Der Anruf London, 1992
Die Schuhe waren völlig durchnässt. Gwen zog sie vor der Haustür aus und hörte schon den Kater miauen. Sie hatte vergessen, sein Näpfchen zu füllen, und nun war er in seiner Ungeduld nicht mehr zu bremsen. Er würde dennoch warten müssen, sie wollte erst duschen, denn ihr war kalt vom Joggen durch den lausigen Regen. Da klingelte das Telefon, und Gwen sah auf die Uhr. Es war halb neun, der Verlag konnte es nicht sein. Als es hartnäckig weiterläutete, nahm sie etwas genervt den Hörer ab.
„Hallo, Gwenny Love, hier ist Lily. Störe ich dich? Aber du bist ja sicher noch nicht am Schreibtisch.“ Noch bevor Gwen antworten konnte, redete ihre Tante weiter.
„Hör zu, Gwenny, ich möchte zu Lotte nach Berlin, dort ein paar Tage bleiben und dann gemeinsam mit ihr weiter in die DDR, also das, was davon übrig geblieben ist, und dann nach Polen. Man kann jetzt überallhin reisen. Du weißt ja. Man kann sich ein Auto leihen und dann einfach losfahren, habe ich gehört.“
„Lily, ich muss unter die Dusche, ich bin pitschnass.“
„Entschuldige, ja, aber in zwei Wochen möchte ich fahren – und zwar mit dir. Allein kann ich das nicht mehr, und Lotte ist so alt wie ich. Du hast doch Zeit? Sag Ja!“
Gwen hatte sich nach dem grauen Winter in London auf zwei Wochen im Süden Italiens gefreut und war wenig begeistert von der Idee, mit ihrer alten Tante und deren kommunistischer Freundin in die ehemalige DDR und weiter nach Polen zu reisen. Sie stellte sich vor, wie sie bei schlechtem Wetter auf misstrauische Menschen traf, die mehr oder weniger berechtigt Angst davor hatten, die ehemaligen Besitzer wollten nun ihre heruntergekommenen Gutshöfe zurückhaben.
„Lily, ich überlege es mir, ich rufe dich wieder an.“
„Ruf mich heute Abend zurück, ich bin vorher unterwegs. Bitte lass uns diese Reise zusammen machen. Heute kann ich das noch, morgen womöglich schon nicht mehr“, meinte Lily bestimmt. Und Gwen wusste genau, was jetzt kam, weil sie das immer sagte. „Gwenny, du weißt: Der Regen kehrt nicht mehr nach oben zurück.“
Lily hatte ihr Vorhaben mit solchem Nachdruck vorgebracht, dass Gwen geneigt war, über eine Reise, zu der sie gerade überhaupt keine Lust verspürte, nachzudenken. Sie füllte das Näpfchen von Sloppy und ging unter die heiße Dusche.
Der Urlaub mit Laura nach Italien war längst geplant. Sie wollten nach Neapel fliegen und von dort aus mit dem Schiff nach Ischia und an der Amalfiküste entlang zurück. Laura war ihre beste Freundin, sie hatten sich während des Studiums kennengelernt. Als Musikwissenschaftlerin hatte Laura über einen Komponisten aus dem 17. Jahrhundert promoviert. Sie hatte seine italienischen und lateinischen Texte transkribiert, war zu Forschungszwecken immer wieder in Italien gewesen und sprach die Landessprache fließend. Außerdem verstanden sie sich ausgezeichnet auf gemeinsamen Reisen, hatten die gleichen Interessen an Kunst und Kirchen, aber auch immer große Lust auf analytische Tauchgänge in die Untiefen der Psyche ebenso wie auf etwas Tratsch über Familienmitglieder und Ex-Freunde, am liebsten bei einem kleinen Aperitivo.
Die Liebe zu Italien hatte Gwen von ihrer Mutter geerbt. Häufig waren sie in den Ferien in die Toskana gereist, und von jeder dieser Reisen brachte ihre Mutter Oliven- oder Zitronenbäumchen mit, die sie dann auf ihrer Terrasse in Terrakottakübel einpflanzte. Auch hatte sie die Kochbücher von Elizabeth David verschlungen, die in den Fünfzigerjahren versucht hatte, den Engländern mediterrane Genüsse näherzubringen.
Gwen fragte sich, wie sie Laura erklären sollte, dass sie jetzt mit ihrer betagten Tante und deren Freundin in die ehemalige DDR und nach Polen reisen würde, wo es weder guten Wein noch Bruschetta oder Sardellen in Olivenöl gäbe.
Die Sache ließ sie dennoch nicht los, und so suchte sie im Regal nach den alten Baedekern, die ihr Großvater gesammelt hatte, und wurde fündig. Wo genau war dieser Gutshof überhaupt? Sie erinnerte sich, dass er sich in der Nähe von Köslin befand, dem heutigen Koszalin.
Ihr Großvater Jakob, der als Kaufmann zu Wohlstand gekommen war, hatte das Anwesen einst in Pommern an der Ostsee erworben. Gwen hatte ihn nicht mehr kennengelernt, er war in der Emigration gestorben. Sie kannte zwar einige Geschichten vor und nach seiner Flucht, aber immer hatte sie den Eindruck gehabt, als würde eine hermetische Kruste der Verdrängung auf allen Erinnerungen liegen. Auf den ohnehin spärlichen Familientreffen war selten von früher die Rede gewesen, und auf Beerdigungen beließ man es dabei, sich etwas oberflächlich über den Ehrgeiz des Alltags auszutauschen.
Sie hatte Köslin auf der Karte gefunden. Die Karten waren aus hauchdünnem Papier, das mehrfach zusammengefaltet war und in ausgeklapptem Zustand eine präzise Orientierung vermittelte. Der Baedeker beschrieb, wie man 1920 von Berlin mit der Eisenbahn an die Ostsee reisen konnte, wie lange die Fahrt dauerte und was die Fahrkarte kostete. Wie zivilisiert das alles klang und wie unkompliziert.
Gwen machte sich einen starken schwarzen Tee, für den sie vorher die Kanne mit heißem Wasser ausgespült hatte. Das Silber speicherte die Wärme, so wie die Morgensonne ihren Backsteinboden im Wintergarten noch wärmte, nachdem der Schatten die Luft bereits merklich abgekühlt hatte. Der Tee musste eine ganz bestimmte Temperatur haben, wenn sie nachher einen Schuss kalte Milch in ihren Becher gab, damit Tee und Milch sich vermischten wie die Farbreste von Pinseln, die man in einem Glas Wasser auswusch.
Sie nahm ihren Earl Grey mit zum Schreibtisch und wollte an einer Übersetzung weiterarbeiten, von der sie froh war, wenn sie abgeschlossen sein würde. Es war ein schwieriger Text, den sie aus dem Deutschen ins Englische übertragen sollte. Sie war fast fertig, und die Arbeit an diesem Buch hatte ihr keine große Freude bereitet. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren – ihre Gedanken wanderten unfreiwillig immer wieder zu Lilys Vorschlag zurück.
In gewisser Weise hatte ihre Tante recht, sie jetzt mit Nachdruck auf die Fährte ihrer Vorfahren zu schicken. Sie suchte das Fotoalbum, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte: ein schmales Büchlein mit kleinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, von denen manche gestochen scharf waren und andere stark verblichen. Irgendjemand hatte das Album begonnen und weitergeführt, aber nicht, bis kein Blatt mehr frei gewesen wäre, sondern die Bilderseiten hörten plötzlich auf. Auf den frühen Fotografien, die wohl um 1900 entstanden sein mochten, gruppierten sich fein gekleidete Damen und Herren vor einem Gebäude, das die Engländer untertrieben als Country House bezeichnen würden. Auf einem Foto, das Gwen schon immer sehr imponiert hatte, sah man eine schöne Frau im Damensitz auf einem prächtigen schwarzen Pferd. Es war Ruth, die erste Frau ihres Großvaters Jakob, die nach der Geburt ihres jüngsten Kindes, Gwens Tante Lily, an einer Streptokokkeninfektion gestorben war. Von Penizillin wusste man damals noch nichts.
Weitere Bilder zeigten Ruth und ihre Freundinnen, oder waren es Cousinen, in mädchenhaften dünnen Musselinkleidern mit Spitzenkragen und weiten Ärmeln. Ruth trug einen großen Hut, unter dem die Haare hochgesteckt und doch locker fallend reizvoll und anmutig zugleich wirkten. Auf einer weiteren Aufnahme blickte Jakobs stattlicher Vater selbstbewusst in die Kamera. Er trug einen Sommerhut zu einem hellen Leinenanzug und hielt die Gerte in der Hand, wahrscheinlich kam er von einem Reitausflug und würde sich im nächsten Moment in einen der geflochtenen Korbsessel fallen lassen, die man im Garten kunstvoll verstreut platziert hatte.
Pferde zu haben, war ein Statussymbol, das bald schon von Automobilen abgelöst wurde, und so sah man denn auch die Familie auf späteren Aufnahmen um eine geräumige Limousine gruppiert. Jakobs zweite Frau Ilsabé, Gwens Großmutter, galt als verwegene Autofahrerin, die, wenn sie Lust darauf hatte, einfach losfuhr, um dann von Berlin, Prag oder Paris ein Telegramm zu schicken, dass sie gut angekommen war.
Auf einem Bild, es war das letzte in dem kleinen Album, war Ella zu sehen. Ach, Ella. An Ella hatte Gwen immer wieder gedacht, und jeder Gedanke an sie hatte ihr einen kleinen Stich versetzt. Für Marga war Ella die „Ellamammi“ gewesen, im Unterschied zu ihrer leiblichen Mutter Ilsabé, die sie stets nur mit Vornamen erwähnt hatte. Die Fotografie zeigte Ella zusammen mit einem kleinen Mädchen, das in ein Handtuch gewickelt war und sich ausschüttete vor Lachen. Ein Schnappschuss, den jemand während der Sommermonate an einem See oder Badestrand aufgenommen haben musste. Es gab keine Ortsangabe, nur die Jahreszahl 1938. Das kleine Mädchen war Marga.
Gwen konnte sich nicht erinnern, ihre Mutter so fröhlich erlebt zu haben, nicht einmal mit Robert, Gwens Vater. Ihre Eltern hatten sich bei ihrem Onkel Theo kennengelernt, das wusste sie aus Erzählungen. Theo war in den Zwanzigerjahren zum Studium der Altphilologie nach Oxford gegangen und dort geblieben. Nach dem Krieg hatte er bemerkt, wie unglücklich seine jüngere Halbschwester Marga in Deutschland war, und sie zu sich nach England eingeladen. In seinem viktorianischen Reihenhaus trafen sich regelmäßig Studenten, darunter Robert. Hin und wieder aber waren auch Damen eingeladen, und dann durfte Marga dabei sein, die mit Theos Hilfe in der Bodleian Library eine Aushilfsanstellung gefunden hatte.
Robert zählte zu jenen Studenten, die mit besonders vielen Begabungen gesegnet waren und in die man sich einfach verlieben musste. Er konnte Dramentexte von Shakespeare bis Oscar Wilde deklamieren, war ein blitzgescheiter und witziger Diskussionspartner, und er gehörte auch noch dem Team von acht Ruderern an, die ausgewählt worden waren, um im Wettkampf gegen Cambridge den Pokal zu holen. Aber Roberts Stimmungen konnten schnell wechseln, und so zeigte er an manchen Tagen eine nicht zu bremsende Energie und lag an anderen Tagen im verdunkelten Zimmer. Damals sprach man nur selten von Depressionen, man wusste einfach zu wenig.
Gwen sah auf die Uhr. Kurz nach zehn. Jetzt würde er bereits gefrühstückt haben. Sie wählte seine Nummer, und Roberts Lebensgefährtin Sue nahm ab. Nach einem freundlich-oberflächlichen Wortwechsel gab Sue den Hörer weiter.
„Gwen, Darling, wie schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?“, fragte ihr Vater, hörbar erfreut.
Etwas umständlich erzählte Gwen von ihrer Arbeit und der mühevollen Übersetzung, um schließlich zum Punkt zu kommen.
„Lily hat mich angerufen, sie möchte, dass ich mit ihr nach Deutschland und weiter nach Polen reise. Sie will unbedingt, dass ich mitfahre. Sie hat sich mit Lotte in Berlin verabredet.“
„Mit der Kommunistin?“
„Ja, genau die. Sie ist doch Lilys beste Freundin.“
„Da kommen ja zwei zusammen. Wenn ich nicht so alt wäre, käme ich sofort mit. Das klingt nach einer vergnüglichen Landpartie. Aber wahrscheinlich wird das Essen miserabel sein, und guten Wein gibt es ohnehin nicht. Andererseits machen die Polen prima Schnäpse.“
„Sehr witzig.“
Wie immer schaffte es ihr Vater, seine Alkoholsucht in seinem eigenen Charme buchstäblich zu ertränken.
„Ich habe mir das kleine Album noch einmal angesehen und mich gefragt, ob du noch irgendwelche Fotos, Briefe oder Aufzeichnungen von Mum hast. Lily hat mit ihrem Anruf etwas in mir ausgelöst, und vielleicht ist es jetzt tatsächlich die letzte Gelegenheit, um mit ihr nach Pommern zu reisen.“
Gwen sprach mit ihrem Vater Englisch, aber „Pommern“ hatte sie nicht übersetzt. Es gab Wörter, die in ihrer Familie immer auf Deutsch ausgesprochen wurden. Und auch ihr englischer Vater hielt sich an dieses ungeschriebene Gesetz.
„Deine Mutter hat sich ja irgendwann nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen wollen, was ihr nicht wirklich gelungen ist, aber ich erinnere mich, dass Ella ihr einiges überlassen hat.“
„Was denn zum Beispiel?“
„Na ja, ich weiß nichts Genaues, aber Marga hat einmal erzählt, wie überladen das Auto war, als sie von der Ostsee nach Oberbayern fuhren.“
„Die Geschichte kenne ich gar nicht, aber schau doch mal nach, was du so findest, dann komme ich am Wochenende zum Tee, wenn es dir passt.“
„Darling, das wäre schön. Du kannst natürlich auch Theo anrufen, er weiß sicher mehr. Und bring doch eine Flasche von dem alten College-Port mit, wenn du noch eine hast.“
Als Gwen auflegte, dachte sie, dass es tatsächlich eine gute Gelegenheit wäre, sich wieder einmal bei ihrem alten Onkel Theo zu melden. Als emeritierter Professor lebte er noch immer in seinem schönen Haus in Oxford. Es war in den letzten Jahren schwierig geworden, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Er telefonierte nicht gerne und freute sich über wenig Besuch, anders als andere Menschen in seinem Alter. Immerhin aber beantwortete er in seiner kalligrafisch anmutenden Handschrift jeden Brief sofort. Sie beschloss, ihm im Laufe der Woche ein Lebenszeichen zu schicken. Vorher aber wollte sie Laura anrufen und heraushören, ob sie sehr enttäuscht wegen der Italienreise wäre.
Sie verbrachte den Nachmittag mit der mühseligen Übersetzung. Als es anfing zu dämmern, fand sie, dass sie eine Tasse Tee verdient habe und auch ein Stückchen des köstlichen Sponge Cake, den ihre Nachbarin mit der extra feinen Himbeermarmelade gebacken hatte. Sie ließ Sloppy in den Garten, obwohl es geregnet hatte und er vorwurfsvoll miaute, weil er seine sanften Pfoten nicht in den nassen Rasen setzen wollte.
Laura war sofort am Telefon. Sie hatte die glockenhelle Stimme eines jungen Mädchens, dabei war auch sie schon Mitte dreißig. Sie arbeitete für ein internationales musikwissenschaftliches Journal, und gerade quälte sie sich mit einem mittelmäßigen Essay, den ein hochrenommierter Professor aus den USA verfasst hatte, der es nicht ertrug, von einer Frau korrigiert zu werden.
„Laura, ich muss dir etwas sagen – Lily hat mich gefragt, ob ich sie auf eine Reise nach Berlin und weiter nach Polen begleiten würde. Sie möchte den Gutshof noch einmal sehen, wo sie aufgewachsen ist. Oder was davon übrig ist. Sie will mir unbedingt alles zeigen. Jetzt, wo die Grenzen offen sind. Sie klang so bestimmt, du kennst sie ja. Es scheint ihr sehr viel zu bedeuten.“ Gwen machte eine kurze Pause, um Laura Gelegenheit zu geben, diese Neuigkeiten zu verarbeiten, doch Laura reagierte prompt.
„Na ja, sie ist in einem Alter, in dem man solche Reisen nicht jedes Jahr wiederholen kann. Und jetzt, wo es möglich ist – Berlin nach dem Mauerfall, das würde mich selbst interessieren.“
„Dann komm doch mit!“, rief Gwen euphorisch.
„Ja, warum nicht, nach Italien können wir auch noch im September. Ich schau mir alles mal auf der Karte an. Ich kenne einen Bach-Forscher, den ich gerne treffen würde und mit dem ich mir seit Jahren schreibe. Vielleicht könnte ich von Berlin aus einen Abstecher nach Leipzig unternehmen. Und dir wird die Reise sicher guttun. Wir haben in den letzten Jahren so oft über deine Mutter gesprochen. Das ist doch eine gute Gelegenheit, mehr zu erfahren.“
Gwen war geradezu beglückt darüber, dass Laura mit von der Partie sein würde. Sie könnten sich nicht nur auf den langen Strecken im Auto ablösen, es würden sich gewiss auch manche Schrulligkeiten der alten Damen besser ertragen lassen.
Jetzt musste sie nur noch Lily erreichen, die immer und besonders für ihr Alter sehr beschäftigt war. Ihre Tante besuchte fast jede Aufführung der Royal Shakespeare Company, die sie für das beste Ensemble der Welt hielt; sie verpasste kaum eine Ausstellungseröffnung, zu der sie eingeladen wurde; sie leistete sich Mitgliedschaften in diversen Freundeskreisen namhafter Museen und immer wieder eine der sündhaft teuren Karten für Opernabende in Covent Garden.
„Lily, ich bin’s, Gwen. Also, ich komme mit. In drei bis vier Wochen kann ich los, bis dahin bin ich mit meiner Übersetzung fertig und Laura mit ihren Aufträgen“, brachte Gwen entschieden hervor, als ihre Tante endlich ans Telefon ging.
„Wie schön, Gwenny Darling, aber was hat Laura denn damit zu tun?“, fragte Lily etwas argwöhnisch.
„Laura fährt mit.“ Und als würde sie die Gedanken ihrer Tante ahnen, fügte sie hinzu: „Wir werden trotzdem genug Zeit für uns haben. Du weißt ja, wie einfühlsam sie ist. Für mich ist es viel angenehmer, wenn mich jemand begleitet, der mir beim Kartenlesen helfen kann und immer guter Laune ist. Außerdem kennt sie ja die ganze Familiengeschichte.“
„Na ja, die ganze Familiengeschichte kennst ja noch nicht einmal du, aber deshalb fahren wir ja zusammen hin“, bemerkte ihre Tante spitz. „Ich mag Laura. Sie hat diesen trockenen Humor, und sie ist doch so sprachbegabt, kann sie denn Deutsch?“
„Motetten-Deutsch!“
„Was ist das denn?“
„Sie kennt die Texte von Bachs Motetten und vom Weihnachtsoratorium.“
„Na, das wird lustig, wenn die eine Bach-Kantaten summt und die andere Marx zitiert.“
„Das meinte Robert auch. Ich fahre nächstes Wochenende übrigens nach Suffolk. Ich war lange nicht da. Ich habe ihn auch gefragt, ob er noch etwas von Mummy hat, und er meinte, dass das gut möglich wäre, es gäbe noch irgendeine Kiste mit Erinnerungskram, wie er es nannte.“
„Aha“, sagte Lily nur, und beim Verabschieden klang ihre Stimme ungewohnt angespannt. Warum, konnte sich Gwen nicht erklären, aber sie schob den Gedanken schnell beiseite.
Bis zur Abreise war nun einiges zu tun. Sie musste die Übersetzung abschließen und vorzeitig dem Verlag schicken, denn sie wollte sichergehen, dass es keine Rückfragen gab. Vielleicht würde sie auch noch bei Marks & Spencer ein paar leichte Schuhe und eine dünne Jacke für die Reise kaufen. Für schlechtes Wetter waren sie ja hier auf der Insel bestens ausgerüstet. Außerdem wollte sie Tee mitnehmen, Earl Grey und English Breakfast erwiesen sich immer als beliebte Mitbringsel. Sie würde einige Stunden ihres Italienischkurses ausfallen lassen müssen, was ihr leidtat, denn Theresa, ihre römische Lehrerin, hatte ein mitreißendes Temperament.
Plötzlich erschienen ihr die verbleibenden Wochen bis zur Abreise als sehr kurzer Zeitraum, zumal sie ja auch noch den Sonntagsausflug zu ihrem Vater geplant hatte. Und Theo wollte sie unbedingt noch schreiben, er würde es ihnen übel nehmen, wenn er hinterher erfuhr, dass Lily und seine Nichte in seiner alten Heimat gewesen waren. Das würde sie am besten gleich erledigen, bevor sie es vergaß.
Gwen suchte in ihrer kleinen Sammlung eine Kunstpostkarte mit einem seltenen Motiv. Sie wusste, dass ihr Onkel solche Gesten schätzte. Sie fand ein Porträt, das Franz von Stuck von seiner schönen Tochter im Jahr 1915 gemalt hatte. Es fiel ihr ein bisschen schwer, sich von der Postkarte zu trennen, die sie vermutlich einmal in München in der Villa Stuck gekauft hatte, aber Theo würde sich freuen. In wenigen Sätzen teilte sie ihm mit, dass sie mit Lily nach Polen reisen und den Gutshof aufsuchen würde und ihn gerne vorher kurz gesprochen hätte.
Besuch in Ipswich
Gwen nahm den Zug bis Ipswich, wo ihr Vater sie abholen wollte. Sie freute sich darauf, die Fahrt allein mit ihm zu verbringen. Umso enttäuschter und zugleich auch besorgter war sie, als nicht Robert, sondern Sue am Bahnsteig stand.
Robert sei seit zwei Tagen in einer sehr trüben Stimmung und könne sich nicht aufraffen aufzustehen, erklärte Sue die Situation. Hoffentlich wäre es am Nachmittag schon besser. Gwen müsste also doch übernachten, was sie nur im Notfall vorgehabt hatte. Sue, die sonst nicht durch analytische Beobachtungen hervorstach, war sich sicher, dass Roberts innere Unruhe mit Gwens Reiseplänen zu tun haben musste. Die verdrängte Erinnerung an Marga sei mit voller Wucht aufgebrochen. Er habe viel getrunken und dann alle Schubladen durchsucht und ausgeleert, um ihre Briefe zu finden.
„Er hat eine Schachtel gefunden“, schloss Sue ihre etwas vorwurfsvoll klingenden Ausführungen. „Er hat sie dir in dein Zimmer gestellt. Dein Vater muss seinen Rausch ausschlafen, und wenn er hört, dass du da bist, geht es ihm hoffentlich besser. Ich habe nicht gedacht, dass es ihn so mitnehmen würde.“
„Danke, Sue, auch fürs Abholen. Ich kann mir vorstellen, dass das alles nicht immer leicht für dich ist“, bemühte sich Gwen einfühlsam hervorzubringen.
„Ich habe gewusst, auf was ich mich einlasse“, meinte Sue trocken, „und Robert ist trotz allem das Beste, was mir passieren konnte. Ich muss mit den grauen Wölfen leben, die ihn immer wieder aufsuchen und bedrängen.“
Sue war klein, drahtig und patent und hatte stets alles im Griff. Sie wusste, was am besten gegen Schnecken im Garten half und wann man bestimmte Zwiebeln setzen musste, sie organisierte den Gemeindechor und kümmerte sich um die alten Damen im Dorf, vor allen Dingen aber bewahrte sie in der Regel ihren Vater vor größeren Abstürzen.
Das Cottage, in dem die beiden lebten, war dreihundert Jahre alt. Sie hatten es gemeinsam liebevoll renoviert, die Balken freigelegt, die alten Holzböden abgeschliffen, die Wände vom Putz der Jahrhunderte befreit und jedes Zimmer in einer anderen, pudrigen Farbe gestrichen. Der große Kamin im Wohnzimmer konnte wieder benutzt werden, und eine Heizung wärmte zusätzlich, die allerdings nur waschechte Engländer als ausreichend empfinden konnten. Das alte Haus war schön und romantisch, aber zugig und kalt, und man war gut beraten, mit einer Wärmflasche und einer dicken Jacke anzureisen. Ein mit Weidezäunen eingefasster Garten säumte das Anwesen, in dem schon bald prachtvolle Rosen und Klematis blühen würden. Keiner, der das Cottage zum ersten Mal sah, hätte sich gewundert, wenn Jane Austen persönlich aus der Tür getreten wäre und zum Tee eingeladen hätte.
Sue hatte einen kleinen Blumenstrauß in Gwens Zimmer gestellt und frische Handtücher auf ihr Bett gelegt. Sie war eine sehr gute Gastgeberin, musste Gwen unumwunden zugeben. Auf dem alten Waschtisch stand tatsächlich die erwähnte Kiste, die noch zugeklebt war. Ihr Name war groß und deutlich in der Handschrift ihrer Mutter zu lesen. Sie fand es seltsam, dass ihr Vater all die Jahre nach Margas Tod nicht mehr an diese Schachtel gedacht hatte. Sie musste ihm doch spätestens beim Umzug aus dem alten Haus in die Hände gefallen sein. Aber ebenso merkwürdig fand sie es, dass ihre Mutter zwar ihren Namen auf die Schachtel geschrieben, sie ihr aber nie persönlich überreicht hatte. Vielleicht hatte sie vorgehabt, zu einem späteren Zeitpunkt mit ihr über den Inhalt zu sprechen, war aber nicht mehr dazu gekommen.
Gwen war aufgeregt und löste vorsichtig die Klebstreifen, die so getrocknet waren, dass sie wie von selbst abfielen. Auf den ersten Blick waren es Fotografien, Briefe, einige offizielle Dokumente, dann aber entdeckte sie einen Stapel identisch aussehender Schreibhefte, die mit einer roten Schleife zusammengebunden waren. Sie waren beschriftet mit Jahreszahlen und Ortsangaben. Auf dem Etikett des ersten Heftes war zu lesen „Bad Tölz und München 1911–1918“, auf dem nächsten „Schloss Elmau 1918–1919“, dann „Köslin und Florenz 1923–1925“ und so weiter. Die Hefte hatten einen festen roten Einband mit einem ebenfalls roten Farbschnitt. Zuoberst lag ein bereits geöffneter Umschlag. Gwen zog den Brief darin vorsichtig heraus und erkannte Ellas Handschrift. Sie las:
5. September 1948
Meine liebe Marga,
ich hoffe, es geht Dir gut in Oxford bei Theo. Du schreibst, dass Du in einer Bibliothek arbeitest. Weißt Du, dass ich noch nie in einer öffentlichen Bibliothek war? Was genau musst Du denn dort machen, und bereitet Dir die Tätigkeit Freude? Hast Du schon Freundinnen gefunden?
Es ist für uns alle eine schwierige Zeit, die Währungsreform hat hier allerdings überall die Versorgung verbessert. Es waren so viele Städter noch bis vor Kurzem hier draußen, die tauschen oder hamstern wollten. Das hat sich jetzt fast über Nacht gelegt. Ich glaube, es gibt keinen Bauern hier im Tölzer Land, der jetzt nicht ein Geschirr mit Goldrand oder alten Familienschmuck hat.
Ich wollte Dir schreiben, dass Du bitte nicht so sehr mit Deiner Mutter ins Gericht gehen darfst. Ich kenne Ilsa nun schon so lange und weiß, wie schwer sie es selbst hatte. Wir werden alle in eine bestimmte Zeit hineingeboren, und Deine Mutter hat in schlimmen Zeiten gegeben, was sie geben konnte. Sie wusste, dass sie nicht zu mehr fähig war, und darum hat sie Dich auch später in meine Obhut gebracht. Das hat sie nicht aus Verantwortungslosigkeit getan, sondern, im Gegenteil, weil sie Dich liebt. Nicht jede Frau ist eine geborene Mutter. Das Schicksal wollte es, dass ich keine Kinder habe, aber gerne welche bekommen hätte, und Deine Mutter hat mir Dich als kleines Mädchen in den Arm gedrückt und mir damit ein Lebensglück beschert. Das wollte ich Dir sagen. Außerdem hast Du mich gebeten, dass ich Dir ein bisschen von meinem Leben erzählen solle, weil du so wenig wüsstest über meine frühen Tölzer Jahre.
Nun, ich habe die letzten Monate damit verbracht, meine Tagebuchaufzeichnungen zu sichten und aufzuschreiben, was in den vergangenen fünfzig Jahren geschehen ist.
Es war eine gleichermaßen schmerzvolle und beglückende Reise in die Vergangenheit, meine liebe Marga. Ich habe viel Schönes erlebt, ebenso wie Verluste und enttäuschte Hoffnungen.
Ich habe auch ein paar alte Fotografien in das Buch hineingeklebt. Sie sind nicht besonders gut, aber man erkennt doch die Menschen und die Umgebung. Ich hoffe, es freut Dich, und Du kannst dann, wenn Du dies alles gelesen hast, auch unsere Zeit, in der wir aufgewachsen sind, besser verstehen.
Unsere Generation hat viel erlebt, und am wenigsten selbstverständlich war, dass wir überlebt haben. Besonders wir Frauen hatten es schwer, und dabei spielte es oft keine Rolle, ob man arm oder reich war.
Schick mir doch bitte ein Foto von Dir, und erzähl mir, was es bei Theo zu essen gibt. Ihr habt ja sogar eine Köchin.
Vielen Dank auch für den guten Tee, der hier eingetroffen ist wie ein Wunder, und auch für die schöne Dose, in der er verpackt war. Das sind hier Kostbarkeiten.
Ich soll Dich von allen grüßen. Anton vermisst Dich und fragt jeden Tag nach Dir. Er ist gewachsen und eine Freude. Stell Dir vor, Nücki hat geschrieben, sie hat sich zusammen mit Knüvel in den Westen retten können. Das Haus duftet gerade nach Jolas Apfelstrudel.
Bitte schreib bald, und grüß Theo recht herzlich.
Sei Du fest umarmt, von allen hier im Gästehaus,
Deine Ellamammi
Was für ein unglaublicher Schatz lag in ihren Händen. Ella hatte sich die Mühe gemacht, für Marga, ihre geliebte Ziehtochter, ihr eigenes Leben aufzuschreiben. Und Marga hatte diesen Schatz wiederum für ihre Tochter aufgehoben, damit sie, Gwen, einmal in den Besitz dieser Erinnerungen kommen würde. Marga schien aus Sprachlosigkeit, Trauer und heftigen Selbstzweifeln nie herausgefunden zu haben, und dann war sie auch noch so unerwartet früh gestorben.
Gwen öffnete behutsam das erste Heft. Ellas Handschrift war klein und dennoch gut lesbar. Die Seiten waren eng beschrieben, und Gwen glaubte zu erkennen, wann sie eine Pause eingelegt und den Füllfederhalter neu befüllt hatte, denn die blauschwarze Tinte hatte dann eine andere Färbung und der Schriftzug eine sich verändernde Stärke. Immer wieder gab es Seiten, auf denen Ella Fotografien, Eintrittskarten oder Postkarten eingeklebt hatte. Das Datum auf dem ersten Heft reichte in Ellas Kindheit zurück. Gwen rechnete nach, 1911, da musste Ella dreizehn Jahre alt gewesen sein. Das war nun über achtzig Jahre her.