In Ihrem Roman beginnt alles mit einem einfachen Beziehungsstreit an einem Sommerabend. Der Protagonist besteht darauf, alles über die Vergangenheit seiner Verlobten zu erfahren, und plötzlich gerät ihr gemeinsames Leben aus den Fugen… Wie ist Ihnen diese Idee gekommen?
Seit ein paar Jahren spielen Spannungs- und Ermittlungselemente eine immer größere Rolle in meinen Geschichten. Für Das Mädchen aus Brooklyn bin ich diesen Weg weitergegangen. Mich hat es fasziniert, auszuprobieren, wie aus einer scheinbar ganz alltäglichen Situation (wie dem Streit eines Paares) über eine Kettenreaktion das Leben der Hauptfiguren und zahlreicher anderer Personen sowohl in Frankreich als auch in den USA vollkommen aus der Bahn geworfen werden kann. Es geht um den Schmetterlingseffekt – eine winzige Kleinigkeit kann eine ganze Reihe von unvorhersehbaren und verheerenden Ereignissen auslösen.
Ich habe die Gewohnheit, Romane zu schreiben, die ich auch selbst gern lesen würde. Mir gefällt der Moment, wenn man nach einem anstrengenden Tag voller Lust und Ungeduld wieder zu seinem Buch greift. Außerdem wollte ich von Anfang an die Intensität der Erzählung in den Vordergrund rücken und sie dabei mit komplexen Figuren und einer dichten Handlung verbinden, die über fünfhundert Seiten hinweg spannend bleibt.
Bei einem solchen Plot ist es sicher schwierig, über den Roman zu sprechen, ohne zu viel zu verraten! Können Sie uns trotzdem etwas über dieses geheimnisvolle Mädchen aus Brooklyn sagen, nach dem das Buch benannt ist?
Das Mädchen aus Brooklyn ist die Frau, die im Roman herumspukt, ohne physisch darin vorzukommen; sie ist nämlich verschwunden.
Die Nachforschungen, die mein Held Raphaël anstellt, um die Frau, die er liebt, wiederzufinden, lösen eine ganze Lawine von Enthüllungen aus, die sich teils ergänzen, teils widersprechen. Wie in einem Kaleidoskop entsteht daraus Stück für Stück das Porträt dieser geheimnisvollen Frau.
Letzten Endes habe ich den Roman komplett um die An- und Abwesenheit der Heldin herum konstruiert: Über Erinnerungen und Rückblicke wird viel von ihr gesprochen, alle suchen sie, doch niemand weiß wirklich, wer sie ist. Der Leser ist derjenige, der sie am besten kennt, da er alle Karten in der Hand hält. Zumindest glaubt er das! Ich denke, die Einzigartigkeit der Geschichte beruht auf dieser beschwörenden, phantomhaften und zweideutigen Seite der Heldin.
„Das Mädchen von Brooklyn“ ist noch mal ein gutes Stück spannender als Ihre früheren Bücher und verbindet ein sehr hohes Tempo (die Handlung spielt sich in einem Zeitraum von drei Tagen ab) mit einem Blick in die Vergangenheit. Ein Teil der Nachforschungen betrifft Geschehnisse, die zehn Jahre zurückliegen und nie aufgeklärt wurden. Ist es das erste Mal, dass Sie sich an einem cold case versuchen?
Ja. Zu Beginn des Schreibprozesses musste ich pausenlos an den Satz von Françoise Sagan denken: ›Ich frage mich, was die Vergangenheit für uns bereithält.‹ Es war wirklich sehr anregend, die Architektur dieser Ermittlungen zu entwerfen, die an das Prinzip der russischen Matrjoschka-Puppen erinnert:Jedes gelöste Rätsel gibt nur den Weg zu einem noch größeren Rätsel frei, und erst das allerletzte, von dem man anfangs nichts ahnt, wird enthüllen, was aus Raphaëls Verlobter geworden ist.
Beim Schreiben besteht die Herausforderung darin, alle Stränge bis zur letzten Seite beisammenzuhalten. Auch wenn ein Großteil der Geschichte in der ersten Person erzählt wird, haben mir vor allem die Wechsel der Erzählperspektive besonderen Spaß gemacht. Sie tauchen das Geschehen in ein neues Licht, Fakten werden der Realität gegenübergestellt und manche Figuren offenbaren ihre wahre Natur.
Im Roman ermittelt ein Duo, ein Schriftsteller und ein Polizist, wobei jeder von ihnen eine andere Perspektive mitbringt. Könnten Sie uns von den beiden erzählen?
Beide sind einsame Männer, die nach ihrer fehlenden Hälfte suchen.
Raphaël, der Erzähler, ist ein Schriftsteller, der nicht mehr schreibt, seit er seinen zweijährigen Sohn alleine großzieht. Als seine Verlobte verschwindet, stürzt er sich in Nachforschungen und bittet seinen Nachbarn um Hilfe, Marc Caradec – der in die Jahre gekommene Star der Spezialeinheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Ein bisschen so wie in einem Buddy-Movie zeigt sich bald, dass die beiden sich gut ergänzen: Caradec ermittelt mit der Gründlichkeit und den teils drastischen Methoden eines Polizisten, während Raphaël sein Feingefühl und seine Erfahrung als Romanautor nutzt, um sich den Ermittlungen wie einer erfundenen Geschichte zu nähern und die verschiedenen Verdächtigen wie Romanfiguren zu behandeln.
Aber auch, wenn meine Ermittler beide Männer sind, ist das Herz der Romanhandlung weiblich: Die wichtigsten Figuren sind eine junge Frau, die sich weigert, ein Opfer zu sein, eine investigative Journalistin, die von Empathie und ihrem Sinn für Ethik geleitet wird, zwei Schwestern, die alle Männer aus ihrem Leben verjagt haben, und eine Politikerin, die weiß, dass jeder Kampf ein paar Kollateralschäden mit sich bringt – zielstrebige Frauen, die in die Freiheit verliebt und in vielerlei Hinsicht zäher sind als meine beiden Helden.
In den berührenden Momenten, in denen Raphaël seinen Sohn mit einer Mischung aus vollkommener Liebe und Verzweiflung betrachtet, kann man sich kurz von den wahnsinnig spannenden Ermittlungen erholen. Hatten Sie selbst, wie Ihr Schriftstellerheld, je das Gefühl, dass die Vaterschaft Sie vom Schreiben abhält?
Die Geburt meines Sohnes war für mein Schreiben ein zweischneidiges Schwert. Seitdem habe ich weniger Zeit zu schreiben, aber er hat mir auch einen Haufen neuer Glücksmomente, Sorgen und Verantwortung beschert – und damit neuen Stoff für meine Romane!
Die Vaterschaft ist wahrscheinlich das zentrale Thema von „Das Mädchen aus Brooklyn“, weil sie auf die Identität, die eigenen Wurzeln und die Formung der Persönlichkeit verweist. Die Protagonisten des Romans haben alle ganz unterschiedliche Beziehungen zur Vaterschaft: Sie empfinden sie als glücklich oder qualvoll, als harten Schlag, oder streiten sie ab. Und wie mein Held Raphaël sagt: ›Alle Wahrheiten der Welt schlagen ihre Wurzeln in die Erde der Kindheit.‹
Ihre Leser wissen inzwischen, dass Sie in Ihren Romanen stets bestimmte Themen aufgreifen. Auch in Das Mädchen aus Brooklyn finden sich einige davon wieder: Erstens die Frage nach dem Geheimnis als bestimmendem Element unserer Identität. Zweitens der schmale Grat zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen den Tatsachen, wie sie in den Medien dargestellt werden, und der Realität.
Die Enthüllung von Geheimnissen aus der Vergangenheit ist tatsächlich ein Wesensmerkmal des cold case. Ich verweise oft auf ein Zitat Solschenizyns, an das ich glaube und das aktueller denn je ist: ›Unsere Freiheit beruht auf dem, was die anderen von unserer Existenz nicht wissen.‹ Ich denke, wenn man sich Schlimmes vorzuwerfen hat, ist nichts beängstigender als mitzuerleben, wie Dinge aus der Vergangenheit wieder auftauchen, von denen man glaubte, sie endgültig hinter sich gelassen zu haben. Aber was mich auch interessiert, ist die erlösende Wirkung des Geständnisses. Das ist ein Thema, für das ich brenne und das ich bereits in „Nachricht von dir“ angeschnitten habe: Dieser Moment im Leben, in dem man nicht anders kann, als sich damit zu konfrontieren, wer man wirklich ist.
Und dann geht es auch noch um die Zweifel an der wahren Natur unserer Partner, die jeden von uns befallen können …
Das ist ein großer Klassiker im Suspense-Genre. Von Daphné über Maurier bis hin zu Gillian Flynn haben sie alle darüber geschrieben, denn Lügen, Manipulation und der trügerische Schein einer Beziehung sind Themen, die jeden betreffen und die sich ins Herz einer Beziehung einschleichen können.
Auch in vielen Genrefilmen, die ich in meiner Jugend entdeckt habe, trifft man dieses Thema an: „Die Hand an der Wiege“, „Fremde Schatten“, „Sea of Love – Melodie des Todes“, „Weiblich, ledig, jung sucht…“, „Das Messer“…
Was ich an Thrillern am meisten schätze, ist nicht so sehr die Action, auch wenn sie den Rhythmus vorgibt, sondern vielmehr das Psychologische. In meinen Geschichten sind die grundlegenden Veränderungen vor allem persönlicher Natur, sie betreffen ihre Ängste, ihre geheimen Hoffnungen. Ich mag es, wenn der Zweifel die Protagonisten ebenso infiziert wie die Leser. Die Figuren in Das Mädchen aus Brooklyn sind nicht statisch; sie entwickeln sich mit ihren Fehlern, ihren Zweifeln und ihrer Reue weiter. Es sind keine Helden im klassischen Sinne, sondern eher gewöhnliche Frauen und Männer, die das Beste aus dem machen, was das Leben ihnen vorgibt. Der amerikanische Autor Dennis Lehane hat es auf den Punkt gebracht: ›Selbst in den besten Menschen werdet ihr immer auch das Schlimmste sehen, und das Beste in den schlimmsten.‹
Aus dem Französischen von Johanna Mandelartz
Guillaume Musso wurde 1974 in Antibes geboren und kam bereits im Alter von zehn Jahren mit der Literatur in Berührung, als er einen guten Teil der Ferien in der von seiner Mutter geleiteten Stadtbibliothek verbrachte.
Da die USA ihn von klein auf faszinierten, verbrachte er mit 19 Jahren mehrere Monate in New York und New Jersey. Er jobbte als Eisverkäufer und lebte in Wohngemeinschaften mit Menschen aus den verschiedensten Ländern. Mit vielen neuen Romanideen kehrte er nach Frankreich zurück.
Er studierte Wirtschaftswissenschaften, wurde als Lehrer in den Staatsdienst übernommen und unterrichtete mit großer Leidenschaft. Ein schwerer Autounfall brachte ihn letztendlich zum Schreiben. In „Ein Engel im Winter“ verarbeitet er eine Nahtoderfahrung – und wird über Nacht zum Bestsellerautor. Seine Romane, eine intensive Mischung aus Thriller und Liebesgeschichte, haben ihn weltweit zum Publikumsliebling gemacht. Weltweit wurden mehr als 22 Millionen Bücher des Autors verkauft, er wurde in 38 Sprachen übersetzt.
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Gelungen, wie der Autor häppchenweise Inhaltliches preisgibt und trotzdem das Interesse des Lesers am Köcheln hält - ein Interview, gespickt mit Zitaten, das ihn sehr sympathisch rüberkommen lässt und am liebesten gleich nach dem (Kriminal?!-) Roman greifen lässt...