11. August 1849
Samuel würde ihr geheimes Spiel für sich behalten. Er konnte am Leben bleiben. Wenn man ihn leise wieder in sein schützendes Bettchen zurückbrachte, würde niemand erfahren, dass er jemals fort gewesen war. Diejenigen, die davon wussten, hatten zu viel Angst, um etwas zu verraten. Jetzt konnte die Zukunft noch aufgehalten und neu entworfen werden. An diesem Augustmorgen standen alle Möglichkeiten offen. Doch im Sommer dämmert der Morgen so hoch im Norden früh, und das Haus erwachte sicherlich schon. Jeder rosagoldene Streifen am Himmel forderte eine Entscheidung. Bald würde es hell sein, und dann gab es keine Wahlmöglichkeit mehr. Dann würde seine Abwesenheit auffallen.
Sein pummeliges Händchen hielt ein Geschenk hoch, Gänseblümchen und Gras, die er aus der frühmorgendlich feuchten Wiese herausgerupft hatte. Seine Augen waren so blau wie ferne Himmel.
Er sollte leben.
Aber die Stimmen meldeten sich wieder, dieses Mal lauter. „Töte ihn, töte ihn!“ Ihnen Einhalt zu gebieten, war unmöglich – Widerstand machte sie nur zornig und noch hartnäckiger. Unüberhörbar schrien sie Erinnerungen an Unrecht und Leid heraus. Nur Rache konnte sie zum Schweigen bringen. Er durfte nicht am Leben bleiben. Doch selbst das grausame Messer, aus einer tiefen Tasche gezogen, zögerte, als es über Samuel schwebte. Er blickte hoch und schrie erschrocken auf, als er endlich verstand, welches Spiel gespielt wurde. Beim ersten ungeschickten Zustoßen fielen zerdrückte Gänseblümchen und Gras um den Jungen herum auf den Boden. Dann wurde es leichter, und die scharfe Klinge stach immer wieder zu. Der Abgrund war überwunden, und die Zeit setzte wieder ein.
1
Die schauerlichen Ereignisse, von denen ich auf diesen Seiten erzähle, haben sich vor vielen Jahren zugetragen, aber sie waren derart verhängnisvoll, dass sie sich mir so lebhaft einprägten, als wären sie gestern erst geschehen. Meine Geschichte mag an manchen Stellen reißerisch klingen, doch ich kann Ihnen versichern, dass ich, soweit es nach all dieser Zeit möglich ist, diese grauenvolle Phase meines Lebens wahrheitsgetreu schildere und nicht bestrebt bin, meinen Bericht in irgendeiner Weise auszuschmücken.
Mein geliebter Henry liegt nun im Sterben, und ich werde als einzige lebende Zeugin übrig bleiben. Allein aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, diesen wahrhaftigen Bericht über die Begebenheiten in Teesbank Hall niederzuschreiben und damit die düsteren Mutmaßungen zu beenden, die im Laufe der Jahre aufkamen.
Ich war gerade einundzwanzig geworden, als ich in Eaglescliffe ankam, einem kleinen Ort in der Grafschaft Durham. Man schrieb das Jahr 1871, und seit den Ereignissen, um die es in meinem Bericht vor allem gehen soll, waren bereits mehr als zwei Jahrzehnte vergangen. Eaglescliffe war im Begriff, sich neu zu erfinden, und auf einst grünen Wiesen waren graue Fabriken aus dem Boden geschossen. Die Ortschaft war zum Zentrum des Landes von George Stephenson, dem Eisenbahnpionier, geworden. Überall zerschnitten Bahngleise das Land und verbanden sogar die kleinsten Dörfchen miteinander. Die Landschaft hier sah völlig anders aus als die golden leuchtenden Wiesen meiner Heimat in Norfolk, und ich dankte Gott dafür. Hier wollte ich mich verstecken.
Auf dem Bahnhof empfing mich ein Durcheinander aus zuschlagenden Türen, Pfiffen und dem Zischen und Fauchen der Dampflokomotive, die sich schwerfällig wieder in Bewegung setzte. Ein uniformierter Träger stand in strammer Haltung am Ende des Bahnsteigs, aber ich war weder hübsch noch reich genug, um seine Aufmerksamkeit zu wecken, daher hatte ich meinen alten Reisekoffer selbst aus dem Eisenbahnwaggon gezerrt. Doch ich hatte noch einen Rest von dem gestohlenen Geld übrig, und damit wollte ich mir für die letzten Meilen einen Wagen nehmen. Wieder einmal tastete ich in meinem Beutel nach dem klein zusammengefalteten Brief von Mrs Jenson, um mich zu vergewissern, dass er noch dort war.
Ich hatte keiner Menschenseele von meinem Vorhaben erzählt, nicht einmal meiner Cousine und lieben Freundin Lucy. Wenn sich die erste Empörung gelegt hatte, wollte ich versuchen, sie benachrichtigen zu lassen, aber ich wusste nicht, wie viele Monate oder gar Jahre vergehen würden, bis ich es wagen konnte, selbst Verbindung zu ihr aufzunehmen. Vielleicht würde das niemals geschehen, denn Onkel Thomas Stepford würde seine Tochter mit Argusaugen beobachten und sie einspannen, um mich zu finden. Lucy fand sicherlich, dass ich sie hintergangen hatte, aber darüber durfte ich nicht weiter nachdenken.
Neben dem Bahnhofsgebäude entdeckte ich eine Pferdekutsche und zwei Männer, die müßig herumstanden und ihr Pfeifchen rauchten. Als ich mich zu ihnen begab und fragte, ob der Wagen zu mieten sei, trat der Keckere der beiden vor und erwiderte: „Jawohl, Miss. Wo möchten Sie denn hin?“
„Nach Teesbank Hall bitte, Sir. Gleich an der Jackson’s Lane.“ Die Adresse hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
Nun schwiegen beide Männer, und ich meinte zu sehen, wie sie sich einen Blick zuwarfen, allerdings so flüchtig, dass ich mir nicht ganz sicher war.
Der Angesprochene machte eine Handbewegung. „Teesbank Hall liegt in dieser Richtung, und es ist nicht weit. Direkt am Fluss. Sie können leicht zu Fuß hinkommen, noch bevor es dunkel wird.“
„Ich werde Sie selbstverständlich für die Fahrt dorthin bezahlen. Sonst müsste ich diesen schweren Reisekoffer tragen.“
Der Kutscher schüttelte den Kopf. „Nein, Miss, es passt mir nicht. Ich habe so viel zu tun, Sie müssen sich einen anderen suchen, der Sie fährt.“ Sehr zu meinem Erstaunen wandte er sich ab und stellte sich wieder neben seine leere Kutsche.
Sein Freund zögerte. „Ist ’n schlimmer Ort, Miss, ganz schlimm. Da wollen Sie nicht hin.“ Er machte eine Pause. „Kann ich Sie irgendwo anders hinbringen?“
In meiner Verwirrung antwortete ich nicht so vorsichtig, wie es angebracht gewesen wäre, sondern sagte ganz aufrichtig: „Einen anderen Ort gibt es nicht, Sir.“ Das war die schlichte Wahrheit – es gab keinen anderen Ort auf der Welt, wohin ich hätte fliehen können. Meine Not, nicht meine Neigung, bestimmte mein Ziel.
Da tat der Mann etwas höchst Merkwürdiges. Während er mich weiter ansah, malte er mit dem Zeigefinger ein Kreuzzeichen in die Luft und sagte dabei: „Mögen Gott und alle seine Heiligen Erbarmen mit Ihnen haben.“ Er wollte nach meiner Hand greifen, aber ich schreckte instinktiv vor seiner Berührung zurück. Sein theatralisches Gehabe ließ mich an seinem Verstand zweifeln. In unserer Korrespondenz hatten die Wainwrights hochachtbar gewirkt, eine Familie, die durch den Kohlebergbau im Norden der Grafschaft Durham reich geworden war. Die seltsame Reaktion des Mannes verunsicherte mich, aber weil sonst niemand zu sehen war, fühlte ich mich genötigt, ihn zu fragen: „Aber wie soll ich dort hinkommen, Sir, wenn Sie mich nicht hinbringen wollen?“
„Niemand wird Sie da hinfahren, Miss, aber wenn Sie unbedingt hinwollen, es sind ja bloß zwei Meilen oder so. Sie müssen der Straße von Stockton nach Yarm folgen und dann runter zum Fluss abbiegen.“
Ich bedankte mich für diese Wegbeschreibung und machte mich daran, meinen Reisekoffer auf dem zum Glück trockenen Lehm der neu angelegten Straße halb zu ziehen, halb zu tragen. An dieser Hauptstraße wurden gerade einige beachtliche Villen gebaut, sodass die Luft von Hämmern und Sägen erfüllt war. Zu meiner Linken strömte der Fluss Tees, er war von der Straße aus jedoch nicht zu sehen, weil ein dichtes Waldgebiet ihn verbarg. Mit meinem schweren Koffer kam ich nur langsam vorwärts, und ich spürte, wie sich auf meiner Oberlippe Schweißperlen bildeten. Mehrere Passanten betrachteten mich neugierig. Als ich stehen blieb, um Luft zu schöpfen, verfluchte ich im Stillen die beiden Fuhrleute und ihre Weigerung, mich nach Teesbank Hall zu bringen.
Je weiter ich mich vom Bahnhof entfernte, desto ländlicher wurde die Gegend, und dann fand ich einen Wegweiser zur Jackson’s Lane, der mich auf einen Fußweg zum Fluss hinunterführte. Ich war noch keine halbe Meile von der betriebsamen Yarm Road entfernt, aber ich hätte ebenso gut irgendwo mitten auf dem Land sein können, denn nun umgaben mich hohe Eichen und Eschen. Es war ein klarer Märztag, und die tiefe Stille wurde nur vom schwermütigen Ruf eines Brachvogels unterbrochen. Ich atmete die frische, berauschende Luft der Freiheit ein und fühlte mich gestärkt und lebendig. Eine Welle der Zuversicht erfasste mich. Ich hatte überlebt.
Ich brauchte für den Weg länger als erwartet, und die Dämmerung setzte schon ein, als ich mich dem Herrenhaus näherte. Es stand ganz allein und hob sich als finsterer Block vom dunkelnden Himmel ab. Ein hoher schmiedeeiserner Zaun umgab das Gelände, und erst als ich eine Weile am Tor gerüttelt hatte, ließ es sich mit lautem Klirren aufschieben. Das Haus war in seiner herben Anmut beeindruckend. Die Front war mit Efeu bewachsen, dessen dichtes Grün von mehreren Fensterreihen unterbrochen wurde. Die hellen Läden waren halb geschlossen, und vor einigen Fenstern befanden sich Balkone, sodass das Gebäude etwas von einem französischen Château hatte.
In den vergangenen Tagen war ich sehr angespannt gewesen und hatte selbst ein kleines Schälchen Suppe nur mit Mühe und Not zu mir nehmen können, daher war mein Kopf vielleicht nicht ganz klar. Allerdings spürte ich deutlich, dass dieses versteckte Haus etwas Trostloses und Unheimliches hatte. Mir war, als wäre jedes Fenster ein halb geöffnetes Auge, das mich bespitzelte, und diese merkwürdige Empfindung wurde noch stärker, als ich hinter einem Fenster ganz oben im Haus eine Gestalt in einem roten Umhang entdeckte, die anscheinend auf mich hinunterblickte. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und hob grüßend eine Hand, aber im selben Moment war das Wesen fort, und ich nahm an, dass das schwindende Licht oder meine überreizte Fantasie mir einen Streich gespielt hatte. Achselzuckend ermahnte ich mich, nicht weiter darüber nachzudenken. Essen und dann ein guter Schlaf würden die eisige Kälte in meinem Bauch bestimmt vertreiben.
Eine kiesbestreute Auffahrt führte mich zu der großen Eichentür des Vordereingangs. Zögernd blieb ich stehen. Was sollte ich jetzt tun? Erwarteten die Wainwrights, dass ich durch die Vordertür kam, oder sollte ich den Dienstboteneingang benutzen? Ich sah oder hörte keine Menschenseele, die mir einen Hinweis hätte geben können. Zwar war ich den Wainwrights gesellschaftlich mehr oder weniger gleichgestellt, und meine eigene Gouvernante hatten wir immer wie ein Familienmitglied behandelt, doch ich wusste, dass das keineswegs üblich und vor allem auf Vaters Eigenarten und seine Vorstellung von Anstand zurückzuführen war. Zudem war Teesbank Hall viel imposanter als mein Elternhaus.
Der schwere Türklopfer hatte die Form eines Löwenkopfes, und ich hob ihn vorsichtig an und ließ ihn dann fallen, sodass der Schlag laut durch die Stille des frühen Abends hallte. Es dauerte ein Weilchen, bevor sich im Haus etwas regte, und ich hatte mich beinahe schon damit abgefunden, dass ich nach einem Hintereingang suchen musste, als die Haustür geöffnet wurde und eine kleine, vogelähnliche Frau vor mir stand. Sie war in schwarzen Trauerkrepp gekleidet, hielt sich stocksteif und strahlte kalte Tüchtigkeit aus.
„Sie müssen Miss Harriet Caldwell sein. Ich bin Mrs Jenson, die Haushälterin.“
Harriet Caldwell. Zum ersten Mal hatte jemand mich mit diesem falschen Namen angesprochen, und ich war begeistert, weil meine Täuschung gelungen war. „Ja, Madam. Ich glaube, wir haben korrespondiert.“
Ihre dunklen Augen musterten mich scharf von oben bis unten und wiesen mich auf mein schmutziges Gesicht, mein zerdrücktes Kleid und meine staubigen, geflickten Stiefel hin. Als Antwort auf ihren fragenden Blick sagte ich leise: „Ich musste die zwei Meilen vom Bahnhof in Eaglescliffe zu Fuß gehen, Madam. Kein Wagen wollte mich herfahren.“
Mit einem leichten Zusammenkneifen der Augen deutete sie an, dass sie meinen derangierten Zustand missbilligte. Dann nickte sie und erklärte: „Es wird erwartet, dass Sie in Zukunft den Dienstboteneingang auf der Rückseite des Hauses benutzen. Die Wainwrights nehmen es mit diesen Dingen sehr genau.“
Derart gerügt erwiderte ich: „Ja, das werde ich –“, doch Mrs Jenson unterbrach mich und fuhr fort: „Es ist angenehmer, wenn wir uns unten in meinem Wohnzimmer unterhalten. Bitte folgen Sie mir. Sie dürfen Ihr Gepäck im Flur lassen. Ich werde einen der Gärtner bitten, es nach oben zu bringen.“
Sie entfernte sich mit raschen Schritten, und ich musste mich beeilen, um nachzukommen. Endlich erreichten wir ihre Wohnstube, wo gegen die kühle Abendluft ein kleines Feuer brannte. Der Raum war überladen, vollgestopft mit Nippsachen, Sticktüchern mit Bibelsprüchen und Bildern von einsamen Landschaften. Von seinem Ehrenplatz auf einem altmodischen roten Damastsofa aus beäugte mich missbilligend ein wohlgenährter Spaniel. Eine Wand des Raumes war Regalen mit in Leder gebundenen Büchern vorbehalten. Dort trafen die Romane von Charles Dickens auf die gesammelten Predigten von John Wesley. Auf dem Kaminsims zählte eine reich verzierte goldene Uhr die Minuten. Diese Uhr war der Inbegriff von Achtbarkeit, und ihr lautes Ticken versicherte mir, dass die Worte des Kutschers töricht und melodramatisch gewesen waren.
Mrs Jenson deutete auf einen kleinen Tisch, auf dem ordentlich gestapelt Papiere und Quittungen lagen. Wir setzten uns, und sie nahm einige Blätter von einem der Stapel. Es waren die Briefe, die ich ihr geschrieben hatte. „Sie sind von Norfolk angereist, wie ich sehe.“
„Ja, Madam. Ich bin zwei Tage lang unterwegs gewesen.“ Ich war nervöser, als mir bewusst gewesen war, und stieß meine Worte kurzatmig und abgehackt hervor. Ich bemühte mich zwar, gefasst zu erscheinen, aber in diesem fremden Zimmer, ohne bekannte Gesichter oder anderes Vertrautes, fiel es mir schwer.
Mag sein, dass Mrs Jenson ein gewisses Mitleid mit mir empfand, sie bot mir nämlich Tee an und schenkte aus einer großen, blau-weißen Porzellankanne ein. Ich umfasste die warme Tasse und lauschte aufmerksam, während sie die Bedingungen meines Dienstverhältnisses in Teesbank Hall erläuterte.
„Heute Abend werden Sie natürlich erst einmal essen und sich ausruhen, bevor dann morgen früh Ihr Dienst beginnt.“
„Vielen Dank.“ Inzwischen war es viele Stunden her, dass ich etwas gegessen hatte, und ich war sehr hungrig.
„Mr und Mrs Wainwright haben jedoch darum gebeten, dass ich vorher mit Ihnen spreche. Ihre Stellung bei uns beinhaltet bestimmte Dinge, über die Sie Bescheid wissen müssen, und die Wainwrights mögen es nicht, wenn man sie mit Haushaltsdingen belästigt.“
Ich schaute Mrs Jenson abwartend an.
Sie las von dem Blatt ab, das sie in der Hand hielt: „Im Empfehlungsschreiben Ihres früheren Dienstherren steht, dass Sie Französisch, Geografie, Zeichnen und Klavierspielen unterrichten können. Ist Französisch Ihre einzige Fremdsprache?“
„Ich spreche fließend Französisch – meine Mutter stammte aus der Provence, und ich bin mit der Sprache aufgewachsen.“
„In Ihrer zukünftigen Stellung wird Ihnen das nichts nützen, denn Miss Eleanor lernt Deutsch und die alten Sprachen. Besitzen Sie darin Kenntnisse?“
Ich musste einräumen, dass mir abgesehen von Englisch und Französisch jegliche Sprachkenntnisse fehlten. Mrs Jenson strich etwas auf dem Papier durch und fuhr dann fort: „In diesem Empfehlungsschreiben steht auch, dass Sie eine ehrbare, gottesfürchtige junge Dame sind. Ich nehme an, Sie sind Anhängerin des anglikanischen Glaubens?“ Sie machte eine Pause und sah mich an. „Ich hoffe, Sie neigen nicht zu irgendwelchen radikalen Ansichten.“
Obwohl es nicht ganz der Wahrheit entsprach, versicherte ich ihr, das sei nicht der Fall.
„Schön. Und Sie waren bei Ihrer vorherigen Familie vier Jahre lang angestellt?“ Fragend sah sie mich an.
Da ich gerade erst einundzwanzig geworden war, befürchtete ich, dass dieser Teil meiner Täuschung am ehesten zu meiner Entlarvung führen könnte. Ich antwortete ausweichend: „Als Vater starb, war ich gezwungen, schon in jungen Jahren eine Stellung zu suchen.“ Ich hatte beschlossen, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben, denn dann würde es mir leichter fallen, mein Lügengebäude aufrechtzuerhalten.
Ahnte Mrs Jenson etwa, dass ich meine Geschichte erfunden hatte? Ich erstarrte vor Schreck, doch da sprach sie weiter: „Ihr Dienstvertrag sieht ein Gehalt von fünfzig Pfund im Jahr vor, die Sie für jeweils sechs Monate rückwirkend erhalten werden. Hinzu kommen Wohnung und Beköstigung.“
„So hatten Sie es in Ihrem Brief geschrieben“, bestätigte ich.
Sie sprach weiter: „Einmal im Monat haben Sie einen Sonntagnachmittag zur freien Verfügung, dann dürfen Sie Verwandte oder Freundinnen besuchen.“
„Ich habe keine“, sagte ich, und Mrs Jenson nickte, als habe sie diese Antwort erwartet.
„Abends, wenn Miss Eleanor anderweitig beschäftigt ist, steht Ihnen das Schulzimmer zur Verfügung, dort dürfen Sie lesen oder nähen, und wenn Sie keine Pflichten haben, dürfen Sie auf dem Gelände spazieren gehen. Der Fußweg am Fluss entlang ist sehr schön. An bestimmten Abenden wird man Sie bitten, der Familie zu Mahlzeiten und ähnlichen Gelegenheiten Gesellschaft zu leisten. Es ist ein ruhiges Haus, und Besuch ist Ihnen nicht gestattet.“
„Ich verstehe, Mrs Jenson.“
Sie sah mich aufmerksam an und sprach die nächsten Worte mit besonderem Nachdruck: „Außerdem müssen Sie jetzt etwas über Miss Eleanor, Ihre zukünftige Schülerin, erfahren. Ich hielt es nicht für angebracht, diese Dinge in unserer Korrespondenz zu erwähnen. Es ist besser, wenn wir hier darüber sprechen.“ Sie hielt kurz inne. „Miss Eleanor ist nicht gesund, daher muss sie sehr sorgfältig beobachtet werden.“
Mein erster Gedanke war, dass sie unter einem körperlichen Gebrechen litt, daher fragte ich: „Ist sie bettlägerig?“
Mrs Jenson verneinte meine Vermutung mit einer Handbewegung. „Nein, nein. Körperlich ist sie recht robust. Ihre Schwierigkeiten sind anderer Art. Sie leidet unter einer Gemütsschwäche, die sie zu einer Gefahr für sich selbst und andere macht. Mrs Anderson, ihre Pflegerin, betreut sie während der Nachtstunden, von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens. In der übrigen Zeit liegt die Verantwortung für Miss Eleanor ganz allein bei Ihnen. Sie dürfen sie nicht aus den Augen verlieren und …“ Mrs Jenson machte eine Pause, um ihren nun folgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen, „… die Herrschaft erwartet, dass sie über sämtliche Aktivitäten ihrer Tochter vollständig unterrichtet wird.“
„Aber warum, Madam?“, platzte ich heraus.
Mrs Jenson musterte mich mit ihren klugen Augen. „Miss Eleanor kann Eigenschaften an den Tag legen, die …“, sie suchte nach einem Wort, „… abgestellt werden müssen. Als Gouvernante haben Sie die Aufgabe, Ihre Schülerin zu beobachten und Bericht über sie zu erstatten, damit Mr and Mrs Wainwright Maßnahmen ergreifen können, falls das nötig ist.“
Ich verspürte ein tiefes Unbehagen. „Was sind das für Eigenschaften?“
Mrs Jenson erwiderte mit Bestimmtheit: „Es ist besser, wenn ich nicht mehr sage. Falls etwas auftreten sollte, wozu es, so Gott will, nicht kommen wird, werden Sie verstehen, warum Wachsamkeit nötig ist. Allerdings muss ich Sie warnen, dass Miss Eleanor eine gerissene, heimtückische junge Dame sein kann. Falls sie versucht, Freundschaft mit Ihnen zu schließen, müssen Sie auf der Hut sein.“
Ich war beunruhigt und fürchtete mich auch ein wenig, schließlich war ich als Gouvernante gekommen, nicht als Spionin. Doch ich konnte es mir nicht leisten, diese Stellung abzulehnen. Ich hatte keine Zufluchtsstätte außer Teesbank Hall, folglich blieb mir nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken.
Daraufhin öffnete Mrs Jenson ein großes Haushaltsbuch und schob es über den Tisch zu mir herüber. „Außerdem müssen Sie jeden Tag Buch führen.“
Verwirrt betrachtete ich die aufgeschlagenen Seiten. Ich sah Listen von Lebensmitteln und Mengen, etwa »2 Esslöffel Haferbrei und ½ Tasse Milch« und darunter „2 Scheiben Rindfleisch und 1 kleine Kartoffel“, was aber mit Tinte in einer anderen Farbe wieder durchgestrichen worden war. In der letzten Spalte standen Buchstaben, zum Beispiel am 14. März ein großes S und am 20. März ein S und ein V. Verwundert fragte ich: „Und was soll ich hier aufschreiben?“
„Wenn Miss Eleanor üble Laune hat, verweigert sie aus Trotz die Nahrung“, erklärte Mrs Jenson. „Daher besteht der Arzt darauf, dass wir genau festhalten, was sie zu sich nimmt. Weil Sie den ganzen Tag mit ihr zusammen sein werden, können Sie die Mengen beobachten.“
„Und was bedeuten die Buchstaben?“, fragte ich.
„Sie dienen mir und ihrer Pflegerin als Erinnerungsstütze“, antwortete Mrs Jenson. „Das Buch wird dort unter Verschluss gehalten.“ Sie deutete auf einen großen Mahagonischrank in einer Ecke des Raumes. „Jeden Abend um sieben Uhr kommen Sie hierher, machen die Einträge für den Tag und erstatten mir Bericht.“
Ich musste ein besorgtes Gesicht gemacht haben, denn Mrs Jenson sagte: „Es ist zu Miss Eleanors eigenem Besten, dass sie jederzeit unter Aufsicht steht.“ Ihre Miene war nun völlig verschlossen, und wieder fiel mir auf, dass ihr Gesicht und ihre ganze Person etwas Strenges, Unnachgiebiges hatten. Sie fuhr fort: „Falls Miss Eleanor etwas Ungehöriges sagt oder tut, muss ich unverzüglich informiert werden. Fürs Erste ist das alles, was Sie wissen müssen.“
Die Haushälterin erhob sich und drückte damit aus, dass unser Gespräch beendet war. Ich stand ebenfalls auf, und durch die merkwürdigen Anweisungen ermutigt, traute ich mich zu fragen: „Der Kutscher am Bahnhof riet mir davon ab, hierherzufahren. Er sagte, es sei ein schlimmes Haus. Warum wollte er mich warnen?“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, da bereute ich sie auch schon. Onkel Thomas Stepford hatte immer gesagt, Neugier sei einer meiner größten Fehler und würde einmal mein Verderben sein.
Mrs Jenson kniff die Lippen zusammen. „Hier ist ein Kind getötet worden. Das war eine große Tragödie. Es hat der Familie viel Kummer bereitet und in der ganzen Gegend für dummes Geschwätz gesorgt. Doch das liegt jetzt viele Jahre zurück, und wir befassen uns nicht mehr damit.“ Sie unterband alle weiteren Fragen mit der Bemerkung: „Ich lasse Ihnen eine Mahlzeit in die Gesindestube bringen. Vermutlich möchten Sie nach Ihrer Reise zeitig zu Bett gehen.“
Mrs Jensons Wohnstube befand sich in der Nähe der Küche, sodass ich während unserer Unterhaltung immer wieder das Klappern und Klirren von Tellern und Töpfen gehört hatte und gelegentlich auch die Glocke, mit der die Herrschaft nach Bedienung läutete. Jetzt brachte Mrs Jenson mich in den großen Raum mit seinen weißen Fliesen und den schimmernden Kupferpfannen, die an der Decke hingen. Sie stellte mich der Köchin vor, einer Mrs Hargreaves, und wies sie an, ein Abendessen aus Speck und Eiern und eine Kanne Tee für mich zuzubereiten. An einer Seite war eine Tür, durch die ich ihr in die Gesindestube folgte.
Ein Mädchen mit streitlustigem Gesicht lümmelte sich an dem großen Holztisch, stand aber sofort auf und nahm ihren abgegessenen Teller vom Tisch, als wir eintraten. Mrs Jenson warf ihr einen bösen Blick zu. „Eliza, haben Sie etwa nichts zu tun? Gehen Sie Mrs Hargreaves zur Hand und bringen Sie Miss Caldwell dann ihr Essen. Sie ist die neue Gouvernante.“
Dann wandte Mrs Jenson sich noch einmal an mich: „Miss Caldwell, wenn Sie Ihre Stellung in Teesbank Hall behalten wollen, rate ich Ihnen, nicht so viele Fragen zu Dingen zu stellen, die Sie nichts angehen. Es würde Ihnen gut anstehen, zurückhaltender zu sein.“ Daraufhin verließ sie die Gesindestube.
2
Eliza war stehen geblieben, um Mrs Jenson den Vortritt zu lassen. Nun schnitt sie eine Grimasse. „Wenn Sie wirklich vorsichtig sein wollen, achten Sie besser darauf, dass Sie Mr Wainwright aus dem Weg gehen.“
„Wie meinen Sie das?“
„Also, ich richte es möglichst so ein, dass ich nicht allein mit ihm im Zimmer bin. Er kann seine Hände nicht bei sich behalten.“ Und mit dieser bissigen Bemerkung eilte Eliza in die Küche, während ich erschöpft auf dem harten Stuhl sitzen blieb.
Als Speck und Eier endlich fertig waren, knallte Eliza den Teller vor mir auf den Tisch. Ich hatte sie in der Küche mit der Köchin murmeln hören, und ihr Tonfall hatte deutlich gemacht, dass sie sich ärgerte, weil sie eine Person bedienen sollte, die ihrer Meinung nach kaum höher gestellt war als sie selbst. Das Essen schwamm in Fett und war nahezu ungenießbar, daher gab ich es nach einem halbherzigen Versuch auf und verzehrte stattdessen zwei dicke Scheiben Brot mit Butter. Eine ängstliche Unruhe hatte mich befallen, denn Mrs Jensons Worte über Eleanor gingen mir nicht aus dem Kopf. Worin bestand ihr Gemütsleiden, und warum war ihr nicht zu trauen? Ich sann auch über die Buchstaben in dem großen Haushaltsbuch nach, über das S und das V. Was konnten sie bedeuten?
Vielleicht war es tatsächlich ein schlimmer Ort, so, wie der Kutscher es gesagt hatte. Falls ich die Absicht gehabt hätte, mich länger hier aufzuhalten, hätte ich mich vielleicht gefürchtet, doch ich wollte nur so lange bleiben, bis meine Spur erkaltet war und ich etwas Geld gespart hatte. Dann würde ich den nächsten Schritt machen. Ich dachte an die Atlanten, die einst so zahlreich in Vaters Bibliothek gestanden und mir exotische Orte gezeigt hatten. Ich hatte vor, eine Schiffspassage zu buchen, zu einer der neuen Welten, von denen ich auf den bebilderten Seiten einen kleinen Eindruck bekommen hatte. Solange ich den Blick fest auf mein nächstes Ziel gerichtet hielt, würde ich alle Widrigkeiten dieses vorübergehenden Aufenthalts ertragen können.
Als ich gegessen hatte, war es längst dunkel, und Agnes, eins der Dienstmädchen, erhielt den Auftrag, mir mein Zimmer zu zeigen. Sie war etwa in meinem Alter und hatte große, treue braune Augen und bräunliches, straff aus dem Gesicht gekämmtes Haar. Ich erwiderte dankbar ihr Lächeln, denn ich war froh über ein freundliches Zeichen in diesem fremden Haus. Sie holte zwei lange weiße Kerzen und einen schlichten Kerzenhalter aus Messing aus einer Küchenschublade und erklärte, sie würde mich zu meinem Zimmer geleiten, das sich ganz oben im Gebäude befand.
Weil Agnes die Aufgabe hatte, zu überprüfen, ob alle Feuer für die Nacht ausgebrannt waren, führte uns der Weg in den Hauptteil des Gebäudes. Teesbank Hall war mit teuren, ein wenig altmodischen Mahagonimöbeln ausgestattet, doch selbst das Kerzenlicht konnte die düstere Atmosphäre nicht vertreiben. Obwohl alles sauber und blank poliert war, schien es, als würde das Haus vernachlässigt und als hätte man die Räume planlos möbliert, sodass es eher wie ein seelenloses Museum als wie ein Zuhause wirkte. Überall war es totenstill, und auf Agnes’ Kontrollgang begegneten wir niemandem. Als ich sie fragte, ob ich ihre Kerze halten solle, während sie ihren Pflichten nachging, legte sie besorgt den Zeigefinger an die Lippen. „Pst“, wisperte sie. „Die Herrin möchte keine Stimmen hören.“
Ich hätte gern gewusst, warum nicht, aber als ich zu meiner Frage ansetzte, verzog Agnes nur das Gesicht und arbeitete schweigend weiter.
Ein auffälliges Merkmal von Teesbank Hall war eine mit Schnitzereien geschmückte Treppe, die in großen Windungen in der Mitte des Gebäudes nach oben führte. Als Agnes ihre Arbeit im unteren Stockwerk beendet hatte, führte sie mich jedoch an dieser Treppe vorbei zu einer schlichten Tür am Ende eines Flures. Dahinter befand sich das Treppenhaus für die Dienstboten, das seitlich an das Haus angebaut worden war, sodass die Hausangestellten unsichtbar ihren Pflichten nachkommen, Kohle holen und Wäscheberge schleppen konnten. Der gesamte Haushalt arbeitete wie eine gut geölte Maschine, ohne dass die Herrschaft deren Einzelteile, nämlich die Bediensteten, wahrnahm.
Der Treppenaufgang war selbst an den sonnigsten Tagen düster, und die schmalen, hohen Stufen schienen sich endlos in die Höhe zu schrauben. Agnes ging rasch vor mir her, denn ihr war der Weg vertraut, aber ich musste mich vorsichtig durch das Treppenhaus tasten. Als wir schließlich das Dachgeschoss erreichten, fiel mir auf, dass sich hier oben mitten durch das Haus eine Mauer zog, sodass es praktisch zweigeteilt war. Vier oder fünf Räume gingen nach vorn hinaus und ebenso viele nach hinten. Die beiden parallel laufenden Flure waren finster, und Agnes’ Kerze konnte die Dunkelheit um uns herum kaum vertreiben.
Nachdem wir das Haupthaus hinter uns gelassen hatten, war Agnes wieder lebhaft geworden. „Ihr Zimmer geht nach vorn“, erklärte sie, „wir haben es für Sie vorbereitet. Die Gouvernanten wohnen immer darin, es ist ein großer, schöner Raum.“ Sie ging den Flur entlang, und ich folgte ihr.
„Das klingt, als hätte es hier schon viele Gouvernanten gegeben“, bemerkte ich.
Ich hatte das unbekümmert dahergesagt, aber Agnes drehte sich zu mir um und sagte sehr ernst: „Sie bleiben nie. Das Haus liegt zu weit ab, und das Leben hier ist zu schwer.“
„Ach, ich bin sicher, dass ich durchhalten werde.“ Ich lächelte ihr zu, aber ihr Blick blieb ernst, und sie gab keine Antwort.
Mir fiel auf, dass auch dieser Teil des Hauses verlassen wirkte. Sämtliche Türen am vorderen Flur waren geschlossen. Um unser verlegenes Schweigen zu brechen, fragte ich: „Wohnt hier oben sonst noch jemand?“
„Wir Mädchen schlafen alle hier, allerdings im hinteren Flur. Da wurden Schlafräume für die weiblichen Bediensteten eingerichtet.“
„Dann ist mein Zimmer also das einzige in diesem Flur, das bewohnt wird?“, fragte ich.
Agnes war vor der letzten Tür stehen geblieben. Sie sah angelegentlich zu Boden und sagte: „Die Gouvernante schläft immer im vorderen Teil des Hauses. Mrs Jenson sagt, die Räume nach vorn heraus sind besser, und außerdem schlafen die meisten von uns Mädchen nicht gern allein.“
„Warum möchten Sie kein eigenes Zimmer haben? Es ist doch eine Verschwendung, wenn ein Haus über so viele Zimmer verfügt und man sie nicht nutzt.“
Sie fuchtelte mit den Händen. „Es ist besser, bei den anderen zu schlafen.“
„Aber warum?“, fragte ich, denn was sie sagte, verwirrte mich immer mehr.
„Hier oben ist es dunkel, und manche sagen, sie würden Geräusche hören – und auch Erscheinungen sehen. Nicht, dass mir das schon passiert wäre“, versicherte sie mir hastig, „und ich glaube, die Leute reden einfach gern, aber mir ist es trotzdem lieber, wenn ich das Zimmer mit anderen teilen kann.“
„Was für Erscheinungen? Sie glauben solche Geschichten doch nicht, oder?“ Ich war verblüfft, denn ich hatte Agnes für recht vernünftig und besonnen gehalten.
Sie musste mir meine Verwunderung angemerkt haben, denn ihre nächsten Worte klangen abwehrend. „Ich habe ja nicht gesagt, dass ich etwas gesehen hätte. Aber Eliza beschwört es. Geistererscheinungen.“
„Ist das der Grund, warum mich niemand vom Bahnhof hierherbringen wollte?“
„Niemand kommt nach Teesbank Hall heraus, wenn es sich vermeiden lässt. Die Einheimischen nennen das Herrenhaus Mordhaus. Wir haben immer zu wenig Dienstboten, weil niemand hier arbeiten will. Ich würde auch lieber heute als morgen weggehen, wenn ich eine andere Stellung finden könnte, und ich arbeite schon seit drei Jahren für die Wainwrights.“
„Mordhaus? Weil hier ein Kind umgebracht wurde?“ Ich erinnerte mich an Mrs Jensons Worte.
Agnes nickte. „Aber ich darf nicht darüber sprechen. Wenn Mrs Jenson wüsste, dass ich geplaudert habe, würde sie einen Tobsuchtsanfall kriegen. Sie verpetzen mich doch nicht, oder?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete ich. „Vielleicht bilden die Dienstmädchen sich ein, Gespenster zu sehen, weil es hier oben so dunkel und einsam ist.“ Ich erklärte es mir so, dass die düstere Atmosphäre des Dachgeschosses und die tragischen Ereignisse der Vergangenheit die Ursache für die angeblichen Erscheinungen von Gespenstern oder bösen Geistern waren.
„Vielleicht haben Sie recht.“ Agnes zuckte die Schultern. „Versprechen Sie mir, Mrs Jenson kein Sterbenswörtchen davon zu sagen, dass ich Ihnen vom Mordhaus erzählt habe? Und dass wir Angst haben, hier oben zu schlafen?“
Ich versicherte Agnes noch einmal, dass ich schweigen würde, und überlegte, dass sie mehr Angst vor der Haushälterin zu haben schien als vor irgendwelchen übernatürlichen Erscheinungen. Trotzdem wagte ich es, sie zu fragen: „Was halten Sie von Miss Eleanor, meiner zukünftigen Schülerin? Mrs Jenson hat von ihren seltsamen Eigenheiten gesprochen.“
Agnes schüttelte den Kopf. „Dazu müssen Sie sich selbst ein Urteil bilden, Miss. Ich habe nicht das Recht, etwas darüber zu sagen.“
„Aber warum muss sie ständig beaufsichtigt werden?“
Agnes blickte mich an. „Ich habe ein engeres Verhältnis zu Miss Eleanor als die meisten anderen hier, aber ich bin trotzdem vorsichtig, wenn ich mich in ihrer Nähe aufhalte. Morgen früh werden Sie sehen, was ich meine.“
Das war keine sehr beruhigende Antwort, aber ich musste mich damit zufriedengeben. Doch dann, als Agnes sich schon zum Gehen wandte, hielt sie noch einmal inne, als nehme sie ihren ganzen Mut zusammen, um mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Sie schickte sich an zu sprechen, stockte und setzte erneut an, sagte dann aber nur: „Schlafen Sie gut. Sie haben die Kerze für Ihren Nachttisch, bloß für alle Fälle. Ich würde sie an Ihrer Stelle die Nacht hindurch brennen lassen.“
„Hat das einen bestimmten Grund?“, fragte ich, weil sie so ängstlich wirkte.
„Nein“, entgegnete Agnes und ging durch den Flur zurück. Das Dunkel verschluckte sie rasch.
Ich überlegte, was sie mir vielleicht Bedeutsames hatte mitteilen wollen. Doch ich hatte weiß Gott genügend eigene Geheimnisse und brauchte nicht auch noch fremde. Wenn das, was Agnes mir verschwiegen hatte, wichtig war, würde ich es zu gegebener Zeit erfahren.
Mein eigenes Zimmer. Es gefiel mir recht gut, war zwar schlicht, aber mehr als ausreichend – und hier spukte es mit Sicherheit nicht. Die Dachkammer war groß, und auf den gebohnerten Bodendielen lag ein Flickenteppich in gedeckten Violett- und Rosatönen. In der Mitte stand ein Bett mit einem schwarzen Eisengestell und gestärktem, makellos weißem Bettzeug. Rechts in der Ecke befand sich ein übergroßer Kleiderschrank, neben dem ich meinen Reisekoffer entdeckte, und gegenüber vom Fenster stand eine kleine Kommode mit einem Spiegel sowie Krug und Waschschüssel darauf. Der Spiegel war altmodisch, mit einem Rahmen aus dunklem Holz, in den Kirschen und wirbelnde Blätter eingeschnitzt waren, und das Glas schimmerte leicht grünlich und war fleckig geworden vor Alter. Der starke Lavendelduft des Bohnerwachses konnte den muffigen Geruch von abgestandener Luft nicht überdecken, und ich nahm mir vor, am Morgen gleich das Fenster zu öffnen.
Obwohl ich so zuversichtlich gewesen war, fühlte ich mich sehr allein, nachdem Agnes gegangen war, und ich hoffte, dass ich sie mit meinen Zweifeln an den Geistererscheinungen im Dachgeschoss nicht verletzt hatte. Es wäre schade gewesen, so schnell eine mögliche Verbündete zu verlieren. Ein wenig neidisch stellte ich mir vor, wie auf der anderen Seite der trennenden Wand die Dienstmädchen jetzt vielleicht kicherten und schwatzten. Um die Schatten zu vertreiben, stellte ich meine Kerze auf die Kommode, und dann setzte ich mich so auf das Bett, dass ich in den Spiegel sehen konnte.
Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, mein Haar abends gründlich zu bürsten – einhundert Striche mit der silberbeschlagenen Bürste. Aus dem grünlichen Spiegelglas blickte mein Gesicht mich an. Meine Haut war blass und meine Züge unscheinbar. Meine Augen waren dunkel genug, um Geheimnisse zu verbergen, doch mein Haar war mein krönender Schmuck, es schimmerte lichtbraun und golden. Normalerweise steckte ich es zu einem lockeren Knoten auf, dem nur wenige Locken entkommen durften. Von Gestalt war ich schlank und mädchenhaft, doch meine Lippen waren zu rot und zu voll, um schön zu sein – Cousine Lucy sagte immer, sie seien ein Zeichen für meine leidenschaftliche und trotzige Natur. Vielleicht hatte sie recht, denn ich konnte mich nicht nach Anweisungen richten und mich nicht so benehmen, wie Onkel Thomas Stepford es verlangte.
Auf dem Nachttisch lag die obligatorische Bibel, und das Sticktuch an der Wand mahnte: „Und gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugendzeit, ehe die Tage des Übels kommen und die Jahre herannahen, von welchen du sagen wirst: Ich habe kein Gefallen an ihnen. (Prediger 12,1)“
Ich sank auf die Knie. Für mich waren die Tage des Übels bereits gekommen, und welches Gefallen hatte ich an den Tagen meiner Jugendzeit? Ein Beobachter hätte vielleicht geglaubt, ich wäre tief ins Gebet versunken. Doch mein Gebet richtete sich nicht an Gott, sondern an mich selbst. Es war mein allabendlicher Spruch: „Ich lasse mich von den Umständen nicht zerbrechen. Ich werde das hier überstehen. Alles geht vorüber.“ Ich wiederholte meinen Wahlspruch, bis ich anfing, ihn für wahr zu halten.
Von der Reise erschöpft, zog ich mein Oberkleid aus, spritzte mir kaltes Wasser aus dem Krug ins Gesicht und stieg im Unterkleid in das schmale Bett. Zu Hause in Norfolk hatte ich diese Momente vor dem Einschlafen ausgekostet und mir die exotischen Ziele meiner geplanten Flucht ausgemalt, als Wirklichkeit gewordene Bilder und Beschreibungen aus den Büchern meines Vaters. Solche Vorstellungen hatten die Schrecken meines Alltagslebens ausgelöscht. An diesem Abend jedoch war ich so müde, dass selbst die Geheimnisse, die Eleanor umgaben, mich nicht davon abhalten konnten, sogleich in tiefen, traumlosen Schlaf zu fallen.
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