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Die Gemeinwohl-Ökonomie: „Wirtschaftsmodell mit Zukunft“

Was ist Gemeinwohl-Ökonomie?

Die Gemeinwohl-Ökonomie, ein „Wirtschaftsmodell mit Zukunft“, lässt die Extreme Kapitalismus und Sozialismus hinter sich. Als ethische Marktwirtschaft beruht sie überwiegend auf privaten Firmen, doch diese streben nicht in Konkurrenz zueinander nach Finanzgewinn, sondern sie kooperieren mit dem Ziel des größtmöglichen Gemeinwohls. Das ideelle Fundament dieser Bewegung, die sieben Jahre nach der Gründung von mehr als 2300 Unternehmen und immer mehr Gemeinden, Hochschulen und Privatpersonen unterstützt wird, erscheint nun als Taschenbuch.

 

„Die Gemeinwohl-Ökonomie ist die Verkörperung dessen,

womit wir uns seit Jahren in Sachen Nachhaltigkeit und Transparenz

auseinandersetzen.“ sueddeutsche.de

Christian Felber im Interview 

Christian Felber, geboren 1972, lebt als Autor und Universitätslektor in Wien. Er hat Attac Österreich mitbegründet und initiierte 2010 die internationale Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung sowie das Projekt „Bank für Gemeinwohl“. 

 

Was hat sich seit der Erstauflage der „Gemeinwohlökonomie“ 2010 an unserer Wirtschaftsordnung getan?

Im größeren Bild haben wir uns von der Gemeinwohl-Orientierung tendenziell weg bewegt. Es begann mit den Bankenrettungen mit Steuergeld, anstatt mit dem Geld der EigentümerInnen und GläubigerInnen; einer jüngsten Studie zufolge hat die Bankenrettung den EU-SteuerzahlerInnen netto 213 Milliarden Euro gekostet – dieses Geld fehlt in der Armutsbekämpfung, in der Bildung und in der öffentlichen Infrastruktur. Durch Geldmangel in öffentlichen Kassen werden Privatisierungen begünstigt, die das Alltagsleben für die Mittel- und Unterschicht noch teurer und schwieriger machen: Am unteren Rand der Gesellschaft steigt das Stressniveau. Das ist ein Mitgrund für die wachsenden Zweifel am Freihandelsglauben, auch der zerrt Gesellschaften auseinander anstatt das „Wohl aller“ zu mehren. Dennoch geht es leider weiter in diese Richtung, der vorläufige Höhepunkt sind die direkten Klagerechte für Konzerne gegen Staaten, während die Menschenrechte weiterhin nicht auf gleicher – globaler – Ebene eingeklagt werden können. Inmitten dieser „falschen Wirtschaftsleben“ wachsen zum Glück auch viele kleine richtige, von Permakultur bis Transition Town, von Commons bis Gemeinwohl-Ökonomie. Doch keines von ihnen ist derzeit „systemrelevant“. Zwar beobachten wir einen foranschreitenden Bewusstseinswandel im Sinne des Erkennens der notwendigen Transformation der bestehenden Ordnung, doch im konkreten Alltag des Wirtschaftslebens freuen wir uns über jedes einzelne Unternehmen, das eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt und jede neue Gemeinde, die einen Schritt setzt.

Welche sind die wichtigsten Änderungen in der Taschenbuchausgabe?

Ich habe den gesamten Text gründlich überarbeitet, präzisiert und mit zusätzlichen Quellen versehen. Dabei sind einige Überraschungen aufgetreten, so war Eigentum beispielsweise für John Stuart Mill „nur Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck“. Für Friedrich Wilhelm Raiffeisen war Geld „nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck“. Und für den angesehenen St. Gallener Wirtschaftsethiker Peter Ulrich ist das gesamte „Wirtschaften [ist] ja nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck des guten Lebens.“ Die GWÖ-Idee ist, über die Zeiten und Köpfe verstreut, also schon immer präsent. Gänzlich neu geschrieben sind die Kapitel „Geld als öffentliches Gut“ und „Umsetzungsstrategie“ – die Bewegung ist ja hochlebendig und international äußerst dynamisch, fast täglich ereilen uns gute Nachrichten aus der lokalen und regionalen Umsetzung. Und schließlich wurde die 20-Punkte-Zusammenfassung am Ende durch eine Liste möglicher „Fragen an den demokratischen Wirtschaftskonvent“ ersetzt, damit für die LeserIn plastisch vorstellbar wird, wie die Fundamente der Wirtschaftsordnung in Zukunft vom demokratischen Souverän direkt geändert werden könnten.

 

Wo beginnen sich mögliche systemische Wirkungen der Gemeinwohl-Ökonomie abzuzeichnen?

Am weitesten voran ist das spanische Region Valencia, insgesamt drei Gesetze beziehungsweise Regierungserlässe sind dort schon durch oder in Vorbereitung. Zuerst ginge es um die Förderung von Gemeinwohl-Bilanzen in Unternehmen, dann um ein landesweites Register von Unternehmen mit auditierter Gemeinwohl-Bilanz, um diese in einem dritten Schritt zu fördern: über die öffentliche Beschaffung, die Wirtschaftsförderung und sogar differnezierte Steuern. Der im Juni 2017 gestartete Lehrstuhl Gemeinwohl-Ökonomie an der Universität Valencia hilft nicht nur bei der Weiterentwicklung des theoretischen Überbaus, sondern auch bei der Erforschung der Umsetzungspraxis und bei der Ausbildung von ProfessionistInnen, welche die Unternehmen begleiten, beraten und auditieren. Jetzt ist die erste Staffel von Gemeinwohl-Gemeinden am Start. Meine große Vision ist der erste demokratische Wirtschaftskonvent, in dem über die großen Fragen der Wirtschaftsordnung partizipativ verhandelt und absgestimmt wird – von den BürgerInnen.

Das ebenfalls von Ihnen initiierte „Projekt Bank für Gemeinwohl“ in Österreich bezeichnen Sie manchmal als „kleine Zwillinsgsschwester“ der GWÖ. Wie ist der Stand des Projekts und wie kann man die Bewegung noch unterstützen?

6.000 GenossenschafterInnen sind an Bord der Genossenschaft für Gemeinwohl, rund vier Millionen Euro gesammelt, rund die Hälfte davon ist in Cash vorhanden. Wir haben die Gemeinwohl-Prüfung entwickelt und über unsere eigene Crowdfunding-Plattform die ersten fünf gemeinwohlgeprüften Projekte erfolgreich finanziert: von kommunalem Solarstrom bis zu solidarischer Landwirtschaft. Der aktuelle Knackpunkt: Unser 250 Seiten starker Konzessionsantrag für das – risikoarme – Gemeinwohl-Konto wurde von der Finanzmarktaufsicht in 227 Punkten beanstandet. Wir haben die Fragen vollständig beantwortet und warten nun auf eine Entscheidung. Während wir weiterhin versuchen, die Konzession zu bekommen, sondieren wir mit der ethischen deutschen GLS Optionen für vertiefte Kooperation. In der einen oder anderen Form wird die Gemeinwohl-Bank kommen!

Was ist momentan das Ihnen bekannte Unternehmen mit dem höchsten Gemeinwohl-Bilanz-Ergebnis?

Mir fallen gleich vier ein: zum einen Oikopolis in Luxemburg, das ist der „nationale“ Biogroßhändler, aus BiobäuerInnengenossenschaften entstanden. Zum anderen El Puente aus dem Raum Hannover, die mehr als nur fair handeln, eben umfassend gemeinwohlorientiert. Drittens die „Grüne Erde“ aus Oberösterreich, ein nachhaltiger Versandhandel, der selbst Möbel, Heimtextilien und vieles mehr herstellt. Und schließlich einer unserer ersten Pioniere, die Demeter-Bäckerei Märkisches Landbrot in Berlin, die nicht nur ihre optimale Größe gefunden hat und weiterem Wachstum trotzt; sondern dort legen die zuliefernden Bauern die Getreidepreise am runden Tisch fest – sachlich und menschlich nach angefallenen Kosten und dem lebensnotwendigen Bedarf.

Wie leben Sie selbst im Sinne des Gemeinwohls und wie können die Leser Ihres Buches Ihrem Aufruf „Gestalten auch Sie eine neue Wirtschaftsordnung mit!“ folgen?

Das geht von ganz innen nach ganz außen. Zuerst frage ich mich, was ich tatsächlich brauche, um glücklich zu sein und wie verbunden ich mit dem großen Ganzen bin, wie ich meine Beziehungen pflege. Ganz oft ist die Antwort, ich brauche weniger Konsum und mehr Qualität an Zeit, Körperlichkeit, Gemeinschaft, Umwelt, Demokratie und Sinn: alles immaterielle und nicht käufliche Güter. Persönliche habe ich weder Auto noch Fernseher, ich fliege privat nicht (beruflich leider umso mehr). Dafür tanze ich und esse viel bio. Zum anderen entwickle ich selbst neue Formen des Wirtschaftens, eine Gemeinwohl-Bank, ein gemeinwohlorientiertes Wirtschafts- und ein ethisches Handelssystem … Die Entwicklung solcher „systemischer“ Alternativen hängt zusammen mit der Suche nach neuen Formen von Demokratie. In einer „souveränen Demokratie“, wie sie mir vorschwebt, errichten die Menschen die Grundpfeiler der Handels-, Finanz- und Wirtschaftsordnung, die Regierungen und Parlamente gestalten sie dann aus. Zu so einem „Souveränsbewusstsein“ zählt auch, die Wirtschaft und die Technik nicht den Experten allein zu überlassen, sondern die Letztverantwortung bei den betroffenen Menschen zu belassen.

Blick ins Buch
Gemeinwohl-Ökonomie

Solidarität statt Konkurrenzkampf: das Manifest eines neuen Wirtschaftssystems
Wie funktioniert eine Ökonomie, in der Unternehmen und Individuen kooperieren, statt sich zu bekämpfen? Christian Felbers revolutionärer Bestseller findet eine praxistaugliche Antwort. 

Als die Reformbewegung der Gemeinwohl-Ökonomie im Jahr 2010 erstmals für Aufmerksamkeit sorgte, wurden die Megathemen Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und demokratisierte Wirtschaft zwar heiß diskutiert, doch es gab kein Wirtschaftsmodell, das diese Anforderungen praktisch und tragfähig umsetzt. 

Christian Felber sollte dies ändern. Schon mit der ersten Auflage von „Gemeinwohl-Ökonomie“ konnte das Gründungsmitglied von Attac Österreich beweisen, dass eine Wirtschaft besser funktioniert, wenn eigenständige Unternehmen und Initiativen zusammen für ethische Werte eintreten, statt nur auf den eigenen Profit zu schauen. 

Nur wenige Jahre später arbeiten bereits mehr als 2.300 Unternehmen nach den Grundsätzen der Gemeinwohl-Ökonomie. Auch öffentliche Institutionen und Privatpersonen zählen zum wachsenden Netzwerk. 

„Gemeinwohl-Ökonomie ist die Verkörperung dessen, womit wir uns seit Jahren in Sachen Nachhaltigkeit und Transparenz auseinandersetzen.“ – sz.de  

Christian Felbers theoretisches Konzept und Manifest zur Gemeinwohl-Ökonomie ist gleichzeitig Impulsgeber und Aufklärungsbuch, Kompass und Denkanreiz – nicht nur für Unternehmer und Unternehmen, sondern für alle, die Wirtschaft aus einem völlig neuen Blickwinkel verstehen wollen. 

Der SPIEGEL-Bestseller – komplett aktualisiert und überarbeitet 

In der aktualisierten Ausgabe von „Gemeinwohl-Ökonomie“ finden Sie neue Quellen, mehr erklärende Grafiken und Tabellen, neue Fakten und Kapitel sowie aktuelle Anregungen für ein neues Wirtschaftsmodell. 

Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Es gibt immer eine Alternative.
There is always an alternative.
Für Margaret Thatcher
und Angela Merkel
Bei der Redaktion dieser Taschenbuchausgabe ist es ziemlich genau
sieben Jahre her, dass die Vorbereitungsgruppe der Gemeinwohl-
Ökonomie erstmals an die Öffentlichkeit ging, um auszuloten,
ob es eine Resonanz auf die junge Idee geben würde. Sie zündete.
Sieben Jahre später sind dreißig Fördervereine von Schweden bis
Chile am Start, mehr als 2300 Unternehmen unterstützen die Bewegung
offiziell, und immer mehr Gemeinden machen sich auf
den Weg zur Umsetzung. Einige Nachrichten dieser Tage: Die Stadt
Stuttgart hat vier Kommunalbetriebe gemeinwohlbilanziert und
sich damit als „deutschlandweite Vorreiterin“ platziert.1 Greenpeace
Deutschland stellte seine erste Gemeinwohl-Bilanz vor, als
ungefähr 500. Organisation weltweit. Im März 2017 erhielt die Gemeinwohl-
Ökonomie den ZEIT-WISSEN-Preis „Mut zur Nachhaltigkeit
“ in der Kategorie Wissen. Im Juni startete der erste Lehrstuhl
Gemeinwohl-Ökonomie an der Universität Valencia. Zuvor
hatte der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss eine Initiativstellungnahme
zur Gemeinwohl-Ökonomie mit 86 Prozent der
Stimmen angenommen.2 Kein Wunder: 88 Prozent der Deutschen
und neunzig Prozent der ÖsterreicherInnen wünschen sich laut einer
Umfrage der Bertelsmann-Stiftung eine „neue Wirtschaftsordnung
“.3 Neun von zehn Menschen sind reif für den Wandel. Sie erkennen
mehr und mehr, dass die Finanzkrise, die Klimakrise, die
Verteilungskrise, die Sinnkrise, die Demokratiekrise und die Wertekrise
Symptome einer „ganzheitlichen“ Systemkrise sind. Reformen
genügen nun nicht mehr, es braucht eine neue Vision.
Offen ist, wohin die Reise gehen soll: in Richtung Solidarische
Ökonomie mit nur noch Genossenschaften? In Richtung Commons
oder Allmenden, den Gemeinschaftsgütern, die ganz ohne Marktlogik
auskommen? In Richtung Postwachstumsökonomie, die, radikaler
als die ökosoziale Marktwirtschaft, Schrumpfungsziele
vorgibt? Oder in Richtung Wirtschaftsdemokratie, um die Superkonzentration
von Eigentum und Macht, den „Superkapitalismus“
und die „Supergrundrechte“ für juristische Personen – vulgo Großkonzerne
– zu stoppen?
Die Gemeinwohl-Ökonomie sagt: Es braucht von all diesen Ansätzen
mehr als heute: Die Wirtschaft muss menschlicher, sozialer,
verteilungsgerechter, nachhaltiger, demokratischer – rundum ethischer
werden: gemeinwohlorientierter. Einige der Erstreaktionen
waren: „Gemeinwohl-Ökonomie, das ist doch ein Widerspruch in
sich!“ Heute sehen wir das anders. Im Lauf der sieben Jahre sind
viele weitere Quellen aufgetaucht, die das GWÖ-Modell zu einem
kohärenten Mosaik zusammengefügt haben: Die Überzeugung,
dass die Wirtschaft nur ein Mittel ist, das höheren Werten verpflichtet
ist, hat es praktisch immer gegeben, zu allen Zeiten und
in allen Kulturen. Die merkwürdige Tatsache, dass die Wirtschaft
heute ganz anders funktioniert und auch anders gelehrt wird, deutet
auf ein weiteres Kernproblem hin: die akademische Wirtschaftswissenschaft
oder „economics“. Sie hat sich mathematisiert und
verirrt, auf einen trügerischen Fluchtpunkt hin: finanzielle
Kennzahlen
und Geldwerte. Doch Geld ist nur das Mittel, das dem Gemeinwohl
dienen soll, so wie Unternehmen, Investitionen, Kredite
und die ganze Wirtschaft. Die „ökonomische Wissenschaft“ hat
es zuwege gebracht, Ziel und Mittel zu verwechseln. Und sich dabei
in eine nichtökonomische Wissenschaft zu „pervertieren“. Das
sind die Worte von Aristoteles. Er hat messerscharf zwischen zwei
Formen, Wirtschaft zu denken und zu praktizieren, unterschieden:
Während die „oikonomia“ das gute Leben für alle zum Ziel
hat (in einem menschlichen oder volkswirtschaftlichen Haushalt)
und das Geld dabei ausdrücklich nur als Mittel verwendet, bezeichnet
er eine Wirtschaftsform, in der Gelderwerb und Geldvermehrung
zum Selbstzweck werden, als „chrematistike“ und kritisiert
sie als „widernatürlich
“.4 Die Wirtschaftswissenschaft hat sich, in
dem Maße, in dem sie sich für Renditen, Profite und das BIP interFelber
essiert und „Effizienz
“ mit einer effizienteren Kapitalverwertung
oder -vermehrung gleichsetzt, in eine Chrematistik verwandelt –
und ist gar keine Ökonomie mehr. Zumindest nicht im Sinne von
Aristoteles.
„Oikonomia“ könnte trefflich mit Gemeinwohl-Ökonomie übersetzt
werden, das Gemeinwohl ist inhärent im Begriff enthalten; die
vielfältigen Versuche, die Attribute „sozial“, „ökologisch“, „nachhaltig
“, „human“, „fair“, „gerecht“, „demokratisch“ oder „ethisch“
zu ergänzen, sind nur Zeugnis davon, dass es den Chrematisten gelungen
ist, den Begriff „Ökonomie“ seines ursprünglichen Sinns zu
berauben und mit „widernatürlichen“ Inhalten anzufüllen.
Zum Glück sind einigen ÖkonomInnen diese Unterscheidungen
und Pervertierungen bekannt, und sie haben sich starkgemacht
für eine „Gleichgewichtsökonomie“ (Herman Daly), „Ökologische
Ökonomie“ (Joan Martínez-Alier), „Postwachstumsökonomik“
(Niko Paech), „doughnut economics“ (Kate Raworth), Gemeingüter-
Ökonomie (Elinor Ostrom), Geschenk-Ökonomie (Genevieve
Vaughan) oder Care-Ökonomie (Mascha Madörin). Aus studentischen
Kreisen sind zunächst in Frankreich die „postautistische
Ökonomie“ entstanden und später weltweit die Gesellschaft für
plurale Ökonomik. Das sind viele Lichtschimmer am Horizont, doch
der Mainstream ist immer noch fest im Griff der Chrematisten.
Bezeichnend für den Irrweg der Wissenschaft ist der „Wirtschaftsnobelpreis
“ – den es gar nicht gibt. Alfred Nobel hatte den
von ihm gestifteten Preis ausdrücklich für naturwissenschaftliche
Disziplinen ausgelobt – und sich ebenso klar gegen einen Preis für
„economics“, einer Sozialwissenschaft, ausgesprochen. Der Anerkennungspreis
der schwedischen Reichsbank kam erst 1968 hinzu,
gegen den Willen der Erben von Alfred Nobel, es handelt sich um
eine Mischung aus Usurpation und Etikettenschwindel – um einen
doppelten: Neun von zehn ausgezeichneten WissenschaftlerInnen
sind viel eher der Kaste der Chrematisten zuzurechnen
als jener der Ökonomie: weder Nobelpreis noch Ökonomie also.
Hinter diesem „genialen PR-Coup“ (Ulrike Herrmann5) verstecken
sich mächtige Ideologien und ein Ringen um die gesellschaftlichen
Machtverhältnisse.
Die Gemeinwohl-Ökonomie möchte eine neue Wirtschaftstheorie
begründen, sie will die Praxis des Wirtschaftens ändern, und sie
möchte den passenden Rechtsrahmen schaffen, damit ethische und
umfassend verantwortungsvolle Wirtschaftsakteure und -tätigkeiten
nachhaltig reüssieren können.
Als ganzheitliche Alternative ist die GWÖ a) ein konsistenter
Theorieansatz: ein in sich schlüssiges Modell, b) ein breiter Beteiligungsprozess,
der allen kreativen und kooperativen Reformwilligen
offensteht, und c) ein demokratischer Umsetzungsvorschlag.
Dafür hat die GWÖ ein Demokratie-Verständnis entwickelt, das
den Menschen mehr zutraut, als alle vier oder fünf Jahre ein Kreuzlein
für eine Partei abzugeben. Die Idee einer „Souveränen Demokratie
“ ist die Zwillingsschwester der Gemeinwohl-Ökonomie. Sie
könnte zu ihrer entscheidenden Geburtshelferin werden, nachdem
viele tausend Menschen, Unternehmen, Gemeinden und wissenschaftliche
Einrichtungen den Boden aufbereitet haben für einen
tiefreichenden und wertgeleiteten Wandel in Wirtschaft und Politik.
Seit Erscheinen der Erstausgabe im August 2010 ist „Die Gemeinwohl-
Ökonomie“ in insgesamt zwölf Sprachen erschienen, darunter
Französisch, Spanisch, Englisch, Polnisch und Finnisch. Die
Umsetzungsbewegung erstreckt sich von Skandinavien nach Südamerika.
Mehrere tausend Menschen sind weltweit aktiv geworden
– in Regionalgruppen, Arbeitskreisen und Fördervereinen. Und
es scheint erst der Anfang zu sein. Das Modell ist äußerst lebendig,
es wird sowohl in der Praxis weiterentwickelt als auch durch geistige
Befruchtung aus allen Richtungen. Die Bewegung, welche die
Idee „kokreativ“ weiterentwickelt, ist so vielgesichtig und facettenreich,
wie eine soziale Bewegung nur sein kann.
Beim historischen „Zoomen“, ob die Ausbreitung der Gemeinwohl-
Ökonomie mit anderen Ideen oder Initiativen vergleichbar
ist, kam die Erinnerung an die Raiffeisen-Idee. In Zeiten des
Hungers unter den Bauern entstand der erste Brotverein im Westerwald.
Daraus wurde zunächst ein landesweites Netz aus Hilfsvereinen,
dann folgten die Darlehenskassen. Heute gibt es genossenschaftliche
Raiffeisen-Banken in 180 Staaten der Erde.
Die GWÖ entsteht nicht in einer Zeit des Brothungers, aber des
Sinnhungers. Manche sprechen bereits von einer sich auswachsenden
Sinnhungerepidemie. Täglich steigen Erfolgsmenschen aus
Top-Positionen des „alten Systems“ aus, weil sie keinen Sinn und
sich nicht als Menschen erfahren. Die GWÖ bietet Sinn, Menschlichkeit
und echte Nutzwerte an. Wie es in einer richtigen „oikonomia
“ sein soll! Machen auch Sie mit! Werden Sie Teil der Veränderung,
die Sie in der Welt sehen wollen!

 


1. Kurzanalyse


„Zu kooperieren, anderen zu helfen und Gerechtigkeit
walten zu lassen ist eine global anzutreffende,
biologisch verankerte menschliche Grundmotivation.
Dieses Muster zeigt sich über alle Kulturen hinweg.“6
Joachim Bauer
Menschliche Werte – Werte der Wirtschaft
Merkwürdig: Obwohl Werte die Grundorientierung, die „Leitsterne“
unseres Lebens sein sollten, gelten heute in der Wirtschaft ganz andere
Werte als in unseren alltäglichen zwischenmenschlichen Beziehungen.
In unseren Freundschafts- und Alltagsbeziehungen
geht es uns gut, wenn wir menschliche Werte leben: Vertrauensbildung,
Ehrlichkeit, Wertschätzung, Respekt, Zuhören, Empathie,
Kooperation, gegenseitige Hilfe und Teilen. Die „freie“ Marktwirtschaft
beruht auf den Systemspielregeln Gewinnstreben und Konkurrenz.
Diese Anreizkoordinaten befördern Egoismus, Gier, Geiz,
Neid, Rücksichtslosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Dieser Widerspruch
ist nicht nur ein Schönheitsfehler in einer komplexen
oder multivalenten Welt, sondern ein kultureller Keil; er spaltet uns
im Innersten – sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft.
Werte sind Leitsterne
Der Widerspruch ist deshalb fatal, weil Werte das Fundament des
Zusammenlebens sind. Nach ihnen setzen wir uns Lebensziele, an
ihnen orientieren wir unser Handeln und verleihen diesem Sinn.
Die Werte sind wie ein Leitstern, der unserem Lebensweg eine
Richtung vorgibt. Aber wenn unser Leitstern des Alltags in eine
ethische Richtung weist – Vertrauensbildung, Kooperation, Teilen
– und plötzlich in einem Teilbereich des Lebens, der Marktwirt-
schaft, ein zweiter „Leitstern“ in die exakt entgegengesetzte Richtung
– Egoismus, Konkurrenz, Gier – zeigt, dann bricht in uns ein
heilloser Widerspruch auf: Sollen wir uns solidarisch und kooperativ
verhalten, einander helfen und stets auf das Wohl aller achten?
Oder zuerst den eigenen Vorteil im Auge haben und die anderen als
RivalInnen
und KonkurrentInnen kurzhalten? Das Abgründige des
Zwiespalts ist: Der Gesetzgeber bevorzugt den falschen Leitstern.
Er setzt ihn in Recht – und fördert damit Werte, unter denen wir
alle leiden. Das ist nicht unbedingt sofort ersichtlich, weil in keinem
Gesetz steht: Du sollst egoistisch, gierig, geizig, rücksichts- und
verantwortungslos sein. Aber im Gesetz steht, dass wir in der Wirtschaft
nach Finanzgewinn streben und einander konkurrenzieren
sollen. Das steht in zahlreichen Gesetzen, Regulierungen und Abkommen
der Nationalstaaten, der EU und der Welthandelsorganisation
WTO. Die Folge ist das epidemische Auftreten asozialer Verhaltensweisen
in der Wirtschaft. Nicht weil der Mensch von Natur
aus schlecht ist, sondern weil die Spielregeln unsere Schwächen
fördern anstatt unsere Tugenden.
Aus Egoismen wird Gemeinwohl
Der „Imperativ“, dass wir in der Wirtschaft einander konkurrenzieren
und nach größtmöglichem persönlichen Finanzgewinn streben
(= uns egoistisch verhalten) sollen, rührt aus der – eigentlich zutiefst
paradoxen – Hoffnung, dass sich das Wohl aller aus dem egoistischen
Verhalten der Einzelnen ergäbe. Diese Ideologie wurde vor
250 Jahren in der Bienenfabel von Bernard Mandeville begründet,
die den bezeichnenden Untertitel „Private Laster, öffentliche Vorteile
“ trägt.7 Auch bei Adam Smith, dem ersten großen Nationalökonomen,
finden wir diese Hoffnung: „Nicht vom Wohlwollen des
Metzgers, Bäckers, Brauers erwarten wir unsere tägliche Mahlzeit,
sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“8
Es geht mir nicht um die Anklage von Smith, der auch ein Hohelied
auf das Mitgefühl („sympathy“) gesungen und ein dickes Buch
über „ethische Gefühle“ verfasst hat.9 Zum damaligen Zeitpunkt
ist ein solcher Satz verständlich: Das Verfolgen des Eigeninteresses
der „Individuen“ war neu, die „Unternehmen“ überwiegend winzig
und machtlos, außerdem lokal eingebunden und persönlich verantwortlich:
Unternehmensgründer, Eigentümer, Arbeitgeber und
Arbeitnehmer
bildeten in vielen Fällen noch eine Personalunion.
Es gab keine anonymen, globalen Aktiengesellschaften, keinen
freien Kapitalverkehr und keine milliardenschweren Investmentfonds.
Adam Smith hoffte, dass eine „unsichtbare Hand“ die Egoismen
der Einzelakteure zum größtmöglichen Wohl aller lenken
würde. Aus metaphysischer Sicht – Smith war Moralphilosoph –
mag er die Hand Gottes gemeint haben.10 Oder es war einfach eine
Hoffnung. Nichts gegen die Hoffnung, doch sie ist weder eine wissenschaftliche
Methode geschweige denn eine wirksame Politikmaßnahme.
Dazu bräuchte es eine sichtbare Hand, welche die
Unternehmen dazu anreizt, sich so zu verhalten, wie es die Gesellschaft
wünscht. Manche Ökonomen glauben, dass es sich um die
Konkurrenz handle. Denn welchem Mechanismus, wenn nicht der
Konkurrenz, verdanken wir, dass kein Unternehmen seinen Egoismus
zu sehr auf Kosten anderer steigern kann? Sobald es zu hohe
Preise verlangen oder zu niedrige Qualität bieten würde, würde es
von anderen verdrängt: Wettbewerb. Bis heute bildet die Annahme,
dass die Egoismen der Einzelakteure durch Konkurrenz zum größtmöglichen
Wohl aller gelenkt würden, den Legitimationskern der
kapitalistischen Marktwirtschaft. Aus meiner Sicht ist diese Annahme
jedoch ein Mythos und grundlegend falsch; Konkurrenz
spornt zweifellos auf ihre Weise zu Leistung an (dazu später), aber
sie richtet einen ungemein größeren Schaden an der Gesellschaft
und an den Beziehungen zwischen den Menschen an.11 Wenn Menschen
als oberstes Ziel ihren eigenen Vorteil anstreben und gegeneinander
agieren, lernen sie, andere zu übervorteilen und dies als
richtig und normal zu betrachten. Wenn wir jedoch andere übervorteilen,
dann behandeln wir sie nicht als gleichwertige Menschen:
Wir verletzen ihre Würde.

Würde ist der höchste Wert
Wenn ich die Studierenden in meiner Vorlesung an der Wirtschaftsuniversität
frage, was sie unter „Menschenwürde“ verstehen, ernte
ich regelmäßig geschlossenes und betretenes Schweigen. Sie haben
im bisherigen Verlauf ihres Studiums nichts darüber gehört oder
gelernt. Das ist umso erschreckender, als die Würde der höchste aller
Werte ist: Sie ist der erstgenannte Wert im Grundgesetz und bildet
die Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Würde heißt Wert und meint den gleichen, bedingungslosen, unveräußerlichen
Wert aller Menschen. Würde bedarf keiner „Leistung“
außer der nackten menschlichen Existenz. Aus dem gleichen Wert
aller Menschen erwächst unsere Gleichheit in dem Sinne, dass in
einer Demokratie alle Menschen die gleichen Freiheiten, Rechte
und Chancen genießen sollen. Und nur wenn tatsächlich alle die
gleichen Freiheiten genießen, ist die Bedingung gegeben, dass alle
auch wirklich frei sein können: Menschenwürde ist die Begründung
und Voraussetzung für Freiheit. Immanuel Kant sagte: Die Würde
kann im alltäglichen Umgang zwischen den Menschen nur dann
gewahrt werden, wenn wir uns stets als gleichwertige Personen betrachten
und behandeln: Wir sollen unser menschliches Gegenüber
und seine/ihre Bedürfnisse, Gefühle und Meinungen gleich ernst
nehmen wie die eigenen – als Ausdruck des gleichen Wertes. Wir
dürfen die andere Person nie nur instrumentalisieren und primär
als Mittel für den eigenen Zweck verwenden. Dann wäre es mit der
Würde vorbei.12 Als Nebeneffekt dürfen uns aus der würdevollen
Begegnung sehr wohl Vorteile erwachsen, das passiert nach Kant
und Hausverstand ganz automatisch, wenn alle das Beste füreinander
wollen, eine Vertrauensbasis aufbauen, sich ernst nehmen, einander
zuhören und wertschätzen. Aber Vorteilnahme darf nicht das
Ziel der Begegnung sein.
Auf dem freien Markt ist es hingegen legal und üblich, dass wir
unsere Nächsten instrumentalisieren und dabei ihre Würde verletzen,
weil es nicht unser Ziel ist, diese zu wahren. Die Würde wird
weder gemessen noch bilanziert. Unser Ziel ist das Erringen eines
persönlichen Vorteils, und dieser lässt sich in vielen Fällen leichter
erringen, wenn ich meinen Nächsten übervorteile und dabei seine
Würde verletze. Entscheidend sind meine Einstellung und meine
Priorität: Geht es mir um das größtmögliche Wohl und die Wahrung
der Würde aller, wovon ich selbst automatisch auch betroffen bin
und profitiere, oder geht es mir vorrangig um mein eigenes Wohl
und den eigenen Vorteil, aus dem auch andere Vorteile ziehen können,
aber eben nicht müssen?
Wenn wir unseren eigenen Vorteil als oberstes Ziel verfolgen,
wird es gängige Praxis, dass wir andere als Mittel für unsere Zwecke
benutzen und diese übervorteilen. Deshalb führt die Smith’sche
Verdrehung von Ziel und Nebeneffekt zur weitverbreiteten Verletzung
der Menschenwürde und zur systematischen Einschränkung
der Freiheit vieler Menschen: So wie es das „Wohlwollen“ des Lehrers,
des Arztes und des Kochs braucht, damit es den SchülerInnen,
PatientInnen und Hungrigen gut geht, braucht es genauso das
Wohlwollen des Bäckers, Metzgers, Brauers, damit alle ihr „tägliches
Brot“ erhalten – und nicht nur sie. Adam Fergusson, Landsmann
von Smith, sah das genauso: „Wer um das Wohl der anderen
bemüht ist, bemerkt, dass das Glück der anderen zur reichhaltigsten
Quelle fürs eigene Glück wird.“13

„Freier“ Markt?
Der „freie Markt“ wäre dann ein freier Markt, wenn alle TeilnehmerInnen
dieses Treibens von jedem Tauschgeschäft völlig schadlos
zurücktreten könnten. Doch genau das trifft nur auf einen Teil
der Transaktionen am Markt zu. Bei einem beträchtlichen Teil hat
es eine Partei nicht so leicht, auf das Tauschgeschäft zu verzichten
wie die andere Partei, weil sie in stärkerem Maße davon abhängig
ist.14 Viele Menschen können sich nicht aussuchen, ob sie
heute Nahrungsmittel einkaufen oder nicht; ob sie eine Wohnung
anmieten oder nicht; viele Unternehmen können es sich nicht aussuchen,
ob sie heute einen Kredit aufnehmen oder nicht; tun sie
es nicht, können sie morgen schon insolvent sein; zahllose Bauern
und Bäuerinnen
können nicht frei entscheiden, wem sie zuliefern
wollen; sie haben oft nur einen einzigen oder eine Handvoll Abnehmer
zur „Auswahl“, von denen sie gleich (schlecht) behandelt werden.
Für typische Tauschgeschäfte gilt:
−−Die durchschnittliche ArbeitgeberIn kann leichter vom Arbeitsvertrag
zurücktreten und damit die Bedingungen des Arbeitsvertrages
eher bestimmen als die durchschnittliche ArbeitnehmerIn.
−−Die durchschnittliche KreditgeberIn kann eher vom Kreditvertrag
zurücktreten und damit die Bedingungen des Kreditvertrages
eher bestimmen als die durchschnittliche KreditnehmerIn.
−−Die durchschnittliche Immobilienverwaltung kann eher von
der Unterzeichnung des Mietvertrages Abstand nehmen und
damit die Bedingungen des Mietvertrages eher bestimmen als
die durchschnittliche MieterIn.
−−Der durchschnittliche Weltkonzern kann eher auf einen seiner
tausend Zulieferbetriebe verzichten und damit die Bedingungen
des Liefervertrages eher bestimmen als der durchschnittliche
Zulieferbetrieb.
Ein Machtgefälle in privaten Tauschbeziehungen wäre nicht das
geringste Problem, wenn alle einander mit Achtung und dem Vorsatz
der Wahrung der Würde begegnen würden. Denn dann würde
die mächtigere Person der weniger mächtigen Person auf Augenhöhe
entgegentreten, sie sehen und ihre Bedürfnisse und Gefühle
genauso ernst nehmen wie die eigenen; und erst mit dem Ergebnis
zufrieden sein, wenn beide damit gut leben können. Doch in der
kapitalistischen Marktwirtschaft werden die Mächtigeren geradewegs
dazu ermutigt, ihren Vorsprung, das Machtgefälle, auszunutzen,
denn daraus – aus dem Streben nach dem eigenen Vorteil und
der daraus resultierenden Konkurrenz – ergibt sich erst die ganz
spezielle „Effizienz“ des freien Marktes.
Wenn in einem menschlichen Gemeinwesen die Würde der Einzelnen
nicht systemisch gewahrt wird, wird auch die Freiheit nicht
gewahrt; denn die Wahrung der Würde – das Begegnen der Menschen
als Gleich(wertig)e – ist die Voraussetzung für die Freiheit in
diesem Gemeinwesen. Wenn alle den eigenen Vorteil im Auge haben,
behandeln sie die anderen nicht mehr als Gleiche, sondern als
„Instrumente“ und gefährden dadurch die Freiheit aller. Deshalb
kann eine Marktwirtschaft, die auf Gewinnstreben und Konkurrenz
beruht, nicht als „freie“ Wirtschaft bezeichnet werden: Das wäre
ein Widerspruch in sich. Ehrlicherweise sollte deshalb eine Marktwirtschaft,
die auf Gewinnstreben und Konkurrenz beruht, in rücksichtslose,
inhumane und letztlich illiberale, weil die Freiheit zerstörende
Marktwirtschaft umbenannt werden. Und wir sollten uns
auf den Weg machen, eine humane und durch und durch ethische
(Markt-)Wirtschaft zu entwickeln.

Vertrauen wichtiger als Effizienz
Eines noch: Wenn wir auf dem Markt ständig befürchten müssen,
von unseren Nächsten übervorteilt zu werden, sobald sie dazu in
der Lage sind, wird noch etwas ganz Wesentliches systemisch zerstört:
das Vertrauen. Manche Ökonomen schenken dieser Tatsache
wenig Beachtung, denn in der Wirtschaft geht es in ihren Augen vor
allem um Effizienz. Doch das ist eine Perversion (lat. Verkehrung)
der Dinge, denn das Vertrauen ist das höchste soziale und kulturelle
Gut, das wir kennen. Vertrauen ist das, was die Gesellschaft im Innersten
zusammenhält – nicht die Effizienz! Stellen Sie sich eine
Gesellschaft vor, in der Sie jedem Menschen vollkommen vertrauen
können: Wäre das nicht die Gesellschaft mit der höchsten Lebensqualität?
Und umgekehrt: eine Gesellschaft, in der Sie jedem Menschen
misstrauen müssen – wäre das nicht die Gesellschaft mit der
geringsten Lebensqualität?
Die Zwischenbilanz ist eine radikale: Solange Marktwirtschaft
auf Gewinnstreben und Konkurrenz und der sich daraus ergebenden
wechselseitigen Übervorteilung beruht, ist diese weder mit der
Menschenwürde noch mit Freiheit vereinbar. Sie zerstört systematisch
das gesellschaftliche Vertrauen in der Hoffnung, dass dadurch
die Effizienz höher sei als in einer anderen Form des Wirtschaftens.
Auf diese Sachverhalte angesprochen, zeigen MainstreamÖkonomen
häufig drei vertraute Reaktionsmuster:


1.Es gibt keine Alternative zur Marktwirtschaft, das ist bekannt,
und deshalb erübrigt sich die Diskussion.
2.Wer das nicht zur Kenntnis nimmt, will die Gesellschaft in die
Armut und ins 19. Jahrhundert zurückkatapultieren oder gleich
in den Kommunismus.
3.Die Marktwirtschaft ist die produktivste Wirtschaftsform, die
es gibt, das hat die Geschichte entschieden. Der Wettbewerb
spornt die Menschen zu unvergleichlicher Leistung an, abgesehen
davon, dass er in der Natur des Menschen angelegt und
deshalb unvermeidbar ist.


Diesen letzten Grundmythos der Marktwirtschaft wollen wir
uns noch näher ansehen: „Wettbewerb stellt in den meisten Fällen
die effizienteste Methode dar, die wir kennen“, schreibt der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek.15 Wenn ein
„Nobelpreisträger“ das sagt, dann muss es auch stimmen – auch
wenn es den Wirtschafsnobelpreis gar nicht gibt.16 Ich habe versucht,
die empirische Studie zu finden, durch die Hayek zu dieser
Erkenntnis kam. Doch ich fand sie nicht. Ich suchte auch bei anderen
Ökonomen, denn in der Wissenschaftsgemeinde ist es üblich,
dass KollegInnen einander zitieren. Doch auch dort wurde ich nicht
fündig. Keiner der nobelpreisgekrönten Ökonomen hat jemals mit
einer Studie bewiesen, dass „Wettbewerb die effizienteste Methode
ist, die wir kennen“. Ein ideologischer Fundamentalbaustein der
ökonomischen Wissenschaft ist eine pure Behauptung, die von der
großen Mehrheit der Ökonomen geglaubt wird. Und auf diesem
Glauben beruhen Kapitalismus und Konkurrenz-Marktwirtschaft,
die seit 200 Jahren das weltweit dominante Wirtschaftsmodell sind.
Zur konkreten Fragestellung „Motiviert Wettbewerb stärker als
jede andere Methode?“ gibt es eine Fülle von Studien, in zahlreichen
Disziplinen: Sozialpsychologie, Pädagogik, Spieltheorie, Neurobiologie.
369 davon wurden in einer Metastudie ausgewertet. Und
von denjenigen mit einem klaren Ergebnis kommt eine erstaunliche
Mehrheit von 87 Prozent zu dem Befund, dass Konkurrenz nicht
die effizienteste Methode ist, die wir kennen.17 Sondern: Kooperation.
Der Grund liegt darin, dass die Kooperation anders motiviert
als die Konkurrenz. Dass Konkurrenz motiviert, bestreitet niemand,
das hat die kapitalistische Marktwirtschaft auch bewiesen; nur motiviert
sie schwächer, weil anders: Kooperation motiviert über gelingende
Beziehung, Anerkennung, Wertschätzung, gemeinsame Zielsetzung
und -erreichung. Das ist die Definition von Kooperation.
Die Definition von Konkurrenz hingegen ist „einander ausschließende
Zielerreichung“. Ich kann nur erfolgreich sein, wenn jemand
anderer erfolglos bleibt. Konkurrenz „motiviert“ primär über Angst.
Deshalb ist die Angst auch ein sehr weitverbreitetes Phänomen in
kapitalistischen Marktwirtschaften: weil viele fürchten, den Job zu
verlieren, Einkommen, Status, gesellschaftliche Anerkennung und
Zugehörigkeit. In einem Wettbewerb um knappe Güter gibt es nun
mal viele Verlierer, und die meisten haben Angst, selbst betroffen
zu sein. Es gibt noch eine weitere Motivationskomponente der Konkurrenz.
Während die Angst von hinten schiebt, zieht vorne eine Art Lust. Doch welche Lust? Es handelt sich um Siegeslust: um den Wunsch, besser zu sein als jemand anderer. Und das ist, mit psychologischer Brille betrachtet, ein sehr problematisches Motiv. Denn das Ziel unseres Tuns sollte nicht sein, dass wir besser sind als andere, sondern dass wir unsere Sache gut machen, weil wir sie für sinnvoll halten, gerne machen und gut. Daraus sollten wir unseren Selbstwert beziehen. Wer seinen Selbstwert daraus bezieht, besser
zu sein als andere, ist davon abhängig, dass andere schlechter sind.
Psychologisch gesehen handelt es sich hier um pathologischen
Narzissmus: Sich besser zu fühlen, weil andere schlechter sind, ist
krank. Gesund ist, dass wir unser Selbstwertgefühl aus Tätigkeiten
nähren, die wir gerne machen, weil wir sie aus freien Stücken gewählt
haben und darin Sinn erfahren. Wenn wir uns auf das Wirselbst-
Sein konzentrieren anstatt auf das Bessersein, nimmt niemand
Schaden, und es braucht keine VerliererInnen.
Es geht um die Zielsetzung. Wenn ich als Nebeneffekt in einer
Tätigkeit besser bin als jemand anderer, ohne dass es mein Ziel
war, dann gibt es kein Problem. Ich werde dem Bessersein keine
Beachtung schenken und dieses nicht als „Sieg“ bewerten – und
der anderen Person helfen. Das Problem entsteht, wenn es mein
Ziel ist, besser zu sein als jemand anderer, ich also eine „Win-lose-Situation
“ anstrebe – was die hier verwendete Definition von Wett-
bewerb ist. Wenn es mein Ziel ist, meine Sache gut zu machen, und
mir egal ist, wie andere ihre Sache machen, dann brauche ich den
Wettbewerb gar nicht – genau das ist aber der Kern des Mythos:
Ohne Wettbewerb würden Menschen keinen Leistungsanreiz verspüren,
keine Motivation, ihre Sache gut zu machen. Dabei verhält
es sich psychologischen Erkenntnissen zufolge genau umgekehrt:
Motivation wirkt stärker, wenn sie von innen kommt („intrinsische
Motivation“) als von außen („extrinsische Motivation“) wie zum
Beispiel der Wettbewerb. Die besten Leistungen kommen nicht zustande,
weil es eine KonkurrentIn gibt, sondern weil Menschen von
einer Sache fasziniert, energetisiert und erfüllt sind, sich ihr hingeben
und ganz in ihr aufgehen. Den Wettbewerb braucht es nicht.
Wollten redliche ÖkonomInnen die Marktwirtschaft tatsächlich
auf der effizientesten Methode aufbauen, die wir kennen, dann
müssten sie sie auf struktureller Kooperation und intrinsischer
Motivation aufbauen – zumindest, wenn sie den aktuellen Stand
der wissenschaftlichen Forschung zur Kenntnis nehmen würden.
Der Umstand, dass sie das nicht tun, ist ein Hinweis darauf, dass es
den WettbewerbsapologetInnen gar nicht um Wissenschaft und Erkenntnis
geht, sondern um Anerkennung im ideologischen Mainstream
oder um Absicherung bestehender Herrschaftsstrukturen.
Den Mächtigen dient die Konkurrenz jedenfalls bravourös: Wenn
wir Menschen nicht lernen, zu kooperieren und uns zu solidarisieren,
werden wir die Machtverhältnisse nicht in Frage stellen und
mit vereinter Kraft verändern, sondern lieber versuchen, uns selbst
mit Ellbogentechnik in den Bereich der Macht und in die gesellschaftlichen
Eliten vorzukämpfen. Dabei bleibt allerdings die große
Mehrheit von uns auf der Strecke. Und das gesellschaftliche Klima
wird fortschreitend vergiftet, weil wir in unserem Streben nach
dem eigenen Vorteil einander permanent übervorteilen, ausnutzen
und entwürdigen und dabei das gesellschaftliche Vertrauen und
den Selbstwert der meisten Menschen schwächen oder zerstören.

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