1 Pittsburgh, Pennsylvania, Mai 1887
Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Nellie konnte das weiße Taschentuch ihrer Mutter durch den dichten Dampf der Lokomotive gerade noch so ausmachen. Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und winkte zurück.
„Nun machen Sie doch das Fenster zu!“, beschwerte sich die magere Dame mit dem altmodischen schwarzen Hut und hüstelte demonstrativ in ihr Taschentuch, während der Zug Geschwindigkeit aufnahm und der strahlende, sehr frühe Maimorgen wieder zum Vorschein kam.
Nellie schloss das Fenster, setzte sich und strich die Falten ihres Reisekleides glatt. Dann nahm sie vorsichtig ihren schicken neuen Filzhut mit den drei kecken Straußenfedern ab und legte ihn auf die Ablage über der Sitzbank. Die Dame neben ihr blickte missbilligend. Nicht nur war Nellie nun ohne Hut unterwegs, sondern auch ohne Begleitung. Beides gehörte sich eigentlich nicht. Aber die Dame mit dem spitzen Gesicht und dem spitzeren Tonfall lebte eindeutig noch in der Steinzeit. Und vermutlich fuhr sie auch nicht die ganze Strecke bis New York, sondern höchsten bis Altoona. Da konnte man den Hut auch schon mal aufbehalten.
„Verzeihung, ich glaube, dies ist mein Platz.“
Ein Mann in einem adretten grauen Anzug stand in der Tür zum Gang, er trug seinen Mantel über dem Arm und in der Hand eine Aktentasche. Die Dame sah von ihrem verschlissenen Psalter auf und vermeldete in einem fordernden Jammern:
„Ich vertrage das Rückwärtsfahren nicht.“
Na und? Wer fuhr schon gerne rückwärts? Als ob das eine Begründung wäre, jemandem einfach den besseren Platz wegzunehmen, dachte Nellie.
Aber der Mann lächelte nur verständnisvoll, legte ohne ein Widerwort Mantel und Aktentasche auf die hölzerne Ablage und setzte sich auf den gegenüberliegenden Platz. Sie hätte nicht so einfach klein beigegeben!
„Guten Tag!“, grüßte er höflich.
Er sah nett aus, recht jung, vielleicht Ende zwanzig, mit unauffälligem braunem Haar, aber schönen blauen Augen. Seine Schuhe waren neu, und seine Garderobe war sehr gepflegt, aber nicht eitel. Er sah aus wie ein Büroangestellter. Vielleicht war er auf einer Geschäftsreise. Verheiratet war er nicht, zumindest trug er keinen Ring. Nellie bemerkte, wie sich die Andeutung eines Grübchens auf seine Wange schlich. Ihre Blicke trafen sich. Herrje, sie hatte schon wieder gestarrt, wie peinlich.
„Verzeihung.“
„Ach was. Das ist das Privileg Ihres Geschlechts.“
„Was ist das Privileg meines Geschlechts?“, fragte Nellie überrascht.
„Sie dürfen Menschen ausgiebig betrachten. Wenn ich das gemacht hätte, hätten Sie den Schaffner gerufen oder mich gar geohrfeigt.“
Nellie schüttelte den Kopf. „Den Schaffner brauche ich nicht. Ich bin durchaus fähig, auf mich selbst aufzupassen.“
Die fromme Dame neben ihr machte ein missbilligendes Geräusch.
„Ich hätte selbst geohrfeigt“, legte Nellie nach, und ihr Gegenüber lachte. Er hatte erstaunlich gerade weiße Zähne, ein weiterer Pluspunkt.
„Es freut mich, die Bekanntschaft einer so resoluten Dame zu machen. Darf ich mich vorstellen, Jonathan Card, zukünftiger Assessor der Chase National Bank.“
„Nellie Bly, Journalistin.“
Miss Elizabeth Jane Cochrane, von ihrer Familie nur Pinkey genannt, war nämlich in Pittsburgh geblieben, um der aufstrebenden Reporterin Nellie Bly in New York nicht im Wege zu sein. Immerhin hatte Nellie Bly schon eine Stelle beim Pittsburgh Dispatch innegehabt, für ein 23-jähriges Fräulein ohne formelle Ausbildung eine ganz beachtliche Leistung. Das mit der Ausbildung sollte sie allerdings noch einmal überdenken, befand Nellie. Vielleicht konnte sie ihr mageres Semester auf dem Lehrerinnenseminar der Indiana State Normal School doch ein bisschen „verlängern“.
Jonathan Card schien nachzudenken, es war eine kleine Falte zwischen seinen Brauen entstanden.
„Ich glaube, ich habe tatsächlich schon einmal etwas von Ihnen gelesen.“
Sie ärgerte sich über das Erstaunen in seiner Stimme. Was wäre daran bitte so überraschend? Sie schrieb regelmäßig für den Dispatch, und ihre Serie über ihre Erlebnisse in Mexiko war sogar noch von anderen Zeitungen gedruckt worden. Dachte er, dass sie nur für Kochrezepte oder Mode taugte? Natürlich dachte er das, wie alle anderen auch. Es war schwer, sich gegen diese Themen zu wehren. „Fraueninteressen“ hieß das, als ob sich Frauen nicht auch für andere Dinge interessierten. Aber das konnten sich Männer nicht vorstellen. Die konnten sich so manches nicht vorstellen.
„Sie scheinen nicht viel Zeitung zu lesen.“
Das hatte jetzt etwas schnippisch geklungen, bemerkte Nellie und ärgerte sich nun auch noch über sich selbst.
„Doch, doch. Ich lese die Chicago Tribune, die Chicago Times, die Chicago Daily News …“
„Ach, ich dachte, Sie kämen aus Pittsburgh. Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein“, unterbrach Nellie die Aufzählung, erleichtert, dass Mr Card offenbar doch kein einfältiger Tropf war, der nie Zeitung las.
„Nein, ich komme aus Chicago. Jetzt bin ich auf dem Weg nach New York, in Pittsburgh hatte ich nur geschäftlich noch etwas zu erledigen.“
„Sie haben sicher meine Berichte über Mexiko gelesen.“
Er nickte zustimmend. „Ja, richtig! Ich habe leider nicht alle gelesen, finde es aber ein sehr spannendes Thema. Und ein spannendes Land.“
„Alle Artikel kommen demnächst in einem Buch heraus“, informierte Nellie ihn nicht ohne Stolz.
„Gut zu wissen.“ Er lächelte freundlich. „Wenn ich eines kaufe, werden Sie es für mich signieren?“
„Selbstverständlich.“
„Erzählen Sie doch mal über diese Reise durch Mexiko.“
Als sie Altoona erreichten, wusste Nellie, dass sie einen neuen Freund gewonnen hatte. Jonathan Card war einfach reizend. Nicht nur hörte er aufmerksam zu, er stellte auch verständige Fragen und hatte sich bisher nicht ein einziges Mal darüber gewundert, dass sich eine „empfindsame junge Dame“ dem harten Geschäft des Journalismus verschrieben hatte oder überhaupt ihr eigenes Geld verdienen wollte. Stattdessen interessierten Jonathan, wie Nellie ihn schon im Stillen nannte, andere Dinge. Wie sie sich in bestimmten Situationen gefühlt hatte, wie es ihr gelang, auch widerwilligen Quellen Informationen zu entlocken, oder was sie von den Reaktionen ihrer Leserschaft hielt. Und da es die Höflichkeit gebot, ihn auch mal zu Wort kommen zu lassen, hatte sie von ihm erfahren, dass er in der Nähe von Detroit aufgewachsen, bei der örtlichen Bank in die Lehre gegangen und dann nach Chicago gewechselt war. Und nun hatte er eine tolle Stelle bei einer Bank in New York bekommen. Obwohl Nellie Jonathans bisheriges Leben eher langweilig fand, war er selbst es überhaupt nicht. Im Gegensatz zu ihr war er ausgesprochen belesen und schien über alle Themen zumindest grundlegend informiert zu sein. Um dieses breite Allgemeinwissen beneidete Nellie ihn. Was ihr ganz besonders gut an ihm gefiel, war sein Sinn für Humor. Auch schien er ein durch und durch ehrlicher Mensch zu sein, obendrein auch noch langmütig mit seinen Mitmenschen. Letzteres war eine Sache, um die Nellie ihn ehrlich beneidete. Sie mochte es auch, wie seine blauen Augen blitzten, wenn er lachte. Also eigentlich gefiel ihr alles an Jonathan Card.
„Und werden Sie dann bald zum Bankdirektor aufsteigen?“
„Wohl eher nicht. Das sind Positionen, die vererbt und nicht erarbeitet werden.“
„Schade.“
„Warum?“
„Dann hätten Sie mir viele Türen aufstoßen können.“
„Das Gleiche hatte ich mir eigentlich von Ihrer Bekanntschaft erhofft“, erwiderte er. „Wenn Sie demnächst bei Joseph Pulitzer zum Bankett eingeladen werden, legen Sie doch ein gutes Wort für mich ein. Der kennt bestimmt eine Menge wichtiger Leute.“
Nellie lachte. Wie nett, was er ihr alles zutraute, selbst wenn es nur im Spaß war.
„Woher wissen Sie, dass ich zur New York World möchte?“
„Na, das ist doch genau die richtige Zeitung für Sie. Keine langatmigen Exposés, sondern Berichte direkt aus dem Leben.“
Nellie sah aus dem Fenster, die Landschaft flog vorbei. Es war erstaunlich, wie schnell der moderne Mensch von einem Ort zum anderen gelangen konnte. Ja, langatmige Exposés waren wirklich nicht ihre Sache. Sie seufzte.
„Das sagt Q. O. auch immer.“
„Wer ist Q. O.?“
„Erasmus Willson vom Pittsburgh Dispatch. Man kann wohl sagen, dass er mein Mentor ist. Er hat eine Kolumne, ›Quiet Observer‹. Ich hatte ihm mal einen Leserbrief geschrieben, damit hat alles angefangen.“
Sie erzählte Jonathan, wie Q. O. in einer Kolumne behauptet hatte, Frauen taugten nur zur Hausfrau und Mutter. Empört hatte Nellie an die Zeitung geschrieben. Ihr Brief war zwar nicht veröffentlicht worden, hatte aber dennoch die Aufmerksamkeit des Chefredakteurs geweckt. So war eins zum anderen gekommen. Q. O. war, wie sich herausstellte, doch kein frauenfeindlicher Stiesel, sondern tatsächlich ein reizender Herr, von dem Nellie in der Folgezeit viel Unterstützung erfahren hatte, zum Beispiel, als sie zwei Reportagen über die Arbeitsbedingungen für junge Fabrikarbeiterinnen geschrieben hatte. Oder als sie alleine, nur mit ihrer Mutter als Anstandsdame, durch Mexiko gereist war, um über die dortigen Lebensverhältnisse zu berichten. Es war ihr bisher größter journalistischer Erfolg. Nellie seufzte unwillkürlich. Trotzdem war es nun an der Zeit gewesen, den Dispatch zu verlassen, ja fast zu fliehen. Sie hatte sich nicht einmal richtig verabschiedet, geschweige denn gekündigt. Aber die Furcht davor, vielleicht in letzter Sekunde den Mut zu verlieren, war zu groß gewesen. Sie wollte richtige Geschichten aus dem richtigen Leben schreiben. Und das waren nicht die Hochzeiten und Gartenschauen, über die sie in letzter Zeit hatte berichten sollen! Hatte sie nicht schon bewiesen, dass sie das Zeug zu echten Reportagen hatte? Trotzdem kamen immer wieder Einwände und Bedenken und wohlgemeinte Ratschläge. Es hatte sie viel Kraft gekostet, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Als ob es nicht schon anstrengend genug wäre, allein in New York sein Glück zu versuchen. Wenn einem dann immer noch eingeredet wurde, dass man das – als Frau – niemals schaffen würde, war es besser, sich einfach davonzumachen.
„Es ist, als machte ich zwei Schritte voran, nur um dann drei zurück zu machen. Ich schreibe einen tollen Artikel und muss beim nächsten schon wieder erklären, warum ich nicht lieber über den Gesellschaftsklatsch schreiben möchte.“
Jonathan Card nickte verständnisvoll.
„Und dann sagen sie noch, dass sie einem ›etwas Gutes tun‹ wollen. Ich will aber nicht über Tratsch und Mode berichten. Das kann doch nicht so schwer zu verstehen sein!“ Nellie merkte, wie die Wut wieder in ihr hochkochte. Immer musste sie sich rechtfertigen!
„Männer sind einfach begriffsstutzig“, stellte Jonathan ruhig fest. Sie sahen sich an. Nellies Mundwinkel zuckten, und ihr Zorn verpuffte.
„Allerdings. Warum nur?“
Er zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Frauen sind für Männer ein Buch mit sieben Siegeln, einfach nicht zu verstehen.“
„Dabei wird uns stets vorgehalten, zu viel zu reden. Wir erklären und erklären“, Nellie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe, „aber da geht nichts rein beim Mann!“
„Schon voll?“, schlug Jonathan nach einer Weile scheinbar intensiven Nachdenkens vor. Nellie brach in ganz undamenhaftes Gelächter aus, das sie schnell mit ihrem Taschentuch zu dämpfen suchte. Einige Mitreisende sahen pikiert von ihrer Lektüre auf. Lange, wirklich lange hatte sie sich nicht mehr so gut unterhalten.
Während der Zug zielstrebig ostwärts brauste, verging die Zeit wie im Flug. Sie teilten sich ihren Proviant in einem gemütlichen Picknick, sahen auch mal in einvernehmlichem Schweigen aus dem Fenster, aber meistens unterhielten sie sich angeregt über Gott und die Welt, bis spät in den Abend hinein. Als Nellie sich schließlich auf ihrem sehr schmalen und sehr harten Bett im Schlafwagen ausstreckte, fand sie erst keine Ruhe. Wie schön, dass sie jetzt schon einen Freund in New York hatte, denn ansonsten kannte sie dort keine Menschenseele. Sie lächelte im Dunkeln. Jonathan war sehr klug, was sie bewunderte, und er hatte einen wunderbaren Humor. Humor hatten die wenigsten. Es war, als würden sie sich in ihrer Unterhaltung Pingpongbälle zuspielen, und das Spiel endete immer in Gelächter. Wie froh sie war, ihn kennengelernt zu haben. Nellie freute sich schon auf den Morgen, sie hatten sich zum Frühstück verabredet. Gemeinsam mit Jonathan in New York anzukommen fühlte sich so viel schöner an als alleine. Zwar hatte ihr Mrs Herman vom Women’s Club Name und Adresse einer Bekannten aufgeschrieben, falls es einen Notfall gäbe oder sie Hilfe bräuchte, aber Nellie war fest entschlossen, dass kein Notfall so schlimm sein würde, dass sie dort um Hilfe bitten müsste. Diese Blöße würde sie sich niemals geben, daheim warteten zu viele darauf, dass sie scheiterte und mit eingezogenem Schwanz kleinlaut wieder nach Hause käme. Doch das würde niemals geschehen, eher ginge sie nach Afrika oder Grönland oder sonst wohin. Ach, New York! Sie war schon so gespannt. Pittsburgh war gewiss keine kleine Stadt, aber New York? Dort spielte das Leben, dort schlug das Herz von Amerika, das Zeitungszentrum, die Börse, reiche Wirtschaftsmagnaten in riesigen Villen, Wolkenkratzer, sogar elektrische Straßenlaternen sollte es da geben. Und jeden Tag Hunderte von neuen Einwanderern aus aller Herren Länder. Nellie versuchte, auf der Pritsche eine bequemere Position zu finden. Wenn sie genug Geld gehabt hätte, wäre sie im luxuriösen Pullman gefahren. Aber das würde auch noch kommen! Andererseits hätte sie dann nicht Jonathan kennengelernt, also war es doch gar nicht so schlimm. New York! Sie konnte es gar nicht erwarten. Jonathan hatte behauptet, dass es ganz unmöglich wäre, in Manhattan eine günstige Bleibe zu finden. Entweder seien sie exorbitant teuer oder völlig überfüllt mit Einwanderern. Die normalen Leute würden in die Vorstädte ziehen, nach Jersey oder Harlem, wo man sich noch ein Haus oder eine Wohnung leisten konnte. Die Bank hatte für Jonathan arrangiert, dass er für die erste Zeit bei einem Kollegen in Manhattan unterkommen konnte. Er war besorgt, dass Nellie noch nicht wusste, wo sie bleiben würde. Natürlich war das Geld knapp, aber sie war zuversichtlich, dass sie alsbald ein Zimmer finden würde. Ja, die normalen Leute zogen in die Vorstädte, aber war sie etwa normal? Nein, sie würde mittendrin im Trubel wohnen und freute sich schon darauf.
Das laute Pfeifen der Lokomotive ließ Nellie hochfahren. Einen winzigen Moment lang starrte sie verwundert auf die fremden Menschen vor ihrem Bett. Dann drang das regelmäßige Rattern von Rädern in ihr Bewusstsein: Eisenbahn, Schlafwagen, New York! Meine Güte, sie hatte geschlafen wie ein Stein! Im Waggon herrschte schon rege Betriebsamkeit.
„Wie lange haben wir denn noch?“, fragte Nellie die Dame neben sich, als sie sich von der Pritsche schwang.
„Keine halbe Stunde.“
Wie bitte? Jetzt musste sie sich aber beeilen! Hastig raffte Nellie ihre Sachen zusammen und stopfte sie erbarmungslos in ihre Reisetasche, sie würde alles neu plätten müssen, schoss es ihr durch den Kopf. Und was war mit Jonathan? Sie hatten sich zum Frühstück treffen wollen. Herrje, dafür war jetzt keine Zeit mehr. Nellie hoffte inständig, dass sie ihn auf dem Bahnsteig wiederfände. Wo hatte man ihren Koffer untergebracht? Warum, verflixt, hatte sie nur so lange geschlafen? Die plötzliche Aufregung drohte Nellie zu überwältigen. Sie atmete ein paarmal tief durch. Durch Hektik würde sie auch nicht schneller werden. Stattdessen sah sie aus dem Fenster, einzelne Häuser rauschten vorbei. Vorstädte sahen irgendwie immer gleich aus, egal, in welchem Teil des Landes man sich befand. Sie griff nach ihrer Reisetasche, aber der Mittelgang war vollständig von den bauschigen Hinterteilen der mitreisenden Damen belegt. Ausgefüllt? Verstopft? „Meer von Kleiderfalten wogt im Eisenbahnwaggon“ wäre auch eine lustige Überschrift, amüsierte Nellie sich im Stillen, während sie sich rigoros durchdrängelte.
Der Zug fuhr schon in den Bahnhof ein. Der Exchange Place in Jersey City war ein gewaltiges Gebäude. Während sie noch darauf wartete auszusteigen, fuhr ein weiterer Zug ein, der alsbald ebenfalls seine Passagiere auf den Bahnsteig entließ. Das Gedränge war enorm und der Krach ohrenbetäubend. Nellie kämpfte sich zum Gepäckwagen vor, um ihren Koffer entgegenzunehmen, immer auch nach Jonathan Ausschau haltend. Welch eine Menschenmenge! Wurde einem bei anderen Gelegenheiten in Bahnhöfen das Gepäck von den Trägern fast aus der Hand gerissen, waren es hier nun eindeutig zu wenige Männer.
„Eine Unverschämtheit ist das!“, beschwerte sich der korpulente Herr neben ihr. Sie folgte seinem Blick. Ein Großteil der Träger war damit beschäftigt, Gepäck aus einem einzigen privaten Waggon entgegenzunehmen. Und es war tatsächlich eine ganze Menge Gepäck.
„Wer sich seinen eigenen Waggon leisten kann, muss ja nicht auch noch uns Normalsterblichen die Gepäckträger klauen!“
Der lange, glänzende Pullman-Waggon musste nach Pittsburgh angehängt worden sein, denn Nellie konnte sich nicht erinnern, ihn beim Einsteigen gesehen zu haben. Und der wäre ihr ganz sicher aufgefallen. Vor einiger Zeit hatte sie einmal einen solchen Luxuswaggon besichtigen können – die meisten Häuser waren schäbig dagegen. Dem Paar, das nun diesem exklusiven Vehikel entstieg, war anzusehen, dass es ganz sicher nicht unbequem auf seinem Sitzplatz oder auf einer schmalen Pritsche genächtigt hatte und auch nicht lange hatte anstehen müssen, um seine Notdurft zu verrichten und eine Katzenwäsche zu absolvieren. Der Herr, klein und ähnlich rund wie der Beschwerdeführer neben ihr, war adrett in einen schwarzen Anzug gekleidet, sein Zylinder glänzte frisch gebürstet, und an der eleganten Dame neben ihm saß auch keine Falte schief. Ein wenig neidisch verfolgte Nellie die beiden mit ihrem Blick, als sie dem Bahnsteigvorsteher folgten, der ihnen kraft seiner Autorität eine Schneise durch den mitreisenden Plebs bahnte. Sich der Störung oder vermutlich überhaupt der Anwesenheit des niederen Volkes nicht bewusst, flanierten sie, eine lange Karawane von Gepäckträgern im Schlepptau, Richtung Fähre davon. Queen Victoria hätte es kaum besser machen können.
Nellie sah sich erneut um, aber von Jonathan keine Spur. Was mochte er jetzt denken, nachdem sie ihn einfach so versetzt hatte?
„Miss!“
Nellies Kopf schnellte herum.
„Ist das nun Ihrer?“
Einer der Männer, die das Gepäck ausluden, deutete ungeduldig auf ihren Koffer.
„Ja!“
Sie sah sich erneut suchend um, aber an einen Träger war nicht heranzukommen. Dann eben nicht. Hatte sie nicht in Mexiko ihr Gepäck auch selbst getragen? Die Reisetasche in der einen, den Koffer in der anderen Hand, machte sich Nellie auf den Weg zur Fähre, die sie über den Hudson River nach Manhattan bringen sollte. Offenbar wollten alle dorthin, und so ließ sie sich einfach von der Menge in die richtige Richtung treiben. Auf der Gangway zur Fähre wurde es wieder enger. So musste sich eine Herde Kühe fühlen, wenn sie von der Weide in einen Waggon verladen wurde. Es stockte, und die Herde kam zum Stehen. Sie mussten auf das nächste Boot warten. Nellie stellte den schweren Koffer ab. Für Fußmärsche waren Koffer eigentlich denkbar ungeeignet, kein Wunder, dass die meisten Leute ihr Gepäck lieber als Bündel trugen. Wenigstens hatte man dann die Hände frei. Oder auch nicht. Nellies Blick fiel auf eine Frau, die, Bündel auf den Rücken und Baby vor den Bauch gebunden, an jeder Hand ein heulendes Kleinkind hatte. Wie konnte man so seine Fahrkarte zeigen? „Warum die Ärmsten der Armen so oft ohne Fahrschein fahren“, war die Überschrift, die Nellie in den Sinn kam. Der Herr neben ihr wischte sich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Das Taschentuch sollte auch einmal wieder gewaschen werden. Sie musterte ihre Mitreisenden, aber von Jonathan fehlte jede Spur. Es war unangenehm beengt, mit so vielen Leuten warten zu müssen, und irgendwie schien ein Gepäckträger auch so etwas wie Ehrbarkeit und Anstand zu verleihen, denn der glücklichen Dame dort vorne rückte man nicht so auf die Pelle wie ihr. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die sicher nicht mehr als zehn Minuten gedauert hatte, ging es weiter. Nellie wollte ihren Koffer wieder aufnehmen, aber ihre Hand stieß gegen die Hand einer anderen Person. Sie blickte nach unten und sah ihren Koffer durch die Beine der Umstehenden verschwinden.
„He! Das ist mein Koffer! Dieb! Ein Dieb!“
Die vormals zielgerichtete Bewegung der Menge wurde jäh chaotischer, als viele die Hälse streckten, um zu sehen, was vor sich ging, und um sicherzustellen, dass der eigene Koffer noch da war. Oder sie nutzten die Ablenkung, um sich vorzudrängeln. Nellie bemerkte eine Person in einer grünen Kappe, die sich eilig den Weg zurück in Richtung Bahnhofshalle bahnte, eigentlich sah sie nur die Kappe, die nun auch noch verschwand.
„Der mit der grünen Kappe, halt! Mein Koffer!“, schrie Nellie verzweifelt aus voller Brust. Aber wie ein unaufhaltsamer Fluss strömte die Menge nun schon wieder in Richtung Fähre, an Nellie wie an einem kleinen Felsen vorbei. Was ging die Leute ein fremder Koffer an?
„He!“ Tränen der Wut und Verzweiflung stiegen in Nellie auf.
„Ist das Ihrer, Missy?“
Ein wahrer Bär von einem Mann erreichte sie, ihren Koffer in der Hand.
„Oh, danke sehr! Danke, danke, danke!“
Er grinste, die beiden vorderen Zähne fehlten, seine Nase war platt, und eigentlich sah er aus wie ein Kinderschreck, aber Nellie erschien er wie der Erzengel Gabriel persönlich. Sie griff nach dem Henkel, aber er ließ den Koffer nicht los.
„Kommen Sie, sonst verpassen wir noch das Boot.“
Mühelos pflügte er durch die Menge und zog Nellie, die Hand am Koffergriff, in seinem Windschatten mit. Tatsächlich schafften sie es, als zwei der Letzten an Bord zu gehen. Im Inneren der Fähre war kein Platz mehr, und auch draußen konnte man nur noch stehen. Aber es war ein schöner Morgen, und es tat gut, an der frischen Luft zu sein.
„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin!“, wiederholte Nellie, als sie sich neben ihren Retter an die Reling lehnte.
„Ach, lassen Sie nur.“ Der Mann hatte einen ausgeprägten irischen Akzent.
„Ich bin Nellie Bly.“ Nellie streckte die Hand aus.
Seine Pranke, mit der er an seine speckige Lederkappe tippen wollte, hielt inne. Er nickte offensichtlich erfreut und schüttelte ihre Hand.
„Collin Murphy, zu Diensten, Miss.“
„Ich danke Ihnen sehr, Mr Murphy. Haben Sie dem Dieb eine verpasst?“
Mr Murphy brach in Gelächter aus, das sich wie das Brüllen des Bären anhörte, den Nellie einmal in Philadelphia im Zoo gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf.
„Nein, Missy, habe ich nicht.“
„Schade.“
„Er war zu schnell weg. Ich habe den Koffer gepackt, und schon war er verschwunden“, erklärte er entschuldigend.
„Macht nichts. Hauptsache, ich habe meinen Koffer wieder.“
Mr Murphy legte den Kopf schief.
„Reisen Sie immer alleine? Ich meine, so eine feine Dame wie Sie und so.“
Jedem anderen hätte Nellie eine scharfe Antwort gegeben, aber um Mr Murphy etwas übel zu nehmen, war sie ihm viel zu dankbar. Deswegen würde sie ihn auch nicht darauf hinweisen, dass sie mit dreiundzwanzig Jahren volljährig war und sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Letzteres klang nach der Kofferepisode auch nicht wirklich überzeugend. Die wirklichen Bedenken hinter seiner Frage großzügig ignorierend, antwortete sie also:
„Ich reise auch gerne mal in Gesellschaft, aber ich werde jetzt hier arbeiten und somit in New York bleiben.“
„Ach? Wo gehen Sie denn in Stellung?“
Überrascht glitt sein Blick ein zweites Mal über Nellie, als wunderte er sich, was denn eine so gut – und auch modisch, wie Nellie fand – gekleidete Dame wohl arbeiten würde.
„Ich bin Journalistin.“
„Was Sie nicht sagen!“
„Ich habe bisher für den Pittsburgh Dispatch gearbeitet, aber nun möchte ich etwas Neues machen.“
Das hatte sehr nonchalant geklungen, stellte Nellie zufrieden fest.
„Na, da sind Sie in New York ja genau richtig. Von dem Kumpel von meinem Cousin Patrick, der Bruder, dem seine Tochter, die arbeitet auch da irgendwo.“
„Ach ja? Wo denn?“ Das wäre natürlich ein wertvoller Kontakt für sie. Viele Journalistinnen gab es wirklich nicht.
Mr Murphy kratzte sich am Kinn.
„War es die World?“
Nellies Herz tat einen Sprung. Das wäre ja fantastisch.
„Oder die Tribune?“
Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber er schüttelte den Kopf.
„Kann ich nicht sagen. Aber jedenfalls ist sie da in der Poststelle und verdient nicht schlecht.“
Nellie sah auf das dunkle Wasser des Hudson River. Was hatte sie denn gedacht? Dass die Tochter des Bruders des Freundes des Cousins von Mr Murphy allen Ernstes auch Journalistin wäre? Urplötzlich fühlte sich Nellie einsam. Die Häuser Manhattans kamen schnell näher. Jonathan würde sie wohl nie wiedersehen. Wie hatte sie denn nur verschlafen können? Jede andere Frau wäre vor Aufregung, allein nach New York zu gehen, ein Nervenbündel, nur sie schlief wie ein Stein! Aber sicher nicht, weil sie so gelassen war, das musste sie ehrlicherweise zugeben. Die Sache mit Jonathan bekümmerte Nellie sehr, aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte, und auch zu viele andere Dinge, mit denen sie sich jetzt befassen musste. Rigoros schob sie den Gedanken beiseite.
„Und wohin geht’s, wenn wir anlegen? Vielleicht kann ich Ihnen Ihren Koffer noch ein Stückchen tragen?“
Mr Murphy war wirklich reizend!
„Ich habe mir noch keine Unterkunft gesucht.“
„Oha.“ Er rieb sich die platte Nase.
Nellie wurde es etwas klamm in der Magengegend. Jonathans Behauptung, günstige Pensionen in Manhattan seien Mangelware, hatte sie gestern einfach beiseitegeschoben – beiseitegeschoben, aber nicht vollständig vergessen, und die nagende Unsicherheit in ihrem Hinterkopf drängte nun machtvoll nach vorne. Sie hatte nicht viel Geld, und Nellie wollte, nein sollte ganz dringend einen teuren Hotelaufenthalt vermeiden.
„Ist es denn so schwierig, eine Unterkunft zu bekommen?“
Mr Murphy deutete mit seiner Pranke flussabwärts.
„Da unten bei Castle Garden kommen die Schiffe mit den Einwanderern an. Hunderte, ach was, Tausende pro Tag.“ Er nickte bekräftigend. „Und ich war auch mal dabei!“
Nellie kniff die Augen zusammen, konnte die Südspitze von Manhattan aber nicht ausmachen.
„Jedenfalls kommen die alle hier an. Und dann müssen sie ja irgendwo wohnen.“
„Aber die bleiben doch nicht alle in New York.“
„Stimmt. Viele reisen weiter zu Verwandten oder machen es wie mein Vetter Brian. Der hat bei diesem Homestead-Programm mitgemacht und sich seine eigene Farm und Land erarbeitet.“ Mr Murphy ließ den Arm wieder sinken und runzelte die Stirn. „Ist dann aber wohl von irgendeiner Bande überfallen worden. Habe schon länger nichts mehr von ihm gehört.“
Noch ehe Nellie Mr Murphy ihr Mitgefühl bekunden konnte, hatte sich dessen Gesicht schon wieder aufgehellt.
„Na, jedenfalls müssen die alle ja erst mal irgendwo bleiben, wenn die hier ankommen, nicht wahr?“, kam er wieder auf das wenig erfreuliche Thema der Wohnungsnot zurück. Er lächelte aufmunternd. „Aber so ein feines Fräulein wie Sie wird ja sicher erst mal ins Hotel gehen.“
Nellies neues Reisekleid schien Mr Murphy einen falschen Eindruck von ihren finanziellen Möglichkeiten zu geben. Natürlich wäre es nett, erst einmal in einem Hotel zu übernachten, aber das war mindestens doppelt so teuer, wie sich gleich dauerhaft irgendwo einzumieten. Sie schüttelte den Kopf.
„Eigentlich würde ich mir am liebsten gleich etwas Längerfristiges suchen. Ich muss meine Pennys etwas zusammenhalten.“
Mr Murphy nickte verständnisvoll. „Und welche Gegend haben Sie sich vorgestellt?“
„Am liebsten natürlich in der Nähe der Park Row, wo die ganzen Verlage sind.“
Ihr hünenhafter Begleiter schüttelte vehement den Kopf. „Das ist keine Gegend für ein Dame. Nee, nee.“
„Dann vielleicht etwas nördlicher?“, fragte Nellie, die Manhattan auf einer Karte eingehend studiert hatte.
„Da ist Kleindeutschland, voll mit Deutschen. Sie wollen ja wohl nicht zwischen die ganzen Schnitzelfresser, oder? Überhaupt sollten Sie lieber weiter nach Norden in Richtung Central Park ziehen, Missy, da sind Sie besser aufgehoben.“
„Aber nicht Yorkville! Da sind mittlerweile auch schon ganz viele Deutsche!“, ließ sich ein schlaksiger Mann in einer auffälligen grünen Tweedweste neben ihnen vernehmen. Er war eindeutig ebenfalls Ire, und die Iren waren sich einig, dass man mit den strebsamen, Schnitzel essenden Deutschen nichts zu tun haben wollte.
Mr Murphy kratzte sich am Kinn.
„Wohin dann mit ihr?“, fragte er über Nellies Kopf hinweg seinen Landsmann. Nellie unterdrückte die aufwallende Empörung, dass die beiden Herren nun einfach über sie und nicht mehr mit ihr sprachen. Wenn sie aber andererseits so an eine günstige Bleibe käme, war es taktisch klug, erst einmal den Mund zu halten. Der dünne Ire, Nellie schätzte ihn auf Mitte dreißig, musterte sie von oben bis unten, als wollte er abschätzen, was sie sich denn so leisten könnte. Anscheinend war er zu keiner befriedigenden Antwort gekommen.
„Was können Sie denn zahlen?“, wollte er wissen.
„Nicht mehr als fünf Dollar pro Woche.“
Die beiden Herren sahen sich an. Mr Murphy schob die Unterlippe vor. Es schien für sie nicht gut auszusehen, dachte Nellie etwas beklommen. Ganz offensichtlich war eine Karte nicht dazu geeignet, einen Eindruck von den tatsächlichen Gegebenheiten einer Stadt zu vermitteln.
„Von der Frau von meinem Bruder Bill die Mutter, die hat da im Westvillage immer zwei Zimmer vermietet“, überlegte der Neuankömmling laut. Aber Mr Murphy schüttelte den Kopf.
„Keine Gegend für eine Dame und zu viele Italiener.“
Der dünne Ire nickte, woraufhin die beiden sich gegenseitig diverse Wohnviertel und Straßenblocks vorschlugen, die sie aber immer sogleich wieder verwarfen. Offenbar war ein Großteil Manhattans für Damen unbewohnbar, und Nellie fragte sich gerade, ob ihre beiden selbst ernannten Beschützer ihre weiblichen Empfindlichkeiten vielleicht überschätzten, als sich unversehens ein weiterer Herr in die Unterhaltung einschaltete.
„Ich wüsste vielleicht was in der Upper Westside.“
„Ach?“ Mr Murphy und der dünne Ire wandten sich um.
Der kleine Mann, der nun ebenfalls mitreden wollte, strich sich mit schwieligen Händen über seine Jacke und tippte sich dann an die Mütze.
„Thomas Kinnley“, stellte er sich vor. „Meine Tochter Maureen wohnt in der 96th Street. Da ist gerade ein Zimmer frei geworden, hat sie mir gestern erzählt.“
96th Street? Nellie besah sich vor ihrem geistigen Auge den Stadtplan von Manhattan. Das war viel zu weit nördlich, viel zu weit weg von der Park Row! Sie schüttelte den Kopf, aber Mr Murphy und der dünne Ire nickten.
„Wie soll ich denn da zur Arbeit kommen?“
„Da fährt doch die 9th Avenue EL, nur drei Blocks südlich ist eine Station, West 93rd Street.“
„Elevated Railroad“, erklärte Mr Murphy unnötigerweise, denn Nellie hatte bereits über New Yorks Hochbahn gelesen.
„Was für eine Wohnsituation ist denn das?“, fragte sie. Es war an der Zeit, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.
„Das ist bei einer Witwe, die ein paar Zimmer untervermietet. Wie eine Pension. Vier Dollar die Woche.“
Die drei Herren sahen Nellie erwartungsvoll an. In der Zwischenzeit hatte die Fähre Manhattan erreicht und begann das Anlegemanöver. Stolze Preise in New York! Aber sie sollte diesem Tipp nachgehen, besser, als Geld in einem Hotel zu verschwenden. Offenbar war es tatsächlich nicht leicht, überhaupt etwas zu finden. Sie konnte von Glück sagen, dass sich ihre neuen Bekanntschaften so für sie bemühten, auch wenn sie deutsche oder italienische Vermieter wohl grundsätzlich nicht in Betracht zogen. Also nickte sie.
„Ja, das sehe ich mir gerne an.“
Mr Murphy trug ihr noch den Koffer zur Hochbahnstation. Nellie nahm sich fest vor, wenn sie je wieder eine Reise ganz alleine machte, würde sie nur ein Gepäckstück mitnehmen! Mit echtem Bedauern verabschiedete sie sich schließlich von ihrer freundlichen Begleitung.
„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, Mr Murphy!“ Sie schüttelten einander erneut die Hände.
„Ach, das habe ich doch gerne gemacht, Missy. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Vielleicht lese ich ja mal was von Ihnen.“
„Das werden Sie ganz bestimmt, darauf können Sie sich verlassen!“
Er grinste, schien ihr nicht recht Glauben zu schenken. Dann bahnte er sich seinen Weg durch das Gedränge zurück in Richtung Ausgang, so wie ein Dampfer durch entgegenkommende Wellen pflügt.
Nun war sie wieder ganz alleine in der großen Stadt. Und groß war Manhattan wirklich. Geradezu gigantisch und vor allem unfassbar voll. Nie zuvor hatte Nellie derartige Menschenmassen gesehen, nicht einmal in Mexico City. Der Zug fuhr ein, Ruß und Asche spuckend, und sofort drängte die wartende Menge nach vorne. Wer hier hätte aussteigen wollen, hätte Schwierigkeiten bekommen. Nellie packte ihre beiden Gepäckstücke fester und ließ sich von den anderen Fahrgästen in den Waggon schieben. Dicht gedrängt, wie Sardinen in einer Dose, standen sie im Gang. Eigentlich hätte sie ihren Fahrschein in die Sammelbox stecken sollen, aber dann hätte sie ihr Gepäck loslassen müssen, und überhaupt hätte sie sich gar nicht zur Box vordrängen können. Zwar war sie objektiv gesehen nicht weit weg, aber eben doch unerreichbar. Mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Nellie reckte den Hals, um hinauszusehen. Es war kurios, so über der Straße zu schweben und den Leuten in die Wohnungen schauen zu können. Ihr würde das nicht behagen. Das war sicher sehr lästig, wenn einem immer die Bahn vor dem Wohnzimmerfenster vorbeirumpelte, lästig und laut. „Mann seit drei Wochen nicht geschlafen wegen Hochbahn!“, formulierte Nellie im Geiste eine weitere Schlagzeile. Konnte man überhaupt drei Wochen ohne Schlaf überleben? Jonathan hätte das gewusst. Die Bahn fuhr an schier endlosen Reihen mehrstöckiger Wohnhäuser aus braunem Backstein vorbei. Überall flatterte Wäsche. Schnurgerade folgte die Hochbahn der 9th Avenue Richtung Central Park. Sie hielten an verschiedenen Stationen, Leute stiegen ein und aus, ohne dass der Zug merklich leerer wurde. Wie war das wohl zu Arbeitsbeginn und Feierabend? Endlich, „West 93rd Street“. Nellie durfte aussteigen und war herzlich froh darüber. Die Treppe hinunter auf die Straße war steil. In jeder Hand ein Gepäckstück, musste sie achtgeben, nicht auf ihren vorderen Rocksaum zu treten, sonst wäre sie kopfüber gefallen. Diesmal gab es keinen irischen Kavalier, der ihr seine Hilfe angeboten hätte, vielmehr hasteten die Leute rücksichtslos an ihr vorbei, den Blick auf den Boden geheftet. Der New Yorker an sich schien es immer eilig zu haben.
Geschafft. Nellie hatte wieder festen Boden unter den Füßen und sah sich suchend um. Die Straße unter der Hochbahn war nicht weniger verstopft als der Zug. Wo kamen bloß all die Leute her? Es war sagenhaft. Und sagenhaft schmutzig obendrein. Ruß und Dreck der Bahnlokomotive rieselten erbarmungslos auf die Passanten und Pferdefuhrwerke auf der Straße nieder. Nellie setzte sich in Bewegung, nur drei Blocks zur 96th Street. Trotzdem war sie schweißgebadet, als sie endlich am richtigen Haus ankam. Nie wieder so viel Gepäck!
„Ich suche Mrs Bukowski. Wohnt die hier?“, fragte Nellie zwei struppige Kinder, die im Rinnstein mit Murmeln spielten.
Die Kinder sahen sie mit großen, sehr blauen Augen an. Es mussten Geschwister sein. Sie nickten.
„Und ist sie zu Hause?“
Wieder nickte das Paar synchron.
„Danke schön.“
Nellie betrat das schmale dreistöckige Haus. Es war noch nicht alt, aber trotzdem schon ein bisschen abgewohnt. Nellie klopfte vernehmlich. Als niemand antwortete, öffnete sie die Tür und steckte den Kopf hindurch. Essensduft kam ihr entgegen.
„Hallo! Ist jemand da?“
Ein gigantisches dunkles Etwas kam urplötzlich hinter dem Sofarücken hervor. Nellie hätte vor Schreck fast ihr Gepäck fallen lassen.
„Was? Wie?“
Unter einer Wolldecke unbestimmter Farbe kam eine sehr umfangreiche junge Frau hervor. Nellie hätte über ihren eigenen Schreck fast laut gelacht.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Im Türrahmen auf der entgegengesetzten Seite des Salons erschien auch eine Frau. Sie mochte in den Vierzigern sein, hochgewachsen und kräftig. Aber nicht wie die junge Dame auf dem Sofa, die Nellie jetzt mit unverhohlener Neugierde betrachtete, sondern eher wie eine Amazone. Sie hatte dunkle Haare und dunkle Augen, die einen aparten Kontrast zu ihrer hellen Haut ergaben. Nellie hatte sich die „Witwe“ ganz anders vorgestellt, irgendwie klein und hutzelig. Die Frau musterte Nellie mit einem Blick, dem sicher nicht viel entging.
„Kommen Sie wegen des Zimmers?“
„Ja, ganz genau.“
„Wer hat Ihnen davon erzählt?“
„Der Vater von Maureen.“
Das klang, als wäre sie mit dieser anderen Mieterin bekannt, was hoffentlich ein Vorteil und kein Nachteil war. Offenbar war es kein Nachteil, denn die Vermieterin löste sich von der Tür, kam auf Nellie zu und streckte die Hand aus.
„Ich bin Eliza Bukowski, die Inhaberin dieser Pension.“ Nellie meinte Stolz in ihrer Stimme zu hören.
„Nellie Bly.“ Sie schüttelten sich die Hände.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Zimmer.“
Nellie setzte ihr Gepäck ab und folgte Mrs Bukowski die schmale, steile Treppe hinauf in den ersten Stock und dann noch eine in den zweiten.
„Ich habe fünf Zimmer zu vermieten. Dieses ist gerade frei geworden.“
Der Raum war klein, aber sauber. Ein Bett, ein Stuhl, eine Kommode mit Lampe und Spiegel. Sie trat ans Fenster und sah hinab in die dunkle rückwärtige Gasse. Das nächste Haus war so nahe, dass sie die Wand fast hätte berühren können. Kein Sonnenstrahl würde sich je hier hereinverirren.
„4,50 Dollar pro Woche mit Verpflegung morgens und abends. Im Voraus.“
„4,50? Maureens Vater sagte, vier Dollar.“
„Maureen hat kein Fenster.“
Kein Fenster? In Manhattan herrschte wirklich Wohnungsnot! Aber dieses Zimmer war so gut wie jedes andere, und wahrscheinlich hatte sie wirklich riesiges Glück, überhaupt so schnell untergekommen zu sein. Fürs Erste war es in Ordnung, und wenn sie sich erst einmal auskannte, würde sie sich etwas Besseres suchen.
„Einverstanden.“
„Kommen Sie, ich mache uns einen Tee.“
Nellie folgte ihr die Treppe hinunter. Die junge Frau auf dem Sofa hatte sich aufgerappelt und war dabei auszugehen.
„Das ist Miss Hamilton“, stellte Mrs Bukowski sie einander vor. „Jane, das ist Miss Bly.“
Miss Hamilton unterbrach ihre Bemühungen, ihre pummeligen Finger in ein Paar cremefarbene Handschuhe zu zwängen, und lächelte freundlich.
„Nennen Sie mich gerne Jane. Ich kann leider nicht bleiben und plauschen, ich muss jetzt zur Arbeit.“
„Wo arbeiten Sie denn?“
„Ich bin Köchin im Temple of Health. Vegetarisch nach Kellogg!“
Sie winkte und war auch schon, die Handschuhe noch nicht übergestreift, zur Tür hinaus.
„Vegetarisch“, wiederholte Nellie.
„Ja“, bestätigte Mrs Bukowski amüsiert, „und dort bekocht von unserer hausbackenen Jane.“
Nellie lachte.
„Das ist schon erstaunlich, was es in Manhattan alles so gibt.“
„Allerdings“, brummte die Vermieterin und stellte zwei Teetassen auf den Tisch.
„Erzählen Sie mal, was haben Sie vor?“
„Ich bin Journalistin und werde hier arbeiten.“
„Aha.“
Für einen Moment war Nellie ein bisschen pikiert, dass ihre neue Vermieterin von der Tatsache, eine weibliche Journalistin vor sich zu haben, anscheinend wenig beeindruckt war. Dann musste sie über sich selbst schmunzeln. Immer beschwerte sie sich, wenn die Leute mit Erstaunen auf ihren Beruf reagierten, und blieb das einmal aus, war sie auch nicht zufrieden.
Während Mrs Bukowski in der Küche mit dem Wasserkessel hantierte, wanderte Nellies Blick durch den Salon. Er war geschmackvoll eingerichtet. Die meisten Möbel waren ein bisschen abgewetzt, bei einer Pension sicher kein Wunder. Doch alles war sehr wohnlich. Nellie ließ sich auf einen der Stühle am großen Tisch sinken, an dem wohl die Mahlzeiten eingenommen wurden. Doch im Großen und Ganzen hatte sie wohl wirklich Glück gehabt.
„Erzählen Sie mal, wo kommen Sie her?“, fragte Mrs Bukowski, als sie sich schließlich mit der Teekanne zu Nellie an den Tisch setzte.
„Pittsburgh.“
„Ach, dann sind Sie heute angekommen?“
„Ja, heute Morgen mit dem Zug.“
„Guck an.“
Sie goss Tee in die Tassen und schob Nellie die Zuckerdose zu.
„Und haben Sie Aussicht auf Arbeit?“
Keine ganz unberechtigte Frage für eine Vermieterin, die jede Woche 4,50 Dollar von ihr sehen wollte. Nellie hatte nach ihrem doch recht spontanen Entschluss, nach New York zu ziehen, ihr Sparkonto geplündert und würde sich mit diesem Geld die erste Zeit über Wasser halten können. Da New York die Zeitungshauptstadt der USA war, war Nellie zuversichtlich, bald eine Anstellung zu finden, am liebsten bei der New York World.
„Nein, noch nicht, aber ich habe schon für den Pittsburgh Dispatch gearbeitet und gute Referenzen.“
„Zeitungen gibt es hier ja zur Genüge. Warum haben Sie Ihre Stelle in Pittsburgh aufgegeben? Ich würde meinen, dass es nicht ganz einfach ist, als Frau überhaupt eine zu finden.“
Eliza Bukowski gefiel Nellie, sie stellte die richtigen Fragen.
„Es ist mir einfach zu langweilig geworden. Ich will über die richtigen Sachen schreiben, nicht nur über Theatervorstellungen oder Mode.“
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