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Unterwegs auf dem Jakobsweg

Unterwegs nach Santiago de Compostela

Im Sommer 2001 ging Hape Kerkeling zu Fuß 600 Kilometer von Frankreich bis nach Santiago de Compostela. 2006 erschien der Bericht seiner Pilgerreise, wurde zum Kultbuch und Bestseller-Phänomen, der Titel zum geflügelten Wort. Bis heute ist die Faszination der Lektüre ungebrochen. Kerkeling bescherte dem Jakobsweg einen neuen Boom und dem Tourismus in Nordspanien Rekordzahlen.

Jakobsweg Bücher
Begeben Sie sich mit unseren Autor:innen auf den Camino und entdecken Sie die schönsten und spannendsten Seiten des Pilgerns. Zudem erhalten Sie wertvolle Tipps für die Vorbereitung einer Pilgerreise und erfahren wichtige Insights zu den einzelnen Abschnitten des Jakobwegs. Buen Camino!

Mama, ich und 713 Kilometer

Blick ins Buch
Leichtes Herz und schwere BeineLeichtes Herz und schwere Beine

Mit Mama auf dem Jakobsweg

Tobias Schlegl geht den Jakobsweg, zusammen mit seiner 73-jährigen Mutter. Obwohl er kein Wanderfreund ist, nimmt er diese Reise auf sich, um ihr einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. Abseits von ihrer Mutterrolle weiß er wenig von ihr. Auf dem Camino stellt er Fragen, die ihm schon lange auf der Zunge liegen, und lernt sie ganz neu kennen. Schlegl erzählt von neu gewonnener Verbundenheit, der Aufarbeitung von Trauer – und Nächten in hellhörigen Schlafsälen und mit geteilter Bettdecke.

Dieses Buch zeigt, wie wichtig es ist, auch als Erwachsener Zeit mit den Eltern zu verbringen, bevor sie alt und gebrechlich werden. Denn Schlegls Erfahrung beweist: Es lohnt sich, ein gemeinsames Abenteuer einzugehen. Und wie!

In Kürze wieder lieferbar

Tag 1:
13. September
Pamplona (0 km)

Etagenbett an Etagenbett. Weiße Matratzen in schwarz lackierten Metallgestellen. Es quietscht, wenn ich mich auf die andere Seite drehe. An der Wand, neben der Steckdose, klebt eine Zahl: Die Schlafplätze sind durchnummeriert, von 1 bis 120. Wir haben die 65 und 66 ergattert.

Albergue Municipal de Peregrinos – Iglesia de Jesus y Maria: eine Herberge für 120 Menschen in einem riesigen Raum, der sich über zwei Etagen erstreckt. Einst war das hier das Schiff einer Kirche, viel Luft also, auch über uns im Gewölbe, und trotzdem schnürt es mir den Atem ab. Nicht wegen der Körperausdünstungen der anderen, nein, es riecht seltsamerweise klinisch, vor allem nach Insektenspray, vermischt mit Desinfektionsmittel.

Unsere Plätze liegen auf der oberen Ebene; stehen wir vom Bett auf, können wir über ein Geländer nach unten schauen. Ich hatte vor zu duschen, bin aber rückwärts wieder raus. Nach Geschlechtern getrennte Waschräume gibt es nicht. Als ich die Tür öffnete, hoben drei nahezu nackte Damen ihre Köpfe und schauten mich an, mit großen Bitte-bitte-Augen, wie der gestiefelte Kater in Shrek. Bitte, bitte, geh wieder. Ich habe ihnen den Wunsch umgehend erfüllt.

Gerede und Rufe hallen zu uns nach oben. Ich bin hundemüde, weiß aber nicht, wie ich bei dieser Lautstärke einschlafen soll. Auch Ohrstöpsel helfen nicht.

Die Anreise vom Flughafen Pamplona zur Herberge war chaotisch. Erst haben wir die Bushaltestelle nicht gefunden, dann standen wir auf der falschen Straßenseite und stiegen schließlich zu spät aus, sodass wir wieder zurückfahren mussten. Der Busfahrer hatte kein Erbarmen und ließ uns für zwei Stationen noch mal den vollen Preis zahlen. Obwohl meine Mutter tapfer auf ihn eingeredet hat – auf Deutsch. Er antwortete unbeirrt – auf Spanisch.

Ich frage mich, warum ich mir das antue – Wandern gehört wirklich nicht zu meinen Leidenschaften. Es gibt darauf nur eine Antwort: Ich tu’s für meine Mutter. Das hier ist ihr Traum, schon immer gewesen. Der Jakobsweg. Der echte. Der Camino Francés.

Sieglinde weiß natürlich, dass sie nicht mehr die Jüngste ist. Wenn, dann muss es jetzt passieren, bevor ihr Körper irgendwann nicht mehr mitmacht. Dabei kenne ich wenige 73-Jährige, die so fit sind wie meine Mutter. Ich bin sicher, sie wird mir davonlaufen. Sie hat lediglich eine Herzinsuffizienz ersten Grades, weshalb der Hausarzt empfohlen hat, die drei Tage durch die Pyrenäen am Anfang des Wegs zu überspringen und in Pamplona zu starten.

Mehr als 700 Kilometer sind es von hier bis Santiago de Compostela. 700 Kilometer, auf denen ich hoffe, meine Mutter besser kennenzulernen. Sie wieder kennenzulernen. Zum ersten Mal kennenzulernen. Einen Fragenkatalog habe ich nicht dabei. Ich möchte es einfach geschehen lassen, Zeit mit ihr verbringen. Das ist mein Antrieb, deshalb bin ich ihre Begleitung.

Ich habe schon oft das Gefühl gehabt, dass ich gar nicht richtig weiß, wer sie eigentlich ist, abseits ihrer Rolle als Mutter. Was sie antreibt, wie sie früher war, welche Träume sie hatte und welche davon noch übrig sind.

Mal keine Themen beiseiteschieben, offen sein. Reden und zuhören. Da sein. Das will ich. Nur wir zwei, ohne Ablenkung und kurze Zeitfenster. Es ist eine einmalige Chance. Hätte ich sie nicht genutzt, würde ich mir das später vorwerfen.

Und so haben wir uns aufgemacht, zwei – trotz der gemeinsamen Vergangenheit – ziemlich unterschiedliche Menschen in einer Schicksalsgemeinschaft, mit einer gewaltigen Aufgabe vor sich.

Und gleich am ersten Tag in der Herberge im Kirchenschiff habe ich Angst, mir einen Fußpilz oder Schlimmeres einzufangen. Ich hasse Bettenlager. Aber ich komme nicht drum herum; Sieglinde ist eine sparsame Frau, sie will keine 70 Euro für ein Hotelzimmer ausgeben. Das könnte sie sich zwar leisten, aber die Sammelunterkunft kostet nur elf Euro pro Nacht. Und sie braucht „diesen Luxus“ nicht. Was mich angeht, bin ich mir da nicht so sicher. Ich bin verwöhnt. Hatte schon mit 17 Jahren eine EC-Karte, und seitdem kommt immer Geld aus dem Automaten.

Morgen geht es richtig los. Und ich weiß, es wird wehtun. 24 Kilometer bis Puente la Reina. Ich hoffe, ich übernehme mich nicht. Ich hoffe, meine Mutter übernimmt sich nicht. Ich bin ihre Begleitung, ich muss auf sie aufpassen.

Bevor wir uns hier einquartiert haben, wurden wir übrigens abgewiesen. An der ersten Unterkunft, die wir in Pamplona vollgeschwitzt aufgesucht haben. Es war die Casa Paderborn – ein kleines Haus mit 26 Betten. Die Herberge hatte noch genau einen Platz frei.

Diesmal hat Sieglinde den Shrek-Kater gemacht. Bitte, bitte, lass mich hierbleiben. Sie war fertig vom Tag. Um 2.30 Uhr aufstehen. Flieger nach Pamplona. Buschaos. Durch die Stadt irren. Sie wollte das Zimmer. Sich ausruhen und ihre Müsliriegel knabbern. Es wäre okay für mich gewesen.

Meine Mutter war schon mit einem Fuß über die Türschwelle. Aber dann hat sie mir ins Gesicht gesehen. Zwei Sekunden. Und gesagt:

„Nein, wir machen das gemeinsam.“


Tag 2:
14. September
Pamplona–Puente la Reina (24,0 km)

Die Nacht ist die Hölle. Als ich gegen zwei Uhr zur Toilette muss und die schmale Leiter des Etagenbetts hinabsteige, hebt meine Mutter den verwuschelten Kopf und fleht:

„Herr, lass diese Nacht schnell vorübergehen!“

Ich bin schon vor dem Wecker wach, um 4.30 Uhr, und will einfach nur los. Lieber zu einer unchristlichen Zeit pilgern, als noch länger hierzubleiben. Im Bett neben uns, Luftlinie eineinhalb Meter von meiner Mama, schläft ein Spanier. Auf seine Wange ist ein kleines schwarzes Kreuz tätowiert, auf dem breiten Rücken prangt ein großes, das wir gestern bewundern konnten. Jetzt holzt er einen Wald ab.

Beim Zähneputzen postiert sich eine Endfünfzigerin hinter mir. Ich spüre ihre Ungeduld. Schließlich drängt sie sich neben mich:

„Sorry, now it’s my turn!“ Dazu ein Knuff in die Hüfte.

So erobert man sich das Waschbecken.

Ich schwöre mir, dass wir nie wieder in einem Raum mit 120 Leute übernachten werden. Niemals. Sieglinde ist ganz meiner Meinung.

Es ist noch dunkel, als wir aufbrechen. Ich bewundere meine Mutter dafür, dass sie ohne Frühstück losziehen kann. Für mich gab es Studentenfutter und eine bräunliche Banane, die ich noch am Flughafen gekauft hatte.

Nachdem wir zehn Minuten über das Kopfsteinpflaster Pamplonas gewandert sind, wird mir klar, was in den kommenden Wochen ein großes Problem für mich werden dürfte: der Rucksack. Er ist mit seinen dreizehn Kilo (zwölf Kilo Gepäck und ein Liter Wasser) deutlich zu schwer. Je nach Körperhaltung zieht er mich nach hinten oder drückt mich nach vorn. Die Schultern schmerzen. Shit. Vielleicht kann ich noch was rausschmeißen. Dabei bin ich meine Sachen bereits unzählige Male durchgegangen. Das Ding ist: Ich habe Technik dabei. Ich schreibe Tagebuch auf meinem Laptop, der steckt in einer Schutzhülle und braucht ein Ladekabel. Einen Zusatz-Akku habe ich für den Notfall auch mitgenommen. Das alles wiegt etwa zwei Kilo.

Ein paar Nussvorräte kommen noch dazu, als eiserne Reserve. Mit dem Essen ist es bei mir so ein Thema. Seit meinem 15. Lebensjahr verzichte ich auf Fleisch. Damals hatte ich eine Dokumentation über Tiertransporte gesehen und bekam die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Ich hörte von heute auf morgen auf mit Fleisch. Das bedeutete auch, von da an das jährliche Weihnachtsmenü (Gulasch mit Klößen) und Silvesteressen (Fleischfondue) zu verschmähen. Meine Eltern waren not amused.

„Jetzt stell dich nicht so an, das kommt alles vom Fleischer an der Ecke, den kenn ich doch“, sagte meine Mutter, als an Silvester ein Teller mit Fleischwürfeln vor mir stand, trotz meiner Ankündigung. Ich habe nichts runterbekommen.

„Weißt du eigentlich, wie teuer das war?“

Spanien ist ein Land der Fleischesser. Mir ist klar, dass das nicht einfach werden wird.

Nun also raus aus Pamplona, rein in die Weite Navarras. Der Morgen hat sich den Himmel erobert, schönstes Blau, Schleierwolken. Die Landschaft: beige, braun, verdorrt – selbst das Grün der Sträucher und Bäume wirkt matt, ausgetrocknet. Olivenbäume. Mandelbäume. Walnussbäume. Schrumpelige Sonnenblumen. Und verkohlte Brandflächen, die Narben Spaniens – der Sommer war wieder der heißeste seit Aufzeichnungsbeginn. Wasser, ich brauche Wasser, schreit die Landschaft einem entgegen.

Überall liegen Steine, immer nur Steine. Und Steinhaufen plus Steinmännchen, denn Pilger spielen offenbar gerne mit Steinen. Sie legen sie ab und befreien damit ihre Herzen von Ballast.

Auch meine Mutter hat Ballast dabei. Wir haben ein angenehmes Tempo gefunden, ich gehe jetzt im T-Shirt, die Jacke hinten festgeschnürt, da lässt sie die Katze aus dem Sack. Beziehungsweise den Hund.

„Ich wandere aus einem bestimmten Grund. Ich will, dass die Trauer um Lara nicht mehr so schmerzhaft ist“, sagt sie und atmet tief, damit keine Tränen kommen.

Ich bin überrascht. Das ist also ihr Anlass, diesen Weg zu gehen. Sie verspricht sich Heilung. Es ist ein Jahr her, dass Lara gestorben ist. Sie stammte aus Italien, eine Straßenhündin, mittelgroß, honigfarbenes Fell, sehnig und schnell. Anfangs war es alles andere als einfach mit ihr. Immer, wenn ich zu Besuch kam, verkroch sie sich zitternd unter Mamas Stuhl. Sie muss als junger Hund Traumatisches erlebt haben. Mit Artgenossen konnte sie gut; fremde Menschen, besonders Kinder, flößten ihr eine Heidenangst ein. In Italien landete sie in einer Auffangstation, von dort kam sie mit etwa acht Monaten zu meinen Eltern. Und Mama schaffte es, mit viel Hingabe und Geduld, dass dieser Hund wieder Vertrauen fassen konnte, auch zu mir. Zunächst ertrug sie, dass ich ihr den Kopf streichelte, wenn auch nur kurz und mit eingezogenem Schwanz. Schließlich akzeptierte sie mich als Rudelmitglied und entspannte sich.

Lara wurde eine aufmerksame, freundliche, ausgeglichene Hündin – zumindest, wenn meine Eltern anwesend waren. Ließen sie sie allein oder bei mir, war sie ein Schatten ihrer selbst und rührte sich so lange nicht weg von der Tür, bis die beiden zurückkehrten. Und so passten sie ihren Alltag Laras Bedürfnissen an – wo der Hund nicht mitkonnte, gingen sie nicht hin, zumindest nicht zu zweit. Eine große Liebe, auf beiden Seiten: Laras Dankbarkeit und Ergebenheit vor allem Sieglinde gegenüber waren deutlich spürbar.

Doch auch Lara wurde älter. Mit dreizehn Jahren stand sie nur noch wackelig auf den Beinen. Jeder Schritt schien zu schmerzen. Dann verweigerte sie ihre Nahrung. Meine Mutter versuchte alles. Lara bekam Spezialfutter und viel Leberwurst, in der Pillen gegen die Schmerzen versteckt waren. Irgendwann aß sie gar nichts mehr. Es brach Mama das Herz, ich hatte sie lange nicht mehr so niedergeschlagen gesehen.

Aber selbst in dieser Situation war Sieglinde die Handelnde. „Ich fahre jetzt zum Tierarzt, damit der ihr die Spritze gibt. Sie soll nicht mehr leiden.“

Lara, nur noch Haut und Knochen, wurde eingeschläfert. Und starb im Kofferraum des Autos meiner Eltern, auf ihrer Hundedecke, Mama saß neben ihr und streichelte sie.

Wie schmerzhaft das gewesen sein muss. Loszulassen. Sie hat Lara einfach über alles geliebt. Viel zu lange haben wir nicht mehr darüber gesprochen. Ich habe die Sache erfolgreich verdrängt, während sie bei meiner Mutter dauerpräsent sein muss.

Kilometer elf, und der Schulterschmerz strahlt hoch in den Nacken und runter ins Kreuz. Der Jakobsweg heißt Leiden. Man weiß es vorher, doch jeder denkt insgeheim, bei mir wird es anders, ich bin besser vorbereitet. Falsch gedacht. It’s real. Aber noch fliegen meine Füße über den steinigen Weg. Auch als er ansteigt, ist das kein Problem, jedenfalls nicht für Beine und Knie. Aber diese Schultern, verdammt. Ich werfe einen Blick zu meiner Mutter, sie schaut mich an. Es geht ihr ähnlich.

Und dann hören wir von einer Geschichte, die mich schwer beschäftigen wird. Hinter dem steilsten Stück des Anstiegs liegt ein winziger Ort: eine Straße, eine Kirche, ein Shop – für uns wie eine Oase in der Wüste. Die Auswahl umfasst nicht viel mehr als ein Schinkensandwich in der Theke und den Joghurt im Kühlschrank. Wir kaufen beides und verschlingen es auf einem Mäuerchen vor der Kirche, ich den Joghurt, meine Mutter das Sandwich.

Sieglinde quatscht zwei Frauen an, Deutsche, die eine hochgewachsen, die andere leuchtend orange gekleidet. Sie haben lediglich kleine Rucksäcke dabei, weil sie den Camino nur für fünf Tage laufen wollen. Frechheit.

Zu den Frauen gesellt sich ein Mann, Typ wettergegerbt und jung geblieben, ein Deutsch-Spanier. Er hat seinen Wohnsitz nach Spanien verlegt und zeigt sich gern einfach so auf dem Camino, um mit den Touris zu plaudern – auf der Suche nach weiblichen Bekanntschaften, so scheint es mir. Jedenfalls ist er ganz offensichtlich an den beiden Freundinnen interessiert, weniger an meiner Mutter und überhaupt nicht an mir. Wir hören trotzdem zu.

Er berichtet von einem älteren Pilger, der vor einigen Tagen durch diesen Ort gekommen ist und dann den holprigen Pfad hoch zum Memorial Fosas de la Sierra del Perdón genommen hat. Auf dem Weg kippte er um und starb. Einfach so, jede Hilfe zu spät. Der Mann hat es mit eigenen Augen gesehen.

Ich bin verstört. Die beiden Damen haben es plötzlich eilig aufzubrechen, und der Mann verstummt. Ich traue mich nicht nachzuhaken. Wer war dieser Alte? Warum ist er umgekippt? Welche Geschichte steckt dahinter? Welches Leid? Hat jemand (der Deutsch-Spanier vielleicht) Erste Hilfe geleistet? Übliche Notfallsanitätergedanken gemischt mit Romanautoren-Neugierde und einem Hang zum Düsteren.

„Er war nicht der Erste, der auf dem Camino gestorben ist.“ Der Deutsch-Spanier dreht sich um und geht.

Der Weg fordert Tote. Nicht nur der Geist des Apostels Jakobus des Älteren schwebt über dem Camino. Auch Gevatter Tod geht um. Vorsicht vor diesem Weg, er kann dich verschlingen. Bämm – und tot bist du. Der Rettungsdienst hat auf diesen verschlungenen, zugewachsenen, engen Pfaden keine Chance. Die Anfahrtszeit dürfte die in deutschen Städten üblichen fünfzehn Minuten um ein Vielfaches überschreiten. Da müssten sie schon mit dem Heli kommen.

Wer war der tote Pilger? Hätte ich doch nur einen Detektivclub, im Team ein Bob Andrews, Recherchen und Archiv, den ich jetzt aktivieren könnte. Ich beginne, mir die Lebensgeschichte des Mannes selbst auszumalen.

Wir machen uns wieder auf den Weg. Verlaufen ist unmöglich, denn alle naselang weist das Piktogramm einer Jakobsmuschel uns den Weg. Die gelbe Muschel auf blauem Grund – aufgemalt auf dem Asphalt, eingelassen in Beton, geklebt auf einen Wegweiser, kombiniert mit einem gelben Pfeil. Und so erreichen wir Puente la Reina, wo die Herberge deutlich kleiner und sauberer ist als die in Pamplona. Neben der Rezeption steht ein großer Snackautomat ohne Snacks. Stattdessen sind die Fächer mit Zahnpasta und Blasenpflastern gefüllt. Gibt es irgendwo auch neue Schultern?

Wir finden eine andere Lösung, die einen Tag zuvor noch undenkbar gewesen wäre: Wir massieren uns gegenseitig die Schultern. Das ist ja eigentlich keine große Sache, aber mit meiner Mutter fühlt es sich erstaunlich intim an. Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir bereits am zweiten Tag so weit sind. So nah. Aber es tut gut. Und ist wie jede Massage viel zu kurz.

Bevor wir todmüde ins Bett fallen, verabschiedet sich Sieglinde noch von ein paar Dingen in ihrem Rucksack: Eine kleine Plastiktüte, ein T-Shirt und ihre Packung Ohropax fliegen in den Mülleimer – sie will nun Watte in die Ohren stopfen. Das macht lächerlich wenige Gramm aus, bringt aber kiloschwere Hoffnung, dass der Weg morgen etwas leichter wird.

„Der wichtigste Weg meines Lebens“

Blick ins Buch
Ich bin dann mal wegIch bin dann mal wegIch bin dann mal wegIch bin dann mal weg

Meine Reise auf dem Jakobsweg – Jubiläumsausgabe

Der Sensations-Bestseller zum Jubiläum - mit exklusivem Bonus-Kapitel

Juni 2001: Es ist ein nebelverhangener Morgen, als Hape Kerkeling, Deutschlands vielseitigster Entertainer und bekennende Couch potato, endgültig seinen inneren Schweinehund besiegt und in Saint-Jean-Pied-de-Port zur Wanderung seines Lebens aufbricht. Sechs Wochen liegen vor ihm, allein mit sich und seinem elf Kilo schweren Rucksack: über die schneebedeckten Gipfel der Pyrenäen, durch das Baskenland, Navarra und Rioja bis nach Galicien zum Grab des heiligen Jakob, seit über 1000 Jahren Ziel für Gläubige aus der ganzen Welt.

Mit Charme, Witz und Blick für das Besondere erschließt Kerkeling sich die fremden Regionen, lernt er die Einheimischen ebenso wie moderne Pilger und ihre Rituale kennen. Er erlebt Einsamkeit und Stille, Erschöpfung und Zweifel, aber auch Hilfsbereitschaft, Freundschaften und eine ganz eigene Nähe zu Gott. In seinem Buch über den Wert des Wanderns zeigt der beliebte Spaßmacher, wie er auch noch ist: abenteuerlustig, weltoffen, meditativ.

2006 erscheint der Bericht seiner Pilgerreise, wird zum Kultbuch und Bestseller-Phänomen, der Titel zum geflügelten Wort. Er erreicht über 5 Millionen begeisterte LeserInnen und steht 100 Wochen auf Platz 1 der SPIEGEL-Sachbuch-Bestsellerliste. Bis heute ist die Faszination der Lektüre ungebrochen. Kerkeling beschert dem Jakobsweg einen neuen Boom und dem Tourismus in Nordspanien Rekordzahlen. Der TV-Star legt damit als Autor auch den Grundstein für seine berührende Kindheitsgeschichte „Der Junge muss an die frische Luft“.

In der Jubiläumsausgabe lässt Hape Kerkeling jetzt in einem völlig neuen, ausführlichen Vorwort die Bedeutung dieser sechswöchigen Wanderung Revue passieren und blickt zwanzig Jahre danach auf den wichtigsten Weg seines Lebens zurück.

„Das Glück, von der Sinnsuche eines Menschen zu lesen, der sich nicht in Sarkasmus flüchtet. Der weiß, dass Fragen ehrlicher sind, als Antworten es je sein können.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

„This Book is a Publishing Phenomenon.“ The New York Times

Vorwort zur Neuausgabe
Liebe Leserinnen und liebe Leser,
als ich zwölf Jahre alt war, fuhren mein Kumpel Raoul und ich an einem Samstagnachmittag mit der S-Bahn von Recklinghausen zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof. Mit Umsteigen dauert diese Zugfahrt alles in allem eine knappe halbe Stunde.
Gewiss werden Sie sich jetzt fragen, wann der Bus mit den Menschen kommt, die sich für diese relativ farblose Unternehmung interessieren sollten, und vor allem, was sie in diesem Vorwort verloren hat. Gelsenkirchen ist, auch mit viel gutem Willen, nicht annähernd Santiago de Compostela.
Nun, dieser Ausflug diente nur einem Zweck. Die Fahrt ins Blaue sollte meinem Freund Raoul eine rosige Zukunft sichern. Raoul Linnemeyer hatte, als er knapp elf Jahre alt war, beschlossen, eines fernen Tages ein berühmter Schriftsteller zu werden. Gerne auch Dramatiker oder Essayist.
Seinen Wunsch halte ich im Jahre 1977 für durchaus im Bereich des Möglichen. Schließlich ist Raoul besonders aufgeweckt, hat eine philosophische Ader und auch noch Manieren.
Bereits jetzt als Zwölfjähriger verfügt er über einen erstaunlichen Denkapparat und versteht es, mich mit erhellenden Erkenntnissen und komplexen Gedanken à la Albert Camus zu überraschen. Dem ähnelt er übrigens auch äußerlich ein wenig. Das Talent ist ihm quasi in die Wiege gelegt worden, denn Raouls Mutter Eline ist eine begabte Lyrikerin.
Also, was spricht da noch gegen seine zukünftige Autorenkarriere? Allein der Name Raoul Linnemeyer schreit ja geradezu nach Platz 1 der Bestsellerliste.
Dem rehäugigen Raoul mangelt es, laut eigener Aussage, leider an Ideen für einen starken Stoff, der seine potenziellen Leser fesseln könnte.Auch bezweifelt er, ob er es wohl jemals zur Meisterschaft eines seiner Vorbilder Kant, Lessing oder Kleist wird bringen können, und er fragt sich insofern, ob er besser gar nicht erst mit einem Schreibversuch beginnen sollte.
Als Pragmatiker finde ich, dass er es wenigstens erst einmal versucht haben sollte, bevor er die Flinte frustriert ins Korn wird werfen müssen. So fahren wir also an jenem Samstag, mit zwei Notizblöcken und Kugelschreibern ausgestattet, zum Gelsenkirchener
Hauptbahnhof. Diese nicht besonders prickelnde Ausflugsidee ist auf meinem Mist gewachsen.
Mir ist natürlich bekannt, dass Gelsenkirchen kein ausgesprochener Sehnsuchtsort der Weltliteratur ist, aber man muss ja, auch bei allen noch so hochtrabenden Plänen, die Kosten im Blick haben. Amsterdam wäre mir selbstverständlich auch lieber gewesen. Andererseits ist Gelsenkirchen, im Gegensatz zur niederländischen Hauptstadt, eine schriftstellerische Herausforderung.Was sollte einem dazu schon einfallen? Raoul wirkt jedenfalls nicht so, als würden die Ideen gerade aus ihm heraussprudeln.
Meiner Großmutter Bertha hat man ein Jahr zuvor bei örtlicher Betäubung im Klinikum Gelsenkirchen-Ückendorf ein künstliches Hüftgelenk eingepflanzt. Vielleicht denke ich auch deshalb, dass die Stadt im Pott mehr verdient als ein müdes Lächeln?
„Schreib jetzt mal alles auf, was dir während der Fahrt nach Gelsenkirchen so auffällt und einfällt“, ist mein guter Rat für meinen Mitschüler an jenem sonnigen Nachmittag.
„Wenn du Autor werden willst, musst du üben, üben, üben! Also fang jetzt einfach mal mit dem Schreiben an!“ gebe ich meinem geschätzten Freund diese schlichte Devise mit auf den Weg.
Schräg gegenüber fällt mir eine ältere Dame im beigen Horst-Schlämmer-Mantel auf, welche im Gegensatz zu uns nicht in Fahrtrichtung sitzt. Unruhig, um nicht zu sagen besorgt, schaut sie in Richtung der hinter uns befindlichen Abteiltür.
Neugierig versuche ich mit einem kurzen Blick nach hinten herauszufinden,was sich da wohl hinter unseren Rücken Interessantes abspielen könnte. Allerdings verhindern die Nackenstützen an den Sitzen, dass mein Blick auch nur den Türrahmen erhascht. Aufstehen mag ich nicht. Das wäre mir nicht dezent genug.Anscheinend grummeln aber hinter uns, ein paar Waggons weiter, einige Männer vor sich hin.
Erst jetzt fällt mir, dem Schnellmerker, auf: Außer der älteren Dame und uns beiden befindet sich niemand im Waggon.
„Komisch eigentlich, dass so wenig Leute in der Bahn sitzen … ist doch Samstag. Da unternimmt man doch was!“, entfleucht es mir spontan, und ich ernte dafür ein flüchtiges Schulterzucken von Raoul.
Mit einem Mal erhebt sich die Dame fast panisch und schlurft, so eilig sie nur kann, in Fahrtrichtung einen Waggon weiter, ohne uns eines Blickes zu würdigen, ihr kariertes Einkaufswägelchen ratternd hinter sich herziehend. Fix rufe ich noch: „Auf Wiedersehen!“
„Wo die wohl so schnell hinwill?“, frage ich mehr mich als Raoul.
„Interessiert mich nicht!“, lautet seine lapidare Reaktion, während er mit dem Kugelschreiber gegen die verschmierte Fensterscheibe klopft und auch die Industriebrache von Rotthausen desinteressiert an sich vorbeiziehen lässt. Im Rückblick meine ich, es hätte ihn wohl besser interessieren sollen.
Schlagartig wird hinter uns die Tür aufgerissen. Eine johlende, unternehmungslustige Meute trampelt in unsere Richtung. Dem Geräusch nach zu urteilen könnte das auch eine Stampede spanischer Jungbullen aus Pamplona sein.
Womit ich jetzt schon fast auf dem Jakobsweg wäre. Doch wenn ich es akustisch richtig deute, sind das einfach nur angetrunkene halbwüchsige Männer. „Sternhagelbesoffen“ trifft es noch besser.
Plötzlich steht direkt vor unserer Sitzreihe ein halbes Dutzend Schalke 04-Fans, ausgestattet mit allen Utensilien, die das Leben des Fußballfans so bunt und fidel gestalten. Vom Fähnchen bis hin zur schräg sitzenden Kappe ist alles aus dem Merchandising-Katalog dabei.
Einer hat sogar einen riesigen gelben Fleck inklusive Bröckchen auf seinem blau-weißen Hemd. Da ist nur noch „Schalk“ zu lesen. Das „e 04“ hat er, sagen wir es vornehm, vollgereihert. Der säuerliche Geruch, den er penetrant verströmt, bestätigt das.
Mit einem Mal wird mir klar, warum heute niemand freiwillig in der S-Bahn sitzen möchte: Samstag heißt Bundesliga. Im Ruhrpott wiederum bedeutet das: bürgerkriegsähnliche Zustände im öffentlichen Nahverkehr.
Wäre man eingefleischter Fußballfan, hätte man das wissen können.
Raoul will aber Dramatiker werden, und ich habe bis vor einem Jahr noch mit Barbie-Puppen gespielt. Den Notizblock lege ich nun entschlossen beiseite und lasse mein Leben vorsichtshalber noch einmal Revue passieren. Besser ist es.
Schon packt der Mann mit dem Fleck auf dem Shirt mich unsanft am Kragen und zieht mich aus dem Sitz. Es brüllt mir entgegen: „Wat bisse?“
Blöde Situation! denke ich, während Raoul zwar kleinlaut, aber doch erstaunlich mutig einwirft: „Lass meinen Freund los!“
Die knallharte Antwort des begeisterten Biertrinkers in Richtung Raoul lässt nicht lange auf sich warten: „Du fängst dir gleich eine, du Milchfresse!“
Nun verfestigt sich mein flüchtiger Eindruck vollends.
Der Kerl ist mir unsympathisch.
„Wat du bis?“, will er noch einmal mit Nachdruck von mir wissen, während die Umstehenden fies giggeln. Einer rülpst sogar.
An Bundesligasamstagen mag ich meinen Ruhrpott einfach nicht. Die Dienstage sind schöner, da habe ich immer Chorprobe. Und schon werde ich wieder unfreundlich angeblökt.
„Wat bisse? Borussia oder Schalke?“, konkretisiert er nun seine Frage, einem bösen Vorwurf gleich.
Sechs brutale Augenpaare starren mich an. Eigentlich bin ich erstaunt darüber, wie wenig Angst mir diese doofe Situation, nun, wo sie eingetreten ist, macht, obwohl ich sie immer gefürchtet hatte. Früher oder später kriegen einen die Fußballfans aus dem Pott nun mal zu fassen und hauen einen unweigerlich windelweich. Heute ist mein Tag. Hoffentlich lassen sie Raoul in Ruhe. Dann kann der später wenigstens Hilfe holen. Man wird mich wahrscheinlich mit Blaulicht in die Unfallchirurgie des Klinikums Gelsenkirchen-
Ückendorf bringen.Wenigstens weiß ich, dass da gute Ärzte arbeiten. Oma kann wieder laufen wie ein junger Gott.
Wo war der fiese Hooligan stehengeblieben? Ach ja, Borussia oder Schalke!? Auf diese Frage kann man im Ruhrpott ja fast alles reduzieren. Es ist das Sein oder Nichtsein im Revier.
Meine Auswahl an Antwortmöglichkeiten ist relativ beschränkt: Sage ich Borussia, setzt es umgehend blau-weiße Schläge. Sage ich Schalke, bin ich der Horde zu schleimig, und es gibt erst recht eins auf die Nase. Sage ich, dass ich mich überhaupt nicht für Fußball interessiere, ist das garantiert mein Todesurteil.
Plötzlich kommt mir aus heiterem Himmel mein Religionslehrer Herr Dr. Halfmann in den Sinn. Der ist Fan vom VfL Bochum. Manchmal hat man auch einfach mal eine gute Idee.
So brülle ich: „Ich bin VfL!“
Der angetrunkene Jungbulle schaut mich erstaunt an, erteilt mir eine ziemlich schmerzhafte Kopfnuss und lallt im Ton des Bedauerns: „Du muss no viel lernen, Kleiner! VfL is Kacke! Wenn die mal nich absteigen! Aber wenigstens sind die blau-weiß! Hasse aber heute Glück gehabt!“
Johlend zieht die Brut hinüber in den nächsten Wagen.
Holy Shit! Nie wieder werde ich an einem Samstag im Ruhrgebiet S-Bahn fahren, auch nicht Raoul zuliebe.
Nach einigen Minuten erreichen wir erleichtert und am Stück den Gelsenkirchener Hauptbahnhof. Unmittelbar nach dem Ausstieg fordere ich meinen Schulkollegen auf: „Schreib das auf!“ „Was?“, will Raoul wissen.
„Na, was uns passiert ist! Das glaubt uns doch kein Mensch!“, animiere ich ihn.
„Wen sollte das interessieren?“, will er wieder schulterzuckend in Erfahrung bringen.
„Na, mich interessiert es!“, sage ich zwar immer noch unter Schock, aber doch geistesgegenwärtig.
Und wenn Sie mich heute fragen, ob ich so etwas wie ein Erfolgsrezept kenne beim Schreiben?
Es interessiert mich. Ich brenne dafür!
Damals habe ich diese kleine S-Bahn-Episode aufgeschrieben und damit quasi den Grundstein für meine schriftstellerische Tätigkeit gelegt. Nur meiner Großmutter
Bertha habe ich die Story vorgelesen. Die war amüsiert. Das, was ich dann mit „Ich bin dann mal weg“ erreichen durfte, habe ich in gewisser Weise tatsächlich auch Raouls anmaßender Ambition zu verdanken. Stellvertretend für ihn bin ich so zum Geschichtenerzähler geworden. Verrückt, aber wahr.

[...]

9. Juni 2001 – Saint-Jean-Pied-de-Port
„Ich bin dann mal weg!“ Viel mehr habe ich meinen Freunden eigentlich nicht gesagt, bevor ich gestartet bin. Ich wandere halt mal eben durch Spanien. Meine Freundin Isabel kommentierte das sehr lapidar mit: „Aha, jetzt bist du durchgeknallt!“

Was, um Himmels willen, hat mich eigentlich dazu getrieben, mich auf diese Pilgerreise zu begeben?
Meine Oma Bertha hat es schon immer gewusst: „Wenn wir nicht aufpassen, fliegt unser Hans Peter eines Tages noch weg!“ 
Wahrscheinlich hat sie mich deshalb auch immer so gut gefüttert.
Und so könnte ich jetzt bei einer heißen Tasse Kakao und einem saftigen Stück Käsekuchen gemütlich zu Hause auf meiner roten Lieblingscouch liegen. Stattdessen hocke ich bei erstaunlich kühlen Temperaturen in einem namenlosen Café am Fuß der französischen Pyrenäen in einem winzigen mittelalterlichen Städtchen namens Saint-Jean-Pied-de-Port. Einer malerischen Postkartenidylle ohne Sonne.
Von der Zivilisation kann ich mich dann doch noch nicht ganz lösen, deshalb sitze ich direkt an der Hauptstraße und stelle fest: dafür, dass ich vorher noch nie etwas von diesem Ort gehört habe, brettern hier unglaublich viele Autos durch.
Auf dem wackeligen Bistrotischchen vor mir liegt mein fast leeres Tagebuch, das anscheinend genauso einen Appetit hat wie ich. Eigentlich hatte ich bisher noch nie das Bedürfnis, mein Leben schriftlich festzuhalten – aber seit heute Morgen verspüre ich den Drang, jedes Detail meines beginnenden Abenteuers in meiner kleinen orangefarbenen Kladde aufzuzeichnen. 
Hier also beginnt meine Pilgerreise nach Santiago de Compostela. 
Die Wanderung wird mich über den Camino Francés, eine der Europäischen Kulturstraßen, über die Pyrenäen, quer durch das Baskenland, Navarra, die Rioja, Kastilien-León und Galicien nach etwa 800 Kilometern direkt vor die Kathedrale von Santiago de Compostela führen, in welcher sich, der Legende nach, das Grab des Apostels Jakob befindet, des großen Missionars der iberischen Völker. 
Wenn ich nur an den langen Fußmarsch denke, könnte ich mich jetzt schon vierzehn Tage ausruhen.
Das Entscheidende ist: Ich werde laufen! Die ganze Strecke. Ich laufe! Ich muss es gerade selber noch einmal lesen, damit ich es glaube. Allerdings nicht alleine, sondern gemeinsam mit meinem elf Kilo schweren, knallroten Rucksack. Falls ich unterwegs tot umfalle, und die Chancen dafür stehen gar nicht schlecht, erkennt man mich mit dem wenigstens aus der Luft.
Zu Hause benutze ich nicht mal die Treppe, um in den ersten Stock zu kommen, und ab morgen müsste ich dann jeden Tag zwischen 20 und 30 Kilometern gehen, um in knapp 35 Tagen ans Ziel zu gelangen. Die bekennende Couch potato geht auf Wanderschaft! Gut, dass keiner meiner Freunde so genau weiß, was ich hier eigentlich vorhabe, dann ist es nicht ganz so peinlich, wenn ich wahrscheinlich schon morgen Nachmittag das ganze Unternehmen aus rein biologischen Gründen wieder abblasen muss.
Heute Morgen habe ich mal einen ersten vorsichtigen Blick auf den Anfangspunkt des offiziellen Jakobswegs geworfen. Er liegt oberhalb des Stadttores jenseits der Türmchen und Mauern von Saint Jean, dem Schlüssel zu den spanischen Pyrenäen, und läutet die erste Etappe auf dem Camino Francés mit einem recht steilen Aufstieg über einen Kopfsteinpflasterweg ein. 
Dort begibt sich gerade ein etwa siebzig Jahre alter Herr mit einer starken Gehbehinderung sehr entschlossen auf den Pilgermarathon. Ich starre ihm bestimmt fünf Minuten ungläubig hinterher, bis er langsam im Morgennebel verschwunden ist. Ich bin mir sicher, der schafft das! 
Die Pyrenäen sind ziemlich hoch und erinnern mich an das Allgäu. 
In meinem hauchdünnen Reiseführer, den ich schließlich auch über die schneebedeckten Wipfel der Pyrenäen schleppen muss, steht, dass Menschen sich seit vielen Jahrhunderten auf die Reise zum heiligen Jakob machen, wenn sie, wörtlich und im übertragenen Sinn, keinen anderen Weg mehr gehen können.
Da ich gerade einen Hörsturz und die Entfernung meiner Gallenblase hinter mir habe, zwei Krankheiten, die meiner Einschätzung nach großartig zu einem Komiker passen, ist es für mich allerhöchste Zeit zum Umdenken – Zeit für eine Pilgerreise. 
Über Monate nicht auf die innere Stimme zu hören, die einem das Wort „PAUSE!“ förmlich in den Leib brüllt, sondern vermeintlich diszipliniert weiterzuarbeiten, rächt sich halt – indem man einfach gar nichts mehr hört. Eine gespenstische Erfahrung! Der Frust und die Wut über die eigene Unvernunft lassen dann auch noch die Galle überkochen und man findet sich in der Notaufnahme eines Krankenhauses mit Verdacht auf Herzinfarkt wieder.
Wütend darüber, dass ich es so weit habe kommen lassen, bin ich immer noch! Aber ich habe auch endlich wieder meiner inneren Stimme Beachtung geschenkt und siehe da: Ich beschließe, während der diesjährigen Sommermonate keinerlei vertragliche Verpflichtungen einzugehen und mir eine Auszeit zu spendieren. 
Bald finde ich mich in der Reiselektüreabteilung einer gut sortierten Düsseldorfer Buchhandlung wieder und suche – frei nach dem Motto: Ich will mal weg! – nach einem passenden Reiseziel.
Das erste Buch, das mir mehr oder weniger vor die Füße fällt, trägt den Titel Jakobsweg der Freude.
Was für eine Frechheit, einen Weg so zu nennen!, denke ich noch entrüstet. Schokolade macht nur bedingt froh und Whiskey wirklich nur in Ausnahmesituationen und jetzt soll also ein Weg Freude bringen? Dennoch packe ich das anmaßende Buch ein. Und verschlinge es in einer Nacht.
Der Jakobsweg nach Santiago de Compostela gehört, neben der Via Francigena von Canterbury nach Rom und der Pilgerfahrt nach Jerusalem, zu den drei großen Pilgerwegen der Christenheit. 
Der Legende nach gilt der Pfad bereits den Kelten in vorchristlicher Zeit als Initiationsweg. Kraftadern in der Erde und Energiebahnen, die so genannten Leylinien, ziehen sich angeblich über die gesamte Strecke parallel zur Milchstraße bis nach Santiago de Compostela (Sternenfeld); und sogar darüber hinaus bis nach Finisterre (Weltende) an der spanischen Atlantikküste, dem damaligen Ende der bekannten Welt. Bisher war ich immer davon ausgegangen, unser gesamter Planet befände sich irgendwie parallel zur Milchstraße. Aber bitte, man ist ja auch im Alter noch lernfähig!
Wer nach Santiago pilgert, dem vergibt die katholische Kirche freundlicherweise alle Sünden. Das ist für mich nun weniger Ansporn als die Verheißung, durch die Pilgerschaft zu Gott und damit auch zu mir zu finden. Das ist doch einen Versuch wert!
Wie hypnotisiert schaue ich mir in den folgenden Tagen dabei zu, wie ich fix die Reiseroute ausbaldowere und Rucksack, Schlafsack, Isomatte und Pilgerpass besorge, um auf dem Flug nach Bordeaux wieder zu mir zu kommen und mich laut sagen zu hören: „Bin ich eigentlich noch ganz dicht?“

Ich komme in Bordeaux an und es ist noch genauso hässlich und grau wie vor zwanzig Jahren, als ich hier als Sechzehnjähriger mal auf der Durchreise war. Ich steige im „Hotel Atlantic“, einem außerordentlich schönen klassizistischen Prachtbau gegenüber dem Hauptbahnhof, ab. Bevor ich die kommenden sechs Wochen nur noch in gammeligen Schlafsälen zwischen schnarchenden Amerikanern und rülpsenden Franzosen verbringe und ein Leben ohne ordentliche sanitäre Einrichtungen führe, tu ich mir noch mal was Gutes! 
Aus dem Guten ist allerdings nicht viel geworden. Am Ende wäre es im Gemeinschaftssaal heimeliger gewesen. Mit einem bemerkenswert freundlichen Lächeln wird mir nämlich eine kahle Bruchbude ohne Fenster, dafür mit quietschblauer Neonbeleuchtung und zu einem Wucherpreis zugeteilt. Im Gegensatz zu mir rebelliert meine nicht mehr vorhandene Gallenblase umgehend. 
Wäre Bordeaux netter gewesen, wäre ich womöglich gar nicht weitergefahren.
Zwischen der ersten und der heutigen Reise liegen zwanzig Jahre. Hab ich etwa seit zwanzig Jahren schlechte Laune? Ich gebe Bordeaux die Schuld. Das ist einfacher. 
Im Zimmer hält mich nichts, denn mein Vormieter hat die Mini-Bar, schlau wie er war, schon leer gesoffen. Also raus und zwar direkt zum Bahnhof.
Als ich in der gigantischen Schalterhalle den Satz: „Mademoiselle, einmal Bordeaux – Saint-Jean-Pied-de-Port, einfache Fahrt, zweiter Klasse, bitte!“, in ordentlichem Schulfranzösisch über die Lippen bringe, schaut mich die afrikanischstämmige Charmeoffensive auf der anderen Seite der Scheibe mit einem strahlenden Lächeln an.
 „A quelle heure, Monsieur?“ – Wann? – Clever, die Frau! 
„So um sieben Uhr morgen früh!“, entscheide ich spontan, wie ich nun mal bin.
Die für sie wesentliche Information hat die propere Schalterbeamtin offensichtlich schon wieder verdrängt: „Wie heißt der Ort noch mal?“ 
Prima! Auf keiner der Landkarten, die ich studiert habe, ist eine Eisenbahnverbindung nach Saint-Jean-Pied-de-Port eingezeichnet – ergo gibt es auch keine! Lustlos wiederhole ich den Namen des Ortes und das Frollein wälzt leicht verwirrt wuchtige Fahrpläne aus vergangenen Jahrhunderten, um zu der vollkommen überraschenden Erkenntnis zu gelangen: „Monsieur, diesen Ort gibt es nicht in Frankreich!“
Ich bin so perplex, als hätte sie gerade behauptet: Gott ist tot!
„Moooment“, sage ich, „den Ort gibt es schon, aber vielleicht fährt die Eisenbahn nicht dorthin. Aber dann doch bestimmt ein Überlandbus oder so was!“ Die Dame bleibt zwar höflich, aber stur und lässt sich nicht beirren: „Nein, nein, der Ort existiert nicht! Glauben Sie mir.“ Ich glaube ihr selbstverständlich nicht und bestehe darauf, dass es den Ort gibt. Hier geht es schließlich auch ums Prinzip!
Nach quälend langen Minuten stellt sich heraus: Der Ort existiert! Und was noch toller ist, es gibt sogar eine Verbindung mit Umsteigemöglichkeit dorthin. Ich vermute, dieser Ort existiert nur, weil ich so insistiert habe. Vielleicht habe ich Glück und mit Gott geht’s mir genauso?
Als ich mit meiner Fahrkarte den Bahnhof verlasse und mich gerade wieder frage, was ich hier eigentlich tue... ob das alles denn auch vernünftig ist... und überhaupt... sehe ich vor mir ein Riesenwerbeplakat für eine neue Telekommunikationserrungenschaft mit dem Slogan: „Wissen Sie, wer Sie wirklich sind?“ Meine Antwort ist spontan und unumwunden: „Nein, pas-du-tout!“
Ich beschließe, im „Hotel Atlantic“ mal einen Gedanken darauf zu verschwenden. Im Hotelzimmer liegt eine ziemlich verklebte Stadtinfo für Bordeaux, in der ich lustlos blättere, um zu erfahren, was ich während der letzten Woche so alles verpasst habe. Dabei stoße ich auf die Fortsetzung der Plakatwerbekampagne. Diesmal mit dem Slogan „Willkommen in der Wirklichkeit.“ Das sitzt!
Mein Zimmer hat immer noch keine Fenster. Mein Handy-Akkuladegerät passt nicht in die französische Steckdose und eigentlich will ich jetzt schon wieder nach Hause – oder weg? Ich weiß es nicht. Ich entscheide mich für weg. Und schlafe.

Bei meiner Ankunft heute Morgen wimmelt es in Saint Jean bereits von Pilgern aller Altersklassen und Nationen. Die Stadt lebt wohl vom Geschäft mit den Wallfahrern. Dort werden rustikale Wanderstäbe und Muschelanhänger – sie sind das Erkennungszeichen der Pilger – verkauft. Hier werden kitschig bunte Heiligenfiguren, Pilgermenüs – sprich Pommes mit Fleisch – und Wanderführer in allen modernen Idiomen angeboten. Ich entscheide mich für einen einfachen Wanderstab, der mir jetzt schon viel zu lang, zu schwer und zudem unhandlich erscheint.
Auf dem Weg zur örtlichen Pilgerherberge überlege ich hin und her, was Stempel auf Französisch heißt. Auf Spanisch heißt es sello, das steht im Pilgerpass, dem credencial. In der Eingangstür fällt mir endlich das Wort ein. Timbre! naturellement. Perfekt habe ich meinen Satz schon im Kopf vorformuliert: „J’ai besoin d’un timbre.“ Ich brauche einen Stempel. Da hör ich den älteren Herrn am Schreibtisch in Oxford-Englisch parlieren, da er gerade eine jugendliche Vier-Mann-Kapelle aus Idaho abstempelt und ihnen die Betten 1 bis 4 zuteilt. So bekomme ich mit, dass der Mann Engländer ist und seinen Jahresurlaub damit verbringt, hier in diesem kleinen Büro Pilgerpässe gegenzuzeichnen und Pilgerbettnummern zu vergeben! Und offensichtlich hat er Spaß. Mir vergeht der Spaß gerade, denn ich stelle fest, dass ich in einem nasskalten Zwanzig-Mann-Schlafsaal stehe, in dem ich nach Adam Riese Bett Nr. 5 bekomme, direkt neben dem gut gelaunten Country-Quartett aus Idaho. Die schleppen doch tatsächlich ihre mordsschweren Instrumente mit; drei Gitarren und eine Was-auch-immer-Flöte. 
Als ich an der Reihe bin, fragt mich der nette Mensch: „What’s your profession, Sir?“ Ich denke noch: Mein Beruf? Was sage ich? – „Artist!“, habe ich ihm da auch schon entgegenposaunt. Der Mann schaut mich zweifelnd an. Bei den Musikern stellte sich diese Frage gar nicht. 
Auf dem Plakat stand: „Wissen Sie, wer Sie wirklich sind?“ Ich weiß es offensichtlich nicht. Ich, mit meinem weißen Sonnenkäppi, sehe eher aus wie Elmar, die Cartoon-Figur, die Bugs Bunny hinterherjagt. 
Bevor er mir Bett Nr.5 tatsächlich zuteilen kann, ziehe ich mit meinem ersten offiziellen Stempel – dabei bin ich noch keinen einzigen Meter gepilgert – von dannen. 
So weiß die katholische Kirche offiziell darüber Bescheid, dass ich tatsächlich von hier gestartet bin. Am Schluss gibt’s dann vom Secretarius Capitularis in Santiago eine dolle Urkunde in lateinischer Sprache mit Goldrand, die compostela. Und mir werden alle Sünden erlassen und das sind nach Ansicht der katholischen Kirche einige! Komme mir vor wie in einer Klerikalkomödie.
Die Stempel werden nur in offiziellen Pilgerherbergen, Kirchen und Klöstern entlang des Weges ausgegeben. Der geneigte Autofahrer oder Bahnreisende hat allerdings keine Chance, eine Pilgerurkunde zu ergaunern, denn die entscheidenden Stempelstellen sind nur zu Fuß oder mit dem Rad zu erreichen. Und man darf auch nur dann von sich behaupten, ein echter Pilger gewesen zu sein, wenn man mindestens die letzten 100 Kilometer vor Santiago de Compostela per pedes oder die letzten 200 Kilometer auf dem Drahtesel oder zu Pferde hinter sich gebracht hat. Aber die meisten Menschen wollen den gesamten Camino Francés pilgern, denn das ist die alte Wallfahrerroute.
Um einen Pilgerpass, diese entscheidendste Requisite der Pilgerschaft, zu bekommen, muss man natürlich nicht zwingend katholisch sein. Ich würde mich selbst zum Beispiel als eine Art Buddhist mit christlichem Überbau bezeichnen! Klingt theoretisch komplizierter, als es in der Praxis ist!
Es ist ausreichend, auf der spirituellen Suche zu sein. Und das bin ich.
Als Wiedergutmachung für die gestrige Nacht in Bordeaux hab ich mich hier im „Hotel des Pyrenees“ einquartiert. Die Adresse in der Stadt! Manchmal merk ich schon, dass ich aus Düsseldorf bin! 
Die örtliche Pilgerherberge war mir für die erste Nacht dann doch etwas zu – na ja, sagen wir – gesellig. 
Während ich hier in dem Bistro an meinem café au lait nuckele, frage ich mich, was ich mir von dieser Pilgerschaft denn eigentlich verspreche oder erwarte. Ich könnte losziehen mit der Frage im Kopf: Gibt es Gott? Oder Jahwe, Shiva, Ganesha, Brahma, Zeus, Ram, Vishnu, Wotan, Manitu, Buddha, Allah, Krishna, Jehowa? Da ließen sich noch viele Namen nennen...
Seit meiner frühesten Kindheit beschäftigt mich die Frage nach dem großen unbekannten Wesen. Als Achtjähriger habe ich es wirklich genossen, in den Kommunionsunterricht zu gehen, und ich erinnere mich bis heute noch genau an das, was dort gelehrt wurde. Ähnlich ging es mir später im Beicht-, Religions- und Firmunterricht. Mich musste niemand dorthin zerren; was im Übrigen auch keiner getan hätte, da ich keiner streng katholischen Familie entstamme. Mein Interesse an allen religiösen Themen war bis zu meinem Abitur ziemlich groß. 
Während andere Kinder zähneknirschend in die Messe trotteten, hatte ich meine helle Freude daran, die ich natürlich tunlichst verbarg, um nicht als total uncool zu gelten. Klar, die Predigten unseres Gemeindepfarrers hauten mich natürlich auch nicht vom Hocker, aber sie konnten doch nicht verhindern, dass mein lebendiges Interesse bestehen blieb. Keine spirituelle Ausrichtung war vor mir sicher, alle Weltanschauungen faszinierten mich. Eine Zeit lang spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken zu konvertieren, um evangelischer Pfarrer oder wenigstens Religionswissenschaftler zu werden. Als Kind hatte ich nie den leisesten Zweifel an der Existenz Gottes, aber als vermeintlich aufgeklärter Erwachsener stelle ich mir heute durchaus die Frage: Gibt es Gott wirklich?
Was aber, wenn dann am Ende dieser Reise die Antwort lautet: Nein, tut mir sehr Leid. Der existiert nicht. Da gibt es NICHTS. Glauben Sie mir, Monsieur!
Könnte ich damit umgehen? Mit Nichts? Wäre dann nicht das gesamte Leben auf dieser ulkigen kleinen Kugel vollkommen sinnlos? Natürlich will jeder, mutmaße ich, Gott finden... oder zumindest wissen, ob er denn nun da ist... oder war... oder noch kommt... oder was?
Vielleicht wäre die Frage besser: Wer ist Gott? 
Oder wo oder wie?
In der Wissenschaft wird das doch auch so ähnlich gemacht.
Also stelle ich die Hypothese auf: Es gibt Gott!
Es wäre doch sinnlos, meine wertvolle begrenzte Zeit damit zu verplempern, nach etwas zu suchen, was am Ende vielleicht gar nicht da ist. 
Also sage ich, es ist da! Ich weiß nur nicht wo. Und für den Fall, dass es einen Schöpfer gibt, wird er restlos begeistert davon sein, dass ich nie an ihm-ihr-es gezweifelt habe.
Im schlimmsten Fall würde dann die Antwort lauten: „Es gibt Gott und gleichzeitig gibt es ihn nicht, das verstehen Sie zwar nicht, aber tut mir wieder Leid, so sind nun mal die Tatsachen, Monsieur!“
Damit könnte ich leben, denn das wäre eine Art Kompromiss! Einige Hindus vertreten übrigens diesen scheinbar absurden Standpunkt.
Nur: Wer sucht denn hier eigentlich nach Gott?
Ich! Hans Peter Wilhelm Kerkeling, 36 Jahre, Sternzeichen Schütze, Aszendent Stier, Deutscher, Europäer, Adoptiv-Rheinländer, Westfale, Künstler, Raucher, Drachen im chinesischen Sternkreis, Schwimmer, Autofahrer, GEZ-Gebührenzahler, Zuschauer, Komiker, Radfahrer, Autor, Kunde, Wähler, Mitbürger, Leser, Hörer und Monsieur.
Anscheinend weiß ich ja nicht mal so genau, wer ich selbst bin. 

Wie soll ich da herausfinden, wer Gott ist?

Meine Frage muss also erst mal ganz bescheiden lauten: Wer bin ich?

Damit wollte ich mich ursprünglich zwar nicht beschäftigen, aber da ich ständig von Werbeplakaten dazu aufgefordert werde, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Also gut – als Erstes suche ich nach mir; dann sehe ich weiter. Vielleicht habe ich Glück und Gott wohnt gar nicht so weit weg von mir. Sollte er jedoch in Wattenscheid leben, wäre ich hier allerdings ganz falsch!

In meiner sauerstoffarmen französischen Zelle habe ich gestern Nacht höchstens drei Stunden geschlafen, daher wahrscheinlich auch dieses konfuse Gedankenkonstrukt. Aber vielleicht werde ich nur unter Druck nachgiebig? Heute gehe ich früh ins Bett, morgen will ich um sechs Uhr raus und los. Mann, bin ich müde!

Falls es Gott gibt, hat er zumindest ’ne Menge Humor. Sitze ich doch bei Milchkaffee auf einem kartoffelförmigen Planeten, der mit überhöhter Geschwindigkeit durchs Weltall rast. Davon merke ich zwar nichts, aber trotzdem entspricht es den Tatsachen.

Ich bin in Saint Jean! Ist Johannes, der Apostel, nicht der Bruder von Jakob?

Das könnte ein dezentes Indiz dafür sein, dass dies ein Weg der Brüderlichkeit ist. Aber vielleicht ist die Stadt ja nach Johannes dem Täufer benannt? Johannes im Plural gäb’s ja einige... Bin zu müde, um das heute zu recherchieren.

 

Erkenntnis des Tages:

Erst mal herausfinden, wer ich selbst bin.

„Das Glück, von der Sinnsuche eines Menschen zu lesen, der sich nicht in Sarkasmus flüchtet. Der weiß, dass Fragen ehrlicher sind, als Antworten es je sein können.“


Frankfurter Allgemeine Zeitung

Pilgern mit Esel

Zwei Esel auf dem JakobswegZwei Esel auf dem Jakobsweg

Wie ein Engländer sein Herz an Spanien verlor

Was passiert, wenn ein Engländer, ausgestattet mit einer großen Portion britischen Humors, sein Herz und die Zügel in die Hand nimmt und sich mit einem französischen Esel auf heiliges spanisches Terrain begibt?

Genau, der Esel ist störrisch, der Weg nach Santiago de Compostela lang, und Tim Moore findet in seinem Pilgerführer aus dem 12. Jahrhundert auch nicht immer die passenden Tipps. Dafür findet er etwas anderes: den Weg in sein eigenes Herz.

„Sehr britisch und sehr pfiffig.“ Die Zeit

  • Perfekt für alle, die den Jakobsweg wandern wollen - dieser humorvolle Reisebericht ist eine Inspiration für Ihre Pilgerreise.

  • Egal ob Sie ein Geschenk suchen, sich auf Ihre Reise vorbereiten wollen oder einfach nur eine inspirierendes Buch über den Camino lesen wollen  - Tim Moore berichtet authentisch über seinen Erfahrungen auf dem Weg nach Santiago de Compostella.
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Die Schönheit des Jakobswegs

JakobswegJakobsweg

Wandern auf dem Himmelspfad

Die Schönheit des Jakobswegs entdecken.
Seit tausend Jahren pilgern die Menschen zum Grab des heiligen Jakob im Norden Spaniens. Die Abenteurerin Carmen Rohrbach macht sich auf, den Spuren der Pilger von gestern zu folgen.

Mit Rucksack und Pilgerausweis wandert sie auf der spanischen Seite des Weges durch Wiesen und Wälder, erlebt die sternklaren Nächte in einsamer Natur und ist oft der Erschöpfung nahe. Doch sie wird reich belohnt durch die freundlichen, hilfsbereiten Menschen und die immer spürbare lebendige Geschichte sowie die eindrucksvolle Natur.

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„Voll Witz und tiefer Einsichten.“ – Hape Kerkeling

Blick ins Buch
Ich bin da noch mal hinIch bin da noch mal hin

Mit Gott und Hape auf dem Jakobsweg

Zurück auf dem Jakobsweg: Die skurrile Engländerin Anne Butterfield, die bereits 2001 an der Seite von Hape Kerkeling nach Santiago de Compostela pilgerte, begibt sich erneut auf die Suche nach dem geheimnisvollen Zauber des Camino. Um mehr Zeit für die Sehenswürdigkeiten am Wegesrand und die Begegnungen mit anderen Pilgern zu haben, bricht die leidenschaftliche Wanderin dieses Mal mit dem Fahrrad auf. Was als großer Plan beginnt, stellt sich schon bald als tückisches Unterfangen heraus. Humorvoll und offenherzig schildert die Autorin, was es heißt, sich dem Weg ein zweites Mal zu stellen und dabei alles anders zu machen ...

Vorwort


Im Jahr 2001, als ich mich erschöpft fühlte und eine Ruhepause brauchte, spendierte ich mir eine Auszeit und machte mich auf den Jakobsweg von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela. Ich hatte keinerlei Vorstellung, welche Strapazen mich erwarteten, und wusste auch nicht, wie viele Pilger vor dem Ziel aufgeben. Zwar war ich guter Dinge, es zu schaffen, doch viel mehr als eine kleine Atempause in meinem hektischen Leben erwartete ich mir nicht. Aus dieser Pilgerwanderung entstand mein Buch „Ich bin dann mal weg“, das 2006 erschien.
Dass ich schließlich tatsächlich in Santiago ankam, verdanke ich dem Gemeinschaftsgefühl, das auf dem Camino herrscht, aber vor allem Anne Butterfield, deren liebenswertes Buch nun seinen Platz neben meinem einnehmen wird – in gewisser Weise als literarische Nachzeichnung unseres gemeinsamen Camino. Annes Gesellschaft war das Gegengift, das mich aus meiner gelegentlich etwas trübseligen Innenschau riss. Ihre ansteckende Begeisterung half mir über so manche schwierige Etappe hinweg.
Umso mehr erfüllt es mich mit Stolz, dass ich zur Entstehung von „Ich bin da noch mal hin“ beitragen konnte: „Anne, du solltest schreiben!“, riet ich ihr im Jahr 2001, als sie mir die ein oder andere lange Wanderstunde mit ihren fesselnden Erzählungen verkürzte. Und ich freue mich sehr, dass die Leser meines Buches nun das Vergnügen haben werden, Annes Sichtweise kennenzulernen. Sie empfand den Camino im Jahr 2010, als sie sich ein zweites Mal auf den Weg nach Santiago de Compostela machte, belebter und schreibt das verstärkte Wanderaufkommen zum großen Teil der Veröffentlichung von „Ich bin dann mal weg“ zu – sollte das wirklich der Fall sein, so wird ihr faszinierendes Buch sicherlich für ein weiteres Ansteigen der Pilgerzahl sorgen. 2010 war außerdem ein Fußball-WM-Jahr, und so wurde ihre Pilgerwanderung eine Mischung aus Tragödie, Komödie, Sinnsuche und irdischem Vergnügen in Gestalt von Fußball, guten Gesprächen und Wein.
Die Lektüre von „Ich bin da noch mal hin“ hat mir unsere gemeinsame Wanderung und die vielen Freuden, die der Camino dem müden Wanderer zu bieten hat, in Erinnerung gerufen. Ich musste immer wieder laut auflachen, so wie Anne und ich 2001 oft über die Torheiten des Lebens gelacht haben, die einem auf dem schmalen Pfad des Camino in konzentrierterer Form begegnen als auf der breiten Straße des normalen Lebens. Dieses Erlebnis hat uns beide spirituell bereichert, wobei wir unsere philosophischen Diskussionen ebenso gern bei einer Tasse Kaffee wie auf dem Wanderweg führten. Es beruhigt mich, dass Cafés und Bars für Anne auf ihrem Camino 2010 noch genauso wichtig waren wie 2001. Ich habe auch Shelagh nicht vergessen, eine andere treue Gefährtin, die uns immerzu antrieb, als wären wir zwei verwöhnte Kinder. Bei Annes Rückblicken auf diese Begebenheiten muss auch ich lächeln.
Im Jahr 2001 wurde Annes Bereitschaft, jederzeit über einem Kaffee herumzutrödeln, nur noch von ihrer Entschlossenheit übertroffen, sich keine Sehenswürdigkeit des Camino entgehen zu lassen. Annes profunde Kenntnisse der Geschichte und Architektur des Camino haben mich damals beeindruckt – diese Kenntnisse und ihre anschaulichen Beschreibungen der Landschaft sowie ihrer Begegnungen mit den verschiedensten Pilgern verschmelzen in ihrem Buch zu einer lebendigen Schilderung dessen, was wir beide „einen langen Spaziergang mit viel Rotwein“ nannten.
Mit Anne auf ihrer zweiten Reise nach Santiago (die sie zunächst mit dem Fahrrad begann – wozu ich ihr sicher nicht geraten hätte!) in Kontakt zu bleiben, war für mich eine Art Ersatz dafür, diesmal nicht an ihrer Seite sein zu können. Es berührt mich sehr, wie ihre Wanderung im Jahr 2010 von den freundlichen Schatten unserer damaligen Erlebnisse erfüllt wurde. Manchmal rätsele ich noch immer, wie es gelingen konnte, dass ich, eine bekennende Couch-Potato von 1 Meter 88, und Anne, eine erfahrene Wandererin von kaum 1 Meter 50, so ohne Weiteres auf dem Camino zusammen Seite and Seite marschiert sind und eine Freundschaft schlossen, die bis zum heutigen Tag Bestand hat.
Ich muss natürlich darauf hinweisen, dass Anne, wie alle geborenen Geschichtenerzähler, von Zeit zu Zeit etwas übertreibt. So habe ich beispielsweise diesen Hund nicht etwa gestohlen, sondern ihn gerettet. Doch meistens zeigt ihre Version dieser nun schon länger zurückliegenden Begebenheiten, die sie mit ihrem herzerfrischenden Humor schildert, unsere sehr ähnliche Sichtweise auf das Leben.


Meine Pilgerreise des Jahres 2001 zählt für mich zu den großen Leistungen meines Lebens, und die „lustige kleine Pilgerin mit dem Barcelona-T-Shirt“, die mir dort über den Weg lief, hat daran einen großen Anteil. Doch die Wanderung des Jahres 2010 gehört Anne, und ihr allein. Das Buch, das daraus entstanden ist, lege ich allen Lesern und Leserinnen ans Herz. Ich bin sicher, Annes Witz und ihre tiefen Einsichten werden alle Leser, die sich ihr auf diesem Weg anschließen, bezaubern und bestens unterhalten.


Ultreya, Pilger! Hape Kerkeling
Dezember 2011


Einleitung


Am 9. Juni 2001 kam in der kleinen Stadt Saint-Jean-Pied-de-Port in den französischen Pyrenäen ein sechsunddreißigjähriger Mann an, der sich freimütig dazu bekannte, eine Couch- Potato zu sein. Er mietete sich im Hôtel les Pyrénées ein und ging ungewöhnlich früh zu Bett, um für die vor ihm liegenden Aufgaben gerüstet zu sein. Dieser bescheidene, aber sehr bekannte Deutsche plante, am folgenden Tag die Pyrenäen zu überschreiten und anschließend von Roncesvalles aus fast achthundert Kilometer bis nach Santiago de Compostela in der nordwestlichen Ecke Spaniens zu gehen. Für Freunde, die ihn als einen Menschen kannten, der am liebsten auf dem Sofa hockte, war das überraschendste Merkmal dieser Reise, dass er zu Fuß nach Santiago gehen wollte. Was hatte diesen Mann, der das Wandern hasste, bewogen, einen solchen Kraftakt zu wagen? Er war erschöpft und brauchte körperlich wie seelisch Erholung. Und er war neugierig. Zwar ist jeder Fernwanderweg eine ganz eigene Sache, doch dieser spezielle Pfad stand in einem außergewöhnlichen Ruf, und er wollte die ihm zugeschriebenen einzigartigen Vorzüge selbst erleben.
Es handelte sich um keinen Geringeren als Hans-Peter (Hape) Kerkeling, den schon damals in Deutschland sehr bekannten Fernsehkomiker.
Ohne dass der Deutsche es wusste, war bereits vier Tage zuvor, am 5. Juni, eine dreiundvierzigjährige Engländerin aus Liverpool in Saint-Jean-Pied-de-Port eingetroffen, um den gleichen Weg anzutreten. Sie verbrachte eine unruhige Nacht in ihrem Zelt oberhalb der Stadt, und am 6. Juni kraxelte sie über die Pyrenäen nach Roncesvalles. Auch sie war von ihrer anstrengenden Arbeit erschöpft und hoffte, auf dem Weg nach Santiago de Compostela zu ihrer vollen Kraft zurückzufinden. Im Gegensatz zu Hans-Peter wanderte sie sehr gern und hatte steile Bergpfade stets einem Strandurlaub vorgezogen. Gemeinsam hatte sie mit ihm, dass auch ihre Neugier auf die kulturellen und spirituellen Dimensionen des legendären Weges durch Nordspanien erwacht war. So wurde sie wie Hans-Peter und Tausende anderer Menschen Pilgerin auf dem Camino nach Santiago de Compostela.
Es handelte sich um Anne Butterfield, eine einigermaßen unbekannte Biologielehrerin aus England.
Obwohl Anne ein paar Tage vor Hans-Peter aufgebrochen war, hätte er weit vor ihr sein müssen, da er zunächst häufig öffentliche Verkehrsmittel benutzte. Erstaunlicherweise kreuzten sich dennoch am 14. Juni in Logroño, am 17. Juni in Santo Domingo und am 1. Juli in León ihre Pfade. Später konnte keiner von beiden erklären, warum sie erst in Astorga am 4. Juli wirklich in Kontakt kamen. Von diesem Tag an bildeten sie zusammen mit einer anderen neuen Freundin, Shelagh (oder Sheelagh, wie Hans-Peter den Namen später schreibt) aus Neuseeland, ein unzertrennliches Trio. Da die beiden Frauen zunächst nichts von Hans-Peters Berühmtheit wussten – beide nannten ihn seit dem Tag ihrer ersten Begegnung einfach nur Hans –, konnte er sich in ihrer rechtschaffen unbeeindruckten Gesellschaft entspannen. Am 20. Juli 2001 erreichten sie das Grab des heiligen Jakob in Santiago de Compostela, nahmen voneinander Abschied und kehrten in ihr normales, so unterschiedliches Leben zurück.
Ihre Freundschaft hatte Bestand, doch ihre Abenteuer erlitten das gleiche Schicksal wie die der meisten Pilger im Laufe der Jahrhunderte – sie verblassten zu Erinnerungen einer segensreichen Auszeit vom richtigen Leben. Doch vier Jahre nach ihrer Ankunft in Santiago geschah etwas, das alles verändern sollte.
2005 war Hans-Peter im deutschen Fernsehen in der Talkshow von Sandra Maischberger zu Gast. Vor der Sendung hörte Frau Maischberger im Flur ein Gespräch zwischen ihm und ihrem anderen Gast, dem Südtiroler Bergsteiger und Autor Reinhold Messner mit. Sie überredete Hans-Peter, die gleiche Geschichte auch den Zuschauern zu erzählen – die Geschichte seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Mitarbeiter des Münchner Piper Verlags, der auch Messners Bücher herausbringt, sahen die Sendung ebenfalls. Sie kontaktierten den Fernsehkomiker und regten eine Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen an, die er während seiner Pilgerreise gemacht hatte.
„Ich bin dann mal weg“ erreichte bereits in den ersten Wochen rekordverdächtige Verkaufszahlen. Das Buch blieb zwei Jahre lang die Nummer eins in der Sachbuch-Bestsellerliste, nur zwei Wochen durch Papst Benedikts Jesus-Biografie von diesem Spitzenplatz verdrängt. Inzwischen hat sich „Ich bin dann mal weg“ allein auf Deutsch vier Millionen Mal verkauft.
Shelagh und Anne wurden in Deutschland berühmt und Hans- Peter international gefeiert. Ein anonymer Pilger aus Liverpool veröffentlichte 2008 auf der Website der New York Times einen Kommentar zum Phänomen „Ich bin dann mal weg“:
„Hape Kerkeling freundet sich mit einer Frau namens Anne aus Liverpool an, die Biologin ist und eine Brille trägt wie Harry Potter. Ich bin vor Kurzem den Camino gegangen und wurde häufig gefragt, ob ich Anne kenne. Seltsam, dass eine Frau aus Liverpool in Deutschland berühmter sein soll als Kevin Keegan, Kenny Dalglish und Ken Dodd. Sehr wahrscheinlich ist sie sogar berühmter als John, Paul, George und Ringo. Und vermutlich weiß sie es noch nicht einmal.“


Inzwischen weiß sie es. Ich kann es Ihnen mit Gewissheit sagen, denn ich bin Anne.
Doch warum traf Hans’ Bericht unserer Pilgerreise nach Santiago de Compostela in Deutschland einen Nerv und bewog so viele seiner Landsleute, es uns nachzutun? Meine Erinnerung an eine lange Wanderung durch ein heißes, brettebenes Weizenfeld kann diese Frage nicht beantworten. Um den Reiz des Camino zu begreifen, würde ich ihn noch einmal gehen müssen. Ich würde in meine eigenen Fußstapfen treten und dieses Mal dem kulturellen, spirituellen und legendären Zauber des Camino mehr Aufmerksamkeit widmen. Ich würde selbst Tagebuch führen und, sofern die Fußballweltmeisterschaft 2010 es erlaubte, meine Abenteuer ganz bewusst wahrnehmen, um meine Frage beantworten zu können.


Dieses Buch ist die Geschichte meiner Rückkehr auf den Camino und meiner Suche nach seinem Sinn. Ich werde Ihnen verraten, was er für mich war und ist, mit und ohne meinen guten Freund Hans-Peter Kerkeling.
Anne Butterfield
Liverpool, Dezember 2011


Besonderer Dank an meine Reiseführer


Den Weg nach Santiago finden die Pilger ganz einfach: Sie brauchen nur den gelben Pfeilen zu folgen. Aber sie müssen natürlich etwas mehr wissen als bloß, in welche Richtung es geht. Daher möchte ich auch den beiden Pilgerführern danken, die ich 2001 und 2010 benutzt habe und die mir unterwegs hervorragende Dienste leisteten.
„Praktischer Pilgerführer: Der Jakobsweg“ von Millán Bravo Lozano ist mir ein unentbehrlicher Weggefährte gewesen. Professor Millán Bravo hat Wegbeschreibungen, Fotos und Hintergrundinformationen gekonnt zu einem herausragenden Buch zusammengestellt. Einen besonderen Reiz des Werkes stellen die spannenden Auszüge aus den Tagebüchern von vier historischen gläubigen Pilgern dar: Aymeric Picaud, Hermann Künig von Vach, Arnold von Harff und Domenico Laffi gingen zwischen 1130 und 1673 auf Pilgerreise, aber ihre höchst amüsanten und anschaulichen Berichte spiegeln Erfahrungen, die auch die Pilger von heute noch machen.
Ich möchte Editorial Everest, Professor Millán Bravos Verlagshaus in León, Spanien, dafür danken, dass ich die Worte dieser historischen Pilger und auch Millán Bravos eigene Beschreibungen zitieren durfte. Immer, wenn ich aus dem gelehrten Text des Professors geschöpft habe, um meine eigenen Schilderungen zu ergänzen, habe ich den „Lozano“ eigens erwähnt.
„Pilgrim Guides to Spain, 1: The Camino Francés“ ist eine ganz andere Art von Buch, aber ebenso nützlich. In dem zierlichen, gelben Band sind alle kleinen und großen Dörfer und Städte zwischen Saint-Jean-Pied-de-Port und Santiago de Compostela aufgelistet. Es finden sich darin sowohl die Entfernungen zwischen den einzelnen Orten als auch Informationen über Nachtquartiere, diverse öffentliche Einrichtungen und Sehenswürdigkeiten. Veröffentlicht und regelmäßig aktualisiert wird dieser Führer von der Confraternity of Saint James (Jakobus-Gesellschaft) in London, einer Gesellschaft begeisterter Camino-Anhänger. Auf meiner ersten Pilgerreise hatte ich die Ausgabe aus dem Jahr 2001 dabei, beim zweiten Mal erwarb ich die Ausgabe zum heiligen Jahr 2010.
In meinem Buch bezeichne ich den Führer der Confraternity immer als mein „Gelbes Buch“. Ganz herzlich danke ich der Confraternity of Saint James und den Herausgebern der beiden Büchlein für die Erlaubnis, wichtige Hinweise, denen ich 2001 wie 2010 treu gefolgt bin, zu zitieren. Alle diesen Büchern entnommenen Zeilen und Passagen sind entsprechend gekennzeichnet.
Detaillierte Angaben zu diesen Reiseführern finden sich in den Quellenangaben.


Abreise und Ankunft


Yorkshire in England –
Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich




Dienstag, 8. Juni 2010
Abreise: Yorkshire in England per Bus –
Bayonne in Frankreich


Mittwoch, 9. Juni 2010
Ankunft: Bayonne – Saint-Jean-Pied-de-Port


Dienstag, 8. Juni 2010 – Abreise


Ich reise von Yorkshire in England per Bus nach Bayonne in Frankreich


Es ist vier Uhr morgens und noch dunkel, als ich das Fahrrad aus seinem Übernachtungsquartier in der Küche meiner Eltern hole und in meinen Fiat Punto verfrachte. Dann hole ich die drei Taschen, die von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela am Fahrrad befestigt sein werden. Ich mache mich wieder auf den Camino, diesmal nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad. Die ganze Strecke, hin und zurück. Wenn ich radle, so meine Logik, bleibt mir mehr Zeit für die Städte am Weg. Ich werde mehr Kirchen und Sehenswürdigkeiten besichtigen können und abends früh genug in den Herbergen eintreffen, um mit anderen Pilgern in Kontakt zu kommen. Da ich den Weg in beiden Richtungen zurücklege, werde ich doppelt so viele Leute kennenlernen und doppelt so viele Informationen aufnehmen können. Und dadurch wird sich mir, so meine Hoffnung, die Bedeutung des Camino ein für alle Mal erschließen.


Rückblickend ist es erstaunlich, dass jemand, der den Camino schon einmal – wenn auch vor neun Jahren – komplett durchwandert hat, ein fundamentales Prinzip seiner Philosophie derart aus den Augen verlieren konnte: Der Weg ist wichtiger als das Ziel. Es ist eine Pilgerreise, also eine längere körperliche Anstrengung, die zur spirituellen Läuterung des Pilgers beitragen soll. Doch in meiner Hast, aus England wegzukommen, war mir dieser grobe Denkfehler gar nicht aufgefallen. Ich war im Vorfeld so sehr mit dem Zusammentragen der Fahrradausrüstung beschäftigt gewesen, dass klare Gedanken über den Zweck des Camino gar keinen Platz mehr fanden.
Auf der Fahrt von Birstall, wo ich meine Kindheit verbracht habe und meine Eltern heute noch leben, zur Bushaltestelle nahe der Autobahn kann ich nur an das Zeug in meinen Gepäcktaschen denken. Was ist da bloß alles drin? Warum brauche ich das? Zu Hause in Liverpool habe ich eine Serie von Postkarten, auf denen Familien aus verschiedenen Kulturen vor ihren ärmlichen Behausungen stehen und stolz ihre gesamte weltliche Habe präsentieren. Väter und Mütter lächeln neben ihrem Schrank und dem Wollteppich, die sie für das Foto auf den Hof geschleppt haben. Kinder halten freudestrahlend ihr geliebtes Haustier oder Musikinstrument im Arm. Mir ist bewusst, dass ich den Camino mit einer Last von mehr weltlichen Besitztümern antrete, als einige der Familien auf den Postkarten je besessen haben.
Wie soll ich es bloß den Col de Lepoeder – mit 1410 Metern Höhe höchster Punkt auf der Strecke von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles auf der traditionsgemäß ersten Etappe des Camino Francés – bewältigen? In Liverpool radle ich maximal die knapp drei Kilometer zum Kino an der Wood Street. Die längste Strecke, die ich jemals an einem Tag geradelt bin, waren knapp neunzig Kilometer von Amsterdam nach Rotterdam. Reicht es zur Vorbereitung auf mein Vorhaben, den Hügel an der Liverpool Cathedral hinaufzufahren oder einmal im flachsten Land der Welt unterwegs gewesen zu sein? Nein, tut es nicht. Aber das ist mir jetzt noch nicht klar.
Um in Spanien beim Packen den Überblick nicht zu verlieren, habe ich in meinem Notizbuch eine Liste des Inhalts von den beiden bauchigen Fahrradtaschen erstellt. Außerdem habe ich noch eine dritte, kleinere Tasche, die hinter dem Sattel befestigt ist. Was ich da reingepackt habe, steht auf keiner Liste, also werde ich jeden Morgen Gefahr laufen, ihn in der Herberge zu vergessen, da mein Gehirn „keine Liste“ mit „kein Inhalt“ gleichsetzt. Die Tatsache, dass die leere Satteltasche mehr wiegt als ihr Inhalt, ärgert mich maßlos. Ob ich es wohl am Donnerstag überhaupt auf den Col de Lepoeder schaffe? Irgendetwas stimmt nicht mit dem Fahrrad, denke ich, als ich durch das Tor der Broadcut Farm fahre, wo mein Auto die sieben Wochen meiner Pilgerfahrt verbringen wird.
Als ich im Hof der Farm das Fahrrad aus dem Auto zerre, kommt durch den Schlamm eine richtige Radfahrerin herangestapft und hilft mir.
„Aha, ich sehe, Sie setzen auf Tempo“, meint sie, ganz Expertin.
Wie bitte? Was meint sie bloß? Mich oder das Fahrrad? Jedenfalls bestimmt nicht die fünfzehn Kilo Gepäck, die noch im Auto versteckt sind. Ich folge ihrem Blick und sehe, dass sie die Reifen bewundert, die schmaler sind als bei ihrem Mountainbike.
Ich unterdrücke einen weiteren Anflug von Selbstzweifel, befestige die Taschen am Fahrrad und schiebe das Monstrum über die Straße, um auf den Bus nach Bayonne warten.
Mit mir stehen neun weitere Menschen im Nieselregen unter den Bäumen. Die Fahrräder liegen im nassen Gras – eine letzte Verschnaufpause vor der großen Bewährungsprobe. Meine Doc Martens leiten die Feuchtigkeit bereits durch meine Aldi-Fahrradsocken. All meine Radfahrerkollegen, sämtlich mit anständigen Fahrradschuhen ausgestattet, werden morgen irgendwo in Frankreich aussteigen, um auf Landstraßen oder an Kanälen entlang in ihr Ferienabenteuer zu starten. Ich bin die Einzige im Bus, die vorhat, nach Santiago zu radeln. Angesichts der zahlreichen widrigen Faktoren – das viele Gepäck, die mangelnde Gesellschaft, meine Unerfahrenheit als Radfahrerin – nehme ich etwas besorgt und nervös in dem Doppeldeckerbus Platz. Ich komme mir wie eine Außenseiterin vor und blinzle angestrengt in den Regen hinaus, als wir über die M 1 Richtung Dover zur Fähre nach Frankreich losfahren.
Nach ganzen zehn Minuten Fahrt durch das miese Wetter halten wir an der Raststätte Woolley Edge zum Frühstücken an. In meiner gelben, wasserdichten Fahrradjacke versuche ich, zünftig auszusehen, und blättere ganz lässig im Sportteil des Guardian, als die Radlerin aus dem Bauernhof mich fragt, wohin meine Reise geht.
„Ich fahre den Camino nach Santiago de Compostela“, antworte ich.
Auf ihren verständnislosen Blick hin beschreibe ich ihr die Route, doch auch das hilft nichts. Sie hat noch nie vom Camino gehört. Typisch. Seitdem ich den Weg vor neun Jahren zum ersten Mal zurückgelegt habe, machte die bloße Erwähnung immer wieder langatmige geografische Beschreibungen und einen Abriss der Biografie des heiligen Jakob notwendig. Am Ende war ich jedes Mal total erledigt, darum spreche ich nur darüber, wenn es sich nicht vermeiden lässt.
Von ein paar aficionados einmal abgesehen kennt kaum jemand in England den Camino. Spanien verbinden Engländer vor allem mit zwei Dingen: mit Benidorm und den Balearen, wo wir uns gegen die Deutschen im Handtuchkrieg behaupten müssen, also jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe Liegestühle am Pool besetzen, um unser Revier abzustecken. Als Teenager mussten meine Schwester Jane und ich das jeden Sommer während der Familienferien in Ca’n Picafort oder Cala Millor übernehmen. Meine Eltern wollten sich nicht selbst dazu herablassen, legten aber trotzdem größten Wert darauf, den Deutschen bei den besten Liegestühlen am Pool zuvorzukommen. In ihrer von englischen Boulevardzeitungen geprägten Sicht der Welt waren die Deutschen eine aggressive Meute ungehobelter Rüpel, denen Widerstand zu leisten unsere patriotische Pflicht war. Als ich sechzehn und Jane fünfzehn wurde, war uns dieses primitive Manöver so peinlich geworden, dass wir die Aufgabe unseren kleineren Geschwistern Elizabeth und Robert übertrugen und so morgens länger liegen bleiben konnten. Wir hatten unsere Pflicht fürs englische Mutterland getan.
Von der Liege aus, die ich morgens „erobert“ hatte, verfolgte ich den Kampf der Kulturen. Zwischen halb geschlossenen Lidern hindurch beobachtete ich die Deutschen und kam zu dem Schluss, dass sie, nun ja, genau so waren wie wir. Genau so. Sie tranken jede Menge Bier und lachten permanent sehr laut. Leider hatte ich in der Schule Latein gewählt und nicht Deutsch. Warum? Hatte ich geglaubt, es sei wahrscheinlicher, in den Ferien einen römischen Zenturio kennenzulernen als einen deutschen Jugendlichen? Erst 2001 konnte ich dieses Versäumnis beheben, indem ich mich, auf dem Camino unterwegs in Richtung Santo Domingo de la Calzada, mit einem dieser inzwischen schon deutlich reifer gewordenen deutschen Jugendlichen in Gestalt von Hans-Peter Kerkeling anfreundete.


Unser nächster Halt ist Sheffield, wo ein verkrampfter Radfahrer in der allgegenwärtigen gelben Jacke sich im Buswartehäuschen vor dem Regen versteckt hat. Er wirkt verschreckt, als er mit seinen sechs Taschen in den Bus steigt – mehr Zeug, als eine typische Familie in Bhutan überhaupt besitzt. Nachdem er neben mir Platz genommen hat, gesteht er, dass er sein kanadisches Fahrrad eben erst im Internet erstanden hat und er sich kaum vorstellen kann, was ihm bevorsteht. Sein Entschluss, sich künftig mit Radfahren fit zu halten, sei noch sehr frisch. Wir erkennen einander als Nicht-Radfahrer, entspannen uns und gestehen uns gegenseitig unser Entsetzen darüber, wie viel Organisation und Ausrüstung für so eine Fahrradreise vonnöten ist. Ich ziehe meine Satteltasche vom Boden hoch, wobei ich mir fast einen Bizepsriss hole, und fördere das Multi-Tool zutage.
„Weißt du, was das ist?“, frage ich Steve.
„Äh, vielleicht zum Reparieren eines kaputten Kettenglieds?“, schlägt er vorsichtig vor.
„Ja. Das hat man mir im Laden gesagt. Aber wie es funktioniert, weiß ich nicht, du vielleicht?“
„Ungefähr. Nicht so richtig.“
Wir sehen einander ins Gesicht und brechen in schallendes Gelächter aus.
„Ach, Steve, was soll bloß aus uns werden?“, stöhne ich.
„Weiß Gott, das müssen wir einfach unterwegs herausfinden“, gibt er zurück.
Nachdem wir uns auf diese Weise Mut gemacht haben, fühlen wir uns besser und plaudern noch lange, bis wir um Mitternacht irgendwo in der Nähe von Paris in den Schlaf sinken.
Aber vorher, in Leicester, liest der Doppeldeckerbus noch weitere Fahrradfreaks auf. Darunter auch eine Frau, die beim Einsteigen schreit: „Bloß nichts auf meine Hose, das ist meine einzige!“
Blut rinnt hinter ihrem rechten Ohr herunter, läuft ihr den Nacken entlang und landet auf dem Boden. Als sie einsteigen wollte, war vom Anhänger eine Leiter gefallen und hatte sie am Hinterkopf getroffen. Mike, der eine Reihe vor mir sitzt, ist Arzt. Er springt auf, wischt das Blut mit einem Taschentuch ab und versichert ihr, die Wunde sei nicht so dramatisch, wie sie aussieht. Steves Kopf hat sich zu meiner Seite geneigt und sein Gesicht eine graugrüne Farbe angenommen. Mit glasigem Blick gleitet er von seinem Sitz.
„Mike, Mike!“, rufe ich den Arzt, der gerade die blutende Frau in die obere Etage des Busses begleitet. „Steve wird ohnmächtig!“ Mike springt die Treppe wieder herunter und zieht Steve vorsichtig in den Gang. Dort soll Steve, so ordnet er an, liegen bleiben, bis er sich ein wenig erholt hat, und Gary, der für die heruntergefallene Leiter verantwortlich ist, muss über ihn hinwegsteigen, um für die Verletzte, Steve und den Arzt Tee zu machen. Gary stolpert nicht, also nimmt das kleine Drama nun wohl eine glücklichere Wendung. Wir sind doch erst in Leicester! Das wird bestimmt ein ereignisreicher Camino, schließe ich daraus.


Die weitere Reise verläuft ohne Zwischenfälle. Die weißen Klippen von Dover stürzen nicht ins Meer, unsere Fähre sinkt nicht auf dem Weg über den Ärmelkanal, und in Frankreich gibt es zumindest heute keinen Streik gegen die Sparmaßnahmen, mit denen Europa überzogen wird. Allerdings schürt Steve meine Ausrüstungsängste, als wir nebeneinander auf dem sonnenbeschienenen Deck sitzen und er meine Schuhe entdeckt.
„Was sind denn das für Latschen?“, erkundigt er sich und blickt dabei auf meine Füße. Ich wünschte, er würde unserer berühmten Küste mit den Kalkfelsen mehr Aufmerksamkeit widmen.
„Was soll das heißen, ›Latschen‹? Schuhe eben.“
„Aber was für welche?“, beharrt er.
„Doc Martens.“
„In denen willst du ja wohl nicht Rad fahren, oder?“
„Wieso nicht? Es sind meine bequemsten Schuhe. Sie haben sich schon in Holland beim Radeln bewährt.“
„Wie sollen deine Füße da drin atmen? Da kriegst du ja die Fußfäule“, behauptet er hartnäckig.
Inzwischen geht Steve mir auf die Nerven. Ich atme ja schließlich mit meinen Lungen und nicht mit den Füßen.
Mit einem missbilligenden Blick verschwindet Steve ins Restaurant und lässt mich in einem Zustand der Ausrüstungsneurose vor mich hin brüten. Ich gehe in Gedanken neun Jahre zurück und versuche das Bild eines Fahrradladens in Saint-Jean-Pied-de-Port heraufzubeschwören, wo ich ein Paar wasserdichte, atmungsaktive Fahrradschuhe in Blau und Gold (den Farben meiner bevorzugten Fußballmannschaft Leeds United) erstehen kann. Fast sehe ich sie schon an meinen glücklichen, atmenden Füßen, aber an Saint-Jean-Pied-de-Port habe ich keinerlei Erinnerung. Wie sieht es bloß dort aus? Ich entsinne mich nur eines Mannes, der mir mein credencial (den Pilgerausweis) über einen kleinen Tisch reicht, bevor ich aus einer Schachtel meine Muschel aussuche.
Die Nacht senkt sich über den European Bike Express, der durch Frankreich auf Bayonne zusteuert. Die Passagiere bestellen Lasagne aus der Mikrowelle und Rotwein, Gary bringt uns alles an den Platz. Wir lesen unsere Sportteile, Fahrradzeitschriften und Romane, bis wir einer nach dem anderen in den Schlaf gleiten. Ich frage mich, wo ich wohl sein werde, wenn am kommenden Samstag Englands erstes Weltmeisterschaftsspiel gegen die USA stattfindet? Mein Reiseplan sieht lediglich vor, dass ich bis Santiago kommen und am 25. Juli wieder in Bayonne sein möchte, um dort den Bus zurück nach Yorkshire zu nehmen. Sechs Wochen und fünf Tage, um den Camino hin und zurück mit dem Fahrrad zu bewältigen. Also mehr Zeit als genug …

Auf dem Jakobsweg mit dem Rad

Trauer ist eine lange Reise

Für dich auf dem Jakobsweg

Wie schafft man es, wieder ins Leben zurückzufinden, nachdem der Mensch, den man liebt, tot ist? Als Georg Koenigers Frau nach neunmonatigem Leiden an Lungenkrebs stirbt, löst er das Versprechen ein, das er ihr kurz vor ihrem Tod gegeben hat: Er will für sie auf den Jakobsweg, jene Pilgerstraße, die die Menschen seit jeher magisch anzieht. Und so setzt er sich in Würzburg aufs Fahrrad, gelangt nach acht Wochen, 500.000 Radumdrehungen und mehr als 2000 Kilometern nach Santiago de Compostela. Eine Reise mit ungeahnten Hindernissen und vielen glücklichen Zufällen, die Abenteuer, Abschied, Selbstbesinnung und Neuginn ist und - aller Trauer zum Trotz - Koenigers Sinn für Witz und Humor immer wieder aufblitzen lässt.

Jakobsweg wider Willen

 


Schon das Packen ist nicht unproblematisch. Die Gepäck­taschen im Keller sind voll mit Ausrüstungsgegenständen in doppelter Ausführung: zwei Tassen, zwei Messer, zwei Teller, ein Zelt für zwei. Alles nach der letzten Radreise platzsparend verstaut für den nächsten gemeinsamen Trip. Jetzt nehme ich all das auseinander und packe jeweils nur ein Teil ein. Mir ist dabei, als würde ich auseinanderreißen, was eigentlich zusammengehört. Ich meine fast, die zurückgelassene Tasse schreien zu hören: Und was ist mit mir?
Das Zelt aber kommt mit. Es ist zwar über drei Kilo schwer und viel zu groß für mich allein, doch irgendwie gehört es dazu. Es wird mir immer wieder die große Leerstelle in meinem Leben vor Augen führen, die ich seit einem Jahr erlebe.
Die Stimmung am Abend vor der Abreise ist nicht gerade euphorisch. Von Urlaubsvorfreude keine Spur. „Super Show“, schwärmen zwar meine Kabarettkollegen, als wir nach der Vorstellung unsere Requisiten zusammenpacken. Und tatsächlich ist es wie immer ein gutes Gefühl gewesen, vor einem begeisterten Publikum seine Späße auf der Bühne zu machen. Das hat sich auch nach sechsundzwanzig Jahren als Kabarettist nicht geändert. Aber so richtig genießen kann ich es nicht, ich bin nur noch mit halber Kraft dabei, es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Es ist, als wäre meine Seele schon unterwegs auf dem Jakobsweg, während mein Körper noch routiniert die eingeübten Sketche spielt.
Als ich dann mit gepacktem Requisitenkoffer in dem leeren Zuschauerraum stehe, merke ich, wie die Droge Applaus viel schneller an Wirkung verliert als sonst. Morgen, denke ich, wird niemand von diesen Leuten da sein, um mich bei der Abreise zu beklatschen, niemand, der mir mit weißem Taschentuch nachwinkt, niemand, der ein Abschiedsfoto macht, aber auch niemand, der mich zur Eile antreibt, damit wir endlich loskommen. Es interessiert die ganze Welt einen Dreck, was ich morgen mache. Mein Terminkalender ist im Frühjahr 2014 für einen Monat leer. Ich könnte genauso gut einfach hierbleiben. Keiner würde es bemerken.
Dennoch springe ich am nächsten Morgen aus dem Bett, bevor der Wecker sich auch nur rühren kann, stelle mein Espressokännchen auf den Herd und ziehe meine Funktions­klamotten an. Die letzten zwei Jahre waren eine sehr anstrengende Zeit, sowohl psychisch als auch körperlich. Jetzt nehme ich mir vier Wochen Zeit für mich. Die Reiseroute hätte ich mir selbst so nicht ausgesucht, aber trotzdem: Jetzt wird geradelt.
Während ich im Stehen eine Banane esse und meinen ­Kaffee trinke, fallen mir die Reaktionen meiner Freunde, Kollegen und Verwandten ein, als ich ihnen erzählte, was ich vorhabe. Am besten waren immer ihre Gesichter. Da wurde der Mund aufgerissen, die Luft durch die Zähne eingesogen, da wurden die Augen gerollt, die Backen aufgeblasen. „Was willst du? Von hier nach Santiago de Compostela ... radeln?“ Mancher versuchte ein gequältes Lächeln, andere prusteten los, als hätte ich einen Witz gemacht. Dann Stirnrunzeln. »Wie viele Kilo­meter sind das denn?« Sobald ich »ungefähr zwei­einhalbtausend« sagte, erntete ich meist ratloses Kopfschütteln. „Aber du ... äh, machst schon Pausen zwischendurch, oder?“
Die Outdoorfreaks, die es in meinem Freundeskreis gibt, reagierten mit aufmunterndem Nicken, anerkennendem Pfeifen, spöttisch angehobenen Augenbrauen oder offenem Neid. »Du fährst echt viereinhalb Wochen mit dem Rad durch ­Europa, während ich hier täglich in mein Büro trotte?«, fragte mich ein Bekannter ungläubig in der Kletterhalle. „Du hast es ja so was von gut. Wollen wir tauschen?“
So weit ist es schon wieder, dachte ich verwundert, dass jemand mit mir tauschen möchte. Ein Jahr vorher wäre wohl niemand auf die Idee gekommen.


„Frau Dr. Schröpel?“
Es klang immer ein bisschen seltsam in meinen Ohren, wenn jemand Andrea mit „Doktor“ anredete, obwohl sie den Titel schon fast zwanzig Jahre innehatte. Als Neurobiologin wird einem der Namenszusatz nicht nachgeschmissen, die Promotion hatte Andrea vier Jahre harte Arbeit gekostet, und trotzdem hat sie nie viel Wert auf die ausdrückliche Erwähnung des Titels gelegt. Schon gar nicht nachdem sie ihre Karriere als Wissenschaftlerin an den Nagel gehängt und als Heilpraktikerin eine ganz neue Laufbahn eingeschlagen hatte. Wenn ich sie „Frau Doktor“ nannte, dann nur um einen Spaß mit ihr zu machen. Aber das hier war nicht lustig.
„Sie können jetzt zum Herrn Professor.“
Wir standen auf und folgten der Sekretärin aus dem Wartezimmer. Mindestens zehn Augenpaare arabischer Herkunft folgten uns. Offensichtlich war eine komplette Familie aus dem Nahen Osten nach Bayern angereist, um eine oder einen Erkrankten zu begleiten. Männer mit großen Bärten, verschleierte Frauen und ein paar Kinder warteten ununterbrochen durcheinanderredend, aber sehr geduldig auf Nachrichten von der Stationsschwester. Auch wenn der Trubel ziemlich anstrengend war, hätten wir dem aufgeregten Geplapper viel lieber noch weiter gelauscht, statt jetzt der Sekretärin durch die freitäglich stillen Gänge ins Chefarztzimmer zu folgen.
„Frau Dr. Schröpel!“, begrüßte der weißhaarige, aber agile Professor sie und sprang aus seinem Stuhl. Er gab erst ihr, dann mir die Hand. Wie die meisten Ärzte behandelte auch er sie betont freundlich, weil er sie offensichtlich für eine Kollegin hielt. Was auch nicht ganz falsch war. „Wie geht es Ihnen?“
Andrea antwortete mit einem unverbindlichen Schnauben. Besonders wenn sie gestresst war oder Angst hatte, konnte sie sehr schroff sein. Und jetzt hatte sie große Angst und war gewaltig im Stress. Keine gute Zeit, um Small Talk zu machen. Sie wollte wissen, was los war.
Monatelang hatte sie unter einem hartnäckigen Husten ge­litten, der allem heilpraktischen Bemühen getrotzt und sie ­immer kurzatmiger hatte werden lassen. Endlich entschloss sie sich, sich in der Asklepios-Klinik in Gauting, im Süden Münchens, von einem Pneumologen untersuchen zu lassen. Der ­hatte Wasser in der Lunge festgestellt, punktiert und die abgesaugte Flüssigkeit ins Labor geschickt. Es fanden sich maligne Zellen darin.
„Adenokarzinom“, hatte der Arzt nur gemeint, als er uns vor ein paar Tagen das Ergebnis mitteilte.
„Das heißt ein sehr aggressiver Krebs“, hatte Andrea mich angefahren, als ich Luft holte, um nachzufragen, was das konkret bedeute. Normalerweise hätte ich mir so eine Grobheit nicht gefallen lassen. Aber in ihren Augen stand die nackte ­Panik. Lungenkrebs. Bei einer lebenslangen Nichtraucherin, die ­immer sportlich und gesund gelebt hatte. Total unbegreiflich. Es folgten zwei Tage voller Tränen, Telefonanrufe, Be­suche, Umarmungen, Mut machender E-Mails. Auch ich versuchte, Zuversicht auszustrahlen.
Und nun waren wir wieder in der Klinik. Es galt, das Stadium der Krankheit zu bestimmen. Der Professor kam gleich zur Sache. „Stadium IV“, sagte er sachlich. „Tut mir leid.“
„Was heißt ...?“ Weiter kam ich nicht. Andrea presste meine Hand zusammen, um mir zu bedeuten: Bitte nicht schon wieder eine „dumme“ Frage. Auch ohne weitere Erläuterungen konnte ich ihrem Gesicht entnehmen, dass die Neuigkeiten katastrophal waren.
Der Professor führte ungefragt aus: „Wir können keinen konkreten Herd, keinen soliden Tumor feststellen. Da die Krebszellen aber im Wasser in der Pleura gefunden wurden, heißt das, sie haben gestreut. Praktisch von Anfang an. Das bedeutet Stadium IV.“
„Und ...?“, brachte ich heraus, bevor mir ihre Hand fast die Finger zerquetschte.
„Was schlagen Sie vor?“ Andrea klang gefasst, aber ich sah ihr an, wie verzweifelt sie war.
„Wir punktieren jetzt noch einmal die Lunge und ziehen etwas Flüssigkeit ab, damit Sie freier atmen können. Und nächste Woche treffen Sie sich dann mit unserem Onkologen.“
Später kam er aus dem Untersuchungszimmer, vor dem ich gewartet hatte und in dem die Punktion durchgeführt worden war. „Sie können jetzt zu Ihrer Frau.“
Allein mit ihm, nutzte ich dann doch die Gelegenheit, eine meiner „dummen“ Fragen zu stellen. „Sie haben eben gemeint, Sie könnten nur palliativ arbeiten. Wenn ich das richtig verstehe, heißt das ...“
„Ja“, unterbrach er mich, „wir können in so einem Fall nur lebensverlängernd arbeiten. Eine Heilung gibt es nicht.“ Er gab mir die Hand. „Schönes Wochenende.“ Und ging den Krankenhausgang hinunter. Sprachlos schaute ich ihm nach.
Im Behandlungszimmer lag Andrea reglos zusammengekrümmt auf der Liege. Die weiße Papierauflage unter ihrem Kopf war völlig nass geweint. Von nebenan klangen die fröhlichen Stimmen der Krankenpfleger herüber. Pläne fürs Wochenende wurden ausgetauscht.
„Hat es wehgetan?“, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Meine großartige Frau, die keine Mühe hatte, vor dreihundert Leuten ohne Skript einen Fachvortrag zu halten, die sich vor Hilfe suchenden Menschen nicht retten konnte und als Heilpraktikerin vielen tatsächlich geholfen hatte, meine Frau, deren Mut und unkonventionelle Denkweise ich bewunderte, die immer wusste, wo es langging, diese Frau, die ich liebte, war plötzlich nur noch ein Häufchen Elend.
„Komm, ich fahr dich heim.“ Etwas ungeschickt half ich ihr auf. „Da vorne geht’s raus.“

Startklar. Bei bestem Wetter fahre ich aus meiner Heimatstadt Würzburg heraus und nehme zügig die ersten Landstraßen­kilometer unter die Räder. Nach einer Stunde strampele ich mich langsam in einen Groove. Die ersten Steigungen, die mich aus dem Maintal hinausführen, sind schnell überwunden. Noch habe ich keine Orientierungsschwierigkeiten, die Gegend ist mir bekannt. Meine Beine sind noch frisch, die Lunge keucht nur mäßig, das Herz pocht noch nicht allzu schnell. Mein schwer beladenes Rad ist natürlich nicht so leicht zu handhaben, mehr als zwanzig Kilogramm Zusatzgewicht machen das ganze System etwas instabil. Aber wir haben uns schnell wieder aneinander gewöhnt, und bald stellt sich die Freude an der Bewegung ein.
Alles im grünen Bereich also, denke ich, während ich durch einen lichten Wald fahre und mich über das Wortspiel freue. Ich gehe davon aus, dass auch in den nächsten Wochen alles nach Plan laufen wird und ich unbeschadet nach Santiago de Compostela komme. Andrea und ich haben so viele Radtouren zusammen gemacht, längere sogar als die, die vor mir liegt. Es gibt keinen Grund, wieso es da nicht auch allein klappen sollte.
Ein bisschen zweckgerichteter Optimismus kann mir nicht schaden. Etwas seltsam fühlen sich diese ersten Kilometer nämlich schon an, das kann ich nicht aus der Welt lächeln. Denn die ganze Reise ist eigentlich nicht meine Idee gewesen. Sie ist eher eine Art traurige Auftragsarbeit.
Der Jakobsweg stand nie sonderlich weit oben auf der Liste meiner persönlichen Traumstrecken. Die Hohe Tatra hätte mich da mehr interessiert. Portugal oder Südamerika. Außerdem gäbe es für mich andere Orte der Besinnung, zu denen sich eine Wallfahrt lohnen würde – ein tibetisches Kloster, der Mauna Kea, der höchste Berg von Hawaii, der Uluru, der heilige Berg der Aborigines in Australien, die kambodschanische Tempelanlage Angkor Wat oder die ägyptischen Pyramiden. Im Vergleich dazu verblasst Santiago de Compostela ein wenig. Der Jakobsweg ist mir nach allem, was ich gehört habe, einfach zu überlaufen – mehr als zweihunderttausend Pilger zieht die Strecke jährlich an –, und die Geschichte, die San­tiago zu einem spirituell lohnenden Ziel machen soll, scheint mir zudem reichlich an den Haaren herbeigezogen.
Mal ehrlich: Wie kommt ein Apostel, der im Nahen Osten geboren wurde und dort gewirkt hat, nach seinem Tod nach Spanien? Und wieso entdeckt man sein Grab erst achthundert Jahre später?
Und wenn man sich etwas näher mit dieser Geschichte be­fasst, wird es erst recht hanebüchen. Gut möglich, dass San­tiago de Compostela ein ganz besonderer Ort ist, zu dem es sich zu ­reisen lohnt. Aber was den Wahrheitsgehalt der Legende um den heiligen Jakob angeht, könnte man genauso gut auch zu Schneewittchens Schloss pilgern oder zur Hütte der sieben Zwerge.
Ein Einsiedler soll eine Lichterscheinung gehabt haben, so geht die Mär, und zwar an dem Ort, wo heute die Hauptstadt von Galicien liegt. Prompt hat man an dieser Stelle Gebeine „entdeckt“. Und der Bischof Theodimir von Padrón soll hin­gereist sein und bestätigt haben: Ja, das sind die Knochen von Jakob. Aber: Wie hat er das bloß herausgefunden? Jeder Tatortzuschauer weiß: Es bleibt nicht viel übrig von einem toten Menschen nach ein paar Jahren. Wie sieht der Leichnam dann erst nach achthundert Jahren aus? Hat der Bischof ein Team von Forensikern dabeigehabt, die das Gebiss untersucht oder eine DNA-Analyse in Auftrag gegeben haben? Hatte er Leute vom CSI engagiert, der Christian Scene Investigation? Irgendwie hat man auch Karl den Großen mit ins Boot gekriegt, jenen George W. Bush des 8. Jahrhunderts, der gerade auf einem Eroberungszug in der Gegend war. Der habe dreimal von dem Grab geträumt, wird kolportiert.
Es ist schon erstaunlich, dass diese wirklich krude Geschichte auch heute noch in den meisten Reise­führern weitgehend un­kommentiert wiedergegeben wird. Aber man muss natürlich anerkennen: Die Legende vom Jakobsweg hat funktioniert. Das war wirklich ein genialer PR-Coup. Jährlich drängeln sich Hunderttausende von Pilgern in die Kathedrale von Santiago. Ich weiß bloß nicht, wie scharf ich darauf bin, mich in die Schlange der Gläubigen einzureihen.

An manchen Tagen glich Andreas Wohnung einem Taubenschlag. Die Hilfsbereitschaft, die uns aus unserer Umgebung entgegenschlug, war herzerwärmend und überwältigend. Freunde schauten vorbei, um Andrea aufzuheitern, Familienmitglieder machten Besorgungen für uns, befreundete Heilpraktiker gaben sich praktisch die Türklinke in die Hand in dem Bemühen, sie wieder auf die Beine zu kriegen. Das Telefon klingelte in einem fort, manchmal wurde auf Handy und Festnetz gleichzeitig gesprochen.
Nach dem ersten Schock, den die vernichtende Diagnose ausgelöst hatte, herrschte bald rege Betriebsamkeit. Die Angst und Verzweiflung der ersten Tage waren einer grimmigen Trotzstimmung gewichen. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden, wenn wir der Schulmedizin nicht ein Schnippchen schlagen könnten.
Auch ich versuchte, alles zu tun, um ihre Heilung zu befördern. Nachdem wir zweiundzwanzig Jahre lang eine glück­liche Fernbeziehung geführt hatten, verlegte ich jetzt meinen Lebensmittelpunkt von Würzburg nach München in ihre Wohnung. Vorübergehend, wie ich mir einredete, bis sie wieder gesund wäre.
Denn wenn es jemand schaffen konnte, dann Andrea. Ich war nicht der Einzige, der das dachte. Alle waren sich in dem Punkt einig. Ihr kluger Kopf, gepaart mit ihrem unbeugsamen Kampfeswillen und einer Armada helfender Hände. Da hätte sie zumindest eine Chance, waren wir uns sicher. Auf dem Küchentisch stapelten sich die Bücher über alternative Ansätze zur Krebstherapie. Fast jeder Besucher brachte ein neues mit, und wir deckten uns mit zusätzlichem Material ein.
Besonders stark vertreten in unserer Sammlung waren Bücher über Ernährungskonzepte. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – war es schwierig, den Überblick zu behalten. Je mehr wir lasen, desto weniger klar wurde das Bild. Zu widersprüchlich waren die Ansätze. In einigen Büchern hieß es, man müsse den Krebs aushungern, also sehr nährstoffarm essen. Andere rieten dazu, den Körper mit substanzreichem Essen zu stärken. Das schien eher meine Richtung zu sein, weil ich schon bald merkte, dass Andrea Gewicht verlor. Ich dachte, Makrobiotik ist ja schön und gut, aber das Kind braucht was auf die Knochen, Leute! Wie soll sich denn ihr Körper sonst wehren?
Was sie allerdings genau essen sollte, darüber gab es sehr unterschiedliche Ansichten. Zucker, da war das Urteil ziemlich einhellig, war nicht so gut. Folglich rieten die meisten Ratgeber auch von Kohlehydraten ab. Aber das war’s dann auch mit der Einigkeit. In diversen Büchern wurde zu Proteinen geraten. Das machte in meinen Augen Sinn, Proteine geben Kraft, dachte ich. Doch an anderer Stelle warnte man wieder eindringlich: Proteine würden den Krebs nur weiter füttern. Also sollte man so wenig wie möglich davon zu sich nehmen.
„Fett“ war für viele das Wort der Stunde, wenn Proteine schon nicht unproblematisch waren. Auch Smoothies, so hieß es, hätten zahlreichen Patienten geholfen. Das gefiel Andrea. Deshalb atomisierte ich bald mehrmals am Tag für sie verschiedene Gemüsesorten und Salate (weniger Obst wegen des Zuckers), zerkleinerte alles unter ohrenbetäubendem Getöse bis zur Un­kenntlichkeit. Andrea trank tapfer den grünlich braunen Schleim.
Und in all dem täglichen Trubel saß eines Tages meine Frau am Küchentisch und fertigte mit großem Ernst eine Collage an. Irgendjemand hatte ihr empfohlen, sich mithilfe dieser Technik klarzumachen, warum es sich lohne, ums Überleben zu kämpfen. Sie solle Dinge ausschneiden, die sie unbedingt noch machen wolle. Das werde sie innerlich stärken.
Zum letzten Mal hatte ich in der Schule gesehen, wie jemand eine Collage machte. Nun blätterte Andrea Frauenzeitschriften durch, schnitt Wörter, ganze Sätze und Fotos aus und arrangierte die Schnipsel auf großem Zeichenblockpapier. Schöne Landschaftsaufnahmen drängelten sich mit Bildern aus Wellnessanzeigen und Überschriften wie: „Das bin ich mir wert“ oder „Mehr Zeit für mich“. Und mittendrin klebten zwei ausgeschnittene Wanderschuhe und darüber: „Pilgern nach Santiago de Compostela“.
Mit großem Ernst sah sie mich an. „Das ist mein Ziel: An meinem nächsten Geburtstag bin ich so gesund, dass ich den Jakobsweg nach Santiago wandern kann. Meinst du, das klappt?“

Meine erste Rast mache ich in einem kleinen romantischen Tal dreißig Kilometer südlich von Würzburg. Ich werfe meinen Helm auf eine malerisch platzierte Bank direkt neben dem Radweg und öffne eine Vordertasche. Schon auf den ersten Blick fällt auf: Mir fehlt Andreas ordnende Hand. Drinnen herrscht das reinste Chaos. Ich brauche ewig, um Brot, Käse und Tomaten zu finden und auszupacken.
Nicht, dass ich mir keine Gedanken gemacht hätte, wie alles am sinnvollsten zu verstauen wäre. Aber jetzt, während ich nach einiger Wühlarbeit endlich auf meinem Sandwich herumkaue, überlege ich erneut, ob es nicht noch eine bessere Lösung gäbe – und packe die beiden vorderen Taschen vollständig aus. Gewichtsmäßig sollte alles einigermaßen gleichmäßig verteilt werden, weshalb die Schwergewichte Essen und Werkzeug nicht zusammengehören.
Bei der Reiseapotheke fällt mir die Entscheidung allerdings schwer: Ist sie besser in der Tasche mit dem Kulturbeutel aufgehoben oder in der mit dem Werkzeug? Und wenn Letzteres – gehört die Reiseapotheke über das Werkzeug oder darunter? Was ist wahrscheinlicher? Dass ich mir wehtue? Oder dass etwas am Rad kaputtgeht? Was muss schneller griffbereit sein? Ich entscheide mich für das Werkzeug, aber dann halte ich schon das nächste Problem in meinen Händen. Wo tue ich jetzt das Essen hin? Und die Sonnencreme?
Ratlos schaue ich auf die mit Brot und Käse gefüllte Plastiktüte in meiner linken und die Sprühflasche in meiner rechten Hand. Am Ende werfe ich alles entnervt wieder in die wasserdichten Beutel. Und beim nächsten Stopp muss ich dann alle Taschen durchwühlen, bis ich endlich das Ladekabel fürs Handy gefunden habe, und der Apfel, den ich mir bei der Gelegenheit greife, schmeckt nach Sonnenöl.
Später, in Tauberbischofsheim, treffe ich zum ersten Mal auf die Jakobsmuschel als Wegzeichen. Das Pferd, das das Boot mit Jakobs Leichnam an der spanischen Küste an Land gezogen haben soll, soll, als es wieder aus dem Wasser kam, über und über mit Muscheln bedeckt gewesen sein. Deshalb findet sich dieser Meeresbewohner als Symbol für den Jakobsweg wieder – eigentlich unpassend, wo es sich doch beim Camino um einen ziemlich ausgedehnten Landgang handelt. So früh habe ich jedenfalls noch gar nicht mit der Muschel gerechnet. Es ist ein relativ neu eingerichteter Abschnitt, der Main-Taubertal-Jakobsweg.
Mir scheint, jedes Flusstal, jede Gemeinde mit einer einigermaßen ansehnlichen Kirche will mit aller Macht auf den Pilgerzug aufspringen. Je weiter man weg ist von Santiago, desto mehr Jakobswege findet man. Zwar wird versucht, die neuzeitlichen Pilgerströme entlang der alten überlieferten Strecken zu leiten – die Bezeichnung „Jakobsweg“ ist jedoch laut der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft nur für den spanischen Teil des Pilgerwegs von den Pyrenäen über Burgos und León bis nach Santiago gerechtfertigt. Alle anderen Strecken seien alte Handels- und Heerstraßen, die unter anderem auch von Pilgern genutzt wurden, und müssten eigentlich „Wege der Jakobspilger“ heißen. Aber das lässt natürlich viel Interpretationsspielraum. Und da haben sich die rührigen Tauberfranken wohl gedacht: „Irgendein gläubiger Wanderer hat sich sicher auch mal in unsere Gegend verirrt“, und daraufhin einen eigenen Jakobsweg aus der Tauber gehoben. Nur: Pilger sind, soweit ich das sehen kann, erst einmal Fehlanzeige.
Und auch ich lasse mich von der verführerischen Muschel nicht dazu verleiten, den Zeichen Richtung Rothenburg zu folgen. Das wäre ein ziemlicher Umweg. Stattdessen ist mein Plan, weiter gen Südwesten zu radeln, quasi Luftlinie nach Spanien, und erst südlich von Speyer wieder auf einen Jakobsweg zu stoßen. Ich habe nicht vor, sklavisch genau auf der vorgegebenen Strecke zu bleiben. Meine Devise lautet eher: „Jeder, der nach Santiago wandert, ist auf dem Jakobsweg.“ Und so navigiere ich mich ziemlich vogelwild durch die Landschaft.
Langsam rolle ich auf  betonierten Pfaden über die mit Weinbergen übersäten fränkischen Hügel. Jetzt im Frühjahr haben die Weinstöcke gerade erst ausgeschlagen, das Grün der Blätter ist noch recht blass und durchsichtig. Von Trauben können sie zu dieser Jahreszeit nur träumen. Mir fällt ein, wie mir mein Freund und Kollege Philip kurz vor meiner Abreise bei einer unserer Kabarettproben einen Prospekt zuwarf: „Weinführer Jakobsweg“ stand da geschrieben.
„Haste dir aber ’ne super Route ausgesucht. Der Jakobsweg geht fast ständig durch irgendwelche Weingegenden“, stellte er fest, während ich den Prospekt durchblätterte. Genüsslich zählte Philipp mir all die Weingebiete auf, die ich auf meinem Weg nach Spanien durchradeln würde. Franken, Mosel, Burgund, Bordeaux, Navarra, La Rioja – und an der Cognacregion gehe der Pilgerstrom auch vorbei. „Kein Wunder, dass die am Ende alle laufen. Irgendwann verliert jeder seinen Führerschein.“
Ich muss laut auflachen. Und bin froh, dass mich niemand hört, hier auf dem einsamen Weinbergpfad. Sieht doch ein bisschen komisch aus, wenn so ein Soloradler vor sich hin­kichernd an seinen Zeitgenossen vorbeifährt. Und als Spaßtrip ist das hier sowieso nicht geplant.

Gemeinsam auf dem Camino

Pilgern auf FranzösischPilgern auf Französisch

Roman

Clara, Claude und Pierre sind entsetzt: Das Erbe ihrer Mutter wird erst ausbezahlt, wenn sich alle drei zusammen als Pilger auf den Weg nach Santiago de Compostela machen. Schlimmeres können sich die drei kaum vorstellen, denn erstens können sie sich nicht ausstehen, und zweitens ist Wandern ein Strafe für sie. Doch das Geld können alle gut gebrauchen, und so schließen sie sich widerwillig einer illustren Wandergruppe an. Der Weg nach Santiago de Compostela ist lang und die Reise dahin voller überraschender Einsichten … Eine wunderbare, tiefsinnige Komödie über das Leben.

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Jakobsweg – FAQ

Antworten auf häufig gestellte Fragen rund um den Jakobsweg:

  • Wie lange dauert es, den Jakobsweg zu gehen?
    Die Dauer des Jakobswegs hängt von der Route und Ihrem individuellen Tempo ab. Wandert man den Camino Francés, sollte man eine Dauer von ca. 4-6 Wochen einplanen.
     
  • Welche Jakobswege gibt es?
    Es gibt nicht den einen Jakobsweg. Vielmehr gibt es viele verschiedene Wege in verschiedenen Ländern, die das Ziel Santiago de Compostela haben und als Jakobsweg bezeichnet werden.
    Die fünf beliebtesten Jakobswege sind Camino Francés, Camino del Norte, Camino Finisterre, Camino Primitivo, Camino Portugues und Via de la Plata. Infos zu den genauen Routen der einzelnen Jakobswege, deren Dauer sowie Schwierigkeitsgrad können Sie beispielsweise auf jakobsweg.de nachlesen.
    Auch in Deutschland gibt es zahlreiche Jakobswege. Eine Übersicht über deutsche Jakobswege sind unter anderem auf deutsche-jakobswege.de aufgelistet.
     
  • Ist der Jakobsweg für Anfänger:innen geeignet?
    Besonders für Pilger-Neulinge sind der beliebte Camino Francés (Spanien) und der Camino Portugues (Portugal) geeignet.
     
  • Welche Ausrüstung benötigt man für eine Pilgerreise?
    Zu den wichtigsten Ausrüstungsgegenständen zählen: ein leicher Rucksack, bequeme Wanderschuhe, wetterfeste Kleidung, Kopfbedeckung, Schlafsack, Handtuch, Hygieneartikel, Jakobsmuschel.
    Detaillierte Packlisten finden Sie auch auf caminodesantiago.de oder jakobsweg.de.
     
  • Wann ist die beste Zeit, um den Jakobsweg zu gehen?
    Die beste Jahreszeit hängt von der Route ab. Um beispielsweise den Camino Francés zu begehen eignen sich Frühjahr und Herbst gut.
     
  • Kann man den Jakobsweg alleine gehen?
    Ja. Der Pilgerweg ist gut ausgeschildert, sicher und frequentiert. Außerdem bietet die Pilgerreise zahlreiche Möglichkeiten mit anderen Pilgernden ins Gespräch zu kommen und neue Kontakte zu knüpfen.
     
  • Wie bereitet man sich auf den Jakobsweg/eine Pilgerreise vor?
    Um sich gut auf diese Reise vorzubereiten, ist es ratsam vorab Reisberichte und Erfahrungsberichte – wie bspw. „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling oder „Leichtes Herz und schwere Beine“ von Tobias Schlegl – zu lesen. Auch über Packlisten und anfallende Kosten sollte man sich gut informieren. In unseren Büchern und auf entsprechenden Webseiten finden siech dazu ausführliche Tipps. Ebenso sollte man sich eine Route aussuchen und die Etappen planen.
     
Bücher über das Pilgern
16. Juli 2018
Hape Kerkeling Bücher und Filme
Entdecken Sie die Bücher von Deutschlands vielseitigstem Entertainer: Von „Gebt mir etwas Zeit“ bis „Ich bin dann mal weg“.
16. August 2022
Wandern als Lebensziel
Christine Thürmer ist einer der meistgewanderten Men­schen weltweit. In ihrem aktuellen Buch stellt sie die besten 25 Wanderungen vor - vom Pilgerweg bis zur Abenteuerroute