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Blick ins Buch
Bound by FlamesBound by Flames

Roman

Eine Thronerbin wird zur Drachenreiterin!

Einen Drachen fliegt man nur zu zweit. Es ist eine Ehre – und ein Todesurteil, zumindest für den schwächeren der beiden Drachenreiter, dessen Lebenskraft von der Magie des Drachen verschlungen wird. Um einer Zwangsheirat zu entgehen, meldet sich Prinzessin Caja dennoch freiwillig, eine Drachenreiterin zu werden. Aber nur einer erklärt sich bereit, ihr Partner zu werden: der viel zu starke Reiter Sy mit seinem Drachen Eleni. Damit Caja überlebt, müssen sie ihre Kräfte ins Gleichgewicht bringen, und kommen sich dabei näher als gedacht. Doch Liebe ist unter Drachenreitern strengstens verboten …


Band 1: Bound by Flames

Band 2: Freed by Fire

Prolog

„Dubhar“, hörte ich einen Wächter von den Zinnen unseres Schlosses so laut rufen, dass ich es bis in mein Turmzimmer vernehmen konnte und seine Warnung mich sogar aus dem Tiefschlaf riss. Gleich darauf läutete die Glocke auf dem höchsten Wehrturm Sturm, und ganz Avion erwachte mit einem Ruck.

Dubhar. Sie kamen wie immer mitten in der Nacht. Sobald sich die Menschheit zum Schlaf bettete und der rötlich schimmernde Blutmond am Firmament seine Bahnen zog, flogen sie in dichten, tödlichen Schwärmen los.

Wenn die Untiere die Hauptstadt meines Landes Altara angriffen, war das übel. In meiner Kindheit hatten sie das ein einziges Mal getan. Dreihundert Tote, darunter der König selbst. Mein Vater war über Nacht auf den Thron gesetzt worden. Ich erinnerte mich kaum an die damalige Attacke, da ich erst drei Jahre alt gewesen war, doch die Schreckgeschichten sorgten dafür, dass ich innerhalb eines Lidschlags aus meinem gemütlichen Bett sprang und mir hastig ein Kleid und die Stiefel anzog. Zeitgleich öffnete sich die Tür, und mein Leibwächter Leiad stürmte herein.

Im Gegensatz zu mir war er längst angezogen und schwer bewaffnet. An einem Gürtel um die Hüften trug er sein Schwert, und an zwei vor der Brust gekreuzten Lederschlaufen hatte er sich noch zusätzlich jede Menge Waffen gespannt. Dolche, Messer und Wurfsterne steckten darin. Über seine rechte Schulter hinweg entdeckte ich einen Pfeilköcher samt Bogen. Eindeutig. Leiad rechnete damit, heute Nacht um unser Leben kämpfen zu müssen. Anders als ich hatte er die Gefahr bereits vor der ersten Warnung des Wachtmagiers bemerkt.

Niemand wusste wirklich, was die Dubhar überhaupt waren oder woher sie stammten. Eines Tages hatte sich der Mond rot gefärbt, und sie hatten die Menschheit angegriffen.

Tödlich, präzise und alles vernichtend.

Das war vor einhundertfünfzig Jahren geschehen. Seitdem waren wir sie nicht mehr losgeworden. Im Gegenteil. Ihre Angriffe nahmen an Härte zu, und die Attacken folgten immer dichter aufeinander.

Anders als die übrigen Untiere wie die Drachen oder die Wyvern waren die Dubhar unsichtbar, sodass wir Menschen ihnen hilflos ausgeliefert waren. Wie sollten wir einen Gegner töten, wenn wir ihn nicht mal erkennen konnten?

Einzig düstere, knisternde Wolken voller Magie kündigten ihr Herannahen an. Doch kaum hatten unsere Magier diese Anzeichen entdeckt, war es eigentlich auch schon zu spät.

Endlich hatte ich die Stiefel angezogen und sah hoch. Leiad war kurz vor mir stehen geblieben und hatte dabei reichlich Dreckspuren auf meinem geliebten selbst geknüpften hellen Teppich hinterlassen. Eher achtlos kickte er einen leeren Tontopf zur Seite, ein Überbleibsel meiner gestrigen Pflanzaktion. Ich liebte Blumen, Kräuter oder Büsche, allerdings nahmen sie auch reichlich Platz in meinem Zimmer ein.

„Wir müssen runter in die Kellergewölbe“, erklärte mir Leiad und packte mich am Handgelenk, um mich Richtung Tür zu ziehen. Ich sträubte mich gegen diesen Griff.

„In die Gewölbe dürfen die Bediensteten nur in Begleitung der königlichen Familie. Wir müssen Eny holen.“ Auf keinen Fall würde ich meine liebste Zofe und Freundin im Schloss zurücklassen, wenn die Dubhar hierher unterwegs waren.

In Leiads Blick flackerte etwas auf. Eny und er waren seit zwei Jahren heimlich ein Liebespaar, und natürlich sorgte er sich um seine Freundin, aber seine Pflicht, mich unverzüglich in Sicherheit zu bringen, stand ihrer Rettung im Weg.

„Wir haben keine Zeit, sie zu suchen. Im Trakt der Bediensteten herrscht völliges Chaos, da finden wir sie nie“, protestierte er, doch ich befreite mich aus seinem Griff und rannte an ihm vorbei, raus aus meinen luftigen Gemächern und auf den dunklen Gang. Früher hatte der gesamte Bereich zu den privaten Räumlichkeiten der königlichen Familie gehört. Als mein Vater gekrönt worden war, musste er in den Herrscherbereich umsiedeln. Ich war als Einzige nicht umgezogen, da ich mein Zimmer so sehr liebte.

Die von mir bemalten Wände. Meine vielen Blumen. Die selbst bestickten Vorhänge und vor allem der ausreichende Platz, um heimlich mit Leiad zu trainieren. Hoffentlich würde mein kleines Reich den Angriff der Dubhar heil überstehen.

Zu den Kellergewölben ging es nach links, doch den dazugehörigen Treppenabgang ignorierte ich. Stattdessen hielt ich auf die Räumlichkeiten der Bediensteten zu, Leiad dicht hinter mir.

Die ersten ängstlich greinenden Frauen hasteten mir entgegen. Zofen meiner Mutter. Gehilfinnen. Mägde. Sie alle versuchten, sich in den unteren Etagen in Sicherheit zu bringen, denn die fliegenden Dubhar vernichteten in der Regel zuallererst die Wehrtürme und die größeren Gebäude. Dazu gehörte bestimmt auch das Zentrum des Palastes. Wir mussten hier weg. Dringend.

Und was machte ich stattdessen? Ich rannte in die falsche Richtung und brüllte dabei: „Eny! Eny? Wo steckst du?“

Leiad hielt mich am Arm fest und versuchte, mich mit körperlicher Gewalt zur Umkehr zu bewegen. Da er mir jedoch nicht wehtun wollte, war das ein für ihn schwieriges Unterfangen.

„Eny ist da vorn“, half mir schließlich eine von Mamas Zofen weiter. Zu dritt riefen wir nach der Gesuchten, bis sich eine junge Frau verwirrt umdrehte. Als sie uns erkannte, quetschte sie sich winkend und fluchend durch die panische Menge zu uns. Sie trug ein schlichtes Nachtgewand, bestehend aus einem weißen Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Ihre blonden offenen Haare flossen ihr in sanften Wellen bis zum Po, und in ihren blauen Augen stand nackte Todesangst.

„Was macht Ihr hier, Prinzessin?“, keuchte sie entsetzt. „Ihr müsst runter in die Katakomben. Die Dubhar greifen an!“

„Ich geh nicht ohne euch zwei“, erwiderte ich hitzig, schnappte sie an der Hand und zog sie hinter mir her. Leiad schirmte uns mit seinem breiten Rücken vor rempelnden Hektikern ab, bis wir zum rettenden Treppenabsatz gelangten. Diesmal war es jener, der uns in die Sicherheitsbereiche der Königsfamilie bringen würde. In einem Strom von Menschen eilten wir die Stufen hinunter.

Ein Krachen ertönte. Instinktiv duckten wir uns und sahen ängstlich zur hohen Decke hinauf. Dass die Kronleuchter schwankten und leise klirrten, war ein beängstigendes Detail. Zumal jetzt auch die Erde bebte.

Die Dubhar kamen nicht allein.

Meistens waren sie die Vorhut für eine ganze Armee tödlicher Untiere. Unter normalen Umständen hielten Bannrunen an den Schutzmauern die gigantischen Wyrm davon ab, sich darunter durchzuwühlen, doch sobald die Dubhar die ersten Sicherungen zerstört hatten, gab es kein Halten mehr.

Schlangenartige Wyrm. Drachenähnliche Drakon ohne Schwingen. Fliegende Wyvern. Sie alle kamen im Schutz der mordenden Dubhar, um in die Städte einzufallen, Vieh zu fressen, Menschen zu töten und ihre Zerstörungswut auszuleben. Ein einziger Angriff von allen vieren konnte ganze Hauptstädte in die Knie zwingen. So hektisch, wie die Glocke geschlagen wurde, waren bei dieser Attacke alle Untiere mit dabei.

„Wir müssen hier weg“, stellte Leiad besorgt fest. Diesmal packte er nicht nur mich, sondern auch Eny, um uns aus dem Gedränge zu einer kleineren Verbindungstür zu ziehen.

„Die führt nach draußen auf den Innenhof“, protestierte ich.

„Das weiß ich, aber wenn wir nicht zu den Katakomben durchkommen, nützt uns Eure gehobene Stellung rein gar nichts. Ihr hättet längst in den Schlafbereich der Königsfamilie umziehen müssen, dann hätte ich Euch viel besser evakuieren können. Sollten wir das hier überleben, werde ich diesen Fehler umgehend korrigieren.“

Leiad war vor Ärger über sich selbst ganz rot im Gesicht. Gleichzeitig ging er konzentriert unsere Möglichkeiten durch. „Wir versuchen es außenrum und beten, dass uns noch genügend Zeit bleibt“, bestimmte er.

Umgehend stieß ich die Tür auf und stolperte in den dahinterliegenden offenen Bogengang, der den Innenhof des Schlosses umspannte. Fackeln beleuchteten die Nacht. Auf den Wehrgängen liefen die Soldaten hektisch hin und her, riefen einander Befehle zu oder beteten. Ein Sirren war zu hören. Seltsam hoch und schrecklich laut. Direkt danach folgte ein Krachen.

„Die äußere Wehrmauer der Stadt ist gefallen“, brüllte ein Wachmann. „Sie sind drin! Bogenschützen! Pfeile auflegen!“

Es war wie mit Erbsen auf Drachen zu schießen. Ein Dubhar konnte nicht mit einem Pfeil erlegt werden. Da half nur Magie – oder ein Drache. Um sich aber nicht so dermaßen hilflos zu fühlen, legten die Menschen dennoch ihre Waffen an.

Wo blieben denn bloß die Drachenreiter, die bei solch einem großen Angriff grundsätzlich alarmiert wurden? Hier ging es um die Hauptstadt von Altara, verdammt. Da mussten die doch schneller reagieren!

Der Himmel flammte auf. Rötlich. Orangefarben. Feuerschein. Gleichzeitig wurde es stürmischer. Es roch nach Schwefel und wie nach einem Blitzeinschlag.

Pure Magie, die auf uns zuraste.

Leiad warf sich in der Sekunde auf Eny und mich, als die Schutzmauer rechts von uns in Stücke gerissen wurde. Der Soldat, der sich darauf befunden hatte, verschwand in einem schauerlichen Donnern zusammenbrechender Steine und Geröll. Auch uns erwischte die magische Energie und schleuderte uns gut zwei Meter in die Luft. Leiad und Eny krachten heftig an den linken Wall des Schlosses, während ich ein ganzes Stück höher getragen wurde. Der Innenhof entwickelte dabei eine Art Sogwirkung. Halb flog, halb rutschte und schleifte ich quer über die Wiese. Mauerstücke, Büsche, Äste und sogar zwei Kaninchen flogen rechts und links an mir vorbei durch die Luft. So mancher Schutt erwischte mich, doch meine Panik sorgte dafür, dass ich keine Schmerzen empfand.

Ich wusste nur, dass ich mich irgendwo festhalten musste.

Da! Ein Bogengang. Ich bekam den Rand zu fassen und schaffte es, mich erst festzuklammern und dann näher zum Stein zu ziehen, bis mich die Überreste der weggesprengten Mauer vor dem Sog schützten. Tief gebückt, um weniger Angriffsfläche zu bieten, schob ich mich die Treppe hoch zum Wehrgang hinauf, der nur noch zur Hälfte existierte.

Die Festung von Avion samt dazugehörigem Schloss im inneren Bereich war auf einem Berg errichtet worden, sodass man von hier aus bis weit über die gesamte Stadt und das Tal sehen konnte. Ich brauchte einen Überblick und musste herausfinden, was los war. Wenn ich schon draufging, dann wollte ich zuvor einen Blick auf die Wesen werfen, die soeben meine Welt aus den Angeln hoben.

Mit einem Ächzen schob ich mich hoch auf den bröckelnden Wehrgang und nahm meinen ganzen Mut zusammen, um über eine halb zusammengebrochene Zinne zu schauen. Was ich sah, ließ mich innerlich erbeben.

Unter mir ergossen sich die dunkelroten Häuserdächer von Avion. Dicht an dicht gedrängt, eine Stadt innerhalb der äußeren Festungsmauer, eingequetscht zwischen dem alles überragenden Schloss und den verschiedenen Wällen, die die Stadt in einzelne Bereiche teilte. Handelsviertel. Armenbereich. Adelsvillen. Handwerkergebiet. Und auf all das schob sich pure Dunkelheit zu. Ein Leben vernichtender Tod.

Die unsichtbaren Dubhar waren tatsächlich nicht erkennbar. Ich sah einzig ihre Magie, die sie wie eine Gewitterwolke vor sich herschoben. Blitze zuckten darin, die krachend auf sämtliche Mauern der Stadt niedergingen. Das Sirren war magische Zerstörungswut. Momentan konzentrierten sich unsere Angreifer auf den westlichen Bereich der Festung. Unser Glück, denn dadurch blieben wir von weiteren Böenwalzen der Dubhar verschont.

Sämtliche noch bestehende Schutzrunen leuchteten in allen Farben des Regenbogens, um die Wälle vor den Angriffen zu bewahren. Vergebens. Im Zentrum und auch im Westen der Stadt waren sie bereits erloschen, sodass der Luftraum über mir ungeschützt blieb.

Eine schwarze Nebelwand nutzte das und schob sich etwa zehn Meter über den Häuserdächern ins Innere der Festung. Ob der Nebel ein Körperbestandteil der Dubhar oder eine Art Waffe war, wusste niemand. Mittendrin verbargen sich die unheimlichen Wesen und ließen gleißende Blitze auf Mauern, Häuser, Menschen und Tiere niederregnen. Das Krachen und Bersten zusammenstürzender Gebäude nahm mir beinahe den Atem und vor allem meinen Mut.

Wie sollten wir diese Attacke jemals überleben? Insbesondere, weil mittlerweile auch die restlichen Untiere die Stadt erreicht hatten.

Ich entdeckte einen Lindwurm, der sich neben einem schlangenartigen Wyrm durch eine Lücke im Wall presste. Das Wesen war so groß wie ein ganzes Pferd und so lang wie fünf Gespanne. Offenbar war es direkt vor den Mauern aus der Erde herausgekommen. Und wo einer war, gab es meist noch viele weitere.

Magier feuerten von den Zinnen Zauber auf die Giganten hinab, um sie zu stoppen, während die dunkle Wolke der Dubhar an Höhe gewann und über die Stadt hinwegstrich. Das Manöver kannte ich bereits aus den Erzählungen. Sie holten Schwung, um die nächste Mauer in Angriff zu nehmen. Eine mörderische Front, die jeden Moment den Westwall zu Fall bringen würde.

Bevor es jedoch dazu kam, mischte sich ein Brüllen in das Sirren. Drachen. Sieben an der Zahl. Sie flogen in einer V-Formation dicht beieinander. Genau wie die Dubhar schoben sie eine magische Welle vor sich her, um sie frontal gegen die ihrer Gegner zu schleudern.

Ich duckte mich, als die verschiedenen Zauber aufeinanderprallten. Das Krachen war so laut, dass ich mir die Hände auf die Ohren pressen musste, um es aushalten zu können. Die Nacht wurde taghell erleuchtet, als die Energie der Drachenreiter auf die der Dubhar prallte.

Ein epischer Machtkampf entbrannte, der seltsam schaurig und faszinierend zugleich aussah. Den Gerüchten nach konnte man die Dubhar nur an einer einzigen Stelle mit einem gezielten Schlag töten. Wenn man sie woanders traf, schwächte sie das lediglich.

Die Drachenformation löste sich auf. In zwei Gruppen griffen sie die nun vereinzelt fliegenden Dubhar an, die ich undeutlich als einen Schimmer in der Luft identifizierte. Sobald ein Blitz durch sie hindurchzischte, meinte ich Krallen zu erkennen. Ein Kopf mit Fang- und Reißzähnen, ähnlich geformt wie bei den Drakon oder den Drachen, nur etwas massiger. Sie waren definitiv artverwandt, weswegen man sie zur fünften Art der Untiere zählte.

Drache, Dubhar, Drakon, Wyvern, Wyrm.

Rufe ertönten. Jemand brüllte einen Männernamen. Ein Soldat, der nach seinem Freund suchte. Die Überlebenden krochen aus ihren Verstecken hervor, um sich in Sicherheit zu bringen. Wo auch immer. Momentan waren die Dubhar mit den Drachen beschäftigt, doch sobald sie sich freigekämpft hätten, würden sie die Wehrtürme wieder in Angriff nehmen.

Ich musste hier weg! Dringend!

Leider war ich so fasziniert, dass ich mich kaum von dem Anblick der kämpfenden Wesen über mir lösen konnte. Die Drachenreiter griffen mit magischen Speeren an. Mit Pfeilen. Mit schimmernden Wurfsternen. Viele der Waffen gingen geradewegs durch ihre Gegner hindurch, doch manchmal trafen sie.

Ein Grollen ertönte, als sie einen Dubhar an einer empfindlichen Stelle erwischten. Das Wesen krümmte sich, zumindest glaubte ich, das in dem wilden Blitzgewitter erkennen zu können. Ein hellgrüner Drache flog daraufhin einen weiten Bogen und ließ einen Feuerstoß auf seinen Gegner regnen, direkt gefolgt von einem rot glühenden Speer, der offenbar sein Ziel fand. Der Dubhar zuckte erneut und implodierte. Es sah so aus, als würde sich die Wolke in sich selbst zurückziehen. Ein letztes Aufflackern, dann war es vorbei. Die Drachen hatten sich bereits längst ihrem nächsten Gegner zugewandt, der …

„Caja!“ Dass jemand meinen Namen ohne Titel rief, kam eigentlich nie vor. Das tat Leiad nur in höchster Not. Sein Ruf riss mich aus meiner Betrachtung und ließ mich herumwirbeln. Mein Leibwächter wühlte sich durch den Schutt und schrie nach mir. „Prinzessin! Caja!“

„Hier“, rief ich zurück und kroch mehr oder weniger die bröckeligen Stufen des zusammengefallenen Wehrgangs hinunter.

Leiad entdeckte mich, als ich etwa auf halber Höhe ankam, und winkte hektisch. „Rauf, rauf, rauf“, brüllte er und sprintete so schnell los, wie ich ihn noch nie hatte laufen sehen. In der gleichen Sekunde erscholl ein Horn. Das Zeichen für einen Wyrmangriff.

Ich verstand sofort. Wenn Leiad mich raufschickte, tauchte die verdammte Riesenschlange wahrscheinlich unter der Wiese auf. Hastig wollte ich die Stufen wieder hochlaufen, kam aber nur einen halben Schritt weit, dann brach hinter mir die Hölle los.

Die Erde bebte, als sich ein gigantisches Etwas aus dem Boden direkt neben dem Wall herauswühlte. Schlangenkopf. Gewaltige Giftzähne und ein langer, geschuppter Körper. Die Schlange hatte so viel Schwung, dass sie erst mal drei Meter in die Höhe schoss.

Leiad wich ihr hastig seitlich aus und wollte zu mir rüber zur Wehrmauer sprinten, lenkte dadurch aber die Aufmerksamkeit der Bestie auf sich. Knurrend schnappte sie nach ihm. Er hielt den Biss mit einem Schwerthieb auf und trieb das Untier damit zurück.

Zischend richtete es sich erneut zu seiner vollen Größe auf. Die Hälfte steckte noch in der Erde, doch auch der obere Teil war beeindruckend, allem voran das gigantische Maul und die geschlitzten Augen.

Leiad war geliefert, wenn ich ihm nicht half.

Ein Bogen! Hier hatte irgendwo ein verdammter Bogen samt Pfeilköcher rumgelegen. Ein Überbleibsel seines ehemaligen Besitzers, der tief vergraben im Schutt der Mauer liegen musste. Da!

Auf allen vieren kroch ich rüber, während ich Leiad wild brüllen hörte. Vermutlich versuchte er, die Aufmerksamkeit des Untiers auf sich zu lenken. Ganz der Leibwächter.

Mir verschaffte das die Zeit, den Bogen an mich zu reißen. Nein! Er war zerbrochen. Frustriert ließ ich ihn fallen und sah mich um. Denk nach, Caja, dachte ich und tastete hektisch meinen Körper ab. Mit meinem kleinen Dolch kam ich nicht weit, wohl aber mit …

… meiner Steinschleuder!

Leiad hatte mir stets eingetrichtert, sie bei mir zu tragen. Eigentlich bestand sie lediglich aus einem Hanfseil, in dessen Mitte eine breitere Lederschlaufe eingeflochten war. Eine Waffe, so klein und unscheinbar, dass sie bei den meisten körperlichen Durchsuchungen übersehen wurde. Laut Leiad hatte ihm das zweimal das Leben gerettet.

Hoffentlich war das auch ein drittes Mal der Fall.

Hektisch schnappte ich mir den dicksten Stein, der noch so gerade eben in die Schlaufe passte, und wirbelte das Seil herum, während ich aufstand. Atmete aus. Zielte … und ließ das eine Ende der Schlaufe los, sodass der Stein mit viel Schwung aus der Schlinge schoss. Tatsächlich fand er sein Ziel: das Auge der Bestie. Stein gegen Schuppen war sinnlos. Das weiche Sehorgan hingegen lud mich geradezu ein, dort treffen zu wollen. Es war riesig und befand sich im perfekten Winkel zu mir.

Das Vieh brüllte auf vor Schmerz und wirbelte zu mir, wobei es Augenglibber und Blut überall verspritzte. Hastig legte ich den nächsten Stein auf und bemerkte schaudernd, dass es dunkler um mich wurde. Der Schatten des Wyrms fiel auf mich.

Ein Pfeil flog. Diesmal kam er aus Leiads Richtung. Leider war sein Winkel deutlich ungünstiger, da er am Boden stand und nicht hoch genug zielen konnte, um das Auge effektiv zu erwischen. Der Pfeil schlitterte klappernd am Schuppenpanzer ab und bohrte sich irgendwo in den Schutt neben mir. Ich hörte Leiads Fluch und blickte Sekunden später genau in das unverletzte Auge der Schlange. Sie hatte sich seitlich gedreht, um mich aus ihrem noch gesunden Auge mustern zu können.

Ihre gespaltene Zunge zischelte an mir vorbei. So lang wie ein Mann und so breit wie ein ganzer Ochse. Ihr Maul öffnete sich, und sie holte aus.

Ich ließ den nächsten Stein, ohne zu zielen, fliegen und warf mich zur Seite, um dem Biss der Schlange auszuweichen. Nur mit dem Schwanz hatte ich nicht gerechnet. Wann war das Mistvieh denn bitte ganz aus der Erde gekrochen? Jetzt hieb sie mit ihrem Ende in meine Richtung.

Vermutlich hätte sie mich einfach platt gehauen und mich geradewegs in den Schutt getrieben, doch dazu kam es nicht. Ein zweiter Schatten senkte sich brüllend auf das Wesen, und Krallen legten sich um seinen Körper. Rauschen erfüllte die Luft, als der zur Rettung eilende Drache die Schlange meterhoch anhob. Ehe sie erbost zubeißen konnte, hatte er sie bereits direkt neben der Burgmauer zu Boden fallen lassen, sodass sie mindestens zwanzig Meter in die Tiefe stürzte. Der Aufprall klang dumpf und knochenzerschmetternd. Zur Sicherheit ließ sich der Drache noch mal hinterherfallen. Ich hörte, wie er Schuppen aufriss und dem Wyrm den Gnadenstoß gab.

Diesmal war ich schlauer und sah nicht zu, sondern beeilte mich, dass ich von diesem Wall runterkam. Leiad kam mir bereits entgegen, packte mich am Handgelenk und rannte dann neben mir her zu einem schmalen Eingang, der ins Innere des Schlosses führte.

Kurz bevor wir dort angekommen waren, änderte er die Richtung und hielt sich dicht an der Mauer auf. „Warum gehen wir nicht ins Gebäude?“, schrie ich ihn an.

„Da brennt es. Eine Todesfalle. Außerdem hat es mindestens ein Lindwurm reingeschafft und zerlegt da drin alles.“

Ein Wurm. Blind und ohne tödliche Fangzähne, schuppenlos und scheinbar wehrlos gehörte er nicht zu den Untieren. Trotzdem konnte ein Lindwurm schweren Schaden anrichten, sobald er mal durch eine Schutzmauer gebrochen war. Er fraß dabei so ziemlich alles, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Schutt, Möbel und besonders gern Lebewesen.

Halb stolpernd, halb rennend hielten wir uns dicht an der Schlossmauer, ehe wir endlich ein Kellergewölbe erreichten. Hier wurden Weinfässer gelagert. Wir schlitterten die paar Stufen runter und landeten geradewegs in Enys Armen, die mich schluchzend an sich presste.

„Ich dachte wirklich, Ihr wärt umgekommen“, rief meine Zofe mit zittriger Stimme. „Den Drachen sei Dank, dass es Euch gut geht.“

Ja. Den Drachen sei Dank. Ohne ihr Eingreifen wäre ich jetzt definitiv tot. Trotzdem wollte sich keine Erleichterung einstellen, denn tief in meinem Inneren spürte ich, dass dieser Angriff vermutlich nur einer von vielen weiteren sein würde.

Das Zeitalter der Dubhar war angebrochen, und der Kampf der Menschheit ums pure Überleben wurde immer schwieriger. Unser einziger Schutz waren dabei die Drachen.

Und ihre Reiter.

Blick ins Buch
Crimson Sky – Die SeelenjägerinCrimson Sky – Die Seelenjägerin

Roman

Der Wilden Jagd gehört der Nachthimmel

*** Mit limitiertem Farbschnitt in der 1. Auflage! ***

Triathletin Remy droht an ihrem abrupten Karriereende zu zerbrechen. Als sie in der Halloweennacht von zwei Reitern der Wilden Jagd in die Anderswelt entführt wird, ändert sich aber plötzlich alles. Sie soll Teil der Wilden Jagd werden und muss sich in einer gefährlichen Prüfung beweisen. Ihre Aufgabe: zu Ungeheuern gewordene menschliche Seelen auf der Erde jagen. Dabei lernt sie den attraktiven Kronprinzen Keon kennen. Remy ist die Einzige, die sich traut, ihm zu widersprechen. Dabei riskiert sie allerdings nicht nur ihren Kopf, sondern auch ihr Herz ...

Eine spicy Enemies to Lovers-Geschichte zwischen unserer Welt und der geheimnisvollen Welt der Fae von Bestseller-Autorin Kira Licht! Für alle Fans von Sarah J. Maas und Carina Schnell.

Band 1: Crimson Sky − Die Seelenjägerin
Band 2: Crimson Sky − Der Schattenprinz

Kapitel 1
USA, Atlanta, Campus der Georgia State University


Das YouTube-Video hatte 2,8 Millionen Klicks.

2,8 Millionen Menschen hatten mit angesehen, wie sich Nancy Spencers Trinkflasche aus der Halterung an ihrem Rennrad löste und vor mir auf dem Asphalt landete. Es waren nur Sekunden, in denen ich weder bremsen noch ausweichen konnte. Sekunden, in denen ich über den Lenker geschleudert wurde und durch die Luft flog. Bei meinem Aufprall auf der Straße verlor ich das Bewusstsein.

2,8 Millionen Menschen hatten sich angesehen, wie sich mein Schienbein durch die Haut bohrte, während ich die Kontrolle über meine Körperfunktionen verlor. Ich lag auf dem Asphalt wie eine kaputte Puppe, in meinem eigenen Blut und umringt von Fremden.

Ich war an diesem Tag nicht gestorben, aber ich war seitdem nicht mehr dieselbe. Mein Leben hatte sich einmal um sich selbst gedreht, genau wie ich mich bei meinem unfreiwilligen Salto über den Lenker meines Rennrads.

Nicht nur die bittere Diagnose, eine Schrägfraktur des Schienbeins, riss mir den Boden unter den Füßen weg, sondern auch ihre Bedeutung für mein Leben. Meine Karriere war damit beendet.

Vor dem Unfall war ich eine Triathletin auf dem Höhepunkt ihrer sportlichen Laufbahn gewesen, und noch heute hörte ich die begeisterten Worte meines Agenten Harry in meinem Kopf: „Dein strahlendes Lächeln wird Millionen Packungen Cornflakes verkaufen. Nike lädt dich zu einer Party mit anderen Testimonials ein, es wird alles bezahlt. Na klar bekommst du ein Stipendium fürs College. Du hast eine großartige Zukunft vor dir.“

Fehlanzeige.

Das alles war von dem einen auf den anderen Tag vorbei gewesen. Ein Missgeschick, ein Unfall, der Bruchteil einer Sekunde hatte über mein Schicksal entschieden.

Als sich die grüne Radlerhose zwischen meinen Beinen dunkel verfärbte, stoppte ich das Video schnell. Es war der Gipfel der Schmach, und die ekelhaften Kommentare toppten das noch. Ich wusste es, denn ich hatte sie alle gelesen.

Ich schnaubte leise, schloss die App und warf das Handy neben mich auf die Decke. Die Menschen bewunderten einen, wenn man ganz oben war. Doch sobald man fiel, stürzten sie sich auf einen wie ein Rudel tollwütiger Hunde.

Anfangs hatte Harry noch dafür gesorgt, dass diese Videos durch YouTube offline genommen wurden. Doch sie tauchten immer wieder auf, und irgendwann hatte er es wohl aufgegeben. Die Suchbegriffe „Remy Davis“ und „Unfall“ lieferten immer mehrere Treffer, die meinen Sturz aus den unterschiedlichsten Perspektiven zeigten. Die meisten Klicks, Likes und Kommentare bekamen die Versionen des Videos, die nichts verpixelten.

Mein Magen knurrte laut und fordernd. Wann hatte ich zuletzt etwas gegessen? Ich wusste es nicht mehr. Mein Blick glitt zum Fenster, dessen heruntergelassene Jalousien die Welt da draußen ausblendeten.

Heute müsste Montag sein, oder? Freitagmittag war die Übergabe. Ich hatte also noch etwas mehr als drei Tage, bis ich aus diesem Zimmer raus sein musste. Vielleicht sollte ich mir langsam überlegen, wie ich mein Zeug in einen Lagerraum bekam. Vielleicht sollte ich überlegen, wo ich unterkommen konnte. Vielleicht …

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und das nicht nur vor Hunger. Verdammt! Ich drückte mich von meinem Bett hoch und ächzte, als ich ausatmete. Mein Körper fühlte sich an, als wäre ich einen Marathon gelaufen, dabei hatte ich mich kaum bewegt in den letzten Tagen. Mühsam stand ich auf und streckte mich.

Die Luft in meinem Zimmer roch schal und abgestanden. Kein Wunder, ich hatte es seit Tagen kaum verlassen, und ans Lüften hatte ich ebenfalls nicht gedacht. Ein bitterer Geschmack machte sich in meinem Mund breit, als ich den Blick schweifen ließ. Gepackte Umzugskisten standen überall im Raum verteilt. Ich hätte sie an einer Wand stapeln können, aber in letzter Zeit war mir sowieso das meiste egal. Ich stand auf, wenn die Welt schlafen ging. Ich aß das, was sich in maximal zwei Minuten in meiner Mikrowelle zubereiten ließ. Ich wusste schon nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen Hörsaal betreten hatte.

Bevor ich das Gewicht auf mein verletztes Bein verlagerte, erwartete ich den Schmerz, und er kam prompt. Ein Stich schoss mir siedend heiß hinauf bis in den Brustkorb, wie ein brennender Stachel, der all meine Nervenenden lichterloh entflammte. So war es immer, wenn ich das Bein nach längerem Liegen belastete. Laut meines Psychotherapeuten war es zum größten Teil Phantomschmerz und ein deutliches Zeichen dafür, dass wir noch einen langen Weg vor uns hatten. Ich erinnerte mich auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal einen Termin bei ihm wahrgenommen hatte. Ich nahm zwar keine Drogen oder Medikamente, die mein Erinnerungsvermögen beeinträchtigten, aber ich hatte das Gefühl, dass mir mein Leben völlig entglitten war. Dass die Tage so gleich waren, dass sie zu einem einzigen verschwammen, und mein Verstand langsam, aber sicher völlig abschaltete.

Hunger! Mein Magen, mein Gehirn, mein ganzer Körper schrie mir wütend diese Forderung entgegen.

Auf der Mikrowelle fand ich nur zwei leere Packungen Pop-Tarts. Im Kühlschrank darunter herrschte gähnende Leere. Ob ich etwas bestellen sollte?

Ich griff nach meinem Portemonnaie, das direkt neben der Mikrowelle lag. Ein Dollar und fünfundsiebzig Cents. Das wäre noch nicht mal ein angemessenes Trinkgeld für den Lieferboten, geschweige denn, dass ich dafür etwas zwischen die Zähne bekam.

Ich fluchte leise und überlegte gerade, ob ich alle meine Taschen nach etwas Kleingeld durchsuchen sollte, als mein Handy einen Ton von sich gab. Ich ging zurück zum Bett und drückte auf „Lesen“, während ich es aufhob.

Hey. Sorry, das mit dem Zimmer klappt nicht. Hoffe, du bist okay, Steph.

 

Stephenie war eine ehemalige Teamkollegin von mir, die in einer WG nur ein paar Blocks entfernt wohnte. Nach dem Unfall hatte sie jeden Kontakt zu mir gemieden, fast so, als würde ich Unglück bringen. Ich hatte all meinen Stolz hinuntergeschluckt, als ich sie wegen des Zimmers kontaktiert hatte. Es war kaum mehr als eine Abstellkammer, aber günstig. Das Geld würde ich irgendwie aufbringen. Mit Steph hätte ich mich arrangieren können, sie sah das wohl anders.

Egal.

Ich schloss den Messenger, ohne ihr zu antworten. Steph war der letzte Versuch gewesen, meine drohende Obdachlosigkeit abzuwenden. Ich lachte bitter auf. Vielleicht konnte ich in den Lagerraum ziehen, in dem ich meine Kartons parken wollte? Drei Tage …

Drei Tage, um Geld zu verdienen, um irgendwie ein Zimmer zu finden. Wobei hier die Betonung auf „irgendwie“ lag. Drei Tage …

Ich checkte meine Mails. Noch mal fünf Absagen. Hatte ich die Kraft, ein weiteres Mal im Netz nach Jobs zu suchen? Ich horchte in mich hinein, aber da war nichts. Keine Motivation, keine Energie. Irgendwie hatte ich mich bereits damit abgefunden, mit dem sozialen Abstieg, der Lethargie, der Obdachlosigkeit. Nach dem Unfall war ich mir sicher gewesen, dass ich mit dem unfreiwilligen Karriereende nicht tiefer hätte fallen können. Aber das stimmte nicht. Ich fiel noch immer. Und noch hatte ich den absoluten Tiefpunkt nicht erreicht.

Obdachlos. Das Wort hallte in meinem Kopf nach.

Mein Magen zog sich erneut zusammen, und dieses Mal gesellte sich ein leichter Schwindel dazu, der Lichtblitze vor meinen Augen tanzen ließ.

Ich wartete, bis ich wieder richtig sehen konnte, und griff nach dem Hoodie, das schief über der Lehne des Schreibtischstuhls hing. Dann streifte ich es mir über das verknitterte T-Shirt, in dem ich geschlafen hatte. Die Jogginghose tauschte ich gegen eine Röhrenjeans, die im Trockner um mindestens eine Größe eingelaufen war. Aber ich mochte das enge Gefühl an der Wade, weil es mir versicherte, dass zumindest der Stoff mein Bein zusammenhielt. Ich wachte immer noch oft nachts schreiend auf, mit der absoluten Überzeugung, dass mein Unterschenkel nichts mehr als ein gesplitterter Brei aus Muskeln und Knochen war.

Ich schlüpfte in meine Doc Martens, schnappte mir Handy, Portemonnaie und Schlüsselbund und zog mir die Kapuze des Hoodies tief in die Stirn. Früher hatte ich beim Training und bei Wettkämpfen gern aufwendige Flechtfrisuren getragen. Heute war es mir nach dem Aufstehen sogar zu viel, zu duschen und mir die Haare zu kämmen. Aber dank der Kapuze würde das niemand sehen.

Meine Hand lag schon an der Türklinke, als ich wie automatisch einen kurzen Blick in den Spiegel warf. Ich erkannte mich selbst kaum wieder. Mein helles Haar quoll strähnig unter der Kapuze hervor. Ich war unnatürlich blass und meine Augenringe so groß, dass sie eine eigene Postleitzahl verdient hätten. Vielleicht hätte Concealer geholfen, doch nicht mal den besaß ich mehr.

Ich riss mich von meinem Anblick los und trat durch die Tür auf den Gang des Wohnheims. Hier war es ruhig, und nur die kleine Notbeleuchtung über dem Zugang zum Treppenhaus brannte. Viele hier hatten ebenso wie ich ein Sportstipendium und gingen nach dem Training am Abend sofort schlafen. Ich hätte das Flurlicht anschalten können, doch stattdessen schlich ich durch die Dunkelheit wie ein verwundetes Tier.

Als ich ins Treppenhaus abbiegen wollte, stieß ich mit jemandem zusammen. Papier raschelte, als ich zurückprallte.

„Wow!“, erklang eine dunkle Stimme. „Ich habe dich nicht gesehen, das tut mir so leid.“

„Kein Problem“, sagte ich schnell.

Ich hörte, wie der Lichtschalter gedrückt wurde. Im nächsten Moment sprangen die Halogenleuchten über uns mit einem leisen Sirren an.

Dunkelbraunes Haar, das ihm in leichten Wellen in die Stirn fiel. Breite Schultern, wunderschöne türkisfarbene Augen, ein Grübchen am Kinn. Sein Haar war noch leicht feucht, aber er hatte keine Sporttasche dabei.

Ich starrte ihn einen Moment an, dann glitt mein Blick zu dem, was er da vor sich hertrug. Es war ein Karton, der über und über gefüllt war mit Lebensmitteln. Milchbrötchen, Chips, Dosenobst, Cup-Nudeln, Oreo-Kekse, Twinkies … Vermutlich war er im Gemeinschaftsraum gewesen, wo auch die Päckchen gelagert wurden, die hier für uns ankamen.

„Meine Mutter denkt offenbar, hier gibt es nichts zu essen“, sagte der Dunkelhaarige. „Jede Woche schickt sie mir so ein Paket.“ Er lachte dunkel. „Dabei verbietet mir mein Ernährungsplan das meiste davon. Aber das will Mom nicht verstehen.“

Was hätte ich für eine Mutter gegeben, die mir Pakete schickte! Und der Typ klang fast genervt. Wusste er, wie gut er es hatte?

Ich warf einen neidischen Blick in den Karton und entdeckte sogar ein paar beschriftete Tupperdosen: Cookies. Muffins. Das Lesen der kleinen, weißen Aufkleber sorgte dafür, dass mein Magen erneut vernehmlich knurrte.

„Sorry.“ Schnell presste ich eine Hand auf meinen Bauch.

„Ähm … Möchtest du was haben?“ Er hielt das Paket mit einem Arm und reichte mir dann eine kleine Tüte Chips. Seine Stimme klang nun weicher.

„Danke.“ Barbecue-Geschmack. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, und zu gern hätte ich sie jetzt sofort aufgerissen. Gott, war mir das peinlich!

„Noch was?“ Er schnippte den Deckel der Tupperdose mit dem „Muffins“-Schild auf.

Der süße Geruch von Zimt und Pekannüssen stieg mir in die Nase. Ich schluckte.

„Hier“. Er gab mir einen Muffin.

„Danke dir.“ Ich sah zurück in sein Gesicht.

Er vertiefte das Lächeln, versuchte, meinen Blick zu halten, und ich sah nichts als Freundlichkeit und einen Hauch Neugier in seinen Augen. „Noch einen Wunsch?“

Ja. Ja! Dreh die Zeit zurück. Gib mir mein Leben zurück. Und dann treffen wir uns erneut, hier, auf diesem Flur, in dieser Nacht. Und dann … Vielleicht finde ich dann heraus, wie viel mehr hinter diesem sympathischen Lächeln steckt.

Traurigkeit umfing mich. Dann gesellten sich Wut und Verbitterung dazu. Neun Monate. Es war jetzt ein dreiviertel Jahr her.

Reiß dich zusammen. Komm endlich damit klar. Komm. Damit. Klar!

Er hielt mir eine Packung Twinkies hin. „Das hier?“

Ich schüttelte den Kopf. Er war so nett zu mir. Dabei kannten wir uns gar nicht.

„Nein, danke.“ Ich holte entschlossen Luft, schluckte all die bitteren Gefühle herunter. „Aber das ist sehr lieb von dir.“

„Wirklich nicht?“ Er tat so, als würden die Twinkies über den Rand des Pakets in meine Richtung tanzen.

Er war wirklich süß.

„Da ist es ja. Endlich.“

Ich sah neugierig zu ihm hoch.

Sein Blick war trotz der kühlen Farbe seiner Augen warm. „Ein Lächeln.“

Ich schnaubte leise, aber mein Lächeln wurde noch breiter. Er legte die Twinkies in den Karton und streckte mir die Hand hin. „Ich bin Neil, Zimmer 408, Leichtathletik. Aber ich wohne erst seit drei Wochen hier im Wohnheim“, fügte er noch hinzu.

„Remy, also eigentlich Remyra, Zimmer 414, Triathlon.“ Ich brachte es nicht fertig, ihm zu erzählen, dass ich die Uni schon in drei Tagen verlassen würde.

„Freut mich, Remy.“ Mein Vorname schien ihm nichts zu sagen, ein Glück. Sein Blick wurde ernst. „Wir kennen uns nicht, und das ist vielleicht zu persönlich, aber …“ Er zögerte wieder, dann neigte er leicht den Kopf, als wollte er unter meine Kapuze sehen. „Geht es dir gut? Ich will nicht unhöflich sein, aber …“

Zeit für einen Abgang.

„Danke für die Chips.“ Ich wollte ihn erneut anlächeln, aber ich war nicht sicher, ob es mir wirklich gelang. „Und für den Muffin.“ Ich hob ihn hoch, als wollte ich Neil damit grüßen. „Wir sehen uns.“ Ich nickte ihm knapp zu, dann schob ich mich an ihm vorbei.

„Ja, okay“, hörte ich seine Stimme hinter mir. Er klang überrumpelt und ein wenig … enttäuscht? „Wir sehen uns, Remy.“

Sicher nicht.

Ich beeilte mich extra, als ich die Stufen hinunterlief, und verschlang dabei den Muffin mit drei Bissen. Die zwei Stockwerke hatte ich trotz meines Beins schnell geschafft, und ich atmete erst auf, als ich hinaus in die winterliche Kälte trat. Vielleicht wäre ich unter anderen Umständen noch mal nach oben gegangen und hätte einen Mantel übergezogen. Ich dachte an Neils leuchtende Augen, sein sympathisches Lächeln, die Wärme in seiner Stimme.

Nein, ich wollte nicht, dass er mich noch mal sah. Mein Abgang war schon seltsam und peinlich genug gewesen.

Ich riss die Chipstüte auf und ließ meinen Blick über den Campus der Georgia State University gleiten. Grüne Wiesen, auf denen im Sommer Studenten saßen und lernten. Jetzt hing ein zarter Nebelschleier über den Halmen und ließ die Freiflächen aussehen wie den Schauplatz eines geheimnisvollen Märchens. Alte Bäume, die die Wege säumten und deren winterlich kahle Äste sich wie erstarrte Tentakel in Richtung Himmel reckten. Bänke aus Holz, auf denen Raureif glänzte wie ein Hauch Feenstaub. Mein Atem stieg in kleinen Wölkchen vor mir in der Dunkelheit auf, während ich die Chips knusperte. Das Salz belebte alle meine Sinne so wie der Zucker zuvor.

Wieder glitten meine Gedanken zu Neil. Ich war zwar pleite, hatte mein Stipendium verloren und war vom College geflogen, aber vielleicht könnten wir trotzdem mal einen Kaffee …

Bullshit. Als Nächstes glaubte ich wohl wieder an den Weihnachtsmann.

Vor meinem inneren Auge wischte ich Neils Lächeln entschieden fort.

Game over, Remy. Get over it.

Ich steckte die leere Tüte in meine Hosentasche, zog mein Handy hervor und warf einen schnellen Blick darauf. 21 Uhr, und es war schon komplett dunkel. Gelobt sei der Winter.

Ich schob die Hände in die Taschen meines Hoodies, als ich mit gesenktem Kopf loslief. Es war Zeit, mir mal wieder zu beweisen, wie tief ich tatsächlich gesunken war.


Kapitel 2

Ich legte im Gehen eine Hand an meine Stirn, als ich den Campus verließ. Mir war plötzlich so warm. Ob ich krank wurde? Ich zupfte am Kragen des Hoodies. Ich brauchte Luft, sonst würde ich als Nächstes schmelzen.

Eine gefrorene Pfütze knirschte, als meine Docs das Eis zerbrachen. Was war bloß los? Ich war mal an einer Grippe erkrankt. Da hatte ich wie eine Irre geschwitzt, und mir hatte alles wehgetan, aber jetzt war es ein anderes Gefühl von Wärme. Fast so, als hätte ich einen Hochofen verschluckt, als produzierte mein Körper so viel Energie, dass ich die wärmenden Lagen Stoff nicht brauchte.

Eigentlich wollte ich nicht mal die Kapuze abstreifen, weil ich aussah wie ein Geist. Und dann erst meine Haare …

Eine Hitzewelle durchflutete mich.

Okay, ich brauchte jetzt eine Lösung. Ich zog ein Zopfgummi von meinem Handgelenk. Es war schon ziemlich ausgeleiert, aber es reichte noch, um meine Haare in einem Knödel zu bändigen. Erleichtert riss ich mir das Hoodie über den Kopf, und kaum dass ich ihn mir um die Hüfte gebunden hatte, fühlte ich, wie ich zum ersten Mal seit Minuten wieder richtig Luft bekam.

Ich lief die Courtland Street hinab, passierte die Sports Arena, die zur Uni gehörte, ebenso wie die Volleyball-Courts. Bei Willys Mexican Grill war deprimierend wenig los, ebenso wie im Waffle House. Also nahm ich die Bahn Richtung Hotel District und stieg an der Station Peachtree aus. Rund um den Centennial Olympic Park gab es verschiedene angesagte Bars und Pubs, in denen Geschäftsleute gern den Feierabend einläuteten.

Wieder betastete ich prüfend meine Stirn. Nicht feucht. Auch meine Hände waren warm und trocken. Ein wohliges Feuer brannte in meinem Inneren, und der kalte Wind an meinen nackten Armen war nichts als eine sanfte Brise.

Seltsam. Sehr seltsam, aber definitiv nichts, das jetzt Priorität hatte. Und da ich keine Krankenversicherung mehr besaß, würde mir auch niemand helfen, bis ich auf offener Straße zusammenbrach.

Darauf würde ich es jetzt einfach ankommen lassen. Außerdem lenkten mich die beeindruckenden Hochhäuser, das viele Chrom und die teuren Limousinen am Straßenrand ab.

Ka-Ching. Hier saß das Geld locker, und ich war fest entschlossen, mir meinen Anteil davon zu sichern.

Ich hatte mit dem Klauen angefangen, als die Bank mir mein Konto sperrte. Als ich weder meinen Agenten oder sonst wen mehr um Geld bitten konnte. Als ich den Job als Küchenhilfe nach einem Tag verlor, weil ich nach drei Stunden nicht mehr stehen konnte. Als ich Hunger hatte und vor mir ein Kerl in Maßanzug und Designer-Lackschuhen seine Brieftasche nur locker in das vordere Fach seiner prolligen Aktentasche geschoben hatte.

Scham musste man sich leisten können. Wenn die Verzweiflung die Oberhand gewann, dann rechtfertigte man sein Handeln, um nicht daran zu zerbrechen.

Trotzdem überfielen mich vorher immer wieder Skrupel. Immer wieder entschloss ich mich dagegen, gerade dann, wenn das Geld für etwas war, das nichts mit reinem Überleben zu tun hatte. In den sechs Wochen, seit ich regelmäßig nachts durch die Straßen schlich, hatte ich immer wieder den Rückzug angetreten. Außerdem hatte ich Prinzipien. Keine Rentner und keine Familien mit Kindern. Und keine Studenten – auch wenn die manchmal schwer auszumachen waren, wenn sie mit Daddys Geld großkotzig in den Bars herumwedelten.

Ich war gerade auf das John Portland Boulevard abgebogen, als mir drei Typen aus der Hotelbar des Hyatt Regency vor die Füße taumelten. Sie schlugen sich immer wieder gegenseitig auf die Schulter, und als ich ihnen folgte, entnahm ich ihrer Unterhaltung, dass sie heute einen großen Deal abgeschlossen hatten. Sie sprachen über Häuser, aber ich hielt sie für Anwälte. Absolventen einer Eliteuni, die in einer der besten Kanzleien von Atlanta mit Immobilien-Spekulationen das große Geld machten. Und die alle schon ziemlich angeschickert wirkten.

Mein Glück.

Fast wäre ich in sie hineingelaufen, als sie vor einem Pub stehen blieben und lautstark diskutierten, ob sie sich dort noch einen Absacker gönnen sollten.

Ich machte einen halben Schritt zurück und zog alibimäßig mein Handy hervor. Mein Blick glitt über die fahrenden Autos zur anderen Straßenseite. Von dort grinsten mich zwei Typen an.

Ich sah schnell weg und direkt wieder hin. Nein, ich hatte mich nicht geirrt. Sie grinsten immer noch.

Ich brauchte einen Moment, um darauf zu kommen, was hier nicht ins Bild passte.

Beide in mittleren Jahren, beide mit Bart, und beide trugen … Reitstiefel? In den Hochhausschluchten von Atlanta?

Ich kniff die Augen zusammen, um ganz sicherzugehen.

Reitstiefel, weit geschnittene Stoffhosen und Westen.

Alles klar …

Ich sah weg. Jeder wie er mochte. Ich hatte kein Problem damit. Furries, Trekkies oder Hipster, jeder sollte sich kleiden, wie es ihm gefiel, und lieben, wen er oder sie wollte, dachte ich, während ich kurz vor der mit Halloween-Deko erschlagenen Auslage eines Elektronikgeschäfts stehen blieb. Auf den Flatscreens lief überall dasselbe Programm. Eine Doku eines Nachrichtensenders. Es schien um den heutigen Tag, den 31. Oktober, zu gehen.

Wahnsinn! Denen fiel auch echt nichts mehr ein.

„Samhain – eine Nacht voller Wunder“ jagte gerade in verschnörkelter Schrift über die Bildschirme.

Ich schnaubte. Samhain, eine Nacht wie jede andere. Und war heute nicht Halloween?

Ich drehte mich weg und sah erneut kurz zur gegenüberliegenden Straßenseite. Als Paar sahen die beiden ganz niedlich aus. Und statt der Windjacke in gleichen Farben trugen sie eben Reitstiefel und Westen. Sei’s drum.

Aber selbst als die Anwälte weitergingen, wollte das Bild der zwei Typen mit den irgendwie altertümlich wirkenden Klamotten nicht aus meinem Kopf verschwinden. Sie hatten mich angegrinst, als würden wir uns kennen.

Doch jeder Gedanke an sie war vergessen, als ich sah, wie nachlässig der eine Anwalt seine Geldbörse in die Tasche seines Jacketts gestopft hatte. Ich steckte mein Handy weg und sprach mir selbst noch mal Mut zu.

Das hier war nicht einfach.

Es war nicht nur eine Straftat. Es war fremdes Eigentum, es war Geld, für das der Mann gearbeitet hatte. Es war hinterhältig und gemein.

Wieder fühlte ich mich wie im freien Fall. Haltlos, orientierungslos und ohne Boden in Sicht.

Reiß dich zusammen. Jetzt oder nie.

Ich schob mich an ihnen vorbei, murmelte eine Entschuldigung und griff gleichzeitig zu.

Das Leder schmiegte sich weich an meine Handfläche.

Geschafft.

Die Männer hatten mich nicht mal beachtet. Dennoch beschleunigte ich meine Schritte, bis ich in eine kleine Nebenstraße abbiegen konnte. Ich schob das Portemonnaie in die hintere Tasche meiner Hose, damit es unter dem umgebundenen Hoodie versteckt war.

Kein Geschrei, kein Rufen nach der Polizei. Auch das hatte ich schon erlebt und war nur knapp davongekommen.

War es erledigt, fand ich es klug, in der Dunkelheit zu verschwinden. Im Hinterhof eines Ladens zählte ich schnell meine Beute. Sechsundsiebzig Dollar und ein Portemonnaie von Burberry, das ich verkaufen könnte. Auf den Straßen Atlantas gab es genug Händler, die sich für „auf Umwegen“ beschaffte Waren interessierten. Vierzig Mäuse waren da bestimmt drin, es sah aus wie neu.

Ich vermied einen Blick auf den Personalausweis. Den Namen wollte ich nie wissen, denn das machte es plötzlich persönlich. Ich warf ihn hinter mich in die Dunkelheit, genau wie die Kreditkarten. Die Nummer war mir einfach zu heiß. An allen Bankautomaten gab es Kameras, ebenso wie in den meisten Geschäften. Dort mit einer gestohlenen Karte aufgenommen zu werden, war mir zu riskant. Außerdem wollte ich gar nicht das große Geld. Ich brauchte nicht viel, und bald würde ich bestimmt einen neuen Job haben. Bald. Sehr bald. Meinen Hintern hochkriegen, die fünfte Runde Bewerbungen schreiben, sich vorstellen gehen, bald, ja, sehr, sehr bald …

Diebin und Heuchlerin, Glückwunsch, du Loser.

Ich wühlte noch weiter in dem Portemonnaie. Keine Fotos, ein Glück. Aber ein flacher Taschenspiegel.

Ernsthaft? So schön war der Typ nun wirklich nicht gewesen.

Ich betrachtete meine Reflexion in dem kleinen eckigen Plastikrahmen.

In diesem Moment brach der helle Wintermond durch die Wolkendecke. Ein leichter Wind kam auf. Ich konnte die Nacht schmecken. Ihre flirrende Kälte, die winzigen Eiskristalle in der Luft.

Mein Blick in dem Taschenspiegel sah aus, als hätte ich einen Geist gesehen.

Ich konnte den Wind hören, sein leises Flüstern, sein Versprechen von Freiheit.

Meine Augen wirkten riesig in dem leicht schmierigen Glas.

Schatten begannen zu flüstern, jedes Geräusch wurde messerscharf, jede Bewegung sichtbar. Die halb erfrorene Ratte vor der Mülltonne, das Rascheln einer Katze auf der Feuertreppe, der schiefe Gesang einer Frau aus einem der Fenster.

Dann schien das Blau in meinem linken Auge zu verschwimmen. Das Schwarz der Pupille dehnte sich aus, streckte sich, und ein scharfer Stich jagte mir bis ins Hirn. Ich stieß einen schmerzerfüllten Laut aus. O Gott, was passierte gerade? Ob ich auf diesem Auge spontan blind wurde?

Ich blinzelte, und dennoch konnte ich den Blick nicht abwenden. Was zur Hölle ging hier vor? War ich krank? Würde ich sterben? Jetzt, hier, sofort?

Der Schmerz verschwand, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Zurück blieb eine Träne, die mir aus dem Augenwinkel rann, und eine komplett schwarze Iris.

Was. Zur. Hölle …?

Ich starrte immer noch ungläubig in den Spiegel. Meine Sehkraft war unverändert gut, aber … Ich keuchte auf vor Schock. Eine Iris war blau, die andere schwarz! Das Weiß drum herum schien zum Glück unversehrt.

„Was …“

Eine Stimme ließ mich meinen gemurmelten Satz nicht beenden. „Hey, Süße!“

Ich hob den Kopf, überrascht und ertappt zugleich. Ein Typ kam lässig auf mich zu. Er war vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als ich. Seine Klamotten wirkten okay, aber er könnte dringend mal einen Haarschnitt vertragen. Und seine Schuhe schienen buchstäblich auseinanderzufallen.

„Rück die Kohle raus. Ich weiß, du hast den Schnösel beklaut.“ Er streckte mir auffordernd die Hand hin. „Los, mach schon, oder das hier wird hässlich.“

Ich, die immer noch Portemonnaie und Taschenspiegel hielt, konnte das schlecht leugnen. Hinzu kam, dass ich durch die Sache mit meinem Auge noch irgendwie leicht neben mir stand. Verständlicherweise. Ich rechnete immer noch damit, dass ich gleich nichts mehr sah.

„Hau ab“, sagte ich halbherzig. „Das geht dich nichts an.“

„’ne große Klappe hat sie auch noch.“ Der Typ strich sich das dunkle Haar zurück und verzog verächtlich einen Mundwinkel, als er sich vor mir aufbaute. Seine Nägel waren ungepflegt, der Kinnbart zu lang, um hip zu sein.

Schwer zu sagen, ob er tatsächlich obdachlos war.

Sag Hallo zu deinen neuen Freunden, Remy, wisperte eine böse kleine Stimme in meinem Kopf.

„Ich gehe jetzt.“ Ich wollte mich abwenden.

„Erst das Geld, Baby, und dann überlege ich mir, ob du gehen darfst.“ Er griff nach mir. Brutal, ohne zu zögern und so unwirsch, wie man nach einem davonfliegenden Blatt greifen würde.

„Lass mich los.“ Mein Herz überschlug sich vor Angst. Bisher hatte ich auf den Straßen Atlantas immer Glück gehabt. Doch ich wusste, wie gefährlich es war, sich als Frau allein im Dunkeln herumzutreiben. Und jetzt bekam ich die Quittung dafür.

Der Typ lachte, doch als sich unsere Blicke trafen, wich er überrascht zurück.

„Freak.“ Er stieß das Wort hervor wie ein Schimpfwort.

Ich antwortete nicht, stattdessen versuchte ich, mich aus seinem Griff zu lösen. Das Portemonnaie fiel mir aus der Hand, der kleine Spiegel zerbrach auf dem Asphalt.

„Hilfe!“ Ich schrie das Wort aus Leibeskräften. „Hilfe, bitte!“

Keine Reaktion.

Irgendwo wurde scheppernd ein Fenster zugeknallt.

Dann lagen seine Finger plötzlich um meinen Hals. Er würgte mich. Er schnürte mir die Luft ab!

Ich sollte vor Angst und Panik durchdrehen, doch ich fühlte nichts dergleichen mehr.

Nichts.

Da war eine seltsame Ruhe in mir, tief und endlos. Dunkel und voller Kraft. Die berühmte Ruhe vor dem Sturm.

Ich schaffte es irgendwie, nach Luft zu schnappen, und sie prickelte, als würden winzige Kristalle aus gefrorenem Sauerstoff auf meiner Zunge schmelzen.

Dort, tief in meinem Bauch, wo das kleine Feuer mich wärmte, entzündete sich ein Funke. Tief in mir brannte eine Sicherung durch. Ich schlug zu.

Das Brechen seiner Nase verursachte ein hässliches Knirschen.

Der Typ schrie auf, ließ mich los und wollte zurückweichen. Doch wie in Trance griff ich nach ihm.

Es fühlte sich an, als machte mein Körper sich selbstständig. Als wüsste er instinktiv, wie und wo er zuschlagen musste. Ich war nie eins dieser zerbrechlichen Püppchen gewesen, die unter dem schützenden Arm des Freundes verschwinden wollten. Ich maß knapp 1,75 Meter, und jeder Muskel meines Körpers war durch das jahrelange Training gefordert und geformt worden. Ich hatte zwar eine Menge abgenommen in den letzten Monaten, aber ich war immer noch rank und sehnig wie ein grüner Ast.

Noch ein Schlag. Und noch einer.

Als mein Verstand wieder die Oberhand gewann, sah ich entsetzt auf meine blutigen Fingerknöchel. Es war nicht mein Blut, was mich noch mehr entsetzte.

Der Typ war ohnmächtig in sich zusammengesunken, ein Arm lag schlaff über meinen Docs. Blutstropfen glitzerten auf dem Asphalt.

Ich hatte einen Menschen geschlagen. Der Typ war bewusstlos! Ich atmete schwer, immer noch unfähig, mich zu bewegen. Innerlich jedoch fühlte es sich an, als wäre jede Zelle meines Körpers zu neuem Leben erwacht. Es war wie ein Rausch, wie ein Cocktail nie gekannter Emotionen. Ich wollte es herausschreien. Lachen, kichern, ausflippen.

Ich schämte mich dafür, und schnell presste ich eine Hand über meinen Mund. Doch ich kam nicht dagegen an. Ein irres Lachen kämpfte sich den Weg aus meiner Lunge. Es brannte in meiner Kehle, fordernd und so übermächtig, dass ich mich krümmte.

Dann kapitulierte ich.

Ich bog den Rücken durch, reckte den Kopf gen Himmel, hinauf zum Mond, den Wolken, den Sternen und lachte.

Ein wilder Schrei erklang. Triumphierend, high vor Blutlust. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es mein eigener Laut gewesen war. Ich atmete keuchend aus, und mein Blick fiel auf den Mann, den ich bewusstlos geschlagen hatte.

Passierte das hier wirklich? Oder hatte ich endgültig den Verstand verloren?

„So viel Wut“, erklang eine tiefe Stimme unweit hinter mir.

„So viel Wahnsinn“, diese andere Stimme klang sogar noch dunkler.

Ich schwang herum.

Da waren sie wieder. Die zwei Typen mit den Reitstiefeln und der seltsam aus der Mode gekommenen Kleidung.

„Sie gehört zu uns.“ Der Grauhaarige sprach, als wäre ich gar nicht da.

Der Dunkelhaarige nickte beifällig. „Sie gehört definitiv zu uns.“

„Wie bitte?“, stieß ich hervor. Als eine Wolke den Mond wieder freigab, badete ein milchiges Licht den Hinterhof. Ein eisiger Schauer jagte mein Rückgrat entlang. Ich starrte die beiden an. Sie hatten meine Augen. Blau und Schwarz.

O. Mein. Gott!

„Hallo, Jägerin.“ Die Stimme des Dunkelhaarigen klang nun wie ein Schnurren. Er war nur knapp so groß wie ich, doch seine Hände wirkten so kräftig, dass sie mich vermutlich mühelos in der Mitte durchbrechen konnten. „Es wird höchste Zeit, dass du deine Kohorte kennenlernst.“

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