen Eschen. Vergleicht man Zeitraum und Ort dieses Baumsterbens mit den geolokalisierten Sterblichkeitsdaten der Bevölkerung auf Kreisebene, so zeigen diese beiden umfangreichen Datensätze in den sukzessive vom Verfall betroffenen Staaten eine Übersterblichkeit von 6113 Todesfällen aufgrund von Atemwegserkrankungen und weiteren 15 080 Todesfällen in Zusammenhang mit dem Herz-Kreislauf-System. Der Effekt war umso stärker, je weiter der Befall voranschritt, und in Bezirken mit überdurchschnittlichem Haushaltseinkommen besonders ausgeprägt.
Zusammen bieten diese neuen Datensammlungsverfahren eine wahre Fundgrube an spezifischen Informationen, die von der Wissenschaft genutzt werden können, um individuelle Krankengeschichten und Befunde mit der Umgebung in Beziehung zu setzen, in der die betroffene Person lebt. Die Ergebnisse dieser Studie illustrieren das Potenzial, das in der neuartigen Verknüpfung und Analyse des Materials der beiden Datenbanken steckt. Das wird dramatische Auswirkungen auf uns als Individuen haben, aber ebenso auf alle politischen Entscheidungsträger, die sich mit Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungen- und Atemwegsschädigungen, Angststörungen, Depressionen und Suizid auseinandersetzen müssen. Allein im Vereinigten Königreich leben 7,6 Millionen Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen; weltweit sind sie die häufigste Todesursache. Und rund 15 Prozent der britischen Bevölkerung nehmen heute Antidepressiva. Das heute verfügbare Wissen gibt uns eine neue Waffe in die Hand, um diese Epidemien und Gesundheitskrisen der Moderne zu bekämpfen. Die empfohlenen Lösungen sind einfach, billig und niederschwellig. Das Rezept lautet: Natur.
Doch so wichtig die Massendatenuntersuchungen auch waren, um einen Zusammenhang zwischen Pflanzen und menschlicher Gesundheit herauszustellen, so wenig konnten sie erklären, was tatsächlich mit unserem Körper geschieht, wenn unsere Sinne mit Pflanzen interagieren. Sie können nur zeigen, dass es diesen Zusammenhang gibt, nicht aber, warum. An dieser Stelle begann für mich die eigentliche Detektivarbeit, ein Herzstück meines Buches. Ich wollte eine Erklärung dafür finden, was genau auf körperlicher und seelischer Ebene mit uns geschieht, wenn unsere Sinne – Sehen, Hören, Tasten, Riechen – mit der Natur in Austausch treten.
Ich vertiefte mich in die so umfangreiche wie faszinierende Forschungsarbeit, die über die letzten etwa zehn Jahre auf diesem Gebiet betrieben worden war, und widmete mich einer für mich völlig neuen akademischen Disziplin. Ich wollte wissen, was genau sich in unseren Gehirnen, in unseren Immun- und Herz-Kreislauf-Systemen abspielt, was mit unseren Hormonen und Atemwegen geschieht, wenn wir mit Pflanzen umgehen – und welche Reize diese Reaktionen auslösen. Ebenso wollte ich wissen, wie man sich am besten zu Pflanzen verhält – sowohl zu denen in der Wohnung als auch zu denen vor der Tür –, um körperlich und seelisch am meisten von ihnen zu profitieren.
Diese wissenschaftliche Reise war ausgedehnter als gedacht. Die Leute, die auf diesem Gebiet forschen, sind nicht nur Botaniker und Biologinnen, sie sind auch Ärztinnen, Stadtplaner und Gesundheitsbeauftragte der Regierung. Sie mögen aus vielen Ländern stammen, doch sie haben ein gemeinsames Ziel: Sie wollen die Mechanismen aufdecken, durch die unser Umgang mit der Natur sich positiv auf unsere Gesundheit auswirkt, und ihre Forschungsergebnisse nutzen, um Veränderungen in unserem alltäglichen Umgang mit der Natur, aber auch in politischen Entscheidungsprozessen herbeizuführen.
Dieses Buch nimmt Sie mit auf meine Forschungsreise, auf der ich versucht habe zu begreifen, welche Aspekte des Sehens, Riechens, Berührens oder Hörens der Natur unserer Gesundheit zuträglich sind – und wo noch Wissenslücken klaffen, die geschlossen werden müssen. Es lädt Sie aber auch ein, mich auf meiner persönlichen Reise zu begleiten – auf der ich gelernt habe, wie entscheidend die Umwelt meine Gesundheit und mein Wohlbefinden beeinflusst. Diese Reise hat mich darin bestärkt, die Vielfalt unseres Planeten zu bewahren und die Politik dazu zu bringen, Grünräume besser zu schützen, insbesondere in bebauten Gebieten, wo sie am dringendsten benötigt werden. Am Ende der Lektüre werden wir uns hoffentlich alle wie Spezialisten auf diesem Feld fühlen und unser Wissen einsetzen, um jeden Tag aufs Neue zu entscheiden, wie wir am besten in die Schönheit und die beruhigende Wirkung von Pflanzen und Grünflächen eintauchen.
Eine Bemerkung zum Schluss: Wenn die Corona-Pandemie etwas Gutes hatte, dann das von ihr neu entfachte Bedürfnis, Zeit in der Natur zu verbringen. Die Besucherzahlen der öffentlichen Gärten, Parkanlagen und Wälder sind auf dem ganzen Erdball in die Höhe geschnellt. Die Zahl der Hobbygärtner hat stark zugenommen, und der Absatz von Zimmerpflanzen ist deutlich gestiegen. Je düsterer und bedrückender die Lage wurde, desto mehr schien sich unsere Spezies wieder auf ihr angeborenes Bedürfnis zu besinnen, sich mit Pflanzen zu umgeben. Dieses Buch wird zeigen, warum das so ist. Ich hoffe, dass Sie, wenn Sie es zuklappen, die Bäumeumarmer in einem ganz neuen Licht sehen.
1 Grün vorm Fenster: Auf die Aussicht kommt es an
Den Film kennen wir alle: Die jugendliche Hauptfigur quält sich durch die Schulstunde und starrt aus dem Klassenzimmerfenster, verführt von sich wiegenden Bäumen und schnatternden Enten im nahen Park, bevor eine sarkastische Bemerkung vom Lehrerpult sie zurück in die schnöde Wirklichkeit reißt.
Vermutlich steckt in uns allen der Drang, aus dem Fenster zu starren, vor allem wenn es da draußen grünt und blüht. Aber wieso? Warum reizt uns der Blick in die Natur mehr als ein Klassenzimmer oder Arbeitsplatz? Will dieser übermächtige Reiz uns etwas sagen? Und haben Landschaften unterschiedlichen Charakters auch unterschiedliche Macht, uns aus dem Hier und Jetzt zu entführen, und sei es nur für einen Moment?
Werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit. In der Renaissance und der frühen Neuzeit stand die Landschaftsarchitektur in England und Europa ganz im Zeichen der Regelhaftigkeit und Ordnung, der geraden Linien und zweckmäßigen Anlagen wie Küchen- und Obstgärten oder Fischteiche. Anfang des 18. Jahrhunderts keimte die Kunst des englischen Landschaftsgartens auf, und alles wurde anders. Erst kam William Kent: Er „übersprang die Einhegung und sah, dass die ganze Natur ein Garten sei“.[viii] Ihm folgte Lancelot „Capability“ Brown, der die Grenzen zwischen Kunst und Natur verschwimmen ließ. Er war der Meinung, dass wir größere Freude an natürlich wirkenden, jedoch raffiniert gestalteten Parkanlagen hätten, mit sanften Hügeln, gesprenkelt mit sorgsam platzierten Bäumen, durchzogen von Flüsschen, über die sich elegante Steinbrücken schwingen, in der Ferne eingerahmt von einem grünen Horizont. Seine Arbeit erfreute sich ausgesprochener Beliebtheit, und seine Dienste wurden stark in Anspruch genommen: Nicht weniger als 270 Gartenanlagen werden ihm zugeschrieben.
Noch heute strömen wir in die von ihm geschaffenen Gärten und Parks. Ich wenigstens tue es. Häufig streife ich mit meiner Familie und den Hunden durch die Anlagen von Blenheim und Stowe, unweit meines Wohnorts. Letzten Sommer haben wir einen herrlichen Nachmittag in Chatsworth in Derbyshire verbracht. Alle drei Parks wurden von Brown entworfen und ausgeführt und weisen die gleichen Merkmale auf: weite Ausblicke über offene Landschaften, hie und da unterbrochen von Gehölzgruppen, zwischen denen immer wieder ein Blick auf ein Gebäude oder einen See zu erhaschen ist.
Wie der Herzog von Devonshire, der Hausherr von Chatsworth, 2016 in einem Interview sagte: „Ich glaube, den Besuchern ist es gleich, ob die Landschaft echt ist oder nicht – sie ist einfach da. Wenn man bedenkt, wie viel Unschönes es im Leben gibt, dann ist ein Ort wie dieser, wo man sich einfach in Ruhe besinnen und den Kopf freibekommen kann, für viele Leute einfach sehr wichtig.“[ix]
Aber tut uns so ein geistiger Frühjahrsputz denn auch in messbarer Weise gut? Ist ein bestimmter Blick in die Natur besser als ein anderer, und wenn ja, warum? Genau hier möchte ich ansetzen.
Eine Forschungsgruppe der Universität Illinois stellte sich die Frage, ob die Aussicht hinter dem Fenster einen Einfluss auf die kognitive Leistung und Erfolgsquote von Schülerinnen und Schülern hat (wobei nicht überliefert ist, ob diese Forschungsfrage aus Frust über das ständige Aus-dem-Fenster-Starren der eigenen Studentenschaft entstand).[x]
94 Schülerinnen und Schüler aus fünf Gymnasien wurden willkürlich auf drei Klassenzimmer verteilt. Diese waren von fast identischer Größe, Form, Beleuchtung und Ausstattung, doch jedes hatte eine andere Aussicht: eines auf eine Grünfläche mit Bäumen, das zweite auf eine nackte Mauer, und das dritte hatte keine Fenster. Die Kinder saßen mit Blick auf das Fenster beziehungsweise die Mauer und bekamen Aufgaben, die speziell darauf zugeschnitten waren, ihre Aufmerksamkeit zu evaluieren, darunter das Korrekturlesen eines Textes, ein Sprachtest sowie Subtraktionsaufgaben. Währenddessen wurde ihr Stressniveau aufgezeichnet, indem man Körpertemperatur und Herzfrequenzvariabilität ebenso maß wie den Hautleitwert – ein aussagekräftiger Stressmarker, da eine gesteigerte innere Anspannung auch unsere Schweißdrüsenaktivität ankurbelt, wodurch unsere Hautoberfläche wiederum den Strom besser leitet.
Faszinierenderweise zeigten sich nach Erledigung der Aufgaben deutliche Leistungsunterschiede, obwohl sämtliche Kinder mit vergleichbaren Konzentrations- und Stresswerten angetreten waren. Diejenigen, deren Fenster auf das Grün und die Bäume hinausgingen, schnitten deutlich besser ab als diejenigen, die keine Fenster hatten oder nur auf eine Wand blickten. Sie erholten sich auch viel rascher vom testbedingt erhöhten Stressniveau.
Selbst wenn man mögliche Störvariablen wie kulturelle und sozioökonomische Faktoren in Betracht zog, blieben die Ergebnisse statistisch belastbar und aussagekräftig: Kinder, die auf Grün hinausblickten, hatten bessere Konzentrationswerte und erholten sich schneller von höheren Stresswerten. Vor allem zeigte das Experiment, dass die Kinder sich nicht einmal in der Natur aufhalten mussten, um von ihr zu profitieren – es reichte die Natur vor dem Klassenzimmerfenster.
Und dieser Effekt ist nicht auf Kinder beschränkt. So machten Studierende nach einem nur vierzig Sekunden währenden Ausblick auf ein mit Pflanzen begrüntes Dach deutlich weniger Fehler in einer Prüfung und gaben ein gesteigertes inneres Wohlbefinden an. Ihre Aufmerksamkeit und ihre Erholung von geistiger Erschöpfung übertrafen bei Weitem die Ergebnisse, die sie erzielten, wenn sie über den gleichen Zeitraum hinweg auf ein kahles Betondach blickten.[xi] Selbst ein kurzer Blickschwenk ins Grüne, und sei er auch noch so flüchtig, scheint wirksam zu sein.
Was ist es also, was beim Blick in Naturlandschaften derartige Veränderungen in uns auslöst?
Beginnen wir mit den biologischen Grundlagen des Sehvorgangs, die uns (oder zumindest mir) vor etlichen Jahren in genau einem solchen Klassenzimmer vermittelt wurden wie zu Anfang des Kapitels beschrieben. Wenn wir etwas betrachten, dringt Licht erst durch die Hornhaut (das Durchsichtige ganz vorne am Auge), dann durch die Pupille (das Loch in der bunten Iris) und trifft dann auf die Linse. Die Linse bündelt das Licht auf der Netzhaut im hinteren Teil des Auges. Die Netzhaut besteht aus einer Schicht lichtempfindlicher Zellen, die das Licht in elektrische Signale verwandeln. Über den Sehnerv wandern diese dann ins Gehirn, das uns das Bild in das übersetzt, was wir sehen. Dabei können wir dank unserer Augenmuskulatur die Linsenform auf Nah- oder Fernsicht einstellen.
Was mir erst bei der Recherche zu diesem Thema aufging: Wenn wir etwas ansehen, folgen unsere Augen einem bestimmten Muster des Suchens und Scharfstellens. Blickerfassungssysteme (eine Kombination aus Infrarot- und Filmkameras, mit denen durch äußere Reize ausgelöste Blickbewegungen erfasst werden – zum Beispiel, wenn wir etwas betrachten) haben gezeigt, dass unsere Augen eine Von-grob-zu-fein-Strategie verfolgen, wenn wir uns Bilder, Architektur oder auch die Natur ansehen. Zuerst gleiten sie über das Gesamtbild und stellen dann scharf, konzentrieren sich auf die kleineren Details der Szene und fixieren bestimmte Punkte. Während jedes Fixiervorgangs wählen unsere Augen die wichtigsten Informationen aus und integrieren deren Merkmale (Form, Farbe, Richtung) in eine Gesamtwahrnehmung des Gegenstands. Diese visuelle Information setzt unser Gehirn dann in Bilder um. Dabei werden zahlreiche körperliche und psychische Reaktionen ausgelöst, je nach Gestalt, Gliederung und Farbe des Bildes, das wir vor uns haben. Sehen wir beispielsweise eine Riesenbestie von einem Hund auf uns zurasen, könnte dies sowohl einen erhöhten Stresspegel als auch eine Muskelreaktion auslösen, die unsere Beine in Bewegung setzt (wie wir zumindest hoffen wollen). Ein Blick in eine ruhige grüne Landschaft könnte das Gegenteil bewirken.
Die Erforschung der Ursachen eines erhöhten Stresspegels und möglicher Gegenmaßnahmen entwickelt sich gerade zu einem eigenen Zweig der Medizin. Das liegt daran, dass uns eine erhöhte Stressbelastung anfälliger für eine Vielzahl an Krankheiten macht: Herzinfarkte, Schlaganfälle, Krebs, Immunstörungen und hohe Entzündungswerte, chronische Erschöpfung und Depression.[xii]
Stress zeigt sich in unserem Körper auf drei Arten, die oft miteinander verschränkt sind. Erstens löst er Veränderungen in unserem Nervensystem (Gehirn, Rückenmark und peripherem Nervensystem) aus, wodurch sich Atemfrequenz und Puls unwillkürlich erhöhen und Blutgefäße sich verengen. Zweitens kann Stress unser endokrines System dazu bringen, aus verschiedenen Drüsen Hormone wie Kortisol und Adrenalin auszuschütten, um Energiequellen zu mobilisieren und Herzfrequenz und Blutdruck zu erhöhen. Drittens kann Stress unseren seelischen Zustand beeinflussen, was sich meist in innerer Unruhe, Depressionen und Niedergeschlagenheit manifestiert.
In Anbetracht all dieser negativen Auswirkungen ist es nur zu verständlich, dass die Suche nach Stresslinderung und -bewältigung einen wichtigen Zweig der Medizin bildet. Verbreitete Medikamente gegen Stresssymptome sind unter anderem Beruhigungsmittel, Betablocker, Antidepressiva und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Doch immer mehr Mediziner und Menschen in Heilberufen wagen sich an andere Zugänge und Behandlungen, sowohl um die Stresspegel zu senken als auch um von vornherein zu verhindern, dass sie überhaupt steigen. Und genau hier fördert der Blick in die Natur einige faszinierende Erkenntnisse zutage.
Die erste Erkenntnis ist die, dass der Anblick einer natürlichen Landschaft im Vergleich zu einer städtischen Umgebung, und sei es auch nur auf einem Computerbildschirm, beruhigend auf uns wirkt. Eine wissenschaftliche Forschungsgruppe am Zentrum für Umwelt, Gesundheit und Feldforschung an der Universität Chiba in Japan bat zum Beispiel Studentinnen, jeweils neunzig Sekunden lang das Foto eines Waldes beziehungsweise von Wolkenkratzern mit Bürogebäuden zu betrachten. Die Ergebnisse waren eindeutig:[xiii] Bei der Betrachtung des Naturfotos zeigte ihre Gehirnaktivität eine deutliche körperliche Entspannung, und ihre seelische Entspannung spiegelte sich in ihren Antworten im Fragebogen, wo sie durchweg gesteigerte Empfindungen von „Wohlbefinden“, „Entspannung“ und „Gelassenheit“ angaben. Es scheint, dass der Anblick von Natur in uns eine Reaktion auslöst, die uns ruhiger und weniger angespannt macht. Allerdings wurden diese und eine Reihe anderer Studien mit ähnlichen Ergebnissen an gesunden Personen durchgeführt, die in einem ruhigen Klassenzimmer saßen und Fotos auf einem Bildschirm betrachteten – wohl kaum die Umgebung, die den größten Stressfaktor bietet. Aber lassen sich die gleichen Wirkungen auch in einer „lebensnäheren“ Stresssituation erzielen, etwa an einem Arbeitsplatz mit hohem Leistungsdruck?
Hier kommt die zweite interessante Erkenntnis ins Spiel. Mehrere Studien haben unlängst gezeigt, dass wir beim Anblick von Natur viel schneller Stress abbauen als beim Anblick einer urbanen Szene. Ein schönes Beispiel hierfür sind die Ergebnisse eines Experiments, bei dem Büroangestellte aufgefordert wurden, hinter einem Schreibtisch Platz zu nehmen und sich eine Reihe von Bildern anzusehen, die entweder Naturszenen zeigten, wie man sie beim Blick aus einem Bürofenster erwarten könnte (Bäume, Rasenflächen), oder aber eine städtische Umgebung (Bürohäuser, Verkehrsstraßen usw.).[xiv] Anschließend wurden sie einem fünfminütigen Test unterzogen, der ihren körperlichen und geistigen Stresspegel erhöhte. Unter anderem mussten sie sich auf einem Bildschirm eine Zahlenreihe ansehen und diese dann binnen zehn Sekunden in der richtigen Reihenfolge aufschreiben. Den Teilnehmenden wurde angekündigt, dass bei jeder falschen Antwort ein Summer ertönen würde. Tatsächlich schrillte der Summer während des Tests zweimal völlig willkürlich, unabhängig von der Antwort. Mich würde das zweifellos erheblich stressen. Als körperliche Indikatoren ihres Stressniveaus wurden bei den Teilnehmenden ständig Atemfrequenz und -tiefe, Blutdruck und Herzfrequenz gemessen. Außerdem mussten sie zwei psychologische Fragebögen ausfüllen, einen vor und einen nach dem Stresstest.
Die Ergebnisse waren faszinierend. Wie erwartet zeigten sämtliche Teilnehmenden während des Tests erhöhte Stresspegel. Diejenigen jedoch, die vorher die Naturbilder betrachtet hatten, erholten sich deutlich schneller von der Anspannung als diejenigen, die die Stadtfotos bekommen hatten. Sie zeigten auch weniger Anzeichen von psychischem Stress.
Hieraus folgt natürlich, dass wir uns dringend Naturlandschaften anschauen sollten, wenn uns bei der Arbeit eine stressige Situation bevorsteht, entweder mittels Blick aus dem Fenster oder durch Fotos auf dem PC. Aber wie funktioniert das? Warum erholen wir uns zügiger, wenn wir Natur vor Augen haben?
Um das zu erklären, stellten der Umweltpsychologe Roger Ulrich und sein Team 1991 die Theorie zur Stressreduktion (Stress Reduction Theory, SRT) vor.[xv] Demnach haben wir zwei biologisch vorprogrammierte Reaktionen auf den Anblick von Natur: Erstens eine instinktive Vorliebe für Naturszenerien, denen wir unwillkürlich Aufmerksamkeit schenken. Und zweitens wird unser Wohlbefinden gesteigert. In Kombination löst der Anblick von Natur automatisch physische Reaktionen in unserem Körper aus, die zu rascherem Stressabbau führen. Der Anblick urbaner Motive hingegen löst nach dieser Auffassung keine solche Reaktion aus – ja, er kann, vor allem nach intensiven Stressphasen, die Stressregulation sogar hemmen. Seit sie erstmals vorgestellt wurde, ist diese Theorie durch zahlreiche Studien im Großen und Ganzen bestätigt worden: Wenn wir Naturszenerien betrachten, und sei es nur vom Bürofenster aus, lässt sich anhand körperlicher Indikatoren ein schnellerer Stressabbau feststellen.[xvi]
Noch nie war es so verlockend, einen Blick in den Garten zu werfen. Doch es scheint sich noch etwas ebenso Wichtiges abzuspielen, wenn wir ins Grüne schauen: Es steigert nämlich auch unsere geistige Fähigkeit, bestimmte Aufgaben zu meistern, also die sogenannten kognitiven Funktionen.
Mit „kognitiven Funktionen“ bezeichnet man die Vorgänge des Lernens, Denkens, Begründens, Sicherinnerns, Problemlösens, der Entscheidungsfindung und der Aufmerksamkeit. Während manche unserer kognitiven Funktionen mit dem Alter nachlassen, bleiben andere im Verlauf unseres Lebens weitgehend stabil, und einige, etwa unser Wortschatz, können im fortgeschrittenen Alter sogar zulegen. Zudem sind die kognitiven Funktionen und deren Leistungsfähigkeit von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich, ob es sich nun um Kinder, Heranwachsende oder Erwachsene handelt. Am wichtigsten ist an dieser Stelle jedoch der Hinweis, dass sie, völlig altersunabhängig, in mancher Hinsicht verbessert werden können – und genau hier setzen die Studien an, die die Auswirkungen eines Blicks in die Natur auf unsere Kognition untersuchen. Faszinierenderweise legt eine große Zahl jüngst erschienener Arbeiten nahe, dass der Anblick natürlicher statt urbaner Landschaften in Augenblicken der Muße nicht nur unser Arbeitsgedächtnis und unsere Aufmerksamkeitskontrolle schärft, sondern auch unsere geistige Flexibilität erhöht, also unsere Fähigkeit, zwischen zwei verschiedenen Denkweisen hin- und herzuwechseln und über mehrere Dinge gleichzeitig nachzudenken.[xvii] Dies zeigt sich bezeichnenderweise quer durch alle Altersgruppen (es ist also nie zu spät, mit dem Aus-dem-Fenster-Starren anzufangen!), doch zu den interessantesten Untersuchungen gehören jene, die mit Schulkindern durchgeführt wurden. Ich will hier nur eine erwähnen, um einen Eindruck von den Ergebnissen zu vermitteln.
Diese Studie wurde 2015 von einem Forschungsteam um Payam Dadvand, Professor am Institut für Weltgesundheit in Barcelona, durchgeführt.[xviii] Dadvand wollte herausfinden, ob ein täglicher Blick in die Natur sich in der geistigen Entwicklung von Grundschulkindern niederschlägt. Mittels Satellitenaufnahmen vermaß er die natürliche Grünfläche, der die Kinder im Alltag begegneten. Drei Gebiete wurden verzeichnet: eine 250 Meter breite Pufferzone rund um das Haus jedes Kindes, eine 50-Meter-Zone rund um das jeweilige Schulgebäude und der Umfang an natürlichen Grünflächen, denen das Kind auf seinem Schulweg begegnete. Das Experiment wurde über das ganzes Schuljahr 2012/2013 hinweg durchgeführt und umfasste 2593 Grundschüler im Durchschnittsalter von 8,5 Jahren an 36 Schulen. Während die Schulen alle in sozioökonomisch vergleichbaren Stadtteilen lagen, wurden noch zusätzliche Daten wie Bildungsstand der Mutter, Berufstätigkeit, Familienstand und Herkunft der Eltern aufgenommen, um zu klären, ob diese Variablen sich im Ergebnis niederschlagen würden. Die geistige Entwicklung der Kinder wurde über ein Jahr hinweg gemessen; alle drei Monate wurden Arbeitsgedächtnis und Konzentrationsfähigkeit aufs Neue getestet.
Bemerkenswerterweise zeigte sich, dass unabhängig von sozioökonomischen Faktoren oder dem familiären Hintergrund die monatliche Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses und der Konzentrationsfähigkeit umso größer war, je mehr Grünflächen das Kind im Alltag zu sehen bekam. Vielleicht noch bedeutender war das Ergebnis, dass der wichtigste Faktor für verbesserte kognitive Leistung das Ausmaß der Grünflächen rund um das Schulgebäude war und nicht das auf dem Schulweg der Kinder. Laut Studie spiegelte dies vermutlich die Tatsache wider, dass die Kinder den überwiegenden Teil ihres Schultags im Gebäudeinneren verbrachten und demnach die durch Fenster sichtbare Natur den größten Einfluss auf die Steigerung ihrer kognitiven Leistung gehabt haben dürfte.[xix] Daraus ergeben sich erhebliche Konsequenzen dafür, wie in Zukunft Schulen gebaut werden sollten – und vor allem, wo.
[i]Ulrich, R. S., „View through a window may influence recovery from surgery“, Science 224, S. 420–421 (1984).
[ii]Wilson, E. O., Biophilia, Harvard University Press, Harvard, 1984.
[iii]Joye, Y., Van den Berg, A., „Is love for green in our genes? A critical analysis of evolutionary assumptions in restorative environments research“, Urban Forestry & Urban Greening 10, S. 261–268 (2011).
[iv]Miyazaki, Y., Shinrin Yoku: The Japanese Art of Forest Bathing, Timber Press, Portland, 2018; Li, Q., Shinrin-Yoku: The Art and Science of Forest Bathing, Penguin UK, London, 2018.
[v]Hansen, M. M., Jones, R., Tocchini, K., „Shinrin-Yoku (Forest Bathing) and Nature Therapy: A State-of-the-Art Review“, International Journal of Environmental Research and Public Health 14, doi:10.3390/ijerph14080851 (2017).
[vi]Sarkar, C., Webster, C., Gallacher, J., „Residential greenness and prevalence of major depressive disorders: a cross-sectional, observational, associational study of 94,879 adult UK Biobank participants“, The Lancet Planetary Health 2, e162–e173 (2018).
[vii]Donovan, G. H. et al., „The relationship between trees and human health: evidence from the spread of the emerald ash borer“, American Journal of Preventive Medicine 44, S. 139–145 (2013).
1. Grün vorm Fenster: Auf die Aussicht kommt es an
[viii]Horace Walpole, „Über die neuere Gartenkunst“, in ders., Historische, litterarische und unterhaltende Schriften, übersetzt von A. W. Schlegel, Hartknoch, Leipzig, 422 (1800).
[ix]Owens, M., „Capability Brown Is the Landscape Designer Behind England’s Most Iconic Gardens“, Architectural Digest, abgerufen auf www.architecturaldigest.com/story/capability-brown-landscape-design-england.
[x]Li, D., Sullivan, W. C., „Impact of views to school landscapes on recovery from stress and mental fatigue“, Landscape and Urban Planning 148, S. 149–158 (2016).
[xi]Lee, K. E., Williams, K. J., Sargent, L. D., Williams, N. S., Johnson, K. A., „40-second green roof views sustain attention: The role of micro-breaks in attention restoration“, Journal of Environmental Psychology 42, S. 182–189 (2015).
[xii]O’Connor, D. B., Thayer, J. F., Vedhara, K., „Stress and health: A review of psychobiological processes“, Annual Review of Psychology 72, S. 663–688 (2021).
[xiii]Song, C., Ikei, H., Miyazaki, Y., „Physiological effects of visual stimulation with forest imagery“, International Journal of Environmental Research and Public Health 15, S. 213 (2018).
[xiv]Brown, D. K., Barton, J. L., Gladwell, V. F., „Viewing nature scenes positively affects recovery of autonomic function following acute-mental stress“, Environmental Science & Technology 47, S. 5562–5569 (2013).
[xv]Ulrich, R. S. et al., „Stress recovery during exposure to natural and urban environments“, Journal of Environmental Psychology 11, S. 201–230 (1991).
[xvi]Jo, H., Song, C., Miyazaki, Y., „Physiological Benefits of Viewing Nature: A Systematic Review of Indoor Experiments“, International Journal of Environmental Research and Public Health 16, 4739 (2019).
[xvii]Stevenson, M. P., Schilhab, T., Bentsen, P., „Attention Restoration Theory II: a systematic review to clarify attention processes affected by exposure to natural environments“, Journal of Toxicology and Environmental Health, Part B 21, S. 227–268, doi:10.1080/10937404.2018.1505571 (2018).
[xviii]Dadvand, P. et al., „Green spaces and cognitive development in primary schoolchildren“, Proceedings of the National Academy of Sciences 112, S. 7937–7942 (2015).
[xix]Lee, D., Nature’s Palette, University of Chicago Press, Chicago, 2010.