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LGBTQ+-Bücher und queere Literatur

Bücher (nicht nur) für den Pride Month

LGBTQ+-Bücher – ein Kaleidoskop der Liebe und Vielfalt

Wenn Worte Brücken bauen und verschlossene Türen öffnen, dann tun LGBTQIA+-Bücher genau das. Sie sind nicht nur ein Spiegel der Gesellschaft, sondern auch ein wichtiger Schritt in Richtung Verständnis und Akzeptanz.

Von den versteckten Botschaften und subtilen Hinweisen in den Werken vergangener Jahrhunderte bis zu den stolz und offen erzählten Geschichten unserer Zeit –LGBTQIA+-Bücher haben einen langen Weg zurückgelegt. Und sie werden nicht nur für ein queeres Publikum geschrieben, wie das Genre Gay Romance zeigt. 

Unsere Romane feiern die Liebe in all ihren Formen und zeigen, dass das Herz keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern macht. In diesem Sinne, lasst uns Seite für Seite ein Zeichen setzen – für eine Welt, in der Liebe keine Grenzen kennt.

Ein großartiger Roman über Liebe in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt

Blick ins Buch
Young Mungo

Roman

„Stuart weiß, wovon er erzählt. Hundertprozent realistisch.“ Campino
Für die hypermaskuline Welt der Arbeiterviertel im Glasgow der 90er Jahre ist Mungo zu hübsch und zu sanft. Sein Bruder Hamish, gefürchteter Bandenführer, will ihn zum Mann machen und schleift ihn zu den brutalen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken – nur wer hart genug ist, kann hier überleben. Dann trifft Mungo auf James und mit ihm kann er sein, wie er ist. Mit ihm lernt er ein Begehren kennen, das geächtet ist, das ihn mit Scham erfüllt, aber auch mit Glück, das er selbst vor seiner Schwester Jodie verleugnen muss, mit der er sonst alles teilt. Denn die Liebe, die zwischen den Jungen wächst, ist lebensgefährlich – und zugleich ihre Rettung.

Ein großartiger Roman über Liebe in einer von Gewalt geprägten homophoben Welt und die Verheißung von Aufbruch und Befreiung.

 „Ein Meilenstein des Sozialrealismus im jungen 21. Jahrhundert.“ Christian Baron, Der Freitag

Eins


Als sie zur Ecke kamen, blieb Mungo stehen und schüttelte die Hand des Mannes von seiner Schulter. Die Entschlossenheit der Geste überraschte alle. Mungo drehte sich um, und als er zum Fenster heraufsah, begannen seine Augen nervös zu zucken. Seine Mutter beobachtete ihn durch die Ähren des Gardinenmusters und versuchte sich einzureden, der Tic wäre
ein fröhliches Blinzeln, ein liebevoller Morsecode, mit dem er ihr mitteilte, dass alles in Ordnung war. O. k. So war er, ihr jüngster Sohn. Er lächelte, selbst wenn ihm nicht danach war. Er würde alles tun, um andere glücklich zu machen.

Mo-Maw schob die Gardine zur Seite und stützte sich auf die Fensterbank wie eine Frau, die Gesellschaft suchte. Sie hob mit einer Hand die Teetasse und trommelte mit den perlmuttrosa Fingernägeln der anderen an die Scheibe. Sie hatte sich für die Farbe entschieden, weil sie ihre Finger frischer aussehen ließ, und wenn ihre Hände jünger wirkten,
dann vielleicht auch ihr Gesicht und der Rest von ihr. Als sie zu Mungo hinabsah, drehte er sich ein Stück weiter und seine Fußspitzen zeigten nach Hause. Sie wedelte mit den lackierten Fingern und scheuchte ihn fort. Geh schon!

Ihr Junge ließ die Schultern hängen, der Rucksack auf seinem Rücken sah aus wie ein kleiner Buckel. Weil er nicht gewusst hatte, was er mitnehmen sollte, hatte er lauter nutzloses Zeug eingepackt: einen zu großen Fair-Isle-Pullover, Teebeutel, sein zerfleddertes Skizzenbuch und
ein paar fast leere Tuben Salbe. Jetzt stand er an der Ecke, als würde ihn der Rucksack rücklings in den Rinnstein ziehen. Doch Mo-Maw wusste, es war nicht der Rucksack, der zu schwer war. Sie wusste, es waren seine Knochen. Das Ganze diente seinem Wohl, und er wagte es, mit diesem leidenden Blick zu ihr heraufzusehen.

Es war zu heiß für sein Gedöns. Er raubte ihr noch den letzten Nerv. Geh schon!, formte sie wieder mit den Lippen und trank einen Schluck kalten Tee.

Die beiden Männer warteten an der Ecke. Sie tauschten einen Seufzer und einen Blick und ein Grinsen, bevor sie ihr Gepäck absetzten und sich eine Zigarette anzündeten. Mo-Maw merkte ihnen an, dass sie es eilig hatten – fremde Gesichter waren in den engen Straßen nicht gern
gesehen –, und sie sah, dass sie sich zusammenreißen mussten, um ihren Jungen nicht zu hetzen. Doch die Männer waren schlau genug, Mungo keinen Druck zu machen, noch nicht, nicht, solange er noch abhauen konnte. Mit verkniffenen Augen warfen sie ihm Blicke zu, beobachtend, abwartend, was er als Nächstes tat, während sie die Hände in die Hosentaschen schoben und sich den Sack von den Schenkeln pulten. Vor ihnen lag ein stickiger, schwüler Tag. Der Jüngere fingerte sich im Schritt herum. Mo-Maw leckte an der Rückseite ihrer Zähne.

Mungo hob die Hand, um zu winken, aber Mo-Maw warf ihm einen finsteren Blick zu. Offenbar hatte er gesehen, wie sie die Miene verzog, oder das Winken kam ihm plötzlich kindisch vor, denn er brach die Geste ab und griff in die Luft wie ein Ertrinkender.
In den weiten Shorts und der übergroßen Regenjacke wirkte er wie ein Straßenkind in Kleidern von der Heilsarmee. Doch als er sich die Wolke der Locken aus dem Gesicht strich, sah Mo-Maw, wie er die Zähne zusammenbiss, und erkannte den willensstarken jungen Mann, zu dem er heranwuchs. Sie klopfte noch einmal an die Scheibe. Guck mich nicht
so böse an.
Der jüngere der Männer trat vor und legte den Arm um Mungos Schultern. Mungo zuckte unter dem Gewicht zusammen. Mo-Maw sah, wie er sich die Seite rieb, und dachte an die violetten Blutergüsse, die auf seinen Rippen blühten. Sie klopfte an die Scheibe: Mein Gott, jetzt hau schon ab! Endlich senkte ihr Sohn den Blick und ließ sich wegführen.

Die Männer lachten, als sie dem Jungen auf die Schulter klopften. Braver Kerl. Guter Kerl.
Mo-Maw war nicht fromm, aber sie reckte die rosa lackierten Finger zum Himmel, schüttelte sie und sang Halleluja. Dann kippte sie den kalten Tee in die vertrocknete Graslilie, füllte die Tasse mit Likörwein, drehte die Musik auf und schleuderte die Schuhe weg.

Die drei Reisenden nahmen den Stadtbus zur Sauchiehall Street. Es herrschte eine für Glasgow untypische Hitze, und sie mussten sich durch einen Strom grölender hemdloser Männer kämpfen, die die Sonne schon rot gesotten hatte. Auf den Parkbänken aufgereiht saßen dickarmige Großmütter in ihren guten Wollmänteln und adretten Hüten mit schweißtriefender Oberlippe. Während die Kinder mit klebrigen Gesichtern über die Straße hüpften, senkten die Frauen das Kinn auf die fleischige Brust und dösten in der Hitze. Sie erinnerten Mungo an die Mietshaustauben, fette faule Vögel mit halb geschlossenen Augen, die Köpfe vom Halsgefieder verschluckt.

Die Luft war erfüllt vom Lärm der Straßenmusikanten, die mit dem Schlachtgerassel einer probenden Oranierkapelle wetteiferten. Die Marschflöten tirilierten wie zwitschernde Vögel zu den schweren Schlägen der Lambeg Drum. Es war eine so herzerweichende Melodie, dass
ein eleganter älterer Herr ins Träumen kam und dicke, kullernde Tränen weinte. Mungo musste sich beherrschen, um den Herrn nicht anzustarren, der da so ungeniert heulte. Ob aus Kummer oder Rührung, war schwer zu sagen. Unter seinem Jackett-Ärmel blitzte eine teure Uhr auf, und weil Mungo sonst keinen Hinweis sah, kam er zu dem Schluss, dass das Schmuckstück zu protzig, zu auffällig für einen Katholiken war.

Die Männer trotteten schwerfällig durch den Sonnenschein. Sie waren mit dünnen Plastiktüten beladen, einer Angeltasche und einem Campingrucksack. Mungo hörte, wie sie sich über ihren Durst beklagten. Er kannte sie erst seit einer Stunde, aber davon redeten sie die ganze Zeit. Offenbar war Durst ihr ständiger Begleiter. „Ich japse nachem Schlücksgen“, jammerte der Ältere. Er war schon puterrot und schmorte in seinem dicken Tweedanzug. Der andere ignorierte ihn. Er ging mit eiernden Schritten, als scheuerten die engen Jeans an der Innenseite seiner Schenkel.

Sie führten den Jungen in den Busbahnhof und stiegen mit klimpernden Münzen in einen Überlandbus, der sie aus Glasgow hinaus nach Norden in Richtung der grünen Hügel von Dumbarton bringen sollte.

Bis sie sich zu der Plastikbank ganz hinten durchgekämpft hatten, waren die Männer schweißgebadet und schnappten nach Luft. Mungo setzte sich zwischen sie und machte sich so klein wie möglich. Wenn einer von ihnen aus dem Fenster sah, studierte er sein Gesicht von der Seite. Wenn der Mann sich umdrehte, schaute Mungo interessiert zum anderen
Fenster raus, um seinem Blick auszuweichen.

Während er zusah, wie draußen die graue Stadt vorbeiglitt, drückte Mungo das Kinn an die Brust und versuchte, den nervösen Juckreiz zu ignorieren, der sich in seinem Gesicht ausbreitete. Er wusste, es war wieder so weit, die gerümpfte Nase, das Blinzeln, die Grimasse, wie ein Nieser, der nie kam. Er konnte spüren, dass der ältere Mann ihn anstarrte.

„Weiß nich, wann ichs letzte Mal auße Stadt rausgekommen bin.“

Seine Stimme war rau, als hätte er ein Stück trockenen Toast im Hals. Manchmal holte er mitten im Satz Luft und stockte, als könnte jedes Wort sein letztes sein. Mungo versuchte ihn anzulächeln, aber der Mann hatte etwas Frettchenhaftes an sich, und es war schwer, ihm in die Augen zu blicken.

Er wandte sich wieder dem Fenster zu, und Mungo nutzte die Gelegenheit, um ihn von Kopf bis Fuß anzusehen. Er war knochig, um die sechzig, und hatte offensichtlich harte Jahre hinter sich. Mungo kannte diesen Schlag. Die jungen protestantischen Hooligans aus der Siedlung
machten zum Spaß Jagd auf Männer wie ihn; sie kreisten die torkelnden Säufer vor dem Arbeiterclub ein, trieben sie unter Spott zur Fish-and-Chips-Bude und schlugen zu, wenn den armen Schluckern die letzten Münzen aus den löchrigen Taschen fielen. Schlechtes Essen und die Sauferei hatten ihn ausgemergelt und vergilbt. Zu viel Haut hing über zu wenig Fett, und sein gelbes Gesicht schrumpelte wie ein überreifer Apfel.

Sein schäbiges Jackett passte nicht zur Anzughose, deren Knie ausgebeult waren wie noch mehr schlaffe Haut. Unter dem Jackett trug er ein T-Shirt mit dem Logo eines Klempners von der Southside, das Kragenbündchen war eingerissen und löste sich vom Rest. Mungo hatte den Verdacht, dass es seine einzigen Kleider waren; sie mieften, als würde er sie bei jedem Wetter tragen.

Irgendwie tat er Mungo leid. Der Alte zitterte leicht. Die Jahre, die er sich in dunklen Pubs vor dem Tageslicht verkrochen hatte, hatten ihn schreckhaft und nervös gemacht, und seine kleinen rastlosen Augen und die langen zuckenden Glieder erinnerten an einen misshandelten Hund.

Er schien immer kurz davor, panisch das Weite zu suchen. Als die letzten Hochhäuser aus dem Blickfeld verschwanden, gab der Tweed-Mann kleine Geräusche von sich, um das Schweigen zu füllen und die anderen zum Gespräch einzuladen. Mungo senkte das Kinn wieder auf die Brust und sagte nichts. Der jüngere Mann kratzte sich im Schritt. Mungo musterte ihn aus dem Augenwinkel.

Er sah aus wie Anfang zwanzig. Er trug dunkelblaue Jeans und hatte den Gürtel unter dem Label durchgezogen, damit das Armani-Logo nicht verdeckt wurde. Er war hübsch– oder vielleicht mal nahe dran gewesen–, aber irgendwas an ihm wirkte jetzt schon verdorben, wie gutes Metzgerfleisch, das zu lange liegengeblieben war. Trotz der Hitze trug er eine dicke Bomberjacke. Als er sie auszog, sah Mungo die sehnigen Muskelstränge an seinen Armen, die von schwerer Arbeit oder von jahrelangen Straßenkämpfen zeugten, oder beidem. Sein Haar war kurz geschnitten. Er hatte es sich mit Gel nach vorn gekämmt, und der Pony bildete kleine Sägezähne, wie mit der Zackenschere geschnitten. Mungo starrte seine aufgeschürften Fingerknöchel an. Seine Haut war honigfarben, untypisch für Schottland; vielleicht waren
seine Leute Frittenbuden-Italiener oder spanischstämmige Iren.

Doch der Hauch von Exotik verpuffte, als er mit dem breiten, stimmlosen Glasweger Akzent sagte: „Oh Mann, stell einfach auf Durchzuch.“ Er redete, ohne einen der beiden direkt anzusehen. „Der olle Sankt Christopher ist sone Schlaftablette, dassem Pferd der Arsch einpennt.“

Mungo fragte sich, was er mit einem Heiligen im Bus machte, während der Jüngere sich wieder dem Nasebohren widmete. Als er mit dem kleinen Finger sein Nasenloch auslotete, sah Mungo, dass er an jedem Finger einen Münzring trug und seine Unterarme von verschlungenen Tätowierungen bedeckt waren. Er war ein Mann voller Wörter: von den
Logos auf der Brust, den Schuhen und der Jeans bis zur Haut. Er hatte seinen ganzen Körper mit einer Nähnadel beschriftet, Frauennamen, Gangnamen: Sandra, Jackie, RFC, The Mad Squad. An manchen Stellen war die Kugelschreibertinte verschwommen, unter die Haut gesickert wie Wasserfarbe, und verlieh ihr ein schönes Violett. Mungo las aufmerksam, was auf den Armen stand. Er prägte sich ein, so viel er konnte.

Sankt Christopher griff in eine der Einkaufstüten und hielt mit einem verschlagenen Augenzwinkern ein Sixpack Tennent’s Super hoch. Den Blick auf den Hinterkopf des Busfahrers geheftet, drehte er zwei Dosen aus den Plastikösen und bot sie dem Jungen und dem Tätowierten an. Mungo schüttelte den Kopf, aber der junge Mann griff dankbar ächzend
zu. Er riss die Dose auf und schloss die Lippen um den überlaufenden Schaum. Mit drei großen Schlucken hatte er das Bier geleert.

Sankt Christopher schien Mungos Gedanken gelesen zu haben, denn er sagte: „Die nennen mich Sankt Christopher, weil ich immer sonntachs bein Anonymen Alkolikern auffe Hope Street bin. Aus Sonntags-Christopher hamse Sankt Christopher gemacht, nich zu verwechseln min Castlemilk-Chris odern lütten roten Chrissy.“ Der Mann trank einen Schluck, und Mungo sah seinen Kehlkopf gierig hüpfen. „Sankt Christopher, verstehste?“

Mungo kannte die Art von Spitznamen. Mo-Maw kam von Montag-Donnerstag-Maureen. Das war der Name, nach dem die anderen Alkoholiker fragten, wenn Mungo zu Hause ans Telefon ging. Sie wollten sichergehen, dass sie nicht aus Versehen „Millerston-Maureen“ oder
die „lütte Mo aus Milk“ an der Strippe hatten. Diese Unterscheidungen waren wichtig, wenn man sich ansonsten ans Prinzip der Anonymität halten wollte.

„Manchma hab ich son Flattermann, dass ich einglich mittwochs
auch manchma hinmüsste. Aber dit geht ehm nich.“ Sankt Christopher
machte ein trauriges Gesicht. „Verstehste?“

Mungo gab sich Mühe, aber häufig fiel es ihm schwer zu verstehen, was die Leute eigentlich meinten. Mo-Maw und seine Schwester Jodie zogen ihn damit auf. Offenbar gab es manchmal viel Spielraum zwischen dem, was die Leute sagten, und dem, was man verstehen sollte. Jodie sagte, Mungo wäre treudoof. Mo-Maw sagte, sie wünschte, sie hätte ihn zu
mehr Pfiffigkeit erzogen, und weniger zum Einfaltspinsel. Es war komisch, eine Enttäuschung zu sein, weil man ehrlich war und das auch von den anderen erwartete. Von den Spielchen der Leute bekam er Kopfschmerzen.

Sankt Christopher schlürfte seine Dose aus, als Mungo sagte: „Vielleicht sollten Sie mittwochs einfach auch hingehen. Ich meine, wenns Ihnen guttut?“

„Aye, aber ich häng ehm an meim Titel.“ Er griff sich in den Ausschnitt und zog ein kleines Blechmedaillon des heiligen Christophorus heraus, das er sich vor die pockennarbige Nase hielt. „Sankt Christopher. Das is das Netteste, was je einer über mich gesagt hat.“

„Können Sie denen nicht einfach Ihren Nachnamen geben?“

„Dann wärs wohl nich mehr anonym, oder?“, unterbrach der Tätowierte.

„Wennde anfängst, deine Karten auffen Tisch zu legen, und dann von deinen Dämonen erzählst, hamse dich auf der Straße am Sack.“

Mungo wusste sehr gut, dass die Leute Dämonen hatten. Mo-Maws Dämon kam raus, wenn sie auf dem Trockenen saß. Ihr Dämon war eine plattgedrückte, aalartige Schlange mit den Zähnen und Knopfaugen eines Wiesels und dem verfilzten Fell einer räudigen Ratte. Er war ein hinterlistiges Vieh an einer Kette, das an ihr zerrte und sie zu Dingen schleifte, von denen sie sich besser fernhielt. Er war gierig, und er war gerissen. Manchmal stellte er sich schlafend, wartete ab, bis die Kinder zur Schule gingen, ihrer Mutter zum Abschied einen Kuss gaben, und dann fiel er über Mo-Maw her und würgte sie wie eine zitternde Maus.

Oder er rollte sich in ihr zusammen und legte sich schwer auf ihr Herz. Der Dämon war immer da, unter der Oberfläche, selbst an guten Tagen. Wenn sie der Versuchung nachgab und trank, ließ sich der Dämon eine Weile beruhigen. Aber manchmal trank Mo-Maw so viel, dass sie sich in eine andere Frau verwandelte, in ein ganz anderes Wesen. Das erste Zeichen war, dass ihre Haut schlaff wurde, als würde ihr Gesicht abrutschen, um die fremde Frau freizulegen, die sich darunter verbarg. Mungo und seine Geschwister nannten sie Tattie-Bogle, weil sie so schäbig und herzlos war wie eine Vogelscheuche. Egal, wie viel Liebe die Kinder ihr schenkten, egal, wie viel Mühe sie sich gaben, ihre Mutter zu stützen und wieder zusammenzusetzen, sie saugte alle Fürsorge und Aufmerksamkeit auf und fühlte sich trotzdem immer leer.

Wenn Tattie-Bogle redete, hing ihr Unterkiefer herunter und die Zunge rollte im Mund herum, schmutzig, lasziv, als wollte sie unbedingt etwas ablecken. Tattie-Bogle hatte immer das Gefühl, dass sie gerade eine Party verpasste, dass es anderswo aufregender war, gleich um die Ecke, heimlich nebenan im nächsten Treppenaufgang. Sie grollte ihren Kindern
und scheuchte sie weg wie armselige kleine Vögel. Tattie-Bogle war überzeugt, dass bessere Dinge, buntere Lichter, lautere Lacher nur den Frauen passierten, die keine Kinder hatten.

Tattie-Bogle stürzte sich Hals über Kopf in Freundschaften mit Frauen, die sie gerade erst kennenlernte, vertraute ihnen über einer Flasche Black-&-White-Whisky ihre intimsten Geheimnisse an und war beleidigt, wenn die neue beste Freundin ihre Gefühle nicht mit der gleichen Tiefe teilte. Wenn sie dann in handfesten Streit gerieten, schleifte sie die andere durchs Zimmer und die Treppe hinunter, oder umgekehrt.

Am nächsten Morgen fand Mungo Strähnen parfümierten Haars im Flur, die im Luftzug, der unter der Haustür durchpfiff, tanzten wie das Stroh einer kaputten Vogelscheuche. Er oder Jodie ließen die Haare mit dem Teppichkehrer verschwinden und verloren kein Wort darüber.

Es war Jodie, die ihre Mutter in zwei Personen geteilt hatte. Der Trick half Mungo, Mo-Maw im kalten Morgenlicht zu verzeihen, nachdem der Schnaps sie rachsüchtig und gemein gemacht hatte. „Das war nicht Mo-Maw“, tröstete ihn Jodie, wenn sie ihn in der Besenkammer im Arm hielt. „Das war bloß die schreckliche alte Tattie-Bogle, und die schläft
jetzt.“

Mungo wusste, wie Dämonen aussahen. Als der Bus nach Norden tuckerte, saß er still da und dachte an seine eigenen.

Queere Romantasy vom Erfolgsautor von „Boyfriend Material“

Blick ins Buch
Mortal FolliesMortal Follies

Eine verfluchte Lady, eine verbannte Hexe, ein gewagter Plan

Verbotene Liebe und heimtückische Magie

Miss Mitchelmore wurde verflucht. Das findet sie heraus, als sich ihr Kleid auf einem Ball plötzlich in Luft auflöst und sie nur knapp einem Skandal entkommt. Sie ist entschlossen, herauszufinden, wer es auf sie abgesehen hat. Ausgerechnet die mysteriöse Lady Georgiana scheint mehr über den Täter zu wissen. Und wenn man dem Klatsch und Tratsch auf der Straße Glauben schenken kann, ist sie eine Hexe mit dunklem Geheimnis.. Ihre anziehende Art könnte sowohl Miss Mitchelmores Herz als auch ihrem Leben gefährlich werden. 

„Voll von Abenteuern, Chaos, Magie und Lust – dieser Roman wird sowohl Fans von Alexis Hall als auch neue Leser:innen begeistern!“ Publishers Weekly

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Für Fans von Alexis Hall und Casey McQuiston

„Auf diese queere Lovestory hat das Genre seit Jahren gewartet!“ Christina Lauren

Blick ins Buch
I'm So (Not) Over You – Manchmal braucht die große Liebe eine zweite ChanceI'm So (Not) Over You – Manchmal braucht die große Liebe eine zweite Chance

Roman

Vorgetäuschte Beziehungen bedeuten nicht gleich vorgetäuschte Gefühle ... 

Als Kian von seinem Ex-Freund Hudson um ein Treffen gebeten wird, hofft er heimlich auf eine Liebeserklärung. Aber Hudson fleht ihn an, bei einem Essen mit seinen Eltern ihre Liebe vorzutäuschen.

Die Familie hat keine Ahnung, dass sie inzwischen getrennte Wege gehen. Kian stimmt zögernd zu, doch als er auch noch zur Hochzeit von Hudsons Cousine eingeladen wird, möchte er wirklich ablehnen!

In letzter Minute gelingt es Hudson, Kian davon zu überzeugen, ihn zu begleiten. Keiner kann leugnen, dass das Knistern zwischen ihnen noch immer da ist. Aber gibt es eine zweite Chance für ihre Liebe?  

Für alle Leser:innen von Alexis Hall, Casey McQuiston, Andreas Suchanek und Alicia Zett. 


Begeisterte Stimmen zum Debütroman von Kosoko Jackson: 

„Ein witziges, romantisches und geradezu entzückendes Buch, eine willkommene und frische neue Stimme: Kosoko Jackson!“ Julia Whelan

„Auf diese queere Lovestory hat das Genre seit Jahren gewartet!“ Christina Lauren

„Eine herausragende neue Stimme des Genres“ Entertainment Weekly


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Die erste und einzige Regel, um über deinen Ex hinwegzukommen, lautet, nicht auf dessen Nachrichten zu antworten. Das lässt sich auf vielerlei Weise erreichen, je nach Person.

Erstens, seinen Kontakt umbenennen in: NICHT ANTWORTEN.

Zweitens, seine Nummer blockieren.

Drittens, dir ein scheußliches Haarteil auf den Schädel kleben, damit du aussiehst und dich verhältst wie ein völlig anderer Mensch.

Viertens, ein komplett neues Leben als Eigentümer eines Tante-Emma-Ladens im ländlichen Indiana anfangen und es gut sein lassen. Das ist eine Methode, der ich besonders zugetan bin.

Das alles sind gute und wirksame Möglichkeiten. Tu, was du tun musst – niemand wird hier verurteilt.

Und trotzdem, irgendwie habe ich einen Weg gefunden, diese einfache Regel zu brechen. Nicht bloß zu brechen, sondern weit aufzusprengen. Sie zu zerschmettern, wenn man so will.

Denn eine Nachricht zu öffnen und zu beantworten ist eine Sache, aber sich zu entscheiden, der Bitte deines Ex auch noch zu folgen, etwas völlig anderes.

Googelt Schlechte Idee, und unsere hilfreiche Suchmaschine wird ausspucken: Meintest du Kian Andrews’ Entscheidungen, wann immer sie Hudson Rivers betreffen?

Mein Handy in meiner Tasche vibriert einmal, und mein Herz setzt einen Schlag aus.

Vielleicht sagt Hudson ab. Oder vielleicht erkennt er, dass die letzten drei Monate ein Fehler waren, und gesteht mir, dass er immer noch wahnsinnig verliebt in mich ist? Vielleicht …

Nö, nur Divya.

DIVYA EVANS: Nur fürs Protokoll: Das ist eine beschissene Idee.

 

 

„Klar, dass du das sagst“, murmle ich, völlig vergessend, dass sie mich, na ja, gar nicht hören kann. Und sie mag ja recht haben, aber darum geht es nicht.

Als ich vor einer Woche die Nachricht von Hudson bekam, in der er mich fragte, ob ich mich mit ihm im Watering Hole treffe, war Divya nicht gerade begeistert. Sie rümpfte die Nase, als rieche sie etwas Ranziges, was nicht völlig daneben war.

Denn für sie war meine Beziehung mit Hudson genau das: ranzig. Was natürlich jeder über seinen Ex sagt, weil man sich dann besser fühlt.

KIAN ANDREWS: Das hast du schon gesagt – mehrmals.

 

DIVYA EVANS: Trotzdem willst du einfach nicht hören. Erinnere mich noch mal, wer macht seinen Juraabschluss in Harvard?

 

KIAN ANDREWS: Wow … das waren ja … Zwölf Stunden, ohne dass du deinen Harvard-Abschluss erwähnt hast. Das ist ein neuer Rekord!

 

DIVYA EVANS: Aber im Ernst, K. Das ist eine miese Idee. Letzte Aussprachen sind nicht so gut, wie du denkst.

 

 

Als angehende Anwältin sollte sie eigentlich verstehen, warum ich mich mit Hudson treffen muss: um zu verarbeiten, was passiert ist, um dieses Kapitel meines Lebens abzuschließen und es mit einem Klebstoff aus Wahrheit zu versiegeln. Die Erinnerung daran, wie wir Schluss gemacht haben, ist eine offene Wunde, die nie verheilt ist. Es war eine explosive Trennung, die damit endete, dass ich ihn auf sämtlichen Social-Media-Plattformen blockierte und mich so volllaufen ließ, dass die zwei Wochen danach nur ein verschwommener Nebel waren.

Vielleicht wird Divya deshalb Staatsanwältin und keine Verteidigerin.

Ein weiteres Vibrieren, eine weitere Nachricht.

DIVYA EVANS: Ich bin nur ein paar Blocks entfernt, falls du mich brauchst.

 

KIAN ANDREWS: Wie groß ist die Chance, dass das passiert?

 

 

Ziemlich groß, wenn ich ehrlich bin. Divya war schon immer mein Fels in der Brandung, egal, was war. Ob sie nun verhinderte, dass ich mich blamierte, als ich zwei Wochen nach meiner Trennung im Club zu weinen anfing, oder dafür sorgte, dass ich meinen wertlosen Hintern aus dem Bett bekam, damit ich mein Teilstipendium nicht verlor, oder sogar ein paar Männer mit absoluten Hammerärschen auftrieb, um mir über meine hoffnungslose Besessenheit von Hudson hinwegzuhelfen, Divya war stets meine Ride-or-die-Freundin.

Also ist es nur vernünftig, anzunehmen, dass Divya mein schweres Geschütz ist, das ich auf der Kurzwahltaste habe, wenn ich gerade im Begriff bin, eine weitere traumatisierende Hudson-Erfahrung durchzumachen. Wie heißt es so schön? Hinter jedem tollen schwulen Kerl steht eine hammercoole Frau?

Wieder vibriert mein Handy. Ich ziehe es aus der Tasche, ohne hinzusehen, da ich mit einer weiteren (wohlverdienten) witzigen Spitze von Divya rechne. Aber stattdessen starrt mir eine E-Mail entgegen.

VON: JOBS@SPOTLIGHT.COM

AN: KIAN.ANDREWS@NORTHEASTERN.EDU

BETREFF: RE: Bewerbung Investigativ-journalismus-Fellowship | Andrews, Kian

 

Ich starre ewig aufs Display, das bunte Hintergrundbild von einem der vielen Leuchttürme an der Küste North Carolinas. Ich will diesen Moment auskosten. Ihn festhalten, in seiner Schachtel lassen und irgendwo abseits ganz oben ins Regal stellen. Wenn ich erst mal ein berühmter Journalist bin, mit Quellen, die mich in meinen DMs anbetteln, pulitzerpreisgekrönte Storys zu schreiben, und ich eine Gastvorlesung an der Northeastern halte, wird man mich fragen: Wie haben Sie in diesem kompetitiven, mörderischen Business angefangen?

Und ich werde sagen: Meinen ersten Job bekam ich bei Spotlight. Wird es Spotlight in zwölf Jahren noch geben? Wahrscheinlich nicht. News-Websites fressen sich gegenseitig auf wie Bakterien. Aber es ist das Heißeste, bei dem man im Journalismus gerade arbeiten kann. Eine Investigativjournalismus-Fellowship dort zu bekommen würde mein Leben verändern. Das wäre wie … Gehe nicht über Los; stattdessen kriegst du bei deiner zweiten Runde die Parkstraße.

Ich tippe auf das Display, um es wieder aufzuwecken. Die E-Mail-Benachrichtigung verhöhnt mich noch immer. Vielleicht ist es eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch? Vielleicht hat mein Pitch über den Mangel an Bildungsprogrammen in der Appalachen-Region und wie das Studierende mehrere Stufen zurückwirft, den ich die ganze letzte Woche erarbeitet habe, sie wirklich beeindruckt, und sie bieten mir unbesehen eine Stelle an. Das wäre nicht unplausibel. Weißen passiert so was ständig. Und ich habe gute – nein, verdammt gute Referenzen.

Wie Divya sagt, sie könnten sich glücklich schätzen, mich zu kriegen.

Aber wie mein Journalistik-Professor sagte: Journalisten gibt es wie Sand am Meer. Warum sollte man Sie irgendjemand anderem vorziehen?

Was uns wieder zu Divya Evans und ihren genauen Worten zurückbringt: Du bist ein gottverdammter Star, Kian Andrews.

Ich wünschte, ich hätte dasselbe Level an Selbstbewusstsein wie sie. Ich bin gut darin, es vorzutäuschen, wenn ich mit ihr zusammen bin, zumindest glaube ich das. Aber jetzt? Allein in diesem Café? Während ich etwas so Dummes tue, wie auf den Jungen zu warten, der mir das Herz gebrochen hat – der sich inzwischen um sieben Minuten verspätet –, und auf die E-Mail starre, die meine Karriere verändern könnte? Da verstecke ich diese selbstbewusste Fassade weit hinten im Schrank, so wie mich selbst früher in der Middle School.

Und ich habe mir geschworen, mich nie wieder zu verstecken.

Ohne zu viel darüber nachzudenken, tippe ich ein weiteres Mal auf das Display und gebe dann meinen Code ein, bevor ich meine Meinung ändern kann. Ein weiteres Tippen, und die E-Mail füllt das Display aus.

Sehr geehrter Mr Andrews,

Danke für Ihre Bewerbung für die Investigativ-journalismus-Fellowship bei unserer Spotlight-Niederlassung in Boston. Wir haben uns entschieden, zu diesem Zeitpunkt …

 

„Scheiße.“

Nicht nötig, weiterzulesen. Ich könnte eine STRG-F-Suche nach „Wir haben uns entschieden“ in meinem Posteingang machen und mehr als ein Dutzend Ergebnisse bekommen. Diesmal ist es nicht anders, auch wenn ich es mir verzweifelt wünsche.

Ich bin gerade mitten in einer Nachricht an Divya, in der ich sie über die Absage von Spotlight informiere, was zweifellos zu einer Antwort von ihr führen wird, dass die Drinks heute Abend auf mich gehen, als mich ein Bariton-Räuspern hinter mir innehalten lässt. Die tiefe Stimme durchschneidet die leisen, sinnlichen Töne der Esperanza-Spalding-Coversängerin, die uns im Watering Hole ihr Ständchen bringt, selbst wenn diese Stimme so deplatziert ist wie ein Schwarzer Kerl in Boston – alias ich.

Aber sie ist unverkennbar. Sogar nach drei Monaten, in denen ich allem aus dem Weg gegangen bin, was mit Hudson zu tun hat, lässt die Art, wie er so mühelos aus den Tiefen seines Zwerchfells spricht, mir immer noch Schauer über den Rücken rieseln. Und so, wie sein jungenhaftes Grinsen sein markantes Kinn betont, will ich am liebsten dahinschmelzen.

„Kian?“

Ich gebe mein Bestes, mich langsam umzudrehen. Eifrigkeit sieht an niemandem gut aus, besonders nicht in Gegenwart deines Ex, wenn du versuchst, so zu tun, als wärst du über ihn weg und würdest dein Leben als glücklicher Single-Mittzwanziger genießen.

Aber mein Gott, sieht er gut aus.

Nein, nicht gut.

Heiß.

„Hey“, sagt er schmunzelnd. „Danke, dass du gekommen bist.“

Da ist es. Dieses Lächeln. Dasselbe schiefe Grinsen, das er mir geschenkt hat, als wir einander im ersten Collegejahr zugeteilt wurden, um eine Präsentation über Die Glasglocke zu halten. Dieses Lächeln, das er mir vor unserem ersten Kuss geschenkt hat, nach fast zwei Jahren Kriegen-sie-sich-oder-nicht.

Dieser Südstaatenakzent. Genau der, den er immer besonders betonte, wenn wir sonntagmorgens im Bett lagen, weil er wusste, was das mit mir anstellte.

Das alles zusammen, dazu noch eine Prise traditionell akzeptierter männlicher Züge, reichlich altes Geld, und du hast Hudson Rivers.

Ich kann bereits spüren, wie mich diese Schwerelosigkeit überkommt. Dieses übelkeiterregende Gefühl, das einer Kohlenmonoxidvergiftung ähnelt. Das ist es, was Hudson ist: ein Gift, das mein Urteilsvermögen und meine praktischen Sinne durcheinanderwirbelt. Er ist gefährlich. Er ist ein Fehler. Er wird mir wehtun.

Aber er ist so verdammt schön. Und er fehlt mir. Verdammt, er fehlt mir so sehr.

„Klar, kein Problem.“ Gib dich entspannt. Tu so, als wär es dir egal. „Ich hatte sowieso nichts vor. Ich meine, ich war in der Stadt. Ich meine, ich war in der Gegend. Ich meine, ich war in der Gegend, weil ich hier wohne und nichts vorhatte.“ Außer neurotisch meine E-Mails nach einer Antwort von Spotlight zu checken und offensichtlich wie ein Idiot auszusehen, der beim besten Willen keinen anständigen Satz rausbringt.

Divya und ich haben das mehrmals durchgespielt, wie bei einem Zeugen, der auf ein gefährliches Kreuzverhör vorbereitet wird. Ich muss standhaft bleiben. Ich muss gleichgültig bleiben. Ich muss die Kontrolle behalten. Keine dreißig Sekunden rum, und ich mache schon genau das Gegenteil davon.

Hudson behält einfach dieses sanfte, charmante Grinsen auf seinem Gesicht. Es ist, als wüsste er, dass mein Gehirn einen Kurzschluss hat. Er hat mich schon öfter so durchdrehen sehen; auf dem College, wenn ich zu viele Arbeiten abzugeben hatte und nicht wusste, wo ich anfangen sollte. Und jedes Mal hat er einfach gewartet, bis ich mich aus meiner selbst gegrabenen Grube wieder herausgeredet hatte, mich angelächelt und vielleicht mit seinen Daumen mit sanften, beruhigenden Bewegungen über meine Fingerknöchel gerieben.

Diesmal gibt es jedoch keine dieser Berührungen, und dieses Lächeln, das einst süß und neckend war, wirkt jetzt höhnisch. Obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt, ist es das, was mein Kopf und mein Herz denken. Komisch, wie nach einer Trennung von jemandem alles, was man einmal an ihm geliebt hat, zu allem wird, was man hasst.

„Ich habe aber nicht viel Zeit“, füge ich hinzu, um ein wenig Würde und Macht zurückzugewinnen. „Also, was immer du auch willst, bringen wir es hinter uns, ja?“

„Sicher, Darlin’.“

Ich zucke zusammen, als wäre sein Wort der Auslöser eines Schockhalsbands. Er setzt sich, erstarrt, als habe er irgendeinen Befehl geflüstert, der einen Scheinwerfer auf ihn gerichtet hat, und schüttelt den Kopf.

„Tut mir leid. Macht der Gewohnheit.“

„Nennst du jetzt viele Typen so?“ Das war unnötig.

„So habe ich das nicht gemeint, und das weißt du, K.“

„Kian“, erinnere ich ihn. „K ist für Freunde reserviert, und du, Hudson, bist nicht mehr mein Freund.“

Da. Ich habe es getan. Vorteil: Kian. Der Ball ist wieder in meinem Spielfeld. Ich habe das Narrativ unter meine Kontrolle gebracht. Hudson, der wortgewandte Charmeur aus Georgia, ist nicht mehr derjenige, der die Macht hat. Ich …

„Das ist eigentlich genau, warum ich dich angerufen habe.“ Hudson weicht meinem Blick aus und spielt mit dem Zuckerpäckchen, das ich aufgerissen und auf den Tresen geworfen habe. Er faltet es zu einer unbestimmten Form, faltet es wieder auseinander und faltet es noch mal, wie ein Origami-Experiment für Arme.

Ich kenne diesen Tick. Er spielt mit Dingen herum, wenn er nervös ist – besorgt, eigentlich. Es kommt nur so selten vor, dass ich das sehe. Es ist … ungefähr genauso häufig, wie ein schlechtes Foto von Beyoncé zu finden.

Kann es sein, dass der große Hudson Rivers nervöser ist als ich?

„Scheiß drauf.“ Er wirft das zerknüllte Papier auf den Tresen. „Es ist noch nie was Gutes dabei herausgekommen, um den heißen Brei herumzureden.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich derjenige bin, der …“

„Ich habe dich hergebeten, weil ich möchte, dass du mein fester Freund bist.“

Und ich war noch nie so froh wie in diesem Moment, Schwarz zu sein. Nicht nur, weil Schwarze weniger Falten bekommen – Black don’t crack, wie man so schön sagt –, sondern weil ich so, wie mir das Blut in die Wangen schießt, sonst aussehen würde wie eine überreife Tomate.

Und an Tomaten ist nichts sexy.



2


Es gibt zwei perfekte Schlagwörter, die den meisten Leuten in den Sinn kommen, wenn sie Hudson Rivers erwähnen: Whiskey und eine Stahlsaitengitarre.

Whiskey, weil seine Stimme genauso weich und vollmundig ist wie der Alkohol, für dessen Herstellung und Vermarktung seine Familie berühmt ist.

Und eine Gitarre, weil er die nicht nur großartig spielen kann, sondern weil seine Stimme auch eine sanfte, verführerische Note hat, gegen die Odysseus’ Sirenen wie grottenschlechte Teilnehmer bei The Voice klingen.

Weiß Hudson, dass er diese Wirkung auf Leute hat? Absolut.

Nutzt er es zu seinem Vorteil? Hundertprozentig. Ich habe ihn in Aktion gesehen.

Kümmert das irgendeinen von uns? Scheiße, nein.

Denn wer regiert die Welt? Nicht Mädels, sondern Jungs mit hammermäßigem Kinn. Und Hudson Rivers hat genau das.

Und Geld – das hilft auch.

Ich meine, kommt schon, welcher normale Mensch kann im September in Boston ein schwarzes Henley-Shirt mit dunkler Jeans, ein verkehrt herum aufgesetztes Baseballcap und klobige Stiefel tragen und den Look wirklich gut aussehen lassen? Aber er schafft es mühelos, und dafür hasse ich ihn. Aber ich liebe ihn auch dafür. Oder vielleicht ist es meine Geilheit, die da aus mir spricht. Ich schätze, es könnte alles drei sein.

Wenn ich ehrlich bin, passen alle diese Beschreibungen auf Hudson. Bei anderen Männern wäre es ekelhaft, aber Hudson trägt die Krone gut. Er meistert die Balance zwischen selbstbewusst und arrogant, als wäre es sein Hauptfach. Er weiß, dass er attraktiv ist, aber er spricht nicht darüber. Ich habe ihm immer gesagt, dass er aussieht wie Jesse Williams, wenn der zehn Jahre jünger wäre. Zu dieser unglaublich zutreffenden Aussage stehe ich noch immer. Sicher, er hasst es, Selfies zu machen, was einen direkten Fotovergleich schwierig macht, und auf seinem Instagram ist höchstens gelegentlich ein Foto von irgendeinem Ort, an den er gereist ist, oder ein Sonnenuntergang oder irgendetwas anderes Alltägliches (vor sechzehn Stunden hat er laut seinem Account nach einem Jahr erfolgloser Anläufe endlich Der Wassertänzer fertig gelesen – schön für ihn). Aber das bedeutet nicht, dass ich falschliege! Wenn man all das in Betracht zieht und dazu noch die Tatsache, dass er nicht über den Reichtum oder Einfluss seiner Familie spricht, außer es ist tatsächlich relevant für die Unterhaltung, dann ist Hudson Rivers auf dem Papier ein guter Mensch. Verdammt, er ist auch im wahren Leben ein großartiger Mensch.

Na ja, abgesehen davon, dass er mich in genau diesem Café abserviert hat – an genau diesem Tisch, an dem wir seit zehn Minuten verlegen sitzen.

„Du siehst gut aus“, sagt er schließlich, während er einen Schluck von seinem Americano nimmt.

Ich stoße ein leises, spöttisches Schnauben aus, von dem ich denke, dass es unbemerkt bleibt.

Ich dagegen habe mich deutlich verändert. Nicht freiwillig, wohlgemerkt. Falls mir romantische Komödien irgendetwas beigebracht haben, dann, dass man nach einer großen Trennung eine große Veränderung braucht. Und führt diese große Veränderung nicht herbei, indem ihr euch die Haare selbst vor dem Spiegel schneidet, denn das geht nie gut aus.

Für mich bestand die Veränderung darin, dass kurzärmelige Hemden Band-Shirts wichen. Kurze, gegelte Locken wurden zu einem kleinen Afro unter einem Beanie. Schlecht sitzende Jeans wurden gegen gut geschnittene ausgetauscht. Schmutzige Vans von einem No-Name-Outlet wurden durch billige, aber trotzdem modische Stiefel ersetzt.

„Ist es so schlimm, das zu sagen?“, fragt er.

„Nein. Überhaupt nicht. Danke.“ Ein Herzschlag. „Du kannst dich dafür bei Divya bedanken; das war alles ihre Idee.“

„Wie geht’s ihr übrigens?“

„Sie will dir immer noch eine reinhauen.“

„Also geht’s ihr großartig. Schön zu hören.“

Ein Lächeln droht sich zu zeigen, aber ich beiße mir in die Wange, bis ich Blut schmecke. Das hat er nicht verdient. Nein. Absolut nicht. Er verdient keinerlei Lob oder Genugtuung. Er hat mich abserviert! Nicht andersrum. Kein Lass uns drüber reden. Kein Ich bin nicht glücklich. Nichts. Völlig aus heiterem Himmel. Er verdient keinerlei Erleichterung, die ein Lächeln ihm vielleicht schenken könnte. Er darf nicht das Gefühl haben, vom Haken zu sein, weil es Kian anscheinend großartig geht.

Bleib bei der Sache. Bleib konzentriert. Rein. Raus.

„Bitte sag nicht, du hast dich bei mir gemeldet, um mich zu fragen, wie es Divya geht. Dafür hättest du auf Insta nachsehen können. Was kommt als Nächstes, fragst du mich, wie das Wetter wird?“

„Das Wetter ist in Boston im Sommer immer gleich. Um die dreißig Grad, mit einer dreißigprozentigen Gewitterwahrscheinlichkeit.“

„Werd nicht frech, Hudson.“

„Aber du magst es doch, wenn ich frech bin. Und wenn ich mich recht erinnere …“ Er lehnt sich vor und stützt die starken Unterarme mit genug Gewicht auf den Tisch, dass er wackelt. „Du hast es früher auch gemocht, wenn ich … diese Sache mit meiner Zunge an deinem …“

„Kann ich euch irgendwas bringen?“

Aus dem Nichts taucht eine Kellnerin auf – Samantha: dunkle Haare, ein zu strahlendes Lächeln, im zweiten oder dritten Collegejahr, glaube ich, und dem hungrigen Blick nach zu urteilen, denkt sie entweder, sie kann eine schnelle Nummer auf der Toilette kriegen – eine Art Initiationsritus im Watering Hole –, oder sie hält Hudson für modernen Hochadel.

Technisch gesehen läge sie mit Letzterem nicht falsch.

Aber Hudson ignoriert die hungrigen Blicke, zumindest bis ihr Warten so offensichtlich wird, dass er sie nicht mehr ignorieren kann.

„Nein, danke, Darling.“ Samantha öffnet den Mund, wahrscheinlich, um das heutige Tagesangebot anzupreisen, aber Hudson schneidet ihr das Wort ab.

„Aber mein Schatz kann haben, was immer er will.“

Ihre Züge entgleisen, und das ist beinahe – beinahe – genug, um ihn nicht zu korrigieren.

„Nicht dein Schatz.“

Ihr Gesicht hellt sich wieder auf. Samantha, die Kellnerin, durchläuft hier heute wirklich ihre persönliche Gesichtsreise.

„Trotzdem, bringen Sie ihm, was immer er will.“ Hudson reicht ihr dreißig Dollar, mehr, als jeder Drink hier kostet. Aber es ist auch Blutgeld – an diese Geldscheine sind Bedingungen geknüpft. Samantha wendet sich mir zu, reglos, entschlossen und stur.

„Iced Mochaccino.“ Ein Augenblick verstreicht. „Danke.“ Ich habe die letzten sieben Jahre in Boston verbracht, aber das bedeutet nicht, dass ich meine Südstaatenmanieren verloren habe.

„Kommt sofort“, antwortet sie fröhlich, bevor sie verschwindet.

„Jetzt geht das schon wieder los“, murmle ich.

„Hm?“

„Dass du denkst, du kannst Leute kaufen. Wir Südstaatler sollen doch respektvoll und gastfreundlich sein, schon vergessen? Das schließt dich nicht aus, nur weil du reich bist.“

„Meine Familie ist reicher als Gott persönlich, danke der Nachfrage“, sagt er mit einem flirtenden Zwinkern. „Und ich habe ihr dreißig Dollar gegeben für einen Drink, der sechs Dollar kostet, und dir freie Wahl gelassen, zu bestellen, was du willst. Das hört sich für mich nach einem guten Menschen an.“

„Hört sich nach jemandem an, der gerade bewiesen hat, dass ich recht habe.“

Er öffnet den Mund, schließt ihn und öffnet ihn dann wieder. „Das werde ich nicht mal einer Antwort würdigen.“

„Dann beantworte mir das.“ Ich stütze die Unterarme auf den Tisch und lehne mich vor. In einem Psychologiekurs habe ich gelernt, wenn man wissen will, ob jemand wirklich lügt, soll man ihm in die Augen sehen. Sogar die besten Lügner verraten sich dort: leicht geweitete Pupillen, ein Blinzeln, ein Zucken. Reflexartige Reaktionen, biologisch verknüpft mit der menschlichen Entscheidung, die Wahrheit zurückzuhalten.

Also konzentriere ich mich darauf und verliere mich dabei in seinen warmen, freundlichen und einladenden braunen Augen. Neun von zehn Mal, wenn ein Ex sich wieder bei dir meldet, völlig aus heiterem Himmel, gibt es nur einen einzigen Grund, warum er dich sprechen will.

„Hast du mich deinen festen Freund genannt, damit du es rechtfertigen kannst, mich um Versöhnungssex zu bitten?“

Um ehrlich zu sein, und ich schäme mich nicht besonders, das zu sagen, falls Hudson das will, würde er es kriegen. Mit seinem perfekten, warmen Südstaatenakzent, der teuren (aber bequemen) Kleidung und der richtigen Menge Parfüm, das nach Mahagoni riecht, ist er ein gefährlicher, berauschender Mikrokosmos. Dazu der jungenhafte Charme, den man bei jemandem, dessen Familie schon mehrmals Beyoncé und Jay-Z getroffen hat, nicht erwarten würde, und niemand, absolut niemand an der Northeastern war gegen seine Anziehungskraft immun.

Also warum hat ein kluger Kerl wie ich etwas so Dummes getan, wie mich wieder in diese Situation zu bringen?

Einfach.

Weil ich immer noch in ihn verliebt bin.

Ich liebe sein Lächeln. Ich liebe es, wie seine Augen aussehen, wenn er gerade aufgewacht ist, wie ein bewölkter Küstenort am frühen Morgen. Ich liebe es, wie sein Akzent stärker wird, wenn er gestresst oder müde ist. Und ich liebe sein Lachen.

Außer, wenn es mir gilt.

Wie jetzt gerade.

Hudson hat diese Art von Lachen, die wirkt wie eine teure Flasche Wein. Es ist überraschend tief, und sein ganzer Körper bebt, wenn er etwas tatsächlich urkomisch findet.

Und offensichtlich bin ich mit meiner Frage über Versöhnungssex das Lustigste, was er die ganze Woche gehört hat.

Er fährt für die längsten zehn Sekunden meines Lebens damit fort, sich vor Lachen zu schütteln. Mit jeder Sekunde, die vergeht, kocht weiß glühende Wut in mir hoch und droht auszubrechen wie Lava am Rand eines erwachenden Vulkans. Als er aufhört, was gut für ihn und sein Wohlergehen ist, wischt er sich Tränen aus den Augen.

„T-tut mir leid. Ich habe dich nicht ausgelacht, versprochen.“

„Wenn du jetzt sagst, ›Ich habe dich angelacht …‹“

„Ich meine, komm schon, das war lustig. Du hast doch einen Witz gemacht, oder?“

Da ist sie, die perfekte Ausrede. Lächle und sag, dass du einen Witz gemacht hast, Kian. Stürz dich in dein Schwert; besser, wie ein Idiot aussehen, der den Einsatz verpasst hat, als tatsächlich zuzugeben, dass du dich immer noch nach dem Mann sehnst, der dir das Herz gebrochen hat – in genau diesem verdammten Café.

Denn das Einzige, was noch erbärmlicher ist als das, ist … Na ja, es gibt nichts Erbärmlicheres.

Ich bekomme nicht die Chance zu lügen, bevor Hudson weiterspricht.

„Aber das ist egal, Kian, denn ich will wirklich wieder mit dir zusammen sein.“

„… Okay …“

„Aber nur für einen Tag.“

Schallplattenkratzer.

„Bitte, was?“

„Vielleicht drei Tage, höchstens. Ich glaube nicht, dass wir länger brauchen werden.“

Für den – unwahrscheinlichen – Fall, dass Hudson Rivers sagen würde, er habe einen Fehler gemacht und wolle mich zurück, hatte ich eine ganze Rede geplant. Ein metaphorisches Hin und Her, an dem ich während der letzten neunzig Tage meisterhaft gefeilt habe, um es sowohl romantisch als auch hitzig wirken zu lassen. Ich habe jede Erwiderung geplant, mir jedes Wort überlegt, das ich benutzen würde. Genug, um ihn zu treffen und zum Nachdenken zu bringen, aber nicht so, dass es einstudiert wirkt. Das ist es, was jeder unter der Dusche macht: Diskussionen planen.

Und sich einen runterholen natürlich. Das hab ich auch reichlich gemacht.

Aber das hier habe ich nicht geplant. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich mir darauf keinen runterholen werde.

„Warum drei Tage?“

Hudson rutscht nervös auf seinem Stuhl herum. Seine Schultern sind steif, seine Haltung angespannt. Seine Augen wirken ein bisschen dunkler, und wie er vorgebeugt ist … Als versuche er, sich kleiner zu machen. Als wisse er, dass das, woran er denkt und was er vorschlagen will, falsch ist.

Und ich weiß, dass es mir nicht gefallen wird.

„Hör zu“, sagt er schließlich. „Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es kein Notfall wäre, das weißt du doch, oder?“

„Mmhm …“

„Und es ist nicht so, als ob ich das geplant hätte. Ich würde dir das nicht antun. Auch wenn wir Schluss gemacht haben, bist du immer noch … ein wichtiger Mensch für mich, Kian. Es ist mir wichtig, dass du das verstehst.“

„Spuck’s einfach aus.“

Er holt tief Luft.


„Fantastischer Stil, erstklassiger Weltenbau, herrlich queer.“ T. J. Klune

Blick ins Buch
A Marvellous Light A Marvellous Light

Der magische Fluch

Ein Herrenhaus, ein Heckenlabyrinth und ein magischer Fluch

England, 1908: Baronet Robin Blyth tritt seinen neuen Job an. Eigentlich hatte er einen langweiligen Verwaltungsposten erwartet, doch stattdessen ist er plötzlich Verbindungsmann zu einer magischen Geheimgesellschaft. Sein Vorgänger ist spurlos verschwunden – und hinterließ nur einen Haufen Feinde, die Robin mit einem tödlichen Fluch belegen. Seine einzige Hoffnung, dem Tod zu entrinnen, ist Edwin Courcey, sein unausstehlicher Kollege. Widerwillig müssen die beiden zusammenarbeiten und kommen dabei einer Verschwörung auf die Spur, die die gesamte magische Gesellschaft bedroht.

„Fantastischer Stil, erstklassiger Weltenbau, herrlich queer.“ T. J. Klune, Autor von „Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte“

1

Reginald Gatlings Verhängnis ereilte ihn unter einer Eiche, am letzten Sonntag eines schnell schwindenden Sommers.

Schwer atmend an die Eiche gelehnt, saß er da, jeder Atemzug schmerzte wie Nadelstiche. Seine Beine waren nicht zu spüren und bewegten sich auch nicht, wie Wachsklumpen, die irgendwie am Rest von ihm angebracht worden waren. Wenn er seine Hand auf die taube Masse legte, bekam er einen Brechreiz, daher griff er stattdessen kraftlos ins Gras. Die raue Baumrinde berührte seine Haut durch einen der Risse in seinem blutbefleckten Hemd. Die Risse waren seine eigene Schuld, er war nicht rechtzeitig losgerannt, deshalb war ihm das Dickicht einer Brombeerhecke, die den See hier im St.-James-Park umgab, als der beste Fluchtweg erschienen. Die Brombeerranken hatten seine Kleidung zerrissen.

Das Blut stammte von dem, was danach passiert war.

„Schaut nur, wie er hechelt“, sagte einer der Männer in verächtlichem Ton. „Ihm hängt die Zunge heraus wie einem Hund.“

Das Beste, was sich im Augenblick über diesen Mann sagen ließ, war, dass er teilweise zwischen Reggie und der brennenden Sonne stand, die langsam den Nachmittagshimmel hinuntersank. Sie stand wie in einer Astgabel vor blauer Fläche, wie ein brennender Stein, der in einer Schleuder zurückgezogen wurde. Lauernd. Wartend. Jeden Augenblick konnte der Stein losgelassen werden und auf sie zufliegen, und sie alle würden gleißend vergehen.

Reggie hustete und versuchte den Unsinn zu verbannen, der in seinem Gehirn köchelte. Seine Rippen krampften sich erneut unter Schmerzen zusammen.

„Na, na“, sagte der andere Mann. „Lasst uns zumindest höflich bleiben.“ Die Stimme klang nicht verächtlich. Sie war so ruhig und gleichgültig wie der blaue Himmel, und die letzten Reste von Reggies Mut schrumpften dahin.

„George“, sagte Reggie. Ein Appell.

George mit der ruhigen Stimme stand zum Park gewandt und präsentierte Reggie die seidene Rückseite seiner Weste und das Weiß seiner Hemdsärmel, die Manschetten penibel hochgekrempelt, aber dennoch blutbefleckt. Er überblickte die grüne Freifläche am Fuß des niedrigen Hügels, den der Eichbaum krönte. An diesem Sonntag im Sommer war St. James voller Menschen, die noch einen letzten Rest schönen Wetters genießen wollten, ehe der Herbst sich über ihren Köpfen schließen würde. Kinder rannten kreischend umher, stürzten von Bäumen oder warfen Kieselsteine auf empörte Enten. Freunde picknickten, Paare spazierten mit zielloser Muße. Die Sonnenschirme der Damen verhakten sich, wenn sie einander passierten und die Gelegenheit nutzten, um ihre Spitzenärmel zu richten. Männer lagen dösend da, den Strohhut übers Gesicht gezogen, oder knabberten an einem Grashalm, während sie sich, auf einen Ellbogen gestützt, zurücklehnten und in einem Buch blätterten.

Keiner dieser Leute schaute zu George oder Reggie oder dem anderen Mann hin, und selbst wenn sie es getan hätten, wären ihre Blicke weitergewandert, ohne genauer hinzusehen oder beunruhigt zu sein. Keiner von ihnen hatte auch nur kurz aufgeblickt, als die Schreie begonnen hatten. Und auch nicht, als sie weitergegangen waren.

Schwach sah Reggie das perlenartige Säuseln der Luft, das den Verhüllungszauber kennzeichnete.

George wandte sich um, trat näher und ging in die Hocke, achtete auf seine Hose, während er einen Schmutzfleck von seiner polierten Schuhspitze wischte. Reggies gesamter Leib, einschließlich seiner wachsartigen Beine, versuchte vor Georges Lächeln zurückzuweichen. Seine Nerven erinnerten sich an Schmerzen und wollten den Körper selbst in die raue Rinde drücken, durch sie hindurch – sich irgendwie auflösen.

Doch der Baum war unnachgiebig, ebenso wie George.

„Reggie, mein lieber Junge“, seufzte George. „Wollen wir es noch einmal versuchen? Ich weiß, dass du einen Teil davon allein gefunden hast und dachtest, du könntest damit durchkommen, ihn vor uns zu verstecken.“

Reggie starrte ihn an. Das scharfe, überraschte Aufheulen eines Kindes, das sich wahrscheinlich das Knie aufgeschlagen hatte, erscholl irgendwo in der Ferne.

„Was um alles in der Welt hast du dir davon erhofft?“, fragte George. „Ausgerechnet du?“ Er stand wieder auf – es war eindeutig eine rhetorische Frage gewesen – und machte eine knappe Handbewegung zu seinem Begleiter, der seinen Platz vor Reggie einnahm.

Komm schon, dachte Reggie und schielte zu dem unverhüllten Sonnenball. Schleudere dich auf uns. Jetzt wäre der ideale Zeitpunkt.

„Du hast dieses Ding gefunden. Du hast es dir geschnappt. Jetzt sag uns, wo es ist“, verlangte der Mann.

„Ich kann nicht“, sagte Reggie, jedenfalls versuchte er es. Seine Zunge zuckte.

Der Mann brachte die Hände zusammen. Seine Technik hatte keinerlei Raffinesse, aber bei Gott, er war schnell, seine Finger flimmerten durch die kruden Formen des Fadenspiels und erwachten unter dem weißen Glühen seines Zaubers zum Leben, ehe Reggie auch nur Luft holen konnte. Dann hielt er Reggies Hände fest. Aus seinem Griff gab es kein Entrinnen. Seine dicken Brauen zogen sich zusammen, und er blickte stirnrunzelnd auf Reggies Handflächen, als wollte er ihm die Zukunft voraussagen.

Sie wird kurz sein, dachte Reggie hysterisch, dann kroch das Weiß über seine Haut, und er schrie erneut auf. Danach stand einer seiner Finger in einem schrecklichen Winkel ab. Er hatte sich aus dem Griff des Mannes gewunden.

„Was ist?“

Dieses Mal spürte der Schweigezwang Reggies verzweifeltes Bedürfnis nachzugeben und die Frage zu beantworten. Seine empfindliche, pochende Zunge fühlte sich jetzt an wie in dem Moment, als der Zauber geknüpft worden war: gebrandmarkt und kochend heiß. Er wimmerte erstickt und hielt sich das Gesicht. Der Laut, den er von sich gab, schien durch die Luft zu kriechen, dennoch hatte er auf die Parkidylle nicht die geringste Wirkung. Die Leute um sie herum hätten ebenso gut Figuren in einem Gemälde sein können, selig in ihrem Bilderrahmen und sich nicht im Geringsten des kleinen Kindes bewusst, das auf dem Marmorboden der Galerie gerade einen Wutanfall bekam.

„So eine Scheiße“, sagte der Mann. „Verfluchter kleiner Wurm. M’lord, schauen Sie mal.“

„Verdammt und zugenäht“, war Georges Kommentar, während er auf Reggies Zunge starrte, auf der offenbar das Zwangssymbol glühte. Es fühlte sich jedenfalls so an. „Das hat er sich nicht selbst angetan. Trotzdem, ein Schweigezwang hat seine Grenzen. Es gibt Möglichkeiten, ihn zu umgehen.“ Er runzelte die Stirn. „Was ist es, Reggie? Spiel Scharade, wenn nötig. Schreib es auf, zeichne es in die Erde. Finde eine Möglichkeit.“

Bei dieser Vorstellung stieg in Reggie ein Rest Hoffnung auf. Als er versuchte, die Hände zu bewegen, brannten sie unter einer plötzlich aufblitzenden, strafenden Hitze, dann wurden sie ebenso stur unempfänglich wie seine Beine. Nein. Es würde für keinen von ihnen so leicht sein.

George hatte die Augen zusammengekniffen. „Na gut. Wo ist es jetzt?“

Reggie zuckte vollkommen aufrichtig die Schultern.

„Wo hast du es zuletzt gesehen?“

Der Schmerz des Zwangs pulsierte warnend, und Reggie wagte es nicht, seine Stimme auszuprobieren. Doch dieses Mal hoben sich seine Hände, als er es ihnen befahl, und er winkte fieberhaft.

„Ha“, sagte der andere Mann. „Jetzt kommen wir weiter.“

„In der Tat.“ George blickte wieder hinaus in den Park. Er wandte den Blick nach Norden, dann drehte er sich weiter, in einem langsamen Kreis wie jemand, der sich verirrt hatte und nach Orientierungspunkten Ausschau hielt. Als er sich einmal um die eigene Achse gedreht hatte, begann er einen eigenen Zauber aufzubauen, mit der eleganten Meisterhaftigkeit eines Juweliers, der winzige Zahnräder legt.

George spreizte die magisch aufgeladenen Hände, und ein Stadtplan erschien vor Reggie, als hätte jemand eine kleine Tischdecke ausgeschüttelt und über eine Leine gehängt. Blaue Linien leuchteten in der Luft vor einem Hintergrund aus Nichts. Die dickste Linie bildete die vertraute Schlange der Themse, an deren Seiten sich die Stadt ausbreitete.

Reggie tippte auf die ungefähre Lage seiner Behörde. Seine Finger trafen nichts Greifbares, doch der Stadtplan veränderte sich und zeigte einen wesentlich kleineren Ausschnitt von London. Der Fluss bildete die östliche und südliche Grenze, und im Westen erstreckte sich die Stadt bis hinaus nach Kensington und folgte der Nordgrenze des Hyde Park. Es war ein herrlicher Zauber. Reggie fragte sich, wie viele Einzelheiten er entdecken würde, wenn er immer weiter auf den Plan tippte.

„Nicht, wo wir jetzt sind, du Schwachkopf.“

Dieses Mal schaffte Reggie es, auf das Gebäude selbst zu zeigen: Ja, ironischerweise lediglich einen Steinwurf entfernt, östlich von ihrem jetzigen Aufenthaltsort, auch wenn Reggies Finger näher an Whitehall war als am Ende von St. James.

„Dein Büro?“ Zum ersten Mal klang George überrascht.

Reggie schaffte es zu nicken, ehe der Zwang strafend brannte. Er nahm es kaum wahr, als sich der Stadtplan flimmernd auflöste. Er hatte noch immer die Zunge herausgestreckt, als könne er so die Schmerzen wegschieben, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Die beiden Männer blickten durch den Park in Richtung des Gebäudes.

„Sollen wir …“, setzte der andere Mann an.

„Nein“, sagte George. „Und ich denke, das ist alles, was wir dem Schweigezwang entlocken können. Es genügt. Erledige das.“ George sah Reggie nicht an. „Wir sind hier fertig.“

Wieder bewegte der Mann mit der Mütze sich schnell. Das Zweitletzte, was Reggie sah, war der weiße Strom, der sich wie ein Spinnennetz erhob, um seinen ganzen Körper zu erfassen. Das Letzte war das Sonnenlicht, das auf dem Knauf von Georges Gehstock glänzte, während George durch den Vorhang seines eigenen Verhüllungszaubers spazierte und den Hügel hinabging, ohne Eile, ein Mann, der kein besonderes Ziel hatte, während Reggie seinen letzten Atemzug nahm.


2

Robin würde auf jeden Fall jemandem einen Faustschlag verpassen, noch ehe der Tag vorüber war.

Ganz oben auf seiner Liste idealer Kandidaten standen gerade der Gutsverwalter seiner Familie sowie der Kerl, der es heute Morgen auf der Treppe zum Innenministerium geschafft hatte, Robin mit seinem Regenschirm in den Fuß zu stechen. Und obwohl Robin niemals eine Frau geschlagen hätte, strapazierte der Ring seiner Stenotypistin, der unablässig auf deren Schreibtisch klopfte, seine Nerven noch mehr.

Robin riss sich zusammen. Er würde sich nicht als Tyrann aufspielen und das Mädchen wegen irgendwelcher Bagatellen anfahren, nicht an seinem allerersten Tag auf dieser Stelle. Er würde die Zähne zusammenbeißen und später in seinen Boxclub gehen, um seine Gefühle an einem willigen Gegner auszulassen.

Das Ring-Klopfen stoppte, als Schritte verkündeten, dass jemand das Vorzimmer betrat. Robin setzte sich an seinem Schreibtisch aufrechter hin und schob einen unordentlichen Aktenstapel einige Zentimeter nach links in einem zum Scheitern verurteilten Versuch, das Ganze weniger danach aussehen zu lassen, als wäre ein Wirbelsturm durch eine Bibliothek gefegt. Das war dann wohl sein Neun-Uhr-Termin.

Hoffentlich hatte der andere verdammt noch mal eine Ahnung, worum es bei diesem Treffen überhaupt ging.

„Mr. Courcey“, ertönte Miss Morrisseys Stimme. „Guten Mor– …“

„Ist er da?“

„Ja, aber …“

Die Schritte hielten nicht inne, und der Sprecher kam direkt ins Zimmer.

„Was hast du bloß getrieben, ich war …“ Schweigen folgte den Worten des Mannes, als sein Blick auf Robin fiel. Er blieb abrupt stehen, nachdem er einige Schritte in den Raum getreten war. Damit befand er sich nur noch wenige Schritte von Robins Schreibtisch entfernt; es war ein kleines Büro.

Robin schluckte. Weniger als eine Sekunde lang hatte Erleichterung in der Stimme des Neuankömmlings gelegen, und er hatte ein ziemlich charmantes Lächeln im Gesicht gehabt. Dieses war erschreckenderweise gänzlich verschwunden, sodass Robin beinahe glaubte, er hätte es sich nur eingebildet.

Der Mann nahm eine Ledermappe von einer Hand in die andere. Er war schlank und blass, mit hellem, farblosem Haar, und sein Gesicht war jetzt zu einem unerfreulichen Ausdruck verzogen, der nahelegte, dass er auf der Straße in etwas getreten war, dessen Geruch gerade erst seine Nase erreicht hatte.

Es war, wie Robin sehnsüchtig sinnierte, ein Gesicht, das in hohem Maße zum Hineinschlagen einlud.

„Was verflucht und zum Teufel noch mal ist das? Wo steckt Reggie?“

„Wer ist Reggie?“ Es war bereits ein schwieriger Morgen gewesen. Robin war sich nicht zu schade, unhöflich zu kontern, da ihm Unhöflichkeit geboten worden war. „Und wer sind Sie, da wir schon dabei sind?“

Ein blaues Augenpaar wurde schmaler. Sie waren der einzige Farbklecks in der Miene des Mannes – ja, sogar in dessen gesamtem Erscheinungsbild. Seine Kleidung war gepflegt, teuer geschnitten, doch alles in ebenso unscheinbaren und tristen Farben wie sein stumpfes Haar.

„Ich bin die Königin von Dänemark“, sagte er mit kaltem Sarkasmus.

Robin verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch, um sich nicht an der Schreibtischkante festzuklammern. Er war derjenige, der hierhergehörte, sosehr ihm das auch gegen den Strich ging. „Und ich bin Leonardo da Vinci.“

Miss Morrissey erschien im Türrahmen. Möglicherweise ahnte sie, dass Blut fließen würde, sollte der Ton noch schärfer werden. Robin gelang es, sie nicht mehr so anzustarren, wie er es bei ihrer ersten Begegnung vor knapp einer Viertelstunde getan hatte. Natürlich hatte er schon Menschen aus Indien getroffen – und ihm waren auch schon einige weibliche Staatsbeamte begegnet, so selten sie auch sein mochten. Doch er hatte niemals erwartet, dass ein Beispiel beider Kategorien sich ihm ruhig als Miss Adelaide Harita Morrissey, seine einzige Untergebene, vorstellen und ihn mit einer Reihe vorwurfsvoller Kommentare bombardieren würde. Dass der Minister wirklich schon eher einen Ersatz hätte finden können, ob Mr. Gatling auf einen neuen Posten versetzt worden sei, und es täte ihr leid, dass auf dem Schreibtisch eine solche Unordnung herrsche, doch vielleicht könnten sie sich diese vornehmen nach seinem ersten Termin in – du liebes bisschen, fünf Minuten, nehmen Sie schon Platz, und sollte sie ihm eine Tasse Tee bringen?

Jetzt legte Miss Morrissey der Königin von Dänemark die Hand auf den Arm. „Mr. Courcey“, sagte sie eilig. „Das ist Sir Robert Blyth. Er ist Mr. Gatlings Nachfolger.“

Robin zuckte innerlich zusammen, dann verfluchte er sich dafür. Früher oder später würde er sich an den verdammten Ehrentitel gewöhnen müssen.

„Sir Robert“, fuhr sie fort, „das ist Mr. Edwin Courcey. Er ist der Verbindungsbeamte für Sonderangelegenheiten. Sie werden hauptsächlich mit ihm zusammenarbeiten.“

„Nachfolger.“ Courcey nahm Miss Morrissey ins Visier. „Was ist mit Reggie passiert?“

Reggie, so viel hatte Robin inzwischen begriffen, war Gatling. Wenn dieser und Courcey freundschaftlich verkehrt hatten und Gatling sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinem Kollegen zu erzählen, dass er weitergezogen war – oder versetzt worden, da der Verwaltungsdienst Seiner Majestät manchmal so war –, hätte das dessen Überraschung erklärt, wenn nicht sogar dessen allgemein unwirsches Gebaren.

Miss Morrissey sah unzufrieden aus. „Niemand hat mir irgendetwas erzählt. Ich habe versucht, dem Büro des Ministers mitzuteilen – und auch der Vereinigung –, dass es selbst für Reggies Verhältnisse merkwürdig ist, ohne ein Wort vierzehn Tage lang zu verschwinden. Am Freitag erhielt ich eine knapp formulierte Mitteilung, in der stand, dass am Montag ein Nachfolger erscheinen würde. Und hier ist er.“

Courcey lenkte den Blick zu Robin. „Sir Robert. Mit wem, den ich kennen könnte, sind Sie verwandt?“

„Mit niemand Bestimmtem, dessen bin ich mir sicher“, sagte Robin durch die Zähne. Möglicherweise entsprach das nicht vollständig der Wahrheit, seine Eltern waren bekannt gewesen. Dafür hatten sie gesorgt. Aber schamloser Standesdünkel widerstrebte Robin.

„Ach, um Gottes …“ Courcey unterbrach sich. „Schätze, es spielt keine Rolle. Danke, Miss Morrissey.“

Die Schreibdame nickte und fegte wieder zurück zu ihrem eigenen Schreibtisch, wobei sie die Tür hinter sich zuzog.

Robin rutschte auf seinem Stuhl herum und versuchte, sich nicht eingesperrt zu fühlen. Es war wirklich ein beengtes Büro und dunkel obendrein. Das einzige Fenster versteckte sich betreten in der Nähe der Decke, als wollte es ausdrücken, dass es hier nur geduldet wurde und nicht beabsichtigte, etwas so Erfreuliches wie eine Aussicht zu bieten.

Courcey setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Robins Schreibtisch, öffnete seine Mappe, wobei er ein leeres Blatt zum Vorschein brachte, zog einen Stift aus seiner Westentasche und legte beides auf den Tisch, mit dem Habitus eines Mannes, der nicht darauf vorbereitet war, dass jemand seine Zeit verschwendete.

„Wie Miss Morrissey schon sagte, bin ich der Verbindungsbeamte zum Minister, was bedeutet …“

„Zu welchem Minister?“

„Ha“, machte Courcey säuerlich, als hätte Robin einen unlustigen Witz gemacht und nicht verzweifelt nachgefragt.

„Nein, ich meine es ernst“, sagte Robin. „Sie werden mir eine klare Antwort geben. Ich kann nicht den ganzen Tag hier herumsitzen und vorgeben zu wissen, was zum Teufel ich zu tun habe, denn ich weiß es nicht. Ich habe eine Stunde gebraucht, um heute Morgen hierherzufinden, und das größtenteils, indem ich an Türen geklopft habe. Assistent im Büro für spezielle Inlandsangelegenheiten und -beschwerden. Und das ist alles! Das gesamte Büro! Ich weiß nicht, unter welches Ministerium oder welches Amt es fällt! Ich weiß nicht einmal, an wen ich berichte!“

Courcey hob die Augenbrauen. „Sie berichten direkt an Asquith.“

„Ich … was?“

Das konnte auf keinen Fall stimmen. Diesen Niemands-Posten, so niedrig, dass keiner davon gehört hatte – und dennoch, murmelte ein Teil von Robins Hirn, hatte er seine eigene Schreibdame statt Zugang zu einem ganzen Raum von ihnen –, hatte man ihm gegeben, weil seine Eltern es geschafft hatten, sich die falsche Person zum Feind zu machen, und jetzt trug Robin die Folgen. Healsmith hätte nicht so selbstgefällig ausgesehen, wenn er Robin eine Stelle gegeben hätte, die direkt dem Premierminister unterstellt war.

Courceys Mund hatte jetzt etwas von einer Zitrone. „Sie wissen wirklich nicht einmal, wozu diese Stelle gedacht ist.“

Unbehaglich zuckte Robin mit den Schultern.

„Sonderangelegenheiten. Verbindungsbeamter.“ Courcey machte etwas mit seinen Händen, bewegte seine Finger aufeinander zu und wieder auseinander. „Speziell. Sie wissen schon.“

„Sind Sie etwa eine Art … Spion?“, wagte Robin eine Vermutung.

Courcey öffnete den Mund. Schloss den Mund. Öffnete ihn wieder. „Miss Morrissey!“

Die Tür öffnete sich. „Mr. Courcey, Sie …“

„Was“, sagte Robin, „macht Ihr Stift da?“

Es entstand eine lange Pause. Die Bürotür schloss sich wieder. Robin blickte nicht auf, um sich zu vergewissern, dass Miss Morrissey klugerweise auf der anderen Seite geblieben war. Er war zu sehr damit beschäftigt, auf Courceys Stift zu starren, der auf der Spitze stand. Nein – er bewegte sich, wobei die Spitze emsig Schnörkel aufs Papier malte. Das Datum stand rechts oben: Montag, 14. September 1908. Die Tinte – blau – war noch nicht getrocknet. Während Robin zusah, stahl sich der Stift zurück zum linken Rand des Blatts und verharrte dort wie ein Dienstbote, der hoffte, dass niemand ihn dabei beobachtet hatte, wie er beinahe das Salzfässchen hatte fallen lassen.

Courcey sagte: „Es ist ein ganz einfacher …“, dann brach er ab. Vielleicht war ihm klar geworden, dass er das Wort einfach für etwas verwendete, das alles andere war.

Vielleicht auch nicht.

Robins Kopf war seltsam leer, wie manchmal nach einer besonders gemeinen Prüfung, als hätte er dessen brauchbaren Inhalt mit den Fingern herausgeschöpft und grimmig aufs Papier geschmiert. Das letzte Mal hatte er sich so gefühlt, als er erfahren hatte, dass seine Eltern tot waren. Statt Überraschung das hier. Ein erschöpfter, ausgelaugter Geisteszustand.

Robin bewegte die Hand zwischen dem Stift und der Zimmerdecke. Nichts. Keine Drähte. Er wusste nicht einmal, wie so etwas mit Drähten hätte funktionieren sollen. Doch die Handlung erschien notwendig, der letzte Seufzer der Vernunft, ehe Akzeptanz hereinströmte.

In einem erbärmlichen Versuch, lässig zu wirken, sagte er: „Das heißt, als Sie Sonderangelegenheiten sagten …“

Courcey betrachtete Robin jetzt so, als gehöre dieser einer ungewöhnlichen Spezies an, der man in der Wildnis begegnete und die ein großes Maul voller noch größerer Zähne besaß. Kurz gesagt sah er aus, als sammle er seine Kräfte für einen Ringkampf und frage sich, warum Robin noch nicht zugeschlagen hatte.

Sie starrten einander an. Das schwache Licht blieb an den fahlen Spitzen von Courceys Wimpern hängen. Er war kein attraktiver Mann, doch Robin war von anderen Männern bisher nur als Auftakt zu Sex auf diese Weise gemustert worden, und allein diese intime Intensität sandte verwirrende Signale durch Robins Körper.

„Wissen Sie“, sagte er, „langsam kommt mir der Verdacht, dass hier ein Irrtum vorliegt.“

„Wie scharfsinnig von Ihnen“, sagte Courcey, noch immer angespannt wie ein Löwendompteur.

„Möglicherweise fehlt mir die eine oder andere wesentliche Qualifikation für diese Stelle.“

„In der Tat.“

„Ich nehme an, Ihr Kamerad Gatling konnte ebenfalls mit einem Fingerschnippen Tauben aus seinen Schreibtischschubladen zaubern?“

„Nein“, sagte Courcey, wobei er die Silbe in die Länge zog wie Karamell. „Diese Stelle gehört noch zum Innenministerium, es ist keine Position für einen Magier. Ich bin der Kontaktmann zum Ministerpräsidenten der Magiervereinigung.“

„Magier. Magisch. Magie.“ Robin warf wieder einen Blick auf den Stift. Er schwebte weiterhin gelassen vor sich hin. Er holte tief Luft. „In Ordnung.“

„In Ordnung?“ Der gereizte Ton ließ Courcey menschlicher wirken und passte zu dem, was in dessen Gesicht aufleuchtete. „Ernsthaft? Ich soll Ihnen abnehmen, dass dies das erste Mal ist, dass Sie auf irgendeine Art von Magie gestoßen sind, und Sie sitzen da, ohne auch nur … und das Beste, was Sie aufbringen können, ist in Ordnung?“ Die blauen Augen musterten ihn erneut. „Soll das ein Scherz sein? Hat Reggie Sie dazu angestiftet?“

Es schien ein wenig zu spät zu sein, um eine solche Frage zu stellen. Robin war nach Lachen zumute. Doch Courcey hatte keine so gewöhnliche Empfindung wie Hoffnung ausgestrahlt. Das Licht in seinem Gesicht hatte sich zurückgezogen, als wäre jemand, der eine Kerze an ein Glas hielt, einige Schritte zurückgetreten. Nun war sein resignierter Ausdruck der eines Menschen, über den des Öfteren gescherzt wurde und der wusste, dass man von ihm erwartete, mitzulachen, selbst wenn die Witze eher grausam als lustig waren. Robin hatte diesen Ausdruck bei den Gästen der verschwenderischen Abendgesellschaften seiner Eltern aufflackern sehen, und die Person, die die Witze machte, war meist Lady Blyth selbst gewesen.

„Das ist kein Scherz“, erklärte er mit fester Stimme. „Was soll ich denn stattdessen sagen?“

„Sie sind nicht im Begriff, anzudeuten, dass Sie wohl gerade den Verstand verlieren?“

„Ich fühle mich nicht, als hätte ich den Verstand verloren.“ Robin streckte die Hand aus und berührte den Stift. Er hatte nicht erwartet, ihn bewegen zu können, doch der Stift ließ sich packen und in der Luft umherziehen. Als er ihn losließ, glitt er zurück, um am Rande des Blattes schwebend zu verharren.

„Woher weiß er, was Sie von ihm wollen?“

„Er hat kein Bewusstsein“, sagte Courcey. „Es ist eine Durchtränkung.“

„Eine was?“

Courcey holte tief Luft und verschränkte die Hände. Robin, der auf Pembroke unter weit ausholenden Tutoren gelitten hatte, erkannte die Vorzeichen und wappnete sich.

Wie zu erwarten gewesen war, ergaben die Worte schnell keinen Sinn mehr. Anscheinend war Magie grundsätzlich genauso knifflig wie lateinische Grammatik und erforderte dieselbe Detailgenauigkeit, selbst wenn man nur etwas konstruierte, das Courcey als geringfügige Objekt-Durchtränkung beschrieb.

Der Stift, offenbar ergriffen von dem Wunsch, nützlich zu sein, schrieb alles, was Courcey sagte, in ordentlicher, spitzer Schrift auf. Doch auch schriftlich ergab das Ganze nicht mehr Sinn. Robins Blick blieb an dem Ausdruck wie ein juristischer Vertrag hängen, als Courcey erklärte, dass britische Magier eine knappe Geste verwendeten, die sie „Fadenknüpfen“ nannten, um die Bedingungen jeglichen Zaubers zu definieren, einschließlich derer, die es einem unschuldigen Stift ermöglichten, eifrig übers Papier zu flitzen.

„Unterschreibt der Stift den Vertrag dann selbst?“, fragte Robin, der kaum noch folgen konnte. Das brachte ihm einen weiteren misstrauischen Blick und zusammengepresste Lippen ein. Courcey fühlte sich eindeutig wieder auf die Schippe genommen. „Zeigen Sie mir etwas anderes“, versuchte Robin es stattdessen. „Irgendetwas.“

Courcey zog ein Stück seiner Lippe zwischen die Zähne. Er holte etwas aus derselben Tasche, die auch den magischen Stift beherbergt hatte, und warf einen Blick über die Schulter, als wolle er sich vergewissern, dass die Tür geschlossen war.

Robins Kopfhaut prickelte vor Aufregung. Er glaubte nicht, dass Courcey ihm tatsächlich schaden wollte, der Mann war viel zu kratzbürstig. Wenn er versucht hätte, liebenswürdig zu sein, dann hätte Robin sich Sorgen gemacht.

Was Courcey aus seiner Tasche gezogen hatte, war eine Schlaufe aus schlichter brauner Schnur, die er sich um beide Hände wickelte; dann hielt er sie etwa fünfundvierzig Zentimeter auseinander, wodurch sich die Schnur spannte.

„Wie beim Fadenspiel“, meinte Robin, und dann: „Oh“, als es ihm dämmerte. „Fadenknüpfen.“

„Ja. Und jetzt seien Sie still.“ Wieder verschwand die Lippe zwischen den Zähnen. Courceys helle Augenbrauen zogen sich zusammen.

Das Fadenspiel war eine Aktivität für zwei: Einer hielt die Schnüre, der andere nahm sie und zog sie in eine neue Position. Courcey spielte allein, und das komplexe Muster, das sich bildete, als er die Finger bewegte und mit den Daumen Schnüre umherschob, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Katzenwiege oder der Futterkrippe oder irgendeiner anderen Figur, an die sich Robin aus Kindertagen erinnerte.

Robins eigene Hände, die auf dem Schreibtisch lagen, fühlten sich langsam an, als hielte er sie an die offene Tür eines Eisschranks. Er konnte sich beinahe vorstellen, dass sein Atem anfing, Wolken zu bilden, wie er das im Winter tat, und Courceys Atem ebenfalls.

Dem war tatsächlich so.

Der Nebel zwischen ihnen wurde eine einzige dichte Wolke, ein weißer Klumpen von der Größe einer Walnuss. Courceys Finger bewegten sich weiter wie geschmeidige Häkelnadeln. Nachdem fast eine ganze Minute verstrichen war, erschien etwas Glitzerndes.

Robin war nie von der Sorte gewesen, die über die Fortschritte der Royal Society nachgrübelten, und hatte noch nie selbst ein Auge an ein Mikroskop gesetzt. Dennoch erkannte er diese Form. Die Schneeflocke war nicht größer als ein Penny, doch sie reflektierte das Licht, das winzige Komplexitäten und aufblitzende Farben zeigte. Sie wuchs noch immer.

In Courceys Miene erschien nun etwas anderes als Geringschätzung – als würde man mit der äußersten Pinselspitze Wasserfarbe auf ein feuchtes Blatt Papier geben. Konzentration. Befriedigung. Er behielt die wachsende Schneeflocke im Blick und zupfte wieder und wieder mit dem Zeigefinger an einer einzigen Stelle des wirren Netzes, wobei er einen stetigen Rhythmus beibehielt.

Als die Schneeflocke die Größe eines kleinen Apfels erreicht hatte, bewegten sich Courceys Finger schneller. Die Schneeflocke sank hinab und tropfte in einer Wasserpfütze auf Robins Schreibtisch.

Eine Reaktion schien angebracht. Robin fehlten die Worte. Er hatte jähen Schmerz empfunden, als die Schneeflocke, so sorgsam erschaffen, geschmolzen war. Er war auf stille, erstaunliche Weise entzückt, dass Courcey bei all seinem kurz angebundenen, pragmatischen Verhalten eine so hübsche Art von Magie ausgewählt hatte, um sie Robin zu zeigen. Er wollte sagen, dass die Schneeflocke ihn an ein Gemälde des Franzosen Monet erinnerte, das erst letztes Jahr bei einer Benefizauktion seiner Eltern verkauft worden war, doch er war zu verlegen.

„Das war schön“, sagte er letztlich. „Kann das jeder? Wenn es nur darum geht – Verträge zu schließen und zu lernen, wie man die Hände bewegt.“

„Nein. Man wird entweder mit Magie geboren oder nicht.“

Robin nickte erleichtert. Die ganze Sache war noch immer seltsam, faszinierend und kaum zu glauben. Doch er glaubte daran, und niemand würde von ihm erwarten, dass er irgendeinen akkuraten Vertrag mit einer immateriellen Macht abschloss, indem er mit den Fingern fuchtelte, daher wirkte es wie etwas, mit dem er leben konnte.

„Aber wenn das hier eine Position für Leute ist, die nicht damit geboren wurden“, sagte er, „müssen Sie es doch sicher gewohnt sein zu erklären, wie besonders diese Sache ist.“

„Üblicherweise berät der Ministerpräsident bei der Ernennung. Sie nehmen den Cousin von irgendjemandem. Jemandem, der keine Magie hat, aber über Magie Bescheid weiß.“ Courcey runzelte die Stirn. „Minister Lorne ist ein Freund des Ministerpräsidenten, er hat immer verstanden …“

„Oh“, machte Robin. „Nein, es war nicht Lorne. Er ist beurlaubt. Irgendetwas mit der Gesundheit seiner Frau. Healsmith ist derjenige, der mir die Tätigkeit übertragen hat.“

Courcey schüttelte den Kopf, wobei sich sein Stirnrunzeln vertiefte. „Kenne ich nicht. Und wenn er nichts davon weiß … Teufel noch mal, was für ein Chaos! Und nichts davon erklärt, wohin Reggie verschwunden ist und warum der Posten überhaupt frei war.“ Er stand auf, steckte sowohl den Stift als auch die Schnur ein, nahm seine Mappe und wandte sich zum Gehen.

„Warten Sie“, platzte Robin heraus. „Wir haben doch … einen Termin?“

„Mich um eine Entscheffelung zu kümmern, reicht für heute. Ich habe keine Zeit, Ihnen dazu noch Schritt für Schritt die Arbeit zu erklären. Fragen Sie Miss Morrissey – es klingt, als hätte sie ohnehin die Führung übernommen.“ Er tippte auf die Mappe. „Das hier hat bis morgen Zeit.“ Der Anflug von Emotionalität war wieder verschwunden. Sein Blick drückte aus, dass Courcey nicht unglücklich sein würde, bei seiner Rückkehr festzustellen, dass Robin ebenso plötzlich aus diesem Büro wieder verschwunden war, wie er aufgetaucht war.

Courcey ging. Robin fuhr mit der Fingerspitze durch die kleine Pfütze auf seinem Schreibtisch, verteilte die Flüssigkeit.

„Sir Robert?“

„Miss Morrissey.“ Robin zwang sich zu lächeln. Allein das bewirkte, dass sich seine Schultern entspannten.

Seine Schreibdame schloss die Bürotür und lehnte sich dagegen. „Mein Gott, was für ein Chaos!“

„Das hat Courcey auch gesagt.“

„Ich wusste nicht, dass Sie nicht Bescheid wussten.“ Miss Morrisseys Version des Löwendompteur-Blicks war erschreckenderweise furchtloser als die von Courcey. Sie sah aus, als kalkuliere sie gerade den gängigen Preis für Löwenfelle. Robin kalkulierte, wie wahrscheinlich es war, dass sie die letzten Minuten ein Glas an die Tür gehalten hatte. „Ich war noch nie in eine Entscheffelung verwickelt. Was hat er Ihnen gezeigt?“

„Entscheffelung?“

„›Wir sind der Menschheit herrliches Licht‹? Oh, das kennen Sie natürlich nicht … in der englischen Umgangssprache ist der Begriff offensichtlich biblisch – ›das Gleichnis vom Licht unter dem Scheffel‹ –, und die Franzosen sagen déclipser. Das ist deren Vorstellung von einem Wortspiel. Auf Panjabi hat das Wort nichts mit Licht zu tun, es ist entweder eine Schlangenhaut, die man ablegt, oder die Flut, die sich zurückzieht, je nachdem, wo man ist …“

„Halt“, sagte Robin. Das war wirklich, als sei er wieder an der Universität. „Bitte, Miss Morrissey. Tun Sie so, als sei ich sehr dumm. Einfache Formulierungen.“

„Entscheffelung. Eine Enthüllung von Magie.“ Miss Morrissey blickte entschuldigend drein. „Vielleicht sollte ich den Tee holen?“

„Tee“, sagte Robin erleichtert. „Genau das Richtige.“

Fünfzehn Minuten später hatten sie gemeinsam die Kanne geleert, ebenso wie einen Teller mit Butterkeksen. Robin hatte erfahren, dass Adelaide Harita Morrissey zunächst die Aufnahmeprüfung für die Arbeit im Hauptpostamt bestanden hatte und dann von Minister Lorne persönlich von einer Stelle als Gruppenleiterin weggeholt worden war, da er und ihr Großvater Mitglieder im selben Club waren und dieser ihren Namen hatte fallen lassen, als Lorne gerade auf der Suche gewesen war nach jemandem – „wie mir“, erklärte sie durch Kekskrümel hindurch. „Wie Reggie – Mr. Gatling.“

„Sie haben also keinerlei … Magie?“

„Keinen Tropfen“, sagte sie fröhlich. „Es ging alles an meine Schwester. So, dann wollen wir Sie mal richtig einarbeiten.“

Wie Robin feststellte, beinhaltete die Arbeit als Assistent im Büro für spezielle Inlandsangelegenheiten und -beschwerden eine verwirrende Mischung aus Analyse von Geheimdienstinformationen, Hellsehen und Fungieren als besserer Laufbursche. Er sollte Beschwerden, Briefe und reißerische Zeitungsartikel durchgehen und einschätzen, in welchen davon echte Magie vorkam. Alles Verdächtige sollte er zusammentragen und an den Kontaktmann weitergeben. Courcey.

Im Gegenzug würde Courcey ihm von allem Bevorstehenden erzählen, das von gewöhnlichen Menschen bemerkt werden könnte oder worüber der magische Beamtenapparat den Premierminister informieren wollte. Mittwochnachmittags um zwei würde Robin Bericht erstatten.

Beim Premierminister. Persönlich. Es war wirklich verrückt.

Einer der Wirbelsturm-Stapel auf dem Schreibtisch war Post, einiges davon war an Gatling selbst adressiert und noch ungeöffnet. Die Briefe, die an das Büro allgemein gerichtet waren, waren mit einem Brieföffner ausgenommen und dann gewissenhaft zurück in den Umschlag gestopft worden.

„Das meiste davon mache eigentlich schon seit Wochen ich“, sagte Miss Morrissey und strich mit dem Finger über den unregelmäßigen Rand eines geöffneten Kuverts. „Reggie hat mich ziemlich in der Tinte sitzen lassen, auch schon, ehe er verschwand. Er ist im ganzen Land herumgereist. Auf der Jagd nach Berichten, wie er sagte. Er verhielt sich, als sei er etwas sehr Wichtigem und Mysteriösem auf der Spur, aber ich dachte, ihm wäre einfach langweilig.“ Nachdenklich drehte sie den Ring an ihrem Mittelfinger.

„Er war noch nie sonderlich geeignet dafür, geduldig an einem Schreibtisch zu sitzen.“

„Ihnen ist doch wohl klar, dass das alles ein absurder Irrtum war“, sagte Robin. „Wie soll ich heraussuchen, was … Ihre Angelegenheiten sind und was reiner Unsinn? Ich bin hiermit nicht aufgewachsen. Ich werde nur im Trüben fischen.“

Miss Morrisseys beredter Blick hätte Robin genauso gut anklagen können, sie wieder zurück in die Tinte zu stoßen.

Robin wurde weich. „Aber natürlich helfe ich, so viel ich kann. Bis Courcey mit seinem Ministerpräsidenten spricht und das alles ausgebügelt bekommt. Bis jemand Geeignetes meinen Platz einnehmen kann. Es dauert sicher nur ein paar Tage.“

28. Juni 1969 – die Geburtsstunde der Pride-Bewegung

In ihrem ebenso dramatischen wie emotionalen Roman „Pride began on Christopher Street“ erzählen Christian Handel und Andreas Suchanek nicht nur von einer außergewöhnlichen queeren Liebe, sondern auch von der Geburtsstunde des Christopher Street Day. 

Blick ins Buch
Pride began on Christopher StreetPride began on Christopher Street

Roman

Eine unwahrscheinliche Liebe, ein unerbittliches Gesetz, ein großer historischer Moment – ein gefühlvoller Roman über das Recht zu lieben, wen man will 

In ihrem historischen Roman „Pride began on Christopher Street“ verknüpfen Christian Handel und Andreas Suchanek die dramatischen Ereignisse, auf die der Christopher Street Day zurückgeht, mit einer tief bewegenden queeren Liebesgeschichte. 

New York 1969: Den Polizisten Jake und den schwulen Freigeist Finn trennen das Gesetz, ihre Herkunft und ihre Vorstellung davon, wen man lieben darf. Dennoch rettet Jake Finn vor einem brutalen Polizeiübergriff. Denn Jake ist selbst schwul, ohne es sich einzugestehen, und zwischen ihnen funkt es sofort. Obwohl sie in ihren Vorurteilen über den anderen gefangen sind, nähern sie sich an. Als sich in der Nacht auf den 28. Juni 1969 im Stonewall Inn in der Christopher Street die Bar-Besucher erstmals gegen die Polizei wehren, müssen sich die beiden entscheiden, auf welcher Seite sie stehen … 

Der 28. Juni 1969 wird im Roman für Jake und Finn zum Schicksalsmoment für ihre Liebe – und in der Realität schrieb dieser Tag Geschichte: Der Stonewall-Aufstand in der Christopher Street wird zum Wendepunkt der LGBTQIA⁺-Bewegung im Kampf um Gleichbehandlung und Anerkennung . 

In ihrem ebenso dramatischen wie emotionalen Roman „Pride began on Christopher Street“ erzählen Christian Handel und Andreas Suchanek nicht nur von einer außergewöhnlichen queeren Liebe, sondern auch von der Geburtsstunde des Christopher Street Day. 

Schon ein Jahr nach dem Aufstand wird das Ereignis in New York mit einem Gedenkmarsch gewürdigt. Heute finden Pride-Paraden, im deutschen Sprachraum oft Christopher Street Day (CSD) -Paraden, weltweit statt als buntes Fest der Diversität.

Kapitel 1

Das Stonewall Inn war wie jeden Freitag brechend voll, die Luft dick vom Zigarettenqualm, der Geruch nach Schweiß und Eau de Cologne überwältigend. Ebenso wie das Stimmengewirr der ausgelassenen Gäste, das sich mit den Tönen von Shirley Basseys This Is My Life zu einer Kakofonie vermischte, die nach dem nächtlichen Spaziergang von dem Theater, in dem Finn arbeitete, bis hierher an seinen Nerven zerrte. Fast dreiundzwanzig Uhr. Ob die anderen sauer auf ihn waren, weil er sich verspätet hatte?

Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, im Gewühl um sich herum seine Freunde zu erspähen. Das von innen und außen schwarz gestrichene Fenster am Eingang der Bar ließ kein Licht herein, und die spärliche Beleuchtung durch die wenigen von der holzvertäfelten Decke herabhängenden Lampen machte es schwer, weiter als nur ein paar Meter zu sehen.

Doch nach einem Moment entdeckte er Gloria und Ricardo nahe der Jukebox in ein Gespräch vertieft – vermutlich ging Shirley Bassey sogar auf Ricardos Konto. Maggie hingegen sah er nirgends. Machte sie die Tanzfläche im Hinterraum unsicher?

Statt zu den anderen zu gehen, drängte sich Finn durch das Gewühl zur Theke, die sich beinahe über die ganze Länge des schlauchförmigen Schankraums zog, und bestellte Getränke: zwei Bier und einen Cocktail.

Mit einem Glas in der einen und den beiden Bierflaschen in der anderen Hand versuchte er dann, sich bis zur Jukebox durchzukämpfen, ohne allzu viel zu verschütten.

„Der verlorene Sohn!“, kreischte Gloria überschwänglich und breitete die Arme aus, als sie ihn auf sich zustolpern sah. Darauf, dass sie dabei den Umstehenden ihren puscheligen Ärmelsaum ins Gesicht schleuderte, achtete sie gar nicht. „Na, du hast dir ja Zeit gelassen“, rügte sie Finn und betrachtete ihn mit strengem Blick.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Ich wurde aufgehalten.“

„Und ich kann mir lebhaft vorstellen, von wem. Ist der für Mama?“ Sie deutete auf den Cocktail.

Finn nickte.

„Guter Junge.“ Gloria pflückte das Glas aus seiner Hand und beäugte die Flüssigkeit im schummrigen Licht.

„Dirty Martini“, erklärte er für den Fall, dass sie nicht selbst draufkam.

Sie seufzte theatralisch. „Dirty bestimmt.“ Sie führte das Glas an die Lippen und nippte daran. „Hat der Barkeeper überhaupt Alkohol reingeschüttet?“

„Ach, hab dich nicht so“, wiegelte Finn ab, obwohl er genau wusste, was Gloria meinte. Wie er liebte sie das Stonewall, aber die Gläser waren schmuddelig und die Longdrinks ordentlich mit Wasser gestreckt.

Er stellte eine Bierflasche zwischen seine Füße auf den klebrigen Boden, lehnte sich an die Wand und stieß mit Ricardo an, der ebenfalls ein Bier in der Hand hielt. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit trug Ricardo einen Schal um den Hals, Lippenstift im Gesicht und eine Perücke auf dem Kopf. So zerrupft, wie sie aussah, hatte sie das vergangene Jahrzehnt in Glorias Schrank vor sich hin gegammelt.

„Was hast du denn heute noch vor?“, fragte Finn ihn.

Ricardo verdrehte die Augen. „Wette verloren. Du erinnerst dich vielleicht.“

„Sei lieb zu ihm“, wies Gloria Finn an, ehe er etwas sagen konnte. „Sag ihm, dass er toll aussieht.“

„Du siehst toll aus, Principessa.“

„Du mich auch“, erwiderte Ricardo. „Wann bringst du deinen Tjorben endlich mal mit hierher?“

Punkt für ihn.

„Er heißt Tjorge, nicht Tjorben“, korrigierte Finn. „Und er ist nicht mein Tjorge.“

„Dafür lässt du dich in den letzten Wochen ganz schön oft von ihm … aufhalten.“

„Wie dem auch sei. Deinen Bruce sehe ich hier auch nirgendwo.“

Darum war es auch nicht schade. Finn liebte Ricardo, dessen Freund hingegen konnte er nichts abgewinnen.

„Du weißt, dass Bruce Schuppen wie diesen hier nicht mag“, verteidigte Ricardo ihn.

Finn schnalzte mit der Zunge. „Ich sag doch, dein Freund ist komisch.“

„Still, Finn“, unterbrach ihn Gloria und wandte sich dann an Ricardo. „Ärger dich nicht. Du weißt doch: Unser Finn glaubt nicht an die Liebe. Sie hat ihn verbittert.“

„An die Liebe schon“, widersprach Finn. „Nur nicht an langfristig glückliche Beziehungen.“ Um das Thema zu wechseln, deutete er auf Glorias lilafarbenen Hosenanzug. „Neu?“

„Das alte Ding? Hab ich mir schon vor über zehn Jahren gekauft.“ Sie stemmte die Linke in die Hüfte und verbog den Körper zu einer dramatischen S-Kurve. „Passt mir aber immer noch wie angegossen.“

„Heiß, Mama!“, rief ihr ein anderer Gast zu.

Auf Glorias Lippen zeigte sich ein zufriedenes Lächeln. „Danke, Schätzchen!“, rief sie über den Gesang der Supremes hinweg, deren Stimmen inzwischen aus der Jukebox tönten.

Mit ihren zweiundvierzig Jahren war Gloria deutlich älter als die meisten Gäste im Stonewall, aber sie galt als Institution im Greenwich Village und besuchte die Bar seit der Neueröffnung als Gay Club vor zwei Jahren regelmäßig – zumindest seit dem Zeitpunkt, an dem die Türsteher auch Queens hereingelassen hatten. Solche gab es viele im Viertel, aber wenige regierten bereits so lange wie Gloria.

Finn war einer der wenigen hier, der sie ohne Make-up gesehen hatte, und obwohl er seit Jahren als Untermieter bei ihr lebte, war das auch für ihn nicht oft vorgekommen. Sie waren schon eine ungewöhnliche WG: Gloria, Maggie und er – eine Dragqueen, die schillernde Farben liebte, eine Lesbe, die ausgerechnet für die Regierung arbeitete, und er, ein Schwuler, der sexuell selten etwas anbrennen ließ und in seiner Freizeit am liebsten Science-Fiction-Bücher las.

„Wo ist eigentlich Maggie?“, fragte er.

„Ist bereits abgezogen“, teilte Gloria ihm mit. „Mit einer langmähnigen Rothaarigen.“

„Wenn sie sich an der mal nicht die Finger verbrennt“, fügte Ricardo hinzu.

Finn starrte nach unten. „Und was mache ich jetzt damit?“

Gloria warf einen vielsagenden Blick auf seinen Schritt. „Ich sag’s ja nicht gern, Schätzchen. Aber inzwischen solltest du gemerkt haben, dass Maggie damit nichts anfangen kann.“

„Ich meine das zweite Bier.“ Er schielte zu Ricardo, doch der schüttelte den Kopf.

„Ich habe genug für heute, muss morgen früh raus.“

„Arbeit?“

Ricardo hob die muskulösen Schultern. „Frühschicht. Das hier ist mein letztes.“ Er setzte die Bierflasche an die Lippen und trank.

Finn tat es ihm gleich und versuchte, nicht allzu enttäuscht zu sein. Maggie war schon abgezischt, und Gloria würde sicher auch gleich aufbrechen. Mama brauchte ihren Schönheitsschlaf, wie sie so gern sagte. Und es war ja nicht ihre Schuld, dass er eine ganze Stunde zu spät gekommen war.

„Gib es doch dem Typ da drüben.“ Ricardo deutete in eine der schummrigen Ecken.

Finn vermutete, dass der Kerl, der dort stand, ungefähr in seinem Alter war. Er trug die dunklen Haare kurz, war frisch rasiert und hübsch, wirkte aber ein bisschen verkrampft. Als Finns Blick dem seinen begegnete, hielt er ihm stand. Zumindest, bis Finn die Flasche hob und ihm zuprostete. Der Mann zögerte, hob dann jedoch ebenfalls sein Getränk. Bier aus einem Glas.

Anfängerfehler. An den Tresen gab es keine Wasserleitungen, weshalb über Stunden dieselbe Brühe zum Spülen der Gläser verwendet wurde.

„Der beobachtet dich bereits, seit du hier angekommen bist“, behauptete Ricardo.

„Wirklich?“

„Ja. Ich muss ohnehin gleich los, geh doch mal rüber.“

„Und dann was?“

Gloria schnaubte. „Als ob man dir das sagen müsste, Finn-Schätzchen.“

„Na, mach schon“, feuerte Ricardo ihn an. „Der ist vielleicht kein norwegischer Tänzer …“

„Tjorge stammt aus Stockholm.“

„Sag ich doch. Aber der Kerl ist immerhin hier und nicht bei einer vollbusigen Blondine an der Upper East Side.“

Finn reckte das Kinn. „Ach, komm schon, du weißt, dass zwischen Tjorge und Evelyn nichts läuft. Die beiden …“

„… tun nur für die Presse so, als ob sie ein Paar wären“, unterbrach ihn Ricardo und verdrehte die Augen. „Schon klar. Ich hab’s kapiert.“

„Und es ist ja nicht so, als ob wir ein Paar wären.“

„Natürlich nicht. Du lässt dich nur gern“, Ricardo malte Gänsefüßchen in die Luft, „von ihm aufhalten.“

„Schluss jetzt, ihr beiden.“ Gloria blickte sie streng an.

„Ach was“, neckte Ricardo sie. „Für dich finden wir bestimmt auch noch jemanden.“

Sie verdrehte die Augen. „Der Zug ist abgefahren.“

„Quatsch!“, protestierte Finn. Gloria bekam bloß ihren Ex nicht aus dem Kopf.

„Wie wär’s denn mit dem dort im Anzug?“, schlug Ricardo vor. „Auf solche Typen stehst du doch?“

Finn und Gloria drehten gleichzeitig die Köpfe. Als sie den Typ, von dem Ricardo sprach, entdeckten, brach Finn in Lachen aus und Gloria versetzte Ricardo eine Kopfnuss.

„Willst du mich verarschen?“, fragte sie.

„Der Typ ist eine Frau“, klärte Finn ihn auf. „Sag bloß, du kennst sie nicht?“

Als Ricardo ungläubig und offensichtlich ahnungslos zu der Person im Anzug starrte, die lässig an der Backsteinwand lehnte und das bunte Treiben beobachtete, erbarmte sich Finn seiner.

„Das ist Stormé DeLarverie.“

„Die Stormé? Stormy?“

„Du bist ihr ernsthaft noch nicht begegnet?“

DeLarverie war eine Ikone in New York. Seit über zehn Jahren schon tourte sie als Herrenimitatorin mit der Jewel Box durchs Land, einer Revuegruppe, deren fünfundzwanzigköpfige Tänzerinnenriege ausschließlich aus Queens bestand. DeLarverie, die als männlicher Sänger dort auftrat, war die einzige Frau der Truppe. Seit einigen Jahren lebte sie in New York und ließ sich oft im Village blicken. Finn hatte angenommen, Ricardo sei ihr bereits begegnet. Der zuckte allerdings hilflos mit den Schultern.

„Ich habe vor ein paar Jahren einen Auftritt von ihr im Apollo Theater gesehen“, berichtete Gloria. „Un-glaub-lich! Und das nicht nur, weil das eine der wenigen Shows ist, in denen nicht nur weiße Künstler auftreten. Und ihre Stimme!“ Sie legte die Hand auf die Brust und sah zur Decke.

„Jetzt klingst du ganz schwärmerisch“, neckte Ricardo sie.

Gloria packte ihn an der Schulter. „Wir gehen jetzt nach Hause.“

„Mögt ihr nicht doch wenigstens noch auf ein weiteres Getränk bleiben?“, bat Finn.

Seine Freunde schüttelten gleichzeitig die Köpfe.

„Wie gesagt, ich muss morgen früh raus“, wiederholte Ricardo.

„Und ich muss dringend auf das stille Örtchen“, platzte Gloria heraus. „Und das erledige ich auf keinen Fall in diesem Höllenloch.“

Das konnte Finn verstehen. Dass das Stonewall keinen Wasseranschluss hatte, sorgte nicht nur dafür, dass die Gläser mit Voranschreiten des Abends immer schmutziger wurden, sondern erwies sich für die sanitären Anlagen als Katastrophe.

„Zieh nicht so ein Gesicht, Finn“, befahl ihm Gloria. „Geh einfach rüber zu dem Schnuckelchen, dann hast du uns gleich vergessen. Er schaut schon wieder zu uns. Aber brich ihm nicht das Herz!“

„Sehr witzig“, erwiderte Finn, verabschiedete sich allerdings ohne Widerspruch von seinen Freunden.

Die Idee, mit dem dunkelhaarigen Fremden zu sprechen, gefiel ihm. Vielleicht war es das Jagdfieber, der Gedanke an die Suche nach einem heißen Flirt – oder nach ein bisschen mehr. Es stimmte zwar, dass zwischen Tjorge und ihm nichts anderes lief als regelmäßiger Sex in der Abstellkammer des Theaters, aber das immerhin seit einem halben Jahr. Obwohl Finn selbst nicht mehr wollte als Spaß, nervte es ihn manchmal, dass Tjorge jedes seiner Angebote ausschlug, gemeinsam tanzen oder essen zu gehen, und an seiner Scheinbeziehung mit Evelyn festhielt. Der Typ in der Ecke mochte trotz seines Alters ein Grünschnabel in der New Yorker Schwulenszene sein, aber im Gegensatz zu Finns schwedischem Tänzer war er wenigstens hier.

„Hi“, begrüßte er ihn, als er dicht vor ihm stehen blieb.

„Hi“, antwortete der andere mit unbewegter Miene, doch Finn bemerkte, wie er den Rücken durchdrückte.

„Bist du zum ersten Mal hier?“

Der Gesichtsausdruck des Mannes bekam etwas Lauerndes, als sei er nicht sicher, was er von der ganzen Situation halten sollte.

Finn knipste ein strahlendes Lächeln an. „Du bist zum ersten Mal hier“, beantwortete er sich seine eigene Frage.

„Sieht man mir das so deutlich an?“

Finn deutete auf die Umstehenden. Teenager und junge Männer Anfang zwanzig, die farbenfrohe T-Shirts und eng sitzende Hosen trugen, Queens wie Gloria, die opulente Klamotten und gewaltige Perücken zur Schau stellten und sich die Gesichter dramatisch geschminkt hatten, und Lesben in Anzügen. Sie alle bewegten sich ausgelassen durch die Bar. Sein Gegenüber hingegen sah aus, als würde er sich fehl am Platz fühlen.

Finn lehnte sich an die Wand. „Wie heißt du?“

Wieder zögerte der andere. „Milton“, antwortete er schließlich.

„Ist das dein richtiger Name oder der, den du auf die Liste am Eingang geschrieben hast?“

Milton hab das Glas an den Mund und trank.

Vielleicht hatte er Angst, weil er wie Maggie für die Regierung arbeitete und es sich nicht leisten konnte, dass sein richtiger Name registriert wurde.

„Na gut, Milton. Ich bin Zoroastor Diggs.“

„Zoroastor?“ Milton sah ihn mit großen Augen an.

„Gebe ich immer an, wenn ich ins Stonewall komme“, gab Finn unbekümmert zu. Er beugte sich nach vorn, dicht an Miltons Ohr. „Aber meine Freunde nennen mich Finn.“

Selbst im verrauchten Zwielicht der Bar konnte er sehen, wie Miltons Adamsapfel zuckte. Er erwiderte nichts.

Finn ging wieder etwas auf Abstand. „Du kennst dich immerhin gut genug aus, um zu wissen, dass du auf den Registrierungslisten nicht deinen richtigen Namen angeben solltest. Bist du neu in der Stadt oder nur zu Besuch?“

Diese Frage überraschte Milton offenbar. „Ich lebe hier.“

„Hier? In New York?“

„In Greenwich.“

„Wirklich? Ich habe dich hier noch nie gesehen.“

Die Schultern des anderen lockerten sich. „Ich dich auch nicht. Bist du denn von hier?“

„Iowa.“

„Ein Farmer.“ Langsam schien sich Milton zu entspannen.

„Eher nicht. Mein Vater war Autoverkäufer. Und ich bin schon mit neunzehn hierhergezogen. Das ist jetzt fast zehn Jahre her.“

„Und was machst du hier, Zarastro, den seine Freunde Finn nennen?“

„Zoroastor“, korrigierte Finn. „Das ist eine Figur aus einem Buch.“

„Bist du Autor?“

Finn schüttelte den Kopf. „Ich arbeite am Theater. Aber ich lese gern.“

„Im Theater? Welches denn?“

„Off-Broadway“, wich Finn aus. „Eigentlich sogar Off-off-Broadway.“

Milton wartete darauf, dass er weitersprach, aber Finn blieb stumm, und so blickten sie sich einfach nur an. Milton wirkte neugierig, aber wachsam. Grünschnabel eben.

Finn trank den letzten Rest Bier aus, stellte die Flasche ab und legte vorsichtig die Hand auf Miltons Schulter. Dieser versteifte sich, wich jedoch nicht zurück. Finn wartete einen Augenblick, dann trat er näher an ihn heran.

Noch immer sagte er nichts, sondern blickte Milton nur in die Augen. Dunkel wirkten sie, mit einer seltsamen Schwere darin. Machte das nur das diffuse Licht im Stonewall?

Milton räusperte sich. „Ich war schon ewige Zeiten nicht mehr im Theater.“

„Warum nicht?“

Ihre Gesichter trennten nur noch wenige Zentimeter.

Schweiß trat Milton auf die Stirn.

Langsam ließ Finn die Hand von dessen Schulter über den Arm gleiten, bis er Miltons Fingerspitzen berührte. Wieder zuckte dieser zusammen, aber er wandte sich nicht ab und machte keine Anstalten, Finn von sich zu stoßen.

„Und ein Buch habe ich auch seit der High School nicht mehr gelesen. Ich weiß selbst nicht, warum. Irgendwie hab ich’s einfach nicht mehr gemacht. Bei uns zu Hause gab es nicht viele Bücher.“

Finn musste grinsen. Am liebsten hätte er sich nach vorn gebeugt und Milton geküsst, um ihn vom Plappern abzuhalten. Aber er ahnte, dass ihn das zu diesem Zeitpunkt überfordert hätte. Stattdessen griff er, kaum dass die ersten Töne von (We’ve Got) Honey Love aus der Jukebox plärrten, nach Miltons Hand und zog ihn mit sich aus der dunklen Ecke.

„Du gehst nicht ins Theater“, rief er aufgedreht. „Und du liest keine Bücher. Tanzt du wenigstens?“

Milton stemmte sich gegen den Griff. „Ich …“

Doch was immer er sagen wollte, Finn erfuhr es nicht.

„Das ist ein Cop!“, schrie jemand in diesem Augenblick schrill vom Eingang her.

Um Finn und Milton stoben die Leute auseinander.

Prickelnde queere Romance in Berlin!

Eine spannende Liebesgeschichte, die zeigt, dass wahre Liebe keine Labels kennt.

Blick ins Buch
Stolen KissesStolen Kisses

Roman

Prickelnde queere Romance in Berlin - Für Leser:Innen von Casey McQuiston und Alexis Hall

Eigentlich hatte es für Kai und Jannis nur ein One-Night-Stand im Hotel werden sollen, doch zwischen leidenschaftlichen Küssen und dem Plündern der Minibar vergehen die Stunden wie im Flug. Trotzdem verschwindet Kai am nächsten Morgen schweren Herzens. Sein Leben besteht aus Verpflichtungen, ein Coming-out ist unmöglich. Jannis bleibt traurig zurück, droht in der absoluten Freiheit zu ertrinken. Dann konkurrieren die beiden Modefirmen ihrer jeweiligen Familien plötzlich miteinander. Gewinnt die Liebe zwischen beiden oder verlieren sie sich in einem Netz aus Machtkampf und Intrigen?


  • LGBTQ-Fokus - Stolen Kisses ist ein LGBTQ-Buch, das sich auf die Darstellung von Gay Romance konzentriert. Perfekt für alle, die nach LGBTQ-Romanen und deutscher Gay-Romance suchen!
  • Schwule Charaktere - Die Hauptfiguren in Stolen Kisses sind schwul, was zur Vielfalt und Inklusivität in Romanen beiträgt!
  • Authentisch - Andreas Suchanek verleiht seinem New Adult-Roman mit Own-Voice-Elementen viel Echtheit! 

Prolog

Jannis


Eigentlich hatte es nur ein Quickie sein sollen. Das hatte ich zumindest gedacht. Bis mein Date das Hotelzimmer betrat, das wellige Haar vom Wind zerzaust, in Hoodie und Jogginghose gekleidet. Er trug seine Selbstsicherheit vor sich her wie eine Mauer, durch die keine Emotion hindurchschimmerte.

„Kai“, sagte er.

„Jannis“, sagte ich.

Dann fanden sich unsere Lippen. Gierig, wie zwei Verdurstende in einem Meer aus zu vielen Möglichkeiten. Das Bett war die Rettungsinsel. Die Verbindung war einfach da, und die Kleidungsstücke wurden auf Autopilot weggerissen und ins Zimmer geworfen.

Seine Augen hatten die Farbe eines wolkenverhangenen Meeres. Unsere Körper verschmolzen miteinander, während der Wind den Regen gegen das Hotelzimmerfenster prasseln ließ. Das Licht der Stehlampe floss warm über das Bett, tauchte den Rest des Raums in ein diffuses Schattenspiel. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte.

Es gab nur ihn und mich.

Wir lagen nackt auf dem Bett, konnten den Blick nicht voneinander lösen. Unsere Kleidungsstücke waren im ganzen Zimmer verteilt, und ehrlich, ich war nicht gerade stolz auf die Socke, die auf dem Lampenschirm gelandet war.

Es folgten drei Stunden, in denen seine Lippen mich überall küssten. Seine Zunge meinen Körper erkundete. Seine Hände mich streichelten. Endlich spürte ich wieder echte Nähe, mehr als nur eine flüchtige Berührung.

Jetzt lag Kai auf mir. Schaute mit einem sanften Glanz in den Augen herab, der sich mit einem Hauch von etwas anderem vermengte. Sehnsucht? Traurigkeit? Er lächelte. Die Wolken über dem Meer rissen auf, es funkelte in dem dunklen Blau.

Ich strich ihm eine Strähne aus der Stirn.

Ein fragender Ausdruck erschien in seinen Augen, woraufhin ich nickte.

Er lag zwischen meinen Beinen, schob sich langsam in mich. Seine Schultermuskeln spannten sich an, traten hervor. Sanft strich ich darüber. Er biss sich auf die Unterlippe, bremste sich selbst, um mir nicht wehzutun. Gut so, denn ich hatte da schon andere, schmerzhafte Erfahrungen gemacht.

„Alles okay?“, fragte er heiser.

Ich genoss das Gefühl der absoluten Nähe und lächelte. Er begann, sich in mir zu bewegen.



Kai


Ich konnte mich nicht an ihm sattsehen.

Normalerweise flüchtete ich nach einem Quickie, so schnell es ging. Dieser Plan hatte sich in Luft aufgelöst, als ich vor sechs Stunden das Hotel betreten hatte. Der Regen hatte nachgelassen, prasselte aber noch immer gegen die Fensterscheibe. Die Nacht ging langsam in die Morgendämmerung über.

Jannis lag neben mir und erwiderte meinen Blick mit glänzenden Augen. Die Sommersprossen auf seinem Gesicht schienen zu leuchten. Seine rotblonden Locken hatten sich endgültig in eine Sturmfrisur verwandelt. Obwohl wir die Stunden mit Küssen und Streicheln verbracht und insgesamt vier Kondome verbraucht hatten, wollte ich noch immer nicht aufstehen.

Mein Blick glitt kurz über seine Schultern. Ich sah den Berliner Fernsehturm in der Morgendämmerung. Das hier war Freiheit. Der Druck war von meiner Brust gewichen, die Verantwortung zu einer fernen Erinnerung geworden. Nicht weit entfernt wartete ein anderes Leben, grau und schwer.

Jannis rückte näher, seine Hände legten sich auf meine Taille, seine Lippen berührten meinen Hals. Sie waren weich, hinterließen bei jeder Berührung einen kribbelnden Nachhall.

„Der längste Quickie meines Lebens“, sagte er mit einem Grinsen, das in meinem Magen ein seltsames Kitzeln auslöste.

„Stimmt“, gab ich zu.

Er verdrehte die Augen. „Du weißt, dass man Wörter auch zu ganzen Sätzen verbinden kann?“

Ich lachte leise. „Postkoitale Wortfindungsstörungen.“

Es war längst zur Gewohnheit geworden, so wenig wie möglich über mich zu erzählen. In den vergangenen Stunden hatte ich immer mal wieder etwas preisgegeben, meist aber ausweichend geantwortet.

„Alles klar, Medizinstudent?“, bohrte er weiter.

Meinen Beruf hatte ich ihm nicht genannt. Laut Datingprofil waren wir fast im gleichen Alter, er ein Jahr jünger als ich, also fünfundzwanzig. Nur war ich kein Student mehr. Leider.

Die Schatten schlossen langsam wieder zu mir auf, die Realität dämpfte das Licht, zog mich zurück in ihre Kälte. Ich wollte etwas sagen, doch Jannis hätte es nicht mehr gehört. Die Kitzelattacken hatten ihn genauso erschöpft wie mich. Sein Atem berührte gleichmäßig meinen Hals, er war eingeschlafen. Sicherheitshalber stellte ich meinen Wecker, aber nur auf lautlos. Meine Uhr würde vibrieren. Ich dämmerte ebenfalls weg, schreckte aber eine Stunde später wieder hoch.

Vorsichtig wand ich mich aus der Umarmung, deckte ihn zu und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Er lächelte im Schlaf. Beinahe hätte ich geschrien vor Schmerz.

Die Enge kehrte zurück in meine Brust.

Schnell zog ich mir Shorts, Jogginghose und Hoodie über und schlüpfte in die Sneaker. Ein letzter Blick auf das Bett, wo Jannis schlief.

„Danke“, flüsterte ich.

Ich öffnete die Hoteltür und ließ sie sanft hinter mir ins Schloss gleiten. Am Empfang bezahlte ich den Inhalt der Minibar, die wir in den vergangenen Stunden geplündert hatten.

Vor dem Hotel trat ich in den Regen, zog die Kapuze über. Der frühe Morgen nahm mich auf, Berlin erwachte. Die Regentropfen trafen mein Gesicht, liefen daran herab und spülten die Emotionen der Nacht davon, ließen die Erinnerung verblassen.

Nur sein Lächeln blieb.



1. Kapitel 

Jannis


Ich genoss das Gefühl von Wärme und Geborgenheit, das mit dem Aufwachen einherging. Das Prasseln des Regens gegen die Scheibe war schwächer geworden. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich die Stille registrierte. Mein Arm tastete wie von selbst nach rechts. Im nächsten Moment schoss ich in die Höhe.

Kai war fort.

Mein Herz begann zu rasen. Ich konnte nicht einmal genau sagen, warum. Das Gefühl von unendlicher Leere und Einsamkeit schlug über mir zusammen, und weil es so unvorbereitet kam, dauerte es einen Augenblick, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

„Natürlich ist er weg.“ Ich zog die Beine an, presste die Stirn auf die Knie und ließ meinem Puls Zeit, von Sprint auf Spaziergang zurückzuwechseln.

Hatte er vielleicht seine Nummer hinterlassen?

Hatte er nicht. Sicherheitshalber suchte ich auch in der Ritze zwischen Nachttisch und Bett – man kannte das ja aus Filmen. Am Ende warteten beide auf den Anruf des anderen, und es gab unzählige Missverständnisse, bis sie sich schließlich auf einer Brücke in Paris umarmten, unter der die Seine entlangplätscherte. Ich wäre schon mit der Spree zufrieden.

Meine Uhr leuchtete mir entgegen, und ich stöhnte auf. Walk of Shame war gar kein Ausdruck für das, was mir bevorstand. Ich schlüpfte in meine Unterhose und den ganzen Rest meiner noch immer im Zimmer verstreuten Kleidungsstücke, natürlich im Zeitlupentempo wegen Koffeinmangel.

In meinem Magen saß der Kloß eines Berliner Morgens, der jede Wärme vertrieb. Kein Weichzeichner mehr, nur noch harte Linien und Kanten.

Genau das erwartete mich auch vor dem Hotel. Die Menschen eilten durch die Straßen, jeder hatte Angst vor dem nächsten Regenschauer. Oder Schnee. Mein Atem kondensierte in der Luft, zumindest bis ich die U-Bahn-Haltestelle erreichte. Der vertraute Geruch von Gummi, Metall und Dingen, die ich lieber ignorierte, drang an meine Nase. Kais Meinung dazu kannte ich ja, nach dieser Nacht. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen, doch ich verdrängte es sofort.

Ich stieg ein und sank auf einen der Sitze, wenigstens musste ich nicht umsteigen. Die Bahn fuhr ruckelnd an, als wollte sie dafür sorgen, dass ich auch ja nicht versehentlich einschlief.

Minuten später schlurfte ich die Treppenstufen einer U-Bahn-Haltestelle hinauf und betrat den vertrauten Kiez. Kreuzberg. Die Straßen um mich herum füllten sich immer schneller, die Markthalle war bereits geöffnet. Kurz darauf stand ich vor unserem Haus. Es strahlte etwas aus, das irgendwo zwischen Künstlercharme und Abrissbude einzuordnen war. Der hüfthohe Metallzaun rostete vor sich hin, und der Vorgarten war ein Dschungel. Die Eingangstür war in diesem Monat gelb gestrichen, mit roten Punkten darauf.

Leise schob ich den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und betrat das Haus. Der Geruch von frischen Krapfen drang in meine Nase, Fett brutzelte in der Pfanne.

Ich fluchte innerlich.

„Ich habe Krapfen gemacht“, trällerte es aus der Küche.

Niedergeschlagen ließ ich die Schultern sinken. Ich nahm mir extra lange Zeit, die Sneaker an die Seite zu kicken.

„Es bringt dir gar nichts, es hinauszuzögern“, rief meine Mutter.

Der Flur war mit einem verschlissenen Teppich ausgelegt, an den Wänden hingen Bilder, die sie in ihrer Frühphase angefertigt hatte. Alle zeigten Silhouetten, gekleidet in bunte Kleckse, die Blusen, Pullis, Jeans oder andere Kleidungsstücke darstellten.

Unweigerlich sah ich eine Silhouette mit schwarzen Jogginghose, Hoodie und welligem, dunklem Haar vor mir.

„Ist er abgehauen?“, erklang die Stimme meiner Schwester.

„Das würde er seiner ihn liebenden Mutter nicht antun“, kam es sofort und extralaut. „Schließlich habe ich mich stundenlang vor den Herd gestellt, um ihm Krapfen zu machen.“

Was bedeutete, dass sie die Backmischung herausgeholt und in die Pfanne gekippt hatte. Unter Anleitung meiner Schwester natürlich, denn sobald Mama etwas tat, das ihr keinen Spaß machte, schweiften ihre Gedanken zu Modeentwürfen. Mit fatalen Folgen für die aktuelle Tätigkeit. O ja, Zucker konnte in der Pfanne brennen. Und wenn sie das nächste Mal einen Smoothie mixte, sollte der Pfeffer nicht in der Nähe stehen.

„Da ist er ja.“ Mit einem Satz war sie bei mir und riss mich in eine Umarmung.

Ich schob sie genervt von mir. Fehlte nur noch, dass sie mir in die Wange kniff.

Sie kniff mir in die Wange. „Wie war es?“

„Wir hatten doch darüber gesprochen.“ Meine Stimme war ein Knurren.

„Normalerweise bist du nicht so lange weg“, rief meine Schwester vom Küchentisch.

Sie war die kleine Ausgabe meiner Mutter. Beide besaßen einen dichten Lockenkopf und genau wie ich eine Menge Sommersprossen. Während meine Mutter zu poppigen Farben neigte – heute trug sie ein geblümtes Kleid und darunter eine Hose und Stiefel –, bevorzugte Rebecka gedeckte Töne. Das wusste ich, weil man im Haus einer Modedesignerin gewissen Fachbegriffen nicht entkam. Meine Schwester war wohl ein Herbsttyp.

„Setz dich.“ Sie klopfte auf den Stuhl neben sich.

Teller, Krapfen, Ahornsirup und Nutella standen bereit. Daneben eine große Tasse mit dampfendem Kaffee und einem Schuss Hafermilch darin. Diese Kombination war der auf mich zugeschnittene, perfekte Köder. Mit Nutella bekamen sie mich immer, das war sozusagen mein Kryptonit. Um sicherzugehen, hatten sie den Deckel bereits abgeschraubt und einen Löffel dazugelegt.

„Ich hasse euch“, verkündete ich grummelig.

„Aber das geht doch gar nicht, mein Schatz.“ Meine Mutter streckte die Hand aus, um meine Haare zu wuscheln, aber ich konnte darunter wegtauchen. „Du liebst uns.“

„Darüber habe ich noch nicht final entschieden.“

„Wie war er?“, fragte meine Schwester, zwei Sekunden nachdem ich mich gesetzt hatte.

Dass sie nicht einmal wartete, bis ich den Löffel in der Hand hielt, sagte einiges über sie aus. „Das geht dich nichts an.“ In diesem Haus gab es keine Privatsphäre.

„Du siehst ganz zerknautscht aus“, bemerkte meine Mutter. „In diesen Hotelbetten schläft man nie gut.“

„Ging schon.“ Ich kniff die Augen zusammen. Verdammt!

„Also Hotel.“ Becks nickte zufrieden. „Das ist ein Punkt für mich.“

An welcher Stelle hatte mein Leben eigentlich diesen Verlauf genommen? Vermutlich vor fünfundzwanzig Jahren, am Tag meiner Geburt. „Ihr habt schon wieder gewettet?!“

„Wetten ist das falsche Wort. Wir haben uns nur unterhalten“, korrigierte meine Mutter. „Schließlich …“ Sie sah Hilfe suchend zu Becks, die immer die besseren Ausreden parat hatte.

„… haben wir uns Sorgen um dich gemacht“, nahm diese elegant den Faden auf, während sie gleichzeitig gedankenverloren ein Papier studierte.

In diesen Augenblicken rechnete ich ihr keinerlei Chancen aus, jemals als Schauspielerin Fuß zu fassen.

„Sportlich oder Business?“, fragte sie.

„Sportlich“, erwiderte ich reflexartig.

„Der Punkt geht an mich“, stellte meine Mutter klar.

Ich verdrehte die Augen und steckte den Löffel ins Nutellaglas. Die Nugatcreme landete in Form von Klecksen und Punkten auf dem Krapfen, als hätte ich sie mit einem Pinsel dorthin geschleudert. Moderne Kunst war das allemal. Schnell stopfte ich mir den Mund damit voll.

„Passt es dir mit dem großen Löffel?“, fragte meine Schwester. „Oder brauchst du einen kleinen? Welcher Löffel ist dir lieber?“

Ich warf ihr einen tödlichen Blick zu und machte damit klar, dass ich diese Frage nicht beantworten würde.

„Berliner oder Tourist?“, fragte sie weiter.

Ich deutete auf meinen Mund und zuckte mit den Schultern. „Forry.“

„Mensch, Becky, jetzt lass ihn doch mal kauen“, sagte meine Mutter. „Mit vollem Mund …“

Meine Schwester setzte bereits zum Protest an. Sie hasste es, Becky genannt zu werden.

„Schluss jetzt“, brüllte ich und schleuderte die Krapfenkrümel davon.

Natürlich war mir klar, was die nächste Frage gewesen wäre. Meine Mutter kannte keine Grenzen. Für sie war Freiheit gleichbedeutend mit Brokkoli und Tempeh, ein Grundnahrungsmittel. Und genau deshalb ließ sie sich auch grundsätzlich nicht den Mund verbieten. Dazu gehörte auch, sich in alles – wirklich alles – einzumischen. Andere Kinder wurden durch Jugendzeitschriften oder auf dem Pausenhof aufgeklärt. Ich hatte schon mit sieben Jahren gewusst, was „nicht binär“ und „Drag Queen“ bedeutet.

Glücklicherweise verzog meine geliebte Zwillingsschwester angeekelt das Gesicht. Auch sie hatte wohl geahnt, in welche Richtung unsere Mutter als Nächstes gefragt hätte. „Also ich habe gewonnen“, beschloss sie daher. „Du könntest ruhig mal ein bisschen kreativer werden, was deine Sexpartner angeht.“

„Sag das den Touristen.“ Die Niedergeschlagenheit war zurück, und plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf Krapfen oder Nutella. „Die wollen halt immer nur Spaß.“

Meine letzte Beziehung war mit einem Knall zu Ende gegangen, als ich erfuhr, dass es neben mir noch einen anderen gab. Und obwohl ich keine Probleme hatte, Dates zu vereinbaren, wollte es einfach nicht mit etwas Ernstem klappen. Möglicherweise war mein Herz noch nicht wieder vollständig geheilt, doch nach all der Zeit sehnte ich mich nach einer Schulter zum Anlehnen. Eine, die mich nicht aus dem Hinterhalt rammte.

„Tut mir leid“, sagte meine Schwester jetzt.

Ich erwiderte ihren Blick mit einem schwachen Lächeln.

„Denk immer daran, du hast hier eine Freiheit, die viele Menschen nicht haben“, kam es erwartungsgemäß von meiner Mutter. „Der Rest kommt auch noch.“

Sie sah grenzenlose Freiheit als eine grüne Wiese voller bunter Blumen. Für mich war es ein Meer, in dem ich ertrank. Doch wenn sie von Nähe oder festen Partnerschaften sprach, legte sich stets ein Schatten über ihr Gesicht. Vermutlich hatte es etwas mit unserer Familie zu tun. Rebecka und ich wussten so ziemlich gar nichts über unsere Großeltern – sie waren früh gestorben – und über „den Erzeuger“.

„Was hast du denn heute vor?“, fragte Becks.

Manche Fragen waren einfach überflüssig. „Es ist Sonntag.“

„Und?“

„Keine Pläne“, ergänzte ich. „Ilyas ist nachher bestimmt mit Sandy auf dem Tempelhofer Feld unterwegs.“

Meine Mutter legte die Stirn in Falten. Sie liebte Tiere, aber seitdem die Dackelhündin von Ilyas einen ihrer Modeentwürfe zu Fetzen verarbeitet hatte, beäugte sie „das Tier“ mit maximaler Skepsis.

„Wenn du quasi nichts zu tun hast“, sagte meine Mutter listig, „wäre das doch die perfekte Gelegenheit, den Katalog zu erweitern. Außerdem habe ich dir die Liste mit den neuen Pop-up-Stores auf den Schreibtisch gelegt.“

Das hatte ich davon, Informatik zu studieren. Der emotionale Teil meiner Mutter war in Tränen ausgebrochen, als ich meinen technokratischen Berufswunsch verkündet hatte. Der pragmatische hatte vor Freude gejauchzt, denn damit konnte ich Websites programmieren.

„Wird gemacht“, sagte ich. „Aber ich stelle eine Bedingung.“

„Habe ich dir nicht all meine Liebe gegeben?“, begann sie sofort.

„Keine Wetten mehr über mich und meine …“

„Betthäschen“, schlug Becks vor.

„One-Night-Stands“, kam es von meiner Mutter.

„Hotelluder“, setzte Schwestermonster noch eins drauf.

Diesen Tag würde ich nutzen, um meine Rache zu planen. Oh, sie hatten ja keine Ahnung, was ihnen bevorstand.

„… potenziellen Lebensgefährten“, sagte ich.

„O Gott“, entfuhr es meiner Mutter, und das wollte schon was heißen, denn sie war alles, aber nicht religiös. „Das ist so heteronormativ.“

„Mutter!“ Ich funkelte sie an.

„Ist ja gut, ist ja gut.“

Sie wedelte mit der Hand. „Keine Wetten mehr. Für die nächsten sechs Monate, versprochen. Aber du hörst auf, mich ›Mutter‹ zu nennen.“

Ich nickte zufrieden. Immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. Kurzerhand tauchte ich den Löffel ins Nutellaglas und schob ihn danach in meinen Mund. Die Stuhlbeine schabten über den Boden, als ich aufstand. Die Kaffeetasse kam mit.

Von der Küche führten drei Türen ab. Keine Ahnung, welcher Architekt dieses Haus konstruiert hatte, aber dass meine Mutter es liebte, sagte schon alles. Die Zimmer der Frauen – oder wie ich sie nannte, die Frauenzimmer (jep, ein absichtliches Wortspiel) – befanden sich im Erdgeschoss. Sie hatten ihr eigenes Tageslichtbad.

Ich öffnete die Tür und stieg die Stufen hinauf, die in mein Reich führten. Ein großer Raum, an den ein kleineres Bad angeschlossen war. Da es hier im Winter meist frostig wurde und wegen der schlechten Dämmung keine Chance auf vernünftiges Heizen bestand, hatte ich nicht mal groß darum kämpfen müssen. Im Sommer war es dafür eine Sauna.

Mein Bett war eine Palette, auf der eine Matratze lag. Vor dem orangen Schreibtisch stand ein 1970er-Schalensitz. Der Fernseher war recht neu, die Couch davor von IKEA. Ein Hängesessel hing von der Decke.

Das Ganze wirkte, als habe jemand Möbelstücke aus unterschiedlichen Jahrzehnten herausgepickt und hier abgestellt. Immerhin war mein Laptop vom letzten Jahr, mit dem konnte ich arbeiten.

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf die Matratze fallen. Sofort sah ich Kais Augen wieder vor mir. Sturmgepeitschtes Blau, darüber eine gelöste Strähne seines Haares. Das war überraschend weich gewesen, vermutlich benutzte er irgendein superedles Shampoo. Dieser akkurate Schnitt, dazu manikürte Fingernägel … er hatte eindeutig einen guten Job, bei dem er sich auch präsentabel herrichten musste.

„Der war garantiert geschäftlich hier“, murmelte ich.

Natürlich bestand die Möglichkeit, ihn einfach noch einmal über Grindr anzuschreiben. Ich zog mein Smartphone hervor. Es war keine Pushnachricht eingegangen, also hatte er sich nicht gemeldet. Vielleicht schlief er ja noch.

Wenn ich eingeschlafen war, konnte eine Bombe neben mir detonieren, nichts bekam mich wach. Und das meine ich wortwörtlich. Becks hatte sich früher immer geärgert, weil ihr blöder Bruder ständig Silvester verschlief. Als meine Mutter einmal nicht hingesehen hatte, hatte dieses Monster neben meinem Kinderbett Knallfrösche gezündet.

Ich sage jetzt nichts zur Aufsichtspflicht, die eindeutig von gewissen Erziehungsberechtigten vernachlässigt worden war. Auf jeden Fall hatte ich trotz Lärm weitergeschlafen.

Es war also durchaus möglich, dass Kai versucht hatte, mich zu wecken, und am Ende unverrichteter Dinge abgezogen war. Und wozu ein Zettel, schließlich konnten wir ja über Grindr miteinander schreiben. Alles easy.

Ich öffnete die App.

Und schloss sie wieder.

Es kam schon irgendwie klammernd rüber, wenn ich mich jetzt sofort meldete. Ein paar Stunden konnte ich warten. Gar kein Problem. Zumindest kein großes Problem.

Eine Pushnachricht ging ein. Mein Bauch vollführte einen Purzelbaum.

Es war Ilyas.

Enttäuschung pur, obwohl ich das meinen besten Freund nicht unbedingt wissen lassen sollte. Wie vermutet war er bereits auf dem Tempelhofer Feld unterwegs, damit Sandy ihre überschüssige Energie loswerden konnte. Diese Dackel sahen unschuldig aus, aber in denen steckte die Power eines Kernreaktors. Ich hatte einmal auf sie aufgepasst – der Tag des Zwischenfalls mit Moms Entwurf –, und das Tier hatte mich geschafft. Ehrlich. Am Ende war es mir egal, dass sie auf der Decke lag und mein ausgepackter Döner neben ihr.

Ich versprach Ilyas, mich gleich auf den Weg zu machen. Vermutlich lud er Nico ebenfalls ein. Der Dritte im Bunde fungierte als Alibihetero. Falls Ilyas’ Eltern uns entdeckten. Schließlich war ich der verdorbene Schwule.

In diesen Augenblicken war ich tatsächlich dankbar für die Freiheit, die meine Familie mir ermöglichte. Und diese Stadt. Ich warf meine Kleidung aufs Bett und sprang unter die Dusche. Wenigstens begann der Kaffee langsam zu wirken.

Zwanzig Minuten später war ich ausgehbereit.

Kurz vor der Tür stoppte ich, knabberte an meiner Unterlippe und rang mich schließlich dazu durch, die App noch einmal zu öffnen. Es wurde im Profil angezeigt, wann Kai zuletzt online war, da konnte ich ja einen Blick riskieren.

Ich ging auf die Favoritenseite, wo er abgespeichert war.

Mein Magen sackte ab.

Sein Profil war gelöscht.

Liebe ist so viel mehr

„Liebe ist für mich wie ein Farbspektrum. Ich kann auf viele verschiedene Arten Liebe empfinden und diesem Gefühl diverse Bedeutungen zuschreiben – ohne, dass diese in Konkurrenz zueinanderstehen.“ Saskia Michalski 

Lieben und lieben lassenLieben und lieben lassen
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Gefühle passen in keine Schublade

Liebe ist ein Spektrum, keine Schublade

Selbst aufgewachsen in einer Welt zwischen Disney-Klischees und konservativen Geschlechteridentitäten, spürt Saskia Michalski früh, dass they nicht den Erwartungen entspricht. Saskia begreift, dass Liebe facettenreich ist, und entscheidet sich für einen eigenen Weg. Heute lebt they in einer polyamoren Beziehung und damit ein Leben außerhalb des heteronormativen und monogamen Konstrukts, mit dem die meisten Menschen aufwachsen. Auf Instagram und TikTok spricht they offen über die verschiedensten Beziehungsformen und ist damit zu einem der bekanntesten Gesichter der queeren Community geworden. Mit Empathie und Humor schafft Saskia es, queere Inhalte auch für diejenigen zugänglich zu machen, die damit bisher kaum Berührungspunkte hatten.

„Liebe ist für mich wie ein Farbspektrum. Ich kann auf viele verschiedene Arten Liebe empfinden und diesem Gefühl diverse Bedeutungen zuschreiben – ohne, dass diese in Konkurrenz zueinanderstehen.“ – Saskia Michalski 

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„Eines der aufwühlendsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. " Denis Scheck

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Ein wenig Leben

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„Eines der aufwühlendsten Bücher, das ich seit langem gelesen habe.“ Denis Scheck
Jude, JB, Willem und Malcolm: Vier New Yorker, die sich am College kennengelernt haben. Jude St. Francis, brillant und enigmatisch, ist die charismatische Figur im Zentrum der Gruppe – ein aufopfernd liebender und zugleich innerlich zerbrochener Mensch. Immer tiefer werden die Freunde in Judes dunkle, schmerzhafte Welt hineingesogen, deren Ungeheuer nach und nach hervortreten. „Ein wenig Leben“ ist ein rauschhaftes, mit kaum fasslicher Dringlichkeit erzähltes Epos über Trauma, menschliche Güte und Freundschaft als wahre Liebe.

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„Eine mitreißende, alles verschlingende Emotionalität treibt Yanagiharas Literatur an und über die Grenzen. Ein Kunststück.“ FAZ

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„EIN WENIG LEBEN ist nicht nur eine Hymne auf die Freundschaft, sondern auch auf die Kraft der Literatur, der es einmal wieder gelingt, Menschen auf der ganzen Welt über Tage zu fesseln.“ NDR

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Inspiriert von griechischen Legenden erzählt Nena Tramountani eine einzigartige, düster-romantische Liebesgeschichte!

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Twelve of Nights – Das gestohlene HerzTwelve of Nights – Das gestohlene Herz

Roman

In einem griechischen Bergdorf leiten die zwölf Raunächte mit besinnlichen Ritualen und winterlichen Festen den Jahreswechsel ein. Doch einer alten Legende zufolge stehlen sich in dieser Zeit auch die dämonischen Kalikanzari in das Dorf und opfern ein Menschenleben. Als die zweiundzwanzigjährige Daphne kurz nach der Weihnachtsmesse eine junge Frau kennenlernt, fühlt sie sich sofort zu ihr hingezogen. Während der Feierlichkeiten im Dorf kommt Daphne der mysteriösen Ioanna immer näher. Doch Ioanna hütet ein Geheimnis, und ihre Liebe kann außerhalb der Raunächte nicht existieren …

1

Daphne

24. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht


In Griechenland wünscht man sich zu sämtlichen Feiertagen Chronia polla, das bedeutet wörtlich Viele Jahre. Viele Jahre zum Geburtstag. Viele Jahre zum Namenstag. Viele Jahre zu Ostern. Viele Jahre zu Weihnachten. Als hätte irgendjemand die Macht, darüber zu entscheiden. Als wäre Zeit das Schönste, was man verschenken kann.

Seit fünf Jahren benutze ich die Floskel nicht mehr. Der letzte Mensch, dem ich viele Jahre gewünscht habe, hat nicht mal mehr eines weitergelebt. Zeit ist der größte Fluch, wenn sie einen daran erinnert, was man verloren hat.

Aris Blick brennt auf mir. Er weiß, was ich fühle, auch wenn er mehrere Meter von mir entfernt auf einer der gegenüberliegenden Holzbänke sitzt. Es gibt nach wie vor eine strikte Trennung zwischen Männern und Frauen, weswegen er auf der linken Seite vom Mittelgang sitzt und meine Großmutter, seine Mutter und ich rechts. Die Kirche ist brechend voll. Überall dicke Wintermäntel, frisierte Hinterköpfe, Menschen in Anzügen und spektakulären Kleidern, die Gesichter gezeichnet von Ungeduld. Meine Jiajia – meine Oma – nennt es das große Affentheater. Ansonsten lässt sich hier kaum jemand blicken, aber zweimal im Jahr, zur Geburt und zur Auferstehung Christi, strömt das ganze Dorf in die prunkvolle Kathedrale, die sich auf einem Bergvorsprung oberhalb des Ortes befindet. Aus diesem Grund sind wir schon vor Stunden aufgekreuzt, um noch einen Platz zu ergattern.

Auch ich bin Teil des Theaters. Zwar begleite ich meine Großmutter manchmal sonntags in den Gottesdienst, doch das liegt nicht an meinem Glauben. Früher ist Papou mit ihr hingegangen, auch wenn ich den Verdacht habe, dass er ebenso wenig gläubig war, wie ich es bin. Es bricht uns wohl einfach beiden das Herz, sie allein gehen zu lassen.

Endlich erwidere ich Aris Blick. Seine dunklen Augen glänzen mitfühlend. Er trägt einen silbergrauen Anzug, der gut mit seinen dunklen Locken harmoniert und ihn noch erwachsener aussehen lässt. „Gleich geschafft“, formt er mit den Lippen, und ein liebevolles Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln.

Nicht ganz die Wahrheit. Nach der Mitternachtsmesse werden wir in das Gasthaus meiner Großeltern zurückkehren und dort die Dorfbewohner mit den Leckereien versorgen, die wir in den letzten Tagen zubereitet haben. Nach der vierzigtägigen Fastenzeit wollen sich alle die Bäuche vollschlagen. Am liebsten würde ich die Zeit vorspulen, bis ich mit Ari in unserem warmen Bett liegen und mich an ihn klammern kann. Ich brauche unsere kleine heile Welt. Seine Lippen auf meinen, geflüsterte Worte unter der Decke, das Gefühl von Geborgenheit, auch wenn es seit Langem nicht mehr dasselbe ist. An manchen Tagen frage ich mich, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, etwas zu empfinden. Nicht nur in Bezug auf Ari, sondern auf mein gesamtes Leben. Die meiste Zeit empfinde ich nur Leere.

„Ich liebe dich“, gebe ich lautlos zurück. Das schlechte Gewissen klopft an wie jedes Mal, wenn ich die drei Worte zu ihm sage. Sein Lächeln kann ich nicht erwidern. Ari versteht, wie hart die Zeit von Weihnachten bis zum 6. Januar für mich ist. Mein Leben lang habe ich mich das ganze Jahr über darauf gefreut. Seit fünf Jahren, seit Papou nicht mehr ist, wünschte ich, wir könnten sie einfach überspringen.

Aris Mutter und meine Jiajia verlassen ihre Plätze und reihen sich in die Schlange ein, um die Kommunion zu empfangen. Da ich weder gefastet habe noch daran glaube, folge ich ihnen nicht. Außerdem kommt mir stets die Warnung meiner Vorschullehrerin in den Sinn, wenn ich den goldenen Kelch betrachte, in dem sich Wein und Brotstücke befinden, die sinnbildlich für das Blut und Fleisch Jesu stehen. Sollten Gottlose es wagen, die Kommunion zu empfangen, würden sich der Wein und das Brot noch im Mund in Blut und Menschenfleisch verwandeln. Danke, nein.

Ari sieht mich nach wie vor an, doch plötzlich hat sein Blick nichts Tröstliches mehr. Er engt mich ein. Genau wie die Menschenmenge. Und die Psalmen, die immer lauter gesungen werden. Das Knarzen in den Lautsprechern, wenn die Kirchenchormitglieder dem Mikrofon vorne zu nahe kommen. Die brennenden Kerzen, deren Hitze sich in der gesamten Kirche auszubreiten scheint. Der schwere Weihrauchgeruch. All das Gold an den Wänden, all die Ikonen, die auf mich niederstarren. Es ist Weihnachten, Daphne, scheinen sie zu sagen. Es ist Weihnachten, du solltest doch glücklich sein.

Die Kirchenglocken ertönen. Mein Puls schießt in die Höhe, meine Nackenhaare richten sich auf. Mitternacht. Ich muss raus hier. Die frische Dezemberluft inhalieren. Mich daran erinnern, dass es in Ordnung ist. Dass ich in Ordnung bin.

Es sind nur zwölf Tage, die ich überstehen muss, dann kann ich mich zurück in meinen Alltag flüchten. Ich greife nach meiner Handtasche, erhebe mich und dränge mich an Eleni Christophou vorbei, die mit uns in der Reihe sitzt und der die beste Zuckerbäckerei im Dorf gehört. Sie ist gerade dabei, ihre Töchter nach vorn zu scheuchen, und bemerkt mich nicht. Ari beobachtet mich, während ich mich an Frauen und Kindern, an Heiligenbildern, Opferkerzen und Tischen mit Spendenkörben vorbeiquetsche. Je weiter man Richtung Ausgang kommt, desto lauter wird das Geflüster.

„Hast du gesehen, wie tief der Ausschnitt von Anastasias Kleid ist?“

„Die Liturgien werden auch jedes Jahr länger, oder?“

„Ich hab Hunger, Mama!“

„Glaubst du, wenn wir kurz eine rauchen gehen, bekommen wir die Schlusspredigt noch mit?“

Als ich die schwere Holztür aufstoße, schlägt mir der heftige Wind Schneeflocken ins Gesicht, und meine langen schwarzen Locken fliegen nach hinten. Auf dem Platz vor der Kathedrale tummeln sich mindestens so viele Menschen wie im Inneren – vermutlich, weil sie keinen Platz mehr gefunden haben. Das Stimmengewirr wird durch das ohrenbetäubende Läuten der Glocken übertönt.

Für einen Moment verharre ich auf der Stelle und atme die frostige Luft ein. Es ist schön hier, nicht wahr? Die Bäume sind von einer dünnen Schneeschicht überzuckert, unten im Tal funkeln die Dorflichter wie ein Sternenmeer, Rauch steigt von den Schornsteinen in den Nachthimmel auf. Es ist magisch. Weiße Weihnachten, wer wünscht sich das nicht?

Innerhalb von Sekunden ist mein bodenlanger schwarzer Mantel von Schneepünktchen übersät. Mit gesenktem Kopf laufe ich wieder los, vorbei an den Menschen, um die Ecke, wo ich zwischen einem Baum und der Kirchenfassade etwas abseits der Menge Unterschlupf finde.

Ich lasse mich gegen die Außenmauer sinken. Mir ist schlecht, und mein Herz rast. Der 25. Dezember ist nicht nur Weihnachten. Das Datum markiert den Beginn der Raunächte. Die nächsten zwölf Tage wird sich das gesamte Dorf im Ausnahmezustand befinden, weil verschiedene Rituale bevorstehen. Alle bereiten sich auf den Jahreswechsel vor, nehmen Abschied von Altem und begrüßen neue Möglichkeiten. Doch ich will nichts Neues. Ich will wieder ein Kind sein und die faltige Hand meines Großvaters halten. Sein verschmitztes Lächeln sehen, seinen vertrauten Geruch nach würzigem Aftershave und Pfeifentabak riechen. Ich will doch einfach nur wieder etwas fühlen.

„Daphne.“

Mein Kopf ruckt hoch. Vor mir steht eine junge Frau. Sie kann kaum älter als ich sein, höchstens Mitte zwanzig. Ihre goldbraunen Haare sind glatt und reichen ihr bis zum Kinn, sie hat stechend schwarze Augen, mit langen seidigen Wimpern, darüber ebenso schwarze Brauen, ihr Mund glänzt burgunderrot, dieselbe Farbe wie ihr Mantel. Sie ist mindestens zehn Zentimeter größer als ich, obwohl ich Stiefel mit Absatz trage und sie flache Budapester.

Bestimmt ist sie eine Verwandte von jemandem und für die Feiertage hergekommen. Ich habe sie noch nie gesehen. Bei unter tausend Einwohnern fallen Neuankömmlinge in unserem Dorf auf wie bunte Hunde.

„Daphne“, wiederholt sie, diesmal leiser, beinahe zärtlich.

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Woher kennt sie meinen Namen? Aber das ist nicht der einzige Grund, aus dem ich erstarrt bin. Ihr Blick … Etwas in ihrem Blick scheint unsere gesamte Umgebung einfrieren zu lassen. So schaut man keine Fremde an. So schaut man jemanden an, den man besser als sein eigenes Leben kennt. Meine Großmutter hat meinen Großvater auf diese Weise angesehen. Er sie nicht. Ich habe mich immer gefragt, wieso.

Ich versuche mich an einem Lächeln. Seltsam, wie leicht es mir plötzlich fällt. „Du verwechselst mich.“

Statt einer Antwort zieht sie einen Briefumschlag aus ihrer Manteltasche und hält ihn mir hin. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Bevor ich mir einen Reim darauf machen kann, beugt sie sich blitzschnell vor – Orangenblüten, Jasmin, Zedernholz, alles wirbelt gleichzeitig auf und vermischt sich zu einem betörenden Strudel –, küsst mich rechts und links auf die Wangen und verharrt dann mit den Lippen an meinem Ohr. Nun scheint nicht nur unsere Umgebung eingefroren. Auch ich werde zu Eis, die Zeit steht still, die Glocken hoch oben im Kirchturm verharren in der Bewegung, genau wie die Schneeflocken um uns herum. Die gesamte Welt hört auf, sich zu drehen, während Gedankenfragmente mein Hirn fluten. Ein Wald. Raketen, zu früh abgeschossen. Der Geschmack von bitterem Rotwein auf meiner Zunge. Ein zugefrorener See. Knackendes Eis. Gelächter. Blicke, die mein Inneres verflüssigen. Worte wie hauchzarte Berührungen: „Ich könnte dich nicht nur seinen, sondern auch deinen eigenen Namen vergessen lassen.“

Berührungen wie Versprechen.

Woher kommen diese Gedanken?

„Chronia polla.“ Kaum mehr als ein Hauchen. Sie spricht keinen Dorfdialekt, ihr Griechisch ist klar und deutlich, es klingt nach Großstadt, vielleicht sogar Athen.

Und in diesem Moment, nur für den Bruchteil eines Herzschlags, verstehe ich. Ich verstehe zum ersten Mal seit langer Zeit, wieso man jemandem viele Jahre wünscht. Denn in diesem Moment will ich nicht bloß viele Jahre, sondern eine ganze Ewigkeit, genau hier.

Die Fremde weicht zurück. Sie drückt mir den Brief in die Hand. Eine einzelne Träne läuft über ihre Wange, hinterlässt eine glänzende Spur auf ihrer Haut.

„Vernichte ihn, sobald du ihn gelesen hast“, flüstert sie.

Mit diesen Worten wendet sie sich um. Die Schneeflocken setzen sich wieder in Bewegung, wilder, erbarmungsloser, der Lärm der Kirchenglocken ist zurück, vermengt sich mit dem Geschnatter der Leute.

Zitternd atme ich aus, während meine Finger den Briefumschlag aufreißen. Immer wieder verschwimmt er vor meinen Augen.

Weine ich? Warum zur Hölle weine ich?

Der Brief besteht aus mehreren Blättern Papier, dicht beschrieben in geschwungener Schreibschrift mit dunkelroter Tinte.

Daphne, lese ich, während ein Schluchzen aus mir herausbricht und mich schüttelt. Eine dicke Schneeflocke landet auf meinem Namen, lässt ihn bluten. Ich weiß, du kennst mich nicht, aber ich verspreche dir, du liebst mich.



2

Ioanna

31. Dezember

Fünf Jahre zuvor

Kurz vor Mitternacht


Der Anfang. Ich erinnere mich genau an ihn. Meine Erinnerung ist unversehrt.

Ich sollte nicht mehr hier sein.

Sechs Tage in diesem Drecksloch von einem Kaff sollten ausreichen, um jemanden aufzuspüren. Wenn ich sie bis jetzt nicht gefunden hatte, konnte das nur bedeuten, dass sie nicht mehr hier war.

Unter meinen Schuhen knirschten die gefrorenen Grashalme, während ich den Hang hinauf durchs Dickicht rannte, als seien die Dorfbewohner hinter mir her. Ein bitteres Lachen entwich mir. Als wäre nicht ich diejenige, vor der sich das gesamte Dorf fürchten musste …

Ein irrsinniger Gedanke hatte mich davon abgehalten, vor Silvester zu gehen. Was, wenn sie hier sein würde? Was, wenn ihr Herzschlag mich um Mitternacht locken würde?

Aber so funktionierte die Magie nicht, das hatte mir Despina erklärt, als wir nackt und atemlos nebeneinander in ihrem Bett gelegen hatten. Schnell war ihr meine Fragerei auf den Zeiger gegangen, und sie war auf den Olymp geflüchtet, um ihre Ruhe zu haben. Es war erstaunlich, wie nervtötend ich selbst ohne Emotionen sein konnte.

Die anderen waren am 25. Dezember sofort ausgeströmt und hatten wie Drogensüchtige den Kontakt zu den Menschen im Ort gesucht. Mich dagegen interessierte nur ein einziger. Der Mensch, der mich aus purem Egoismus zu diesem Dasein verdammt hatte.

Rache kettete mich an diesen Ort.

Ich beschleunigte meine Schritte. Es war bitterkalt. Nicht dass mir die Kälte während der Raunächte ernsthaft etwas anhaben konnte, aber es tat gut, sie zu fühlen. Ich hatte keine wärmere Jacke angezogen, denn heute Nacht wollte ich alles fühlen.

Die Bäume lichteten sich ein wenig, und aus der Ferne war der Schrei einer Eule zu hören.

Die meisten Menschen feierten unten im Tal oder auf einem der Berggipfel, aber was, wenn sich auch jemand hierher verirrt hatte? Nur noch wenige Minuten, und niemand würde mehr sicher sein. Vor mir.

Würde ich mich dagegen wehren können? Hatte ich überhaupt eine Wahl?

Ich krallte meine Finger ineinander und grub meine Nägel in die Handrücken, bis scharfer Schmerz durch meinen Körper pulsierte. Schmerz war gut. Er war echt und klar, und schon bald würde ich ihn zusammen mit all den anderen Gefühlen vermissen.

Natürlich hatte ich eine Wahl. Vor etwa einem Jahr hatte ich die Wahl gehabt, das Schicksal seinen Lauf nehmen zu lassen. Und die letzten dreihundertsechzig Tage hatte ich jede Sekunde die Wahl gehabt, einem Menschen in die Augen zu sehen und diese Welt schmerzfrei zu verlassen. Mensch oder kein Mensch, man hatte immer eine Wahl. Das war die Wahrheit. Ich war hier, weil ich es wollte. Die Hand auf den Brustkorb eines Menschen legen, das wilde Pulsieren spüren, das inzwischen nichts als eine ferne Erinnerung war, das Erkennen in ihrem Blick aufflackern sehen, meine Angst vom Vorjahr …

Ein regelmäßiges Pochen ließ mich innehalten. In den letzten Tagen waren die Herzschläge um mich herum immer lauter geworden, doch diese Intensität war neu. Sie ließ den Boden beben und erschütterte meine Knochen.

Fuck! Da war wirklich jemand.

Dies war meine letzte Chance umzukehren. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Viertel nach elf. Noch war es nicht zu spät.

Im nächsten Moment ertönte ein Schniefen.

Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, registrierte nur am Rande, wie dornige Äste mich streiften. Sekunden später fand ich mich auf einer Lichtung mit kleinem See wieder, die von knochigen Ahornbäumen und Eichen umrahmt war. Die gefrorene Wasseroberfläche reflektierte das silbrige Mondlicht. Dahinter, auf der gegenüberliegenden Seite des Sees, ging es hangaufwärts. Und am Ufer, zwischen Schlittschuhen und Glasflaschen, saß ein Mensch mit dem Rücken zu mir im Gras.

Ihr wallendes schwarzes Haar reichte bis zur Mitte ihres Rückens. Allem Anschein nach war sie gerade dabei, sich von ihren Schlittschuhen zu befreien, scheiterte, fluchte, griff nach einer Weinflasche, nahm einen großen Schluck, stellte sie wieder ab und versuchte erneut, die Schnürsenkel zu lösen. Ohne Erfolg.

Gegen meinen Willen musste ich grinsen.

Obwohl das Gras unter meinen Schuhen knirschte, hörte sie mich nicht, bis ich neben ihr stand.

„Hi.“

Sie schaute hoch. Ihr Mantel war schwarz und kurz, genau wie das Kleid, das sie darunter trug.

„Was machst du hier ganz allein?“

Es sollte nicht wie eine Drohung klingen, doch ihr Herzschlag beschleunigte sich wie auf Knopfdruck.

Eine Gänsehaut jagte mir über den Rücken. Die letzten Tage war ich vielen Menschen begegnet, die mich unverhohlen gemustert, versucht hatten, mich in ein Gespräch zu verwickeln, oder mich plump angemacht hatten, aber Angst hatte niemand vor mir gehabt. Eine junge Frau wie ich, die allein unterwegs war, verbreitete wohl kaum Furcht und Schrecken. Außerdem hatte ich mir jeden Tag Mühe mit meinem Make-up und meiner Kleidung gegeben. Heute trug ich einen dunkelroten Overall aus Samt. Eine schöne junge Frau war noch viel weniger Angst einflößend.

Auch das Exemplar zu meinen Füßen sah gut aus. Verheult, aber süß. Ihre geröteten Augen traten leicht hervor, braun und tief, umrandet mit grünem Glitzerzeug, darunter lagen dunkle Schatten; auf ihren gepuderten Wangen waren Tränenspuren zu sehen. Ihre Nase war lang, leicht krumm, ihr Mund einen Tick zu groß, um zum Rest des Gesichts zu passen. Ich wollte eine Hand ausstrecken und ihre Lippen mit meinen Fingern nachzeichnen. Und dann wollte ich tiefer wandern, bis meine Hand auf ihrem Dekolleté lag, ihre Hitze spüren, das Hämmern in ihrem Brustkorb und …

„Meine Freunde sind abgehauen“, nuschelte sie. Mit einem weiteren Schniefen wischte sie sich übers Gesicht. Ihr Blick zuckte gehetzt über meine Gestalt, als könnte sie nicht einschätzen, in welche Kategorie sie mich stecken sollte. Freundin oder Feindin?

Mein Grinsen wurde breiter. Ich deutete auf ihre Schlittschuhe. „Brauchst du Hilfe damit?“

Mit großen Augen sah sie zu mir hoch. „Wer bist du?“

„Ioanna.“ Ich streckte ihr die Hand hin. „Und du?“

Zögerlich nahm sie meine Hand. Aus einem Impuls heraus umklammerte ich ihre fester und zog sie ruckartig hoch.

Selbst mit den Schlittschuhen an den Füßen war sie kleiner als ich.

Ihr Atem stockte, ihre Wangen röteten sich. „Daphne“, erwiderte sie erstickt. „Wir kennen uns nicht, oder? Du kommst nicht von hier?“

Mit einem Kopfschütteln gab ich ihre Hand frei. „Ich würde mich definitiv an dich erinnern.“

Und du dich an mich.

Verwirrung zuckte über ihr Gesicht. Wäre ihr rasendes Herz nicht eine solche Ablenkung gewesen, hätte ich vielleicht gelacht.

Ich legte den Kopf schief und durchbohrte sie mit meinem Blick. „Wie heißt er?“

Mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit gab es einen Kerl, wegen dem sie sich die Augen aus dem Kopf heulte.

Ihre Augen wurden noch größer. „Wie … Wie heißt wer?“

O ja, sie war definitiv der Typ Unschuld vom Lande, der sich in einen Jungen aus ihrer Schulklasse verknallte, ihn kurz nach ihrem Abschluss heiratete, sich unzählige Babys von ihm machen ließ und glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende mit ihrer Familie in demselben Kaff blieb, in dem sie geboren war.

Ich erwiderte nichts, starrte sie einfach nur an.

Meine Schwester hatte meinen Röntgenblick gehasst. „Bitte hör auf, Leute so anzuglotzen“, hatte sie mich angefleht. „Du ziehst zu viel Aufmerksamkeit auf dich. Das ist an einem Ort wie diesem besonders riskant.“ Steriani war immer ein Fan von mit dem Hintergrund verschwimmen gewesen, besonders wenn es um mich ging. Natürlich machte sie sich Sorgen, immerhin war ich das schwarze Schaf der Familie. Der Grund, aus dem wir den Kontakt zu unseren Eltern abgebrochen hatten. Aber manchmal hatte ich mich gefragt, ob sie sich nicht bloß Sorgen um mich machte, sondern sich auch für mich schämte.

„Ari“, riss mich Daphnes Stimme aus meinen Gedanken. Sie seufzte laut. Es klang nach Aufgeben. „Er heißt Ari.“

Mein Grinsen kehrte zurück. „Was hat das Schwein getan?“

Ein Lachen entwich ihr. Sie selbst schien überrascht davon zu sein.

Es klang schön. Frei.

„Ich bin nur kurz in den Wald gegangen, weil ich mal pinkeln musste, und dann waren meine Freunde plötzlich weg.“ Sie biss sich auf die volle Unterlippe. Mein Blick blieb zu lange daran hängen. „Ich habe gehofft, ihn um Mitternacht endlich zu küssen. Aber es sieht so aus, als würde er lieber Zeit mit Thalia verbringen wollen … Sie antworten mir alle nicht auf meine Nachrichten.“

Ich schaute auf die Schlittschuhe neben uns und wieder zurück in ihre dunklen Augen, und plötzlich spürte ich den Leichtsinn, der mein Inneres zum Tanzen brachte und die Verzweiflung der letzten Tage in den Hintergrund rücken ließ.

„Ich könnte dich seinen Namen vergessen lassen“, sagte ich.

Ihre Gesichtszüge entgleisten ihr. „Was?“

Mit einer gehobenen Braue deutete ich auf die Schlittschuhe vor uns. „Lust, eine Runde mit mir zu laufen?“

Ein paar Sekunden schien sie zu überlegen, dann zuckte sie mit den Schultern. „Okay. Warum nicht?“

Ich war wirklich nicht Angst einflößend genug.

Kurz darauf hatte ich meine Stiefel gegen Schlittschuhe getauscht, die mir eine halbe Nummer zu eng waren. Auch dieser Schmerz war willkommen.

Nur ein paar Minuten, bevor die anderen zurückkamen. Ich würde ihre Herzschläge hören, sobald sie in der Nähe waren. Nur ein paar Minuten Ablenkung, bevor ich mich wieder der Finsternis übergab. Das hatte ich mir verdient.

Die vereiste Oberfläche des Sees war von Fahrspuren zerkratzt, das Mondlicht offenbarte in den Tiefen darunter das dunkle Wasser. Daphne war etwas wackelig auf den Beinen, und ihr Blick zuckte immer wieder in Richtung Wald. Vermutlich hoffte sie, dass ihre Freunde jede Sekunde zurückkehren würden.

Nachdem wir beide ein paar Runden nebeneinander gefahren waren, beruhigte sich ihr Herzschlag. Die Stille drückte auf meine Ohren. Ich wollte keine Stille. Das ganze verfluchte Jahr lang hatte ich Stille gehabt. Abrupt blieb ich stehen, änderte meinen Kurs, sodass ich nun auf sie zulief, erwiderte ihr zaghaftes nervöses Lächeln nicht, sondern starrte ihr ausdruckslos in die Augen und beschleunigte. Ihr Herz begann wieder zu rattern. Sie wollte ausweichen, aber keine Chance, ich war viel zu schnell. Kurz bevor ich gegen sie prallen konnte, verlagerte ich mein Körpergewicht zur Seite, schnappte mir ihre Hand und riss sie herum. Sie schwankte, kämpfte um ihr Gleichgewicht, doch mein Griff war eisern, stützte sie.

„Was zum …“

„Vertrau mir“, wisperte ich. Und damit stieß ich sie von mir, nur um sie im nächsten Moment ruckartig an mich zu ziehen. Die Hitze unserer Körper war im Kontrast zur Kälte beinahe unerträglich. Wie lange war es her, dass ich die Wärme eines Menschen an mir gespürt hatte?

Daphne schnappte nach Luft, ihr Herz raste jetzt, ihre Augen blitzten, wurden ganz schmal. War sie wütend auf mich? Jedes ihrer Gefühle war ein gefundenes Fressen für das ausgehungerte Loch in meiner Brust. Mein Gott, ich hätte es von Anfang an den anderen gleichtun und mich an alle Menschen in Reichweite ranschmeißen sollen …

Ich griff auch nach ihrer anderen Hand, ehe ich begann, in Schlangenlinien rückwärts übers Eis zu gleiten und sie mitzuziehen. Der eisige Wind wirbelte meine Haare nach hinten und ihre nach vorn. Ihre dunklen Locken peitschten mir ins Gesicht. Sie trug Parfum. Etwas Süßliches, das mich an Honig und Zimt erinnerte.

Während wir über den See flogen, riss ich unsere Hände nach oben und krallte meine Nägel in ihre Haut. Mein Blick liebkoste ihr errötetes Gesicht. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wollte sie etwas sagen, das ihr auf halber Strecke entfallen war.

„Was noch?“, rief ich gegen den brausenden Wind an, ließ unsere Hände wieder sinken, gab eine frei, um Daphne um ihre eigene Achse wirbeln zu können. Einmal, zweimal, dreimal.

Ein erstickter Laut entwich ihr. Erst als sich ihr Gesicht wieder vor meinem befand, realisierte ich, dass sie lachte. „Was?“, keuchte sie.

„Was willst du noch?“, fuhr ich fort, samtweich und eine Spur provozierend. Ich verringerte mein Tempo, sodass auch sie automatisch langsamer wurde. „Im Leben, meine ich. Außer einen Kuss von deinem Angebeteten.“

Ihre Wangen färbten sich noch röter. Und dann passierte es. Nur für den Bruchteil einer ihrer viel zu hektischen Herzschläge zuckte ihr Blick zu meinem Mund. So schnell, dass man es für Einbildung hätte halten können. Hätte ich noch ein Herz gehabt, hätte es in diesem Moment vermutlich vergessen, dass es schlagen sollte.

„Herausfinden, wer ich bin, schätze ich“, murmelte sie. „Aber eigentlich will ich nur, dass es allen gut geht.“

Stirnrunzelnd ließ ich sie los. „Allen?“

„Meiner Familie, meinen Freunden. Wenn bei ihnen alles in Ordnung ist, bin ich glücklich.“

Erst kam der Neid, Sekunden später wurde er von Spott übertrumpft. „Und was ist mit dir?“, fragte ich höhnisch. „Wie willst du herausfinden, wer du bist, wenn dein Glück von anderen Menschen abhängt?“

„Vielleicht ist das meine Bestimmung. Vielleicht gibt es Menschen, die auf der Welt sind, um sich um andere zu kümmern. Ist das etwas Schlechtes?“

„Sich kümmern, ja klar.“ Ein hohles Lachen entwich mir. „Du meinst, du bist dazu da, um anderen zu gefallen?“ Sie war stehen geblieben, ich begann sie zu umkreisen. Erst langsam, dann immer schneller. „Das ist dein Lebensziel? Wie überaus inspirierend!“

Sie verdrehte die Augen. Doch da war etwas in ihrer Miene. Argwohn? Scham?

„Und du willst die Weltherrschaft, oder was?“

„Die Welt geht mir am Arsch vorbei.“ Ich verließ den Kreis, den ich um sie gefahren war, und bewegte mich ein bisschen weiter weg.

Die Welt ist nichts, wenn du keinem Menschen in die Augen sehen darfst.

„Ich habe keine Ziele“, rief ich ihr über die Schulter zu. „Ich lebe nur im Jetzt.“

Ihr Lachen schien mich zu verfolgen. „Lügnerin.“

Bevor ich mir eine Antwort darauf überlegen konnte, erklangen ihre Schlittschuhe hinter mir, aggressiv und entschlossen trafen sie aufs Eis. Diesmal war sie diejenige, die nach meinen Händen griff, sie umklammerte und mich an sich riss, die begann, schneller übers Eis zu fahren und mich vor sich herzuschieben. Ich war viel zu perplex, um mich zu wehren. Ihre Augen glühten. Und obwohl ihr Herz immer noch so heftig in ihrer Brust schlug, dass es unsere Umgebung zum Vibrieren brachte, war von ihrer Unsicherheit nichts mehr zu spüren.

Kurz bevor wir das Ende des Sees erreichten, verzogen sich ihre Lippen zu einem schiefen Lächeln, sie fuhr eine scharfe Kurve und riss mich an sich, damit ich nicht ins Gras fiel. Ihr Mund war nur Millimeter von meinem Hals entfernt. Ihr heißer Atem strich über meine Haut. Die Schwere von Rotwein, vermischt mit etwas Süßem.

Mein Körper stand in Flammen. Ich wollte den See verlassen, sie mitzerren, zu Boden stoßen, mich über sie beugen und meine Lippen auf ihre pressen. Zur Hölle mit ihrem Herzen! Ich brauchte ihr Herz nicht. Ich brauchte nur ein paar Augenblicke …

„Wie alt bist du?“, fragte sie, ließ eine meiner Hände los, umklammerte die andere umso fester. Seite an Seite schwebten wir über den See. „Anfang zwanzig?“

Es war eine Herausforderung, nicht auf ihre Lippen zu starren. „Neunzehn.“

Erneut lachte sie, diesmal klang es allerdings traurig. „Eine Siebzehnjährige, die für andere, und eine Neunzehnjährige, die nur für den Moment leben will? Was meinst du, wer von uns beiden redet den überzeugenderen Blödsinn?“

Das Zischen einer Rakete ertönte, bevor sich Lichterkonfetti über den Nachthimmel ergoss. Ich sah es nur aus den Augenwinkeln. Und auch Daphne löste den Blick nicht von mir.

„Wahrheit gegen Wahrheit?“, flüsterte sie.

Ich konnte bloß nicken. Ihr Herz. Ihr wild pochendes Herz. Ihr Mund. Diese Augen.

Das Feuerwerk hatte begonnen. Die Zeit rannte davon. Ich musste weg von hier.

„Ich würde gern jemanden lieben.“

Meine Brauen schossen in die Höhe. „Was ist mit deinem Ari?“

Schon wieder errötete sie, aber das hielt sie nicht davon ab, genervt dreinzublicken. „Ich meine keine Schwärmerei. Ich meine das, wovon alle reden. Das einzig Wahre. Ich würde gern wissen, wie es sich anfühlt, sich vollkommen nach jemandem zu verzehren. Ich will nicht mehr atmen können, wenn er vor mir steht. Ich will Herzrasen und Verzweiflung und Leidenschaft. Alles auf einmal. Und dann will ich mich an ihn gewöhnen, mich öffnen und ihn öffnen, ich will, dass wir einander erkennen wie aus einem anderen Leben, unsere eigene Geheimsprache entwickeln. Ich will ihm jeden Moment erzählen, den er verpasst hat, und alles über ihn erfahren. Das ist es, was ich will.“

Sie war viel zu nah. Ihre Hand in meiner war glühend heiß.

Ich räusperte mich. „Und du glaubst nicht, das könntest du mit Ari haben?“

„Vielleicht schon.“ Schulterzuckend biss sie sich auf die Unterlippe. „Keine Ahnung. Dafür müsste er mich erst mal beachten.“

„Glaubst du nicht, du hast jemanden verdient, der …“

„Ja, ja, ich weiß“, schnitt sie mir das Wort ab und lachte peinlich berührt.

Und plötzlich war die Hitze nicht nur an meiner Hand. Sie breitete sich wie ein Lauffeuer aus, kroch meinen Arm empor, geradewegs in meine Brust, wo sie in Flammen aufging.

Das Donnern weiterer Raketen ertönte, diesmal näher. Wir zuckten gleichzeitig zusammen.

Als wir am Rand des Sees vorbeifuhren, stolperte ich vom Eis und zerrte sie mit mir. Wir wankten, und bevor sie ihr Gleichgewicht wiederfinden konnte, stieß ich sie zu Boden und beugte mich über sie. Mein Verstand hatte sich verabschiedet. Ich wollte Wärme. Ich wollte Gefühle. Ich wollte alles, alles, alles.

Daphnes Brustkorb hob und senkte sich viel zu hektisch. Doch da war keine Furcht in ihren Augen. Sie schaute zu mir auf, als sähe sie mich zum ersten Mal.

Mein Atem stockte, mein Mund war staubtrocken. „Ich könnte dich nicht nur seinen, sondern auch deinen eigenen Namen vergessen lassen.“

Als ihr Herz erneut schneller schlug, war mir für eine Sekunde, als befände es sich nicht in ihrer, sondern in meiner Brust.

Raketen. Feuerwerk. Gelächter. Ein Schrei aus weiter Ferne.

Daphne machte keine Anstalten, sich aufzurichten. Wieso war es so einfach? Wieso wehrte sie sich nicht? Wieso kamen ihre Freunde nicht zurück, um sie vor dem Monster zu retten, das über ihr kauerte?

„Ioanna.“ Ein Lächeln zupfte an ihren Lippen, als bereitete es ihr Freude, meinen Namen auszusprechen. „Zeit für deine Wahrheit.“

Für ein paar Sekunden hatte ich keinen Schimmer, wovon sie sprach. Meine Wahrheit. Was wollte ich von meinem Leben? Wer wollte ich wirklich sein?

Sie hatte recht. Nur im Jetzt zu leben, war nicht genug.

„Ich will dir nichts antun“, hörte ich mich sagen, als wäre ich eine Fremde. „Ich will, dass du lebst.“

„W… wie bitte?“ Zum ersten Mal schlich sich Furcht in ihre Stimme.

Plötzlich fiel mir das Schlucken schwer. „Du sollst leben. Du sollst alles bekommen, was du dir wünschst. Du sollst herausfinden, wer du bist. Du sollst jemanden lieben. Du sollst eine Chance haben.“

Nicht so wie ich.

Sie war ein Jahr jünger, als ich es gewesen war. Ich konnte ihr das nicht antun. Ich konnte das niemandem antun.

Mit all meiner Willenskraft zwang ich mich, den Blick von ihr abzuwenden. Ich ließ mich nach hinten fallen und begann, die Schlittschuhe aufzuknoten. Meine Finger zitterten. Ich fluchte, wurde aggressiver, ich musste weg von hier, jetzt sofort, sonst würde es zu spät sein, verdammt!

Als ich mich endlich von den Schuhen befreit hatte, schleuderte ich sie von mir, fluchte lauter, mied jeden Blick in ihre Richtung, während ich in meine Stiefel stieg. Nicht nur meine Hände, sondern mein ganzer Körper bebte inzwischen.

„Das ist keine richtige Antwort“, erwiderte Daphne ruhig. Sie schien keine Notiz davon zu nehmen, was mit mir geschah. „Es geht um dich. Was du willst. Ich war auch ehrlich zu dir.“

„Ich will dein Herz.“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Knurren.

Nun sah ich sie doch an. Zwar konnte sie nicht ahnen, wie wörtlich ich das meinte, aber mein Tonfall schien ihr zu verraten, dass ich nicht mehr flirtete, denn die Angst in ihren Zügen nahm zu.

„Hoffentlich sehen wir uns nie wieder“, sagte ich.

Ihr Herzschlag nahm all meine Sinne ein. So kräftig. So lebendig. Ich wollte sie an mich ziehen. Ich musste …

Nein! Mein eigenes Gesicht erschien vor mir. Mein unschuldiges naives Gesicht vom Vorjahr. Daran musste ich mich festklammern.

„Wenn du schlau bist, dann verlässt du dieses Dorf für heute Nacht. Solange du noch kannst“, würgte ich hervor.

Alles in mir schrie danach zu bleiben. Genau aus diesem Grund wirbelte ich herum und rannte. Ich würde nicht wie meine Schwester sein. Und auch nicht wie die anderen Monster.

Ich hatte eine Wahl.

„Charmant-dreist und hinreißend zärtlich.“ ― Queer.de

„Eigentlich lag ich immer daneben. Neben den Jungs und neben den Mädchen, neben der richtigen Antwort und noch wichtiger: neben der richtigen Frage.“

Blick ins Buch
Die Geschichte meiner SexualitätDie Geschichte meiner Sexualität

Roman

„Dieser Debütroman hat das Zeug dazu, ein Hit zu werden.“ NRC Handelsblad

„Das neue literarische Talent 2021“ Vogue

Eigentlich lag Sofie immer daneben. Bei den Jungs und bei den Mädchen, bei der richtigen Antwort und noch wichtiger: bei der richtigen Frage. Mit siebzehn plante sie ihre Solide Entjungferung mit Walter, die immerhin keine Enttäuschung war, aber doch irgendwie Wahnsinn. So Wahnsinn wie ein Flugzeugabsturz, überwältigend und nicht so richtig gut. Einige Jahre später hat sie es aufgegeben, die Frau zu werden, die andere in ihr sehen. Sie trägt die Haare raspelkurz, schwärmt für Jennifer, Muriel und Frida.

„Ein Debüt, wie man es selten erlebt. Die Entdeckung einer ganz eigenen Stimme, voller Bravour und Mumm!“ Ruth Joos, VPRO

Wie Sofie fast zum Star der lesbischen Community von Amsterdam wird, unter heftiger Verliebtheit leidet und doch darum ringt, andere nah an sich heranzulassen, davon erzählt Tobi Lakmaker in seinem gefeierten Debütroman. Mit charmant-dreistem Witz und hinreißender Zärtlichkeit schreibt er von den Räumen zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit, von queerer, fluider und Trans-Identität – und davon, dass wahre Intimität dort beginnt, wo wir alle Kategorien vergessen.

„Wenn Sie mich fragen, stößt Lakmaker Sally Rooney vom Thron.“ Jozedien van Beek, De Standaard

„Beißend, witzig und manchmal traurig, mit einem Touch Salinger.“ De Morgen

Meine Mutter ist eine Vaterjüdin

Meine Mutter hat immer gesagt: „Unsere Freunde sind nicht reich, sie haben bloß im richtigen Moment ein Haus gekauft.“ Meine Eltern haben in ganz genau dem richtigen Moment gekauft: in der Jacob Obrechtstraat 7 – im Herzen von Oud-Zuid. Jemand hat mir mal erklärt, in Amsterdam Oud-Zuid wohnten zwei Sorten von Menschen: ordinär Reiche und intellektuelle Juden. Ordinär reich waren wir nicht, wenn ich meinen Eltern glauben darf, Juden waren wir auch keine – meine Mutter war nur eine Vaterjüdin –, und als ich meinen Vater mal gefragt habe, was ein Intellektueller sei, antwortete er: „Ich kenne nur einen: Wilfred Oranje.“

Mit zwanzig habe ich eine Weile im alten Zimmer von Wilfred Oranje gewohnt, denn der war inzwischen tot, und immer, wenn ich dort wach wurde, sah ich Hunderte von Büchern von Sigmund Freud um mich herum. Lange habe ich es dort nicht ausgehalten. Ich wollte zwar auch eine Intellektuelle werden, aber jedes Mal, wenn ich ein Buch las, fielen mir die Augen zu. Ich kann es nicht ändern: Wenn ich zu lange auf Werke von Männern starre, die aussehen wie Sigmund Freud, fallen mir einfach die Augen zu.

Von meinem achtzehnten bis zweiundzwanzigsten Lebensjahr habe ich versucht, mir alle möglichen Sigmund Freuds einzuverleiben, doch was hatte ich am Ende davon? Nur das deutliche Gefühl, dass ich nicht Sigmund Freud war. Genauer gesagt: dass ich kein Mann war, sondern eine Frau. Damit tat ich mich sehr schwer – mit dem Frausein. Man wollte, dass ich meine Haare lang wachsen lasse. Natürlich sagt dir das nie jemand ins Gesicht, aber wenn Leute wollen, dass du etwas unbedingt schluckst, machen sie ja meist nicht den Mund auf. Sie lassen es dich wissen.

Inzwischen habe ich sehr kurze Haare und gehe in eine Selbsthilfegruppe für Transgender. Willst du mehr darüber wissen? Ruf mich gerne an. Ich bin überhaupt nicht transgender, sondern einfach nur jemand, der gerne Frauen penetriert und es leid ist, dafür ständig Geräte anschaffen zu müssen. Die Teile kosten ein Schweinegeld, und zu oft weiß man nicht, was man mit dem sauteuren Ding anfangen soll, weil es plötzlich schief in die Gegend ragt. Wisst ihr, womit ich echt durch bin? Mit Schieflagen jeglicher Art.

Natürlich hätte ich auch Bücher von Menschen lesen können, die nicht wie Sigmund Freud aussehen – von Frauen zum Beispiel oder schwarzen Männern. Oder noch besser: schwarzen Frauen. Aber Fakt ist doch, dass die nie zum Kanon gehören. Dieser beknackte Kanon. Und ich weiß, jetzt denkt ihr: „Woolf gehört doch auch zum Kanon, Baldwin gehört doch auch zum Kanon.“ Wollt ihr eine ehrliche Antwort? Von Baldwin will ich mir schon lange ein Buch kaufen, und bei Virginia Woolf sind mir genauso die Augen zugefallen. Unmittelbar nachdem sie die Blumen kaufen wollte, fielen mir die Augen zu.

Als ich ungefähr siebzehn war, setzte ich mir in den Kopf, ein Genie zu werden. Das Ärgerliche an Genialität ist nur, dass es sich damit genauso verhält wie mit Homosexualität: Man wird es nicht, man ist es. Heißt es. Wenn ihr mich fragt, waren alle Genies einfach Menschen, die es schafften, nicht ans Telefon zu gehen, wenn die Welt mal wieder was von ihnen wollte, um sich derweil auf etwas zu konzentrieren, worauf die Welt dann rein zufällig gewartet hatte. Na egal, jedenfalls: Ich ging auch oft nicht ans Telefon, so oft, dass meine Freundinnen mir die Freundschaft kündigten. Stattdessen fingen sie an zu lästern. Sie sagten, dass mit mir was nicht stimme, dass ich ja wohl lesbisch sein müsste, so, wie ich Zahra ansehen würde. Recht hatten sie – in allen Punkten.

Weil mich meine Freundinnen fallen gelassen hatten, hing ich immer öfter mit Felix und Chiel ab. An unserem weißen und elitären Gymnasium waren sie am weißesten und elitärsten, und das gefiel mir. In den Pausen sagte Chiel meist nur einen Satz: „War’s das jetzt?“, und dann nickte Felix. Ich nickte ebenfalls, aber eigentlich wusste ich nicht so genau, was er damit sagen wollte. Ich wusste nur, dass er recht hatte, denn das hatten sie, die weißen, elitären Typen. Ich selbst hatte selten recht, und das ging mir mit der Zeit ziemlich auf den Geist.

Eigentlich lag ich immer daneben. Bei den Jungs und bei den Mädchen, bei der richtigen Antwort und noch wichtiger: bei der richtigen Frage. Man kann so viele Antworten haben, wie man will, wenn einem die richtige Frage fehlt, redet man bloß im luftleeren Raum. Das immerhin ist mir inzwischen klar geworden. Mir ist klar geworden, dass Antworten einer Frage vorangehen. Und solange die nicht stimmen, wirst du eins immer behalten: unrecht.


Walter, der Recruitment Consultant

Die Geschichte meiner Sexualität geht so: Seit jeher bin ich auf der Suche gewesen nach jemandem, der die Türen und Fenster schließt und sagt: Jetzt ist alles gut. Konkreter stand ich erst auf Männer und dann auf Frauen, natürlich schon immer auf Frauen, auf Muriel, die rothaarige Nachhilfelehrerin mit den langen Beinen, auf welche Frau stand ich denn bitte nicht, und doch waren meine Augen oder irgendwas anderes Essenzielles verschlossen. Das spielt aber eigentlich keine Rolle.

Ich wurde von Walter, dem Recruitment Consultant, entjungfert, aber damit will ich mich nicht allzu lange aufhalten. Er wählte die Liberalen, und wenn es mir echt nicht gelang, irgendeine Erregung zu spüren, versuchte ich, daran zu denken, wegen dieses schrägen Zusammenhangs zwischen dem Geilen und dem Verhassten.

Ich wurde in der Sarphatistraat entjungfert, in einem Haus am Weesperplein, aus dem ein Fahnenmast ragt. Daran erkenne ich es noch heute, denn der Mast erinnert mich an Walters dicke und aufdringliche Erektion. Walter war sehr lieb. An dem Abend sagte er: „Ich glaube, ich bin nervöser als du.“ Er war tatsächlich nervöser als ich. Mir ging das alles, um ehrlich zu sein, am Arsch vorbei.

Warum ich unbedingt entjungfert werden wollte? Ich wollte meine S. E. hinter mir haben. Meine S. E. – das war meine Solide Entjungferung. Ich schwänzte den Unterricht oft mit Milan in der Coffee Company, und unser Gespräch kreiste immer nur um unsere zukünftige S. E. Vor allem kreiste es um die sorglose und wilde Zeit danach. Die S. E. sollte vor unseren Kindern als Alibi fungieren, denn zweifellos würden die irgendwann mit der Frage kommen: „Mit wem war eigentlich dein erstes Mal?“ Und dann könnten wir darauf eine grundsolide Antwort geben.

Milan wurde letztendlich in der Toilette der Amsterdamer Uniklinik entjungfert – er hatte angefangen, Medizin zu studieren. Und ich wie gesagt von Walter, in der Nacht vom 1. auf den 2. September 2011. Wir trafen uns danach noch ein Weilchen, nicht weil mir an dem Kontakt so viel gelegen hätte, sondern weil die Solidität es erforderte.

Walter und ich hatten uns im Mazzeltof kennengelernt, kurz nachdem ich Matthijs van Nieuwkerk gesimst hatte. Eigentlich wäre ich viel lieber mit Van Nieuwkerk ins Bett gegangen, aber er hat mir nie auf meine SMS geantwortet. Mein Bruder hatte mir seine Nummer gegeben, denn der hatte jede Menge Connections. Danach sehnte ich mich mit siebzehn: Sex und jede Menge Connections.

Um mich auf meine SMS an van Nieuwkerk konzentrieren zu können, hatte ich mich in eine Snackbar um die Ecke verzogen. Als ich ins Mazzeltof zurückkam, sah ich Walter da stehen und küsste ihn direkt auf die Wange. Hinten in der Kneipe saß Betsie. Ich ging zu ihr und sagte: „Der wird’s.“ Seit ich Betsie kannte, war sie immer minimal hübscher gewesen als ich, weshalb es die Hölle war, mit ihr auszugehen. Ich war ständig zweite Wahl. Darum musste ich Männer davon überzeugen, dass es nur eine Option gab: mich, Sofie Lakmaker.

Um Walter von Betsie fernzuhalten, bot ich an, die nächste Runde zu holen. An der Bar versuchte ich, Blickkontakt herzustellen. Walter sah mich furchtbar ängstlich an, und um ihn zu beruhigen, gab ich ihm das Bier, das für Betsie bestimmt gewesen war. Ich sagte: „Wir könnten jetzt rumknutschen.“

„Ich mag keine selbstbewussten Frauen“, antwortete er. Ich nickte, und dann knutschten wir rum.

Eine Woche später verabredeten wir uns im Lempicka. Er erzählte mir, er komme aus Heerlen und sein Opa habe eines Tages entdeckt, dass man altes Frittierfett in Biodiesel umwandeln könne, weshalb seine Eltern jetzt einen Pool im Garten hätten. Ich erzählte ihm, dass ich Philosophie studieren wolle. Woraufhin er mir vorwarf, ich sei links. Ich erwiderte, er sei rechts, und schlug vor, zu ihm zu gehen.

Wir haben dann auf seinem Bett noch ein bisschen weiter rumgeknutscht, und nach einer Viertelstunde sagte ich: „Lass es uns einfach machen.“ Walter litt Höllenqualen, das merkte ich wohl, aber ich hatte keine Zeit zu verlieren. Zumindest dachte ich das. Er war sechsundzwanzig und ich wie gesagt siebzehn, und das ist ja das Verrückte: Je mehr Zeit einem bleibt, desto eiliger hat man es. Ich weiß noch, dass er etwas zu knappe Boxershorts trug, die immer knapper wurden durch seinen halb steifen Schwanz. Später stellte sich heraus, dass Walter durchgängig einen Halbsteifen hatte, weswegen er sich ständig einen runterholen musste. Eine Zeit lang wollte er, dass ich das tue, aber ich war offenbar zu grob.

Freundinnen von mir hatten auf ihre Entjungferung schwer enttäuscht reagiert. Alle sagten: „Das soll es gewesen sein?“ Ich dagegen fand es Wahnsinn. Vielleicht nicht im rein positiven Sinn, eher so, wie ein Flugzeugabsturz Wahnsinn ist: überwältigend und so, dass man es womöglich nie in Worte fassen kann. Walters Schwanz war überall. Nach einer Weile sagte er: „Ich hätte gerne, dass du ihm ein Küsschen gibst.“ Ich fand das eigentlich albern, habe es dann aber doch getan. Wenn man nie etwas tut, was man albern findet, geht auch nichts voran.

Nachdem Walter gekommen war, sagte er: „Versprichst du mir, dass wir es nie wieder so machen?“ Damit meinte er, ohne Kondom. Ich erinnere mich nicht mehr, wie es dazu kam – man kann nicht behaupten, dass es dem Zauber des Augenblicks geschuldet gewesen wäre. Das Ganze dauerte Stunden. Ich habe zwar mal erwähnt, ich sei zu „Everywhere“ von Fleetwood Mac entjungfert worden, und das Lied lief tatsächlich irgendwann, aber wenn man’s genau nimmt, bedurfte es der kompletten Geschichte der westlichen Popmusik.

Als ich aufwachte, stand Patrick im Türrahmen. Patrick war Walters Mitbewohner, und wenn ich ehrlich bin, fand ich ihn um einiges attraktiver als Walter. Sein Haar war streng nach hinten gekämmt. Wie Walter kam er aus Limburg, nur dass er das G weniger weich aussprach. Eigentlich sah Patrick aus wie ein Arschloch, aber genau das gefiel mir. Er sah zumindest nach irgendwas aus. Walter sah aus wie jemand, der in der Metro neben einem steht und den man dann fragt, ob man mal vorbeidarf. So einer war Walter.

Patrick war auf der Suche nach seiner Krawatte, und als ich mich umdrehte, um Walter zu fragen, sah ich, dass das Bett ansonsten leer war. Er war schon zur Arbeit gefahren, wo er Leute recruiten musste. Fragt mich nicht, worum es da ging, aber er verdiente eine Menge Geld. Walter war in Utrecht beschäftigt, und ich fand das ziemlich deprimierend. Vielleicht war das sogar meine größte Angst: irgendwann mal irgendwo beschäftigt zu sein. Erst recht in Utrecht.

Patrick arbeitete bei einem Start-up in Amsterdam, und als ihm auffiel, dass Walter nicht da war, hörte er gar nicht mehr auf zu grinsen. Er fragte, ob wir es denn nett gehabt hätten. Ich antwortete, dass wir es furchtbar nett gehabt hätten, doch darüber erschrak er ziemlich. Die Leute mögen es nicht besonders, wenn man das Wort „furchtbar“ zu oft benutzt. Vielleicht, weil das zu selbstbewusst klingt.

Patrick blieb dann noch eine Viertelstunde im Türrahmen stehen, und dadurch verspannte ich mich ein bisschen. Ich hatte nämlich absolut gar nichts an, und ich glaube, das wusste er auch. Sich nackt mit jemandem zu unterhalten, dem nur die Krawatte fehlt, sorgt für ein gewisses Gefälle. Schließlich sagte ich: „Und jetzt lese ich das Quote 500.“ Dieses Ranking der reichsten Niederländer lag neben Walters Bett, zusammen mit ein paar Büchern voller Ratschläge, wie man mit minimalem Aufwand einen Haufen Geld machen kann. Einfach altes Frittierfett in Biodiesel umwandeln, würde ich sagen, aber das ist wohl doch nicht alles.

Kurz nach meiner Entjungferung zogen Patrick und Walter in ein Haus in Zeeburg. Das hatten sie vom frisch gewählten Bürgermeister Van der Laan gekauft, denn der zog natürlich in seine Amtswohnung. Er hinterließ eine ganz ordentliche Hütte. Sie wurde allerdings von Patricks Flamme Lianne eingerichtet, und die hatte einen fürchterlichen Geschmack. Lianne war Zahnarzthelferin, ein Beruf, der sich in der Wahl des Mobiliars niederschlug. Eigentlich hatte man in diesem Haus an der Ertskade ständig das Gefühl, man wäre zum Zähneziehen da.

Und wer glaubt, Liannes Anschlag auf die Einrichtung sei nicht zu toppen, kennt Patrick schlecht. Der verteilte nämlich im ganzen Haus Bücher von Kluun. Ich schwör’s euch: Wohin man guckte, überall lag so ein widerliches Buch. „Super Typ“, sagte Patrick jedes Mal über ihn. Das ging mir wahnsinnig auf die Nerven. Trotzdem war er immer noch ein unterhaltsamerer Gesprächspartner als Walter – mit dem sprach ich damals kaum noch. Der wollte mich die ganze Zeit dazu bringen, Bücher zu lesen, die einem helfen, den eigenen Körper kennenzulernen, aber dazu hatte ich überhaupt keine Lust. Deshalb hielt ich mich beim Frühstück und in anderen müßigen Momenten einfach an Patrick und Lianne. Bei denen war wenigstens was los, wisst ihr? Lianne war streng gläubig, und um sie zu ärgern, sagte Patrick ständig „Gott verdammt“. Dann sah er mich feixend an, woraufhin wir beide losprusteten. Super Typ, dieser Patrick.

Am 22. November 2011 postete Walter auf Facebook, dass er Single und auf der Suche sei. Wütend rief ich ihn daraufhin an, und obwohl er im Auto saß, ging er direkt dran. Er hatte so eine Freisprechanlage. „Schätzchen“, sagte er, „du bist siebzehn.“ „Aha“, sagte ich. Kurz hörte ich nur das Rauschen der A 2, und dann flüsterte er: „Wenn du dreiundzwanzig wärst, hätte ich dir sofort einen Heiratsantrag gemacht.“ Das war natürlich genauso albern, und es gibt Tage, an denen ich mich frage, was wohl aus uns geworden wäre, wenn wir das einfach durchgezogen hätten. Wahrscheinlich wäre ich jetzt auch irgendwo beschäftigt, und vielleicht wäre das gar nicht mal so schlimm.

Nenn es Liebe

2018 wurde ein sehr schlechtes Buch über mich geschrieben: Liebe. Selbst hätte ich es vielleicht Nenn es Liebe oder so ähnlich betitelt, denn das, was zwischen mir und dem Autor war, hatte mit Liebe nur sehr entfernt zu tun. In dem Buch heiße ich „das Mädchen A.“, aber das ist halt Unsinn. Ich heiße ganz einfach Sofie Lakmaker. Ich habe nur Rezensionen gelesen, nicht das Buch selbst, und die waren vernichtend. Das reicht mir. Manche Leute behaupten, Rezensenten seien auch nur Menschen, aber ich glaube das nicht. Meiner Meinung nach haben sie immer recht und befriedigen damit ein fast seit meiner Geburt bestehendes Bedürfnis: recht zu haben und Menschen nahe zu sein, die dieses Recht für sich in Anspruch nehmen.

Auf dem Cover ist ein sehr hübsches Mädchen drauf, viel hübscher, als ich es bin – oder zu der Zeit war, in der ich mit Lusche D. – so nenne ich ihn jetzt mal – zusammen war. Wahrscheinlich merkte Lusche D. das auch nach einer Weile, konnte es aber nicht mehr korrigieren, denn dank der schlechten Kritiken gab es natürlich keine zweite Auflage.

Meine Mutter sagte, Rache sei ein Gericht, das man am besten kalt serviert, doch ich weiß eigentlich gar nicht so genau, ob ich darauf aus bin. Vielleicht haben die Rezensenten schon für mich Rache genommen, oder vielleicht ist Rache einfach nicht so wichtig. Rache ist etwas für nachtragende Menschen – ich bin vor allem traurig.

Ich lernte Lusche D. kennen, als ich vier war, und das war natürlich nicht der Moment, in dem wir zusammenkamen, denn er war damals zwölf. Er war der beste Freund meines Bruders Daniel und wollte nie bei uns zu Hause spielen, sondern immer bei sich. Meine Eltern misstrauten ihm deshalb sofort, aber ich habe mich mit so was wie Misstrauen eigentlich nie lange aufgehalten. Erst recht nicht mit vier.

Wir sahen uns zum ersten Mal seit langer Zeit auf Daniels Geburtstag wieder. Ich war gerade von Walter, dem Recruitment Consultant, entjungfert worden, und davon erzählte ich ihm in allen Einzelheiten. Während ich redete, sah ich ein glühendes Interesse in seinen Augen, und ich glaube, diesen Blick konnte man wie folgt interpretieren: „Eine Frau, die spricht.“

Später radelten wir zusammen nach Hause, und ich musste ganz dringend. Ich pinkelte auf die Straße, und wieder sah ich diesen Blick: „Eine Frau, die pinkelt.“ Lusche D. hat mir unglaublich viele Erkenntnisse zu verdanken. Ein paar Monate später schickte er mir eine SMS: Ob ich mit der Schule fertig sei. Ich antwortete, dass ich einen Schnitt von 7,8 hätte, und dass der eigentlich bei 8,3 läge, wenn man nur die schriftlichen Prüfungen betrachtete.

Zur Feier des Tages gingen wir im De Wetering was trinken, wo ich ihn fragte, ob er mit seinem Geschlecht zufrieden sei. Er antwortete, dass er bisher niemanden habe klagen hören. Dann fragte er mich natürlich, was ich mit meinem Leben anfangen wolle, denn es gibt wirklich niemanden, der dir diese Frage nicht stellt, wenn du achtzehn bist, und ich weiß eigentlich nicht mehr, was ich darauf antwortete. Ich meine, ich sagte nichts, und dann, dass meine Mutter Krebs habe. „Das ist ja Scheiße“, sagte er.

Als das De Wetering schloss, zogen wir um ins De Spuyt. Das war echt eine geschmacklose Kneipe, und ein paar Stunden später zogen wir weiter in eine noch geschmacklosere: das Mazzeltof. Es war mir wirklich scheißegal, ob ich Walter da traf. Eigentlich hoffte ich, Lianne und Patrick zu begegnen. Ich wollte ihn fragen, ob er Kluun immer noch für einen super Typen hielt. Aber er war nicht da, und auch Lianne war nirgends zu entdecken.

Das Angenehme an Walter war gewesen, dass ich mit ihm zusammen sein konnte, ohne mich auf ihn konzentrieren zu müssen. Lusche D. dagegen stellte mir ständig Fragen. Schließlich stellte ich ihm eine Frage, nämlich: „Meinst du, Daniel findet das hier schlimm?“ Er sah mich an und schwafelte dann bedächtig was von Mädchen, die eines Tages Frauen werden. Das fand ich ein bisschen ermüdend: all die Erkenntnisse von Lusche D. über Mädchen und Frauen und den Moment, in dem sich die einen in die anderen verwandeln.

Daniel fand es schrecklich, glaube ich. Ein paar Wochen später saß ich mit ihm in einer Kneipe und sagte: „Lass uns über Lusche D. reden.“ „Nö“, antwortete er. Das Verrückte an Daniel ist, dass man das dann auch echt nicht tut. Ich jedenfalls nicht. Er sagte bloß, dass es seiner Meinung nach eine gute Idee wäre, wenn ich für ein Weilchen nach Prag zöge. Und das Verrückte an Daniel ist, dass man das dann auch echt in Betracht zieht.

Jedenfalls sind Lusche D. und ich nach dem Mazzeltof noch eine Weile durch die Straßen gelaufen. Wir wollten einander natürlich küssen, aber trauten uns beide nicht. An der Ecke zur Ruysdaelkade sagte ich: „Come on, son.“ Und dann haben wir uns geküsst. Es war schon wieder hell geworden, und das Leben atmete zahllose Möglichkeiten, wenn ihr mich fragt.

Wenig später zog ich so gut wie bei ihm ein. Er wohnte in der Nieuwe Looiersstraat, gegenüber von dem Pilatesstudio, in das meine Mutter ging. Deshalb guckte ich immer erst aus dem Fenster und hielt Ausschau nach ihrem Fahrrad, bevor ich zur Tür raustrat. Meine Mutter hatte ihr Fahrrad gelb lackiert, weil sie dachte, dass es dann nicht mehr gestohlen würde. Zwei Dinge verlor sie ständig: Fahrräder und Kontaktlinsen.

Meistens aß sie sie, ihre Linsen. Sie nahm sie zum Reinigen in den Mund, vergaß dann aber, dass sie da schon ein Kaugummi drin hatte. Ganze Hypotheken sind für die Kontaktlinsen meiner Mutter draufgegangen. Ihre Fahrräder verlor sie etwas weniger oft, und der Trick mit dem Gelb hat wirklich eine Zeit lang funktioniert. Eines Tages sah ich sie allerdings wieder auf der Straße herumtasten: Sie hatte sowohl ihre Kontaktlinsen als auch ihr Fahrrad verloren. Und so irrte sie durch die Gegend, emsig auf der Suche nach ihrem Fahrrad. Meine Mutter glaubte nämlich, dass Diebe ihr Fahrrad bei genauerer Betrachtung so hässlich fänden, dass sie es an der nächsten Ecke einfach wieder abstellen würden.

Eigentlich kann ich gar nicht sagen, warum ich bei Lusche D. einzog. Genau genommen gibt es viele Dinge, die ich nicht so richtig verstehe, und da rede ich dann gerne ein bisschen drum herum. Ich vermute, dass ich mich bei ihm sicher fühlte, aus dem einfachen Grund, dass seine Welt Ränder hatte. Zwar nicht die stabilsten Ränder; Ränder voller Ängste und Ambitionen. Aber es waren welche, und so was fehlt einem mit achtzehn meistens.

Genau das tat ich bei ihm zu Hause: mich an den Wänden entlanghangeln, die komplett mit Seufzenden Männern vollgehängt waren. An jeder Wand hing einer: Ernest Hemingway, Jack London, Nick Drake. Lusche D.s Haus war eine Art Selbstmordparadies, und an manchen Tagen hatte ich das Gefühl, er wolle sich ihnen so bald wie möglich anschließen. Das wäre sicher auch passiert, wenn seine Lektorin dem nicht einen Riegel vorgeschoben hätte.

Mein Gott, diese Lektorin! Sie rief ihn ungefähr alle halbe Stunde an. Nicht um zu fragen, wo sein Manuskript bleibe, nein, sie fragte nur, ob er genug Obst im Haus habe. Die Frau machte mich wahnsinnig. Jedes Mal, wenn wir einander begegneten, sagte sie so was wie: „Und du bist ein bisschen zu jung für Lusche D.“ Dann schaute ich sie nur glasig an und dachte: Und du bist ein bisschen zu alt. Ich habe noch nie jemanden so verliebt gesehen. Vielleicht wäre alles gut geworden, wenn ich nur einen Bruchteil der Gefühle empfunden hätte, die sie für Lusche D. hegte.

Jedes Mal, wenn sie sichergestellt hatte, dass er genügend Äpfel im Haus hatte, erzählte sie ihm, wie brillant er sei. Mir fielen dann regelmäßig fast die Augen zu. Und alle glaubten ihr, weil sie irgendwann mal mit Harry Mulisch zusammengearbeitet hatte. Na, wenn ihr mich fragt, ist das eigentlich Grund genug, um nicht mehr ans Telefon zu gehen. Es sei denn, man will echt sehr schlechte Bücher schreiben, die neunhundert Seiten zu lang sind. Und genau das tat Lusche D.: sehr schlechte Bücher schreiben, bei denen man wirklich bei jeder Zeile denkt: „Also, das kommt mir jetzt überflüssig vor.“

Aber es war mir total egal, versteht ihr, dass er so schlechte Bücher schrieb. Ich fand es einfach nett mit ihm. Mein Partner braucht echt nicht übermäßig talentiert zu sein. Was ich allerdings ein bisschen störend fand: dass er mich ständig als seine Muse bezeichnete. Ob ihr’s glaubt oder nicht, ich inspirierte ihn. Für so einen Quatsch muss man mich wirklich nicht wecken. Lass mich in Gottes Namen einfach weiterschlafen, wenn ich deine Muse bin. Eine etwas zu junge, schnarchende Muse: Das war ich.

Selbst schrieb ich nicht, oder jedenfalls nicht echt, wie ich es damals nannte – ich arbeitete im Bagels & Beans. Davor hatte ich drei Tage in einem Restaurant in der Roelof Hartstraat gearbeitet, aber da hatte der Chef am zweiten Tag gefragt, wer ihm in der Pause einen blasen wolle. Da wollte ich natürlich direkt wieder aufhören, aber er fand, dass ich ihm diese Gefälligkeit noch schuldig sei.

Bei Bagels & Beans habe ich es nicht viel länger ausgehalten. Oder eher: Sie haben mich nicht viel länger ausgehalten. Nach meinem Probemonat hinterließen sie eine Nachricht auf meiner Mailbox: „Sofie, du bist ein superliebes Mädchen, aber echt zu verträumt für uns.“ Wärt ihr dabei gewesen, hättet ihr das sicher ähnlich gesehen. Ich vergaß alles. Ich gab nicht mal die Bestellungen durch – die Leute bekamen einfach kein Essen.

Aber ich will ehrlich zu euch sein: Eine große Dichterin, das wollte ich werden. In der Woche, nachdem ich bei Bagels & Beans rausgeflogen war, erreichte meine Kreativität ihren Höhepunkt. Da meine Eltern nicht wissen durften, dass ich gefeuert worden war, radelte ich jeden Tag kreuz und quer durch die Stadt. Ich trank an verschiedensten Orten Kaffee und kritzelte da und dort was zusammen. Es war, als würde ich verschwinden, und genau das hatte ich auch vor: weggehen und wiederkommen, wenn ich alle Erwartungen übertroffen hätte. Langfristig geht so was nicht, denn man muss sich immer und überall verantworten, doch diese eine Woche lang klappte es.

An einem meiner letzten verschwundenen Tage saß ich im Eye, wo ein Junge und ein Mädchen neben mir ein Sandwich aßen. Das Mädchen war echt hübsch. Ich war nicht echt hübsch. Ich war manchmal hübsch. Ich schrieb:

 

Ich bin recht hübsch,

aber bleibe es nicht,

komme nur ab und zu vorbei,

um zu gucken, wie andere mich ansehen.

 

Damit komme ich zu einem sehr wesentlichen Punkt: mein Äußeres. Am liebsten lief ich den ganzen Tag in meinem Trainingsanzug von Real Madrid rum. Nur kamen dann immer wieder diese Abende, mit Menschen, mit Blicken, mit Bier, und sie riefen: Wir wolln was fürs Auge! Dann gehorchte ich. Ich zog eine Hose an, die am Hintern gut saß, trug Foundation auf, sodass meine Haut perfekt schien, und glättete mein Haar.

Ohne geglättetes Haar war ich, wenn ihr mich fragt, wenig bis nichts wert. Bei Walter tat ich all das auch, aber den sah ich eben nur so flüchtig: Er musste immer wieder zurück nach Utrecht. Mit Lusche D. war ich dagegen so gut wie pausenlos zusammen, da kann man so was nicht durchhalten. Schwer zu erklären, aber es kommt der Moment, an dem man erstickt. Wer lange genug manchmal hübsch ist, erstickt. Das könnt ihr mir glauben.

Eine weitere Frucht der Woche, die auf meinen Rauswurf bei Bagels & Beans folgte, war ein Gedicht über mein Perineum. An mein Perineum, eigentlich. Es war ein Entschuldigungsschreiben, weil mein Perineum ständig mit dem Ergebnis eines so unaufrichtigen Genusses konfrontiert wurde. Der Sex mit Lusche D. war nämlich schrecklich. Wirklich schrecklich. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll – und ob ich anfangen soll. Er lief jedenfalls immer gleich ab: Wir saßen bei ihm auf der Couch, und dann küssten wir uns. Ein bisschen leidenschaftlich, ein bisschen furchtbar gleichgültig. Dann stand er auf – das hasste ich, ich wollte nie, dass er aufsteht –, und wir gingen zusammen ins Schlafzimmer. Dort legten wir uns hin: ich unten und er oben.

Die Frage ist, wie weit ich hier ins Detail gehen sollte. Es läuft darauf hinaus, dass etwas sehr Eintöniges geschah, bei dem ich die ganze Zeit dasselbe Geräusch machte und er die ganze Zeit denselben Gesichtsausdruck hatte. Nachher verließ er das Zimmer und blieb ungefähr zehn Minuten weg. Ich bin nie dahintergekommen, was in jenen zehn Minuten passierte. Wenn er wiederkam, warf er mir ein Handtuch zu. Dann fühlte ich mich immer wie eine Nutte. Aber das Gefühl wurde regelmäßig von der Erleichterung abgelöst, dass diese Prozedur wieder einmal vorbei war.

Inzwischen habe ich Freundinnen, die sagen: „Ach Soof, Heterosex ist einfach so schlecht.“ Aber das glaube ich nicht. Sie müssen da doch auch Spaß dran haben. Ich jedenfalls nicht, so viel steht fest.

Ein paar Monate nach unserem Kuss auf der Ruysdaelkade fuhren Lusche D. und ich für ein verlängertes Wochenende an den Lido. Auf Wikipedia steht: „Dieser Badeort ging in die Weltliteratur ein, weil dort Thomas Manns Roman Der Tod in Venedig spielt.“ Ich habe das Buch nicht gelesen, aber ich glaube, ich hätte es auch schreiben können. Irgendwas starb in mir an jenem Wochenende. Was genau, weiß ich nicht, vermutlich jedoch: der Glaube daran, dass es gut ausgeht. Mit mir und Lusche D., und noch viel wichtiger: mit mir und dem Musendasein.

Ach Gott, die Musen. Ich habe an jenem Wochenende eine kennengelernt, und was für eine. Sie war die Frau eines Schrecklich Berühmten Autors, und ich würde sie gerne beim Namen nennen, aber der ist mir gerade entfallen. Vielleicht habe ich ihn auch nie gekannt. Schätzungsweise hat sie sich mir vorgestellt als: die Muse eines Schrecklich Berühmten Autors.

Lusche D. musste ihn für Vrij Nederland interviewen, weil er womöglich den Literaturnobelpreis gewinnen würde. Er genoss nämlich den ruhmreichen Ruf eines angesehenen europäischen Schriftstellers. Die EU stand damals mal wieder unter Druck, und deshalb hielt es jeder für eine gute Idee, den Preis an einen Wahren Europäer zu vergeben. Bei mir genoss dieser Mann allerdings vor allem den Ruf eines Üblen Lüstlings. Er bekam den Nobelpreis in dem Jahr nicht, hat aber noch Chancen: Wenn derzeit eine Gruppe besonders unter Druck steht, dann wohl die der Üblen Lüstlinge.

Am Abend nach dem Interview gingen wir zu viert essen: Lusche D. und ich zusammen mit dem Widerling und seiner Frau. Das Erste, was der Widerling zu mir sagte, war, dass ich mit offenen Haaren sicher noch besser aussähe, und das hatte er gut erkannt. Ich hatte allerdings vergessen, meinen Haarglätter mit nach Venedig zu nehmen, deshalb war das nicht zu ändern. Nach dieser Bemerkung sprach er über die Conditio humana, und dazu hatte ich eigentlich auch was zu sagen, doch wann immer er sprach, wandte er sich ausschließlich an Lusche D.

Deshalb redete ich irgendwann nur noch mit der Frau des Widerlings, und die fand ich ziemlich ermüdend. Wir entdeckten, dass sowohl sie als auch mein Vater für das Rijksmuseum gearbeitet hatten, und ich hoffte, sie würde mir verraten können, was er da getan hatte, denn das verstand niemand. Meine Mutter sagte immer: „Es könnte sein, dass dein Vater eigentlich für den Geheimdienst arbeitet.“ Wer weiß. Mein Vater hat darüber nie ein Wort verloren. Ganz selten erzählte er mal was, stiftete damit aber nur noch mehr Verwirrung. „Das Trampeltier hat heute wieder alles gegeben.“ Solche Dinge sagte er dann.

Das Trampeltier war die Vorgesetzte meines Vaters, und ihre Sicht der Dinge unterschied sich doch sehr von seiner. Ich habe sie nur einmal gesehen, auf der Museumsnacht. Sie gab mir einen Spieß mit Erdbeeren und meinte, dass ich den in den Schokoladenbrunnen halten könne, wenn ich das lecker fände. Mein Vater meinte, dass ich mir die Gemälde ansehen könne, wo wir doch in einem Museum seien. Das habe ich auch kurz getan, bin aber immer wieder zu dem Brunnen zurückgeschlichen. Darin zeigte sich der visionäre Weitblick des Trampeltiers: Menschen mögen Schokolade lieber als Kunst.

Sie hat es im Rijksmuseum länger ausgehalten als mein Vater. Das Trampeltier hat die Große Wende überlebt, mein Vater nicht. Während der Großen Wende wurden alle entlassen, die lieber in einem Museum als in einem Schokoladengeschäft arbeiten wollten. Mein Vater hatte das falsche Mindset, deshalb bekam er einen silbernen Händedruck. Davon sind wir dann ein paarmal in den Urlaub gefahren, und während ich das alles der Frau des Widerlings erzählte, sagte sie unaufhörlich: „Er wird sich wahrscheinlich nicht an mich erinnern.“ Ich schwör’s euch: Diese Art von Aussage macht mich echt fertig.

Eine Stunde später gingen wir in ein Restaurant, das der Widerling ausgesucht hatte. Um dort hinzukommen, mussten wir ein Boot nehmen, und auf diesem Boot fing er an, mir in die Waden zu kneifen. Ich war bestürzt, und ich glaube, Lusche D. auch, aber auf seinem Gesicht war ein Lächeln eingefroren. Er bekommt womöglich den Literaturnobelpreis, also lass ihn ruhig fummeln, sollte es mir vermutlich sagen.

Ich sah das anders. Ich fragte den Widerling, was er sich in Gottes Namen dabei denke, und da kräuselten sich seine Mundwinkel verschmitzt. „Ich habe gehört, du willst durch Europa radeln“, sagte er. Das stimmte, das hatte ich tatsächlich vor. Am glücklichsten war ich auf dem Fahrrad, also dachte ich: Warum nicht für immer? Ich nickte, woraufhin der Widerling nuschelte: „Wollte nur kontrollieren, ob du schon startklar bist.“

Beim Essen litten alle darunter, dass der Widerling sich ständig an die Bedienung ranschmiss. Ich konnte ihm nicht unrecht geben: Sie war ein wunderschönes Mädchen. Es wurde allerdings noch schlimmer, wenn sie nicht da war – denn dann ignorierte er seine Frau, sprach ausschließlich mit Lusche D. und warf mir hin und wieder zu, ich möge meinen Tintenfisch aufessen.

Aber ich konnte nicht mehr: Als Vorspeise hatte ich eine Pizza bestellt. Ich war so satt, dass ich das Gefühl hatte, mich für den Rest meines Lebens problemlos von nichts als Mandarinen ernähren zu können: so satt. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die Frau des Widerlings mit mir mitfühlte. Als er auf dem Klo war, flüsterte sie: „Liebes, es reicht, wenn du mal probierst.“ Danach ging Lusche D. aufs Klo, und der Widerling nutzte die Gelegenheit, um mich zu fragen, worin ich denn gut sei. „In der Schule?“, fragte ich zurück. „Nach was anderem würde ich nie zu fragen wagen“, antwortete er. Wieder erschien dieses Lächeln. Gott, was war der für ein Übler Lüstling, dieser Schrecklich Berühmte Autor.

„Liebes, es reicht, wenn du mal probierst.“ An diesen Satz musste ich nachher noch oft denken. Ich habe das Musendasein probiert und wollte es auskotzen wie meinen Tintenfisch. Irgendwann erzählte ich das Lusche D.: „Mir graut davor, wie die Frau des Widerlings zu enden.“ Er antwortete, das werde er nie zulassen – eine nicht sehr beruhigende Reaktion, wenn ihr mich fragt. Diese Dinge haben zu meinem Entschluss beigetragen, das Ganze dann doch zu beenden. Außerdem fand ich es schlimm, dass ich dem Moment, an dem wir uns ausziehen würden, schon beim Nachtisch mit Schaudern entgegensah. Lusche D. spürte das, denke ich. Er sagte: „Ich möchte gar nicht so sehr mit dir vögeln, ich möchte einfach mit dir sein.“

Im Sein waren wir tatsächlich ganz brauchbar. Ich glaube, niemand hat die Türen und Fenster so perfekt geschlossen wie Lusche D. damals. Er und ich lebten in einer sehr kleinen Welt, voll mit Bob Dylan, dem Lied „Paris 1919“ von John Cale und Gedanken, die sich im Grunde einzig und allein um Anerkennung drehten und die Furcht, sie nie zu erhalten.

Lusche D. hat mir enorm geholfen, diese Angst zu überwinden. Er schrieb mir sogar einen Brief: „Bleib ruhig, folge deiner Intuition und verschwende keine einzige Minute, keinen Gedanken an Die Anderen, an Erwartungen und Ambitionen. Die Anderen gibt es nicht, sie werden sich auflösen, ihre Meinungen sind völlig irrelevant. Lass sie ruhig kribbelig werden. Schäme dich nur für die Dinge, für die du dich schämen solltest. Und was den Rest angeht: Versetze dich nie in deinen Feind.“

Ich verstand nicht so ganz, was er mit dem letzten Satz sagen wollte. Mit dem Satz davor übrigens auch nicht. Aber davon mal abgesehen, waren das sehr nützliche Ratschläge. Misslich war nur, dass ich nicht erkannte, dass er Der Andere war. Im Grunde wollte ich Lusche D. besiegen, ihn und meinen Bruder und vielleicht noch eine Reihe Anderer – genau genommen: Männer. Versteht mich nicht falsch, das ist ein prima Menschenschlag, und es gibt jede Menge Männer, mit denen ich mich gut verstehe, aber: Es geht einfach so oft schief.

Mit schief meine ich, dass Frauen noch oft schwingendes langes Haar haben und Männer viel kürzeres, und dass Frauen alles in allem ein ganzes Stück weniger Raum bleibt, zum Atmen und dazu, Witze zu reißen, über die dann auch wirklich jemand lacht, und nicht pausenlos lächeln zu müssen, ohne dass man sie gleich für eine Hexe hält. Über solche Dinge kann ich mich ziemlich aufregen.

Dieses Bewusstsein war bei mir mit achtzehn noch nicht geweckt. Lusche D. und ich machten ziemlich viele Witze über Minderheiten, vor allem über Lesben. Das seien doch echt eigenartige Menschen, fanden wir. Als es aus war zwischen uns, er sich aber noch nicht gegen mich gewandt hatte und wir uns auf einen Kaffee trafen, meinte er, ich sei jetzt doch noch die Kampflesbe geworden, über die wir früher immer so gelacht hätten. Da blieb mir die Luft weg. Für diejenigen unter euch, die noch nie auf ein kulturelles Stereotyp reduziert worden sind: Es fühlt sich an, als würde man einen Mordsschlag in die Magengrube verpasst bekommen und kurz um Luft ringen. Das Ärgerliche daran ist, dass man wegen des Luftmangels ein Weilchen nicht nachdenken kann und deshalb immer wieder dasselbe tut: lächeln.

Und zu guter Letzt hat er sich gegen mich gewandt. Es ist eine etwas tragische Geschichte – die Frage ist nur, ob wir das Thema vertiefen müssen. Es fing mit der Bemerkung über Kampflesben an und endete mit einem Haufen Bemerkungen ähnlicher Art. Genau genommen endete es da, wo es immer endet: bei der Ausrede, dass das Humor sei und du den aushalten können musst.

Ich habe viel über Humor nachgedacht und mich gefragt, warum ich immer Du sein musste. Und vielleicht liegt es nicht einmal am Humor – vielleicht entsteht das Giftige aus der Tatsache, dass die Ichs und die Dus so ungleich verteilt sind. Ich habe versucht, ihm das klarzumachen, aber er hat es nicht verstanden. So ist das mit Menschen, die zu lange Ich sind: Sie werden nie mehr Du. Er nannte mich eine lesbische Fundamentalistin, und vielleicht bin ich das tatsächlich. Aber auch mit Fundamentalisten kann man Spaß haben. Glaubt mir.

Gay Romance meets K-Pop

Ein bezaubernder New-Adult-Roman, der den Zauber des ersten Verliebens einfängt.

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Even the Stars DreamEven the Stars Dream

Be My Bias

Würdest du für die Liebe alles aufs Spiel setzen, wofür du jahrelang gekämpft hast? – Ein bittersüßer New-Adult-Roman über Glücksgefühle, Enttäuschungen und K-Pop Musik

Nach der Trennung seiner Band hat Sänger Jamie Hudson dem Musikbusiness abgeschworen. Deshalb sträubt er sich zunächst gegen die Idee seines Managers, einen Song mit der südkoreanischen K-Pop Band Get Over aufzunehmen. Denn die Koreaner verkörpern alles, was Jamie glaubt, verloren zu haben. Doch je näher er den Sänger Tae-joon kennenlernt, desto mehr bröckelt die Fassade des unnahbaren Musikers. Vor allem, als es zwischen ihm und Tae zu knistern beginnt, was nicht nur Jamies Leben gehörig auf den Kopf stellt. Denn auf einmal stehen beide vor der Frage, was wichtiger ist: ihre Karriere oder die Liebe.

„Das Buch wusste mich mit leisen Tönen und lauten Szenen gleichermaßen zu überzeugen. Besonders gut gefallen hat mir die Botschaft, dass man nicht Mann oder Frau liebt, sondern einen Menschen. Eine Botschaft, die für manche leichter im Alltag zu leben ist, als für andere – wie sich an Jamie und Tae-joon zeigt.“ ((Leserstimme auf Netgalley))

»Ich war gespannt. Gespannt auf eine Gayromance, die nicht nur im Musikbusiness spielt, sondern auch noch in Verbindung mit dem harten koreanischen Idol Universum. Die Figuren sind nicht perfekt und genau das macht sie so liebenswert. Ein wirklich tolles Buch in der Welt des Pop bzw. Kpop Businesses, dass für meinen Geschmack definitiv mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.« ((Leserstimme auf Netgalley))

»Mir hat das Buch viel Spaß gemacht und die Lovestory ist absolut sweet. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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Ein grandios lakonischer Roman darüber, was Familien trennt und zusammenhält – das Unausgesprochene

Blick ins Buch
Schreib den Namen deiner MutterSchreib den Namen deiner Mutter

Roman

Alex schreibt an einem Essay. Und kommt nicht voran. Das Thema: Worüber meine Mutter und ich nicht sprechen. Ein Besuch in der glamourös kaputten Provinzvilla der überreizten Mutter soll weiterhelfen, doch er zeigt nur: Sie sprechen gar nicht miteinander. Nicht über Alex’ Queerness, nicht über die Antidepressiva, die sie offensichtlich beide nehmen, nicht über die Traumata der Familie. Als die Mutter Alex beim Schützenfest (versehentlich!) anschießt, ist klar, dass nicht nur die Arbeit am Essay gescheitert ist. 
Ein grandios lakonischer Roman darüber, was Familien trennt und zusammenhält – das Unausgesprochene.

Hart und verletzlich, kühl und komisch – ein knallgegenwärtiger Roman über familiäre Leerstellen

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Warum gibt’s eigentlich Christopher Street Days und den Pride Month?

Der Juni gilt als Pride Month: Es ist die Zeit der Regenbogenflaggen, der überdurchschnittlich vielen Berichte über queere Themen – und die Zeit der Christopher Street Days. Weltweit versammeln sich auf ihnen Millionen von Menschen, um für ihre Rechte zu demonstrieren, queeres Leben sichtbar zu machen und füreinander einzustehen.  

Aber wie kam es eigentlich zum ersten CSD? Was hatte eine von der Mafia geführte Schwulenbar in New York City damit zu tun? Und weshalb gilt der Sommer 1969 als Wendepunkt im Kampf für die Gleichstellung und Anerkennung queerer Menschen?

Diesen Fragen sind Christian Handel und Andreas Suchanek in ihrem gemeinsamem historischen Roman PRIDE BEGAN ON CHRISTOPHER STREET (Piper Verlag) nachgegangen, der im Mai 2024 frisch erschienen ist.  Sie erzählen darin nicht nur von einer außergewöhnlichen Liebe zwischen einem ungeouteten Polizisten und einem schwulen Freigeist, sondern auch von einem großen historischen Moment: der Geburtsstunde des Christopher Street Days: Denn selbst im angeblich aufgeklärten Amerika der 1960er Jahre gestaltete sich das Leben für queere Menschen als Spießrutenlauf. Gleichgeschlechtlicher Sex galt als Verbrechen, ebenso wie das Tragen von Kleidung, die nicht dem biologischen Geschlecht entsprach. Geoutete Menschen verloren oft ihre Arbeit und nicht selten auch ihre Familie. Auch von der Polizei wurden sie während regelmäßig stattfindender Razzien verhaftet oder misshandelt und gedemütigt.

Jake und Finn, die beiden Protagonisten des Romans von Handel und Suchanek, stehen auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes. Dennoch rettet der Polizist Jake Finn vor einem brutalen Polizeiübergriff - denn Jake ist selbst schwul, ohne es sich einzugestehen. Zwischen ihnen funkt es sofort. Obwohl sie in ihren Vorurteilen über den anderen gefangen sind, nähern sie sich an.  Als sich in der Nacht auf den 28. Juni 1969 im Stonewall Inn in der Christopher Street die BarBesucher erstmals vehement gegen die Polizei wehren, müssen sich die beiden entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.

 Der 28. Juni 1969 wird im Roman für Jake und Finn zum Schicksalsmoment ihrer Liebe – und in der Realität schrieb dieser Tag Geschichte: Der Stonewall-Aufstand in der Christopher Street wurden zum Wendepunkt der LGBTQIA⁺-Bewegung im Kampf um Gleichbehandlung und Anerkennung.

„Einen Unterhaltungsroman über die Entstehung der Christopher Street Days gab es bisher in Deutschland unseres Wissens noch nicht“, verrät das Autoren-Duo auf die Frage, weshalb sie diese Geschichte unbedingt schreiben wollten. Beide Autoren sind schwul. „Die Ereignisse rund um das Stonewall Inn im Sommer 1969 sind ein wichtiger Teil der Geschichte unserer Community und deshalb haben wir uns mit Feuereifer auf dieses Romanprojekt gestürzt. Denn was damals passiert ist und mit welchen Ungerechtigkeiten sich queere Menschen in dieser Zeit herumschlagen mussten, wissen viele heute gar nicht. Wir hoffen, dass unser Roman ein bisschen dabei hilft, das zu ändern.“  

Während der Recherche haben sie nicht nur Sachtexte gelesen und Dokumentationen gesehen, sondern sich auch mit Essays und Zeitzeugen-Interviews beschäftigt. „Das war hart“, sagen sie. „Wir haben uns zwar bereits zuvor mit dem Thema ausgekannt, diesmal sind wir aber über viele sehr persönliche Geschichten und Einzelschicksale gestolpert, die uns extrem berührt haben.“ Und so ist auch die berührende Geschichte von Jake und Finn entstanden, fiktive Figuren, die im Verlauf des Romans aber auch historischen Persönlichkeiten begegnen.  

Schon ein Jahr nach dem Stonewall Aufstand wurde in New York dieses Ereignis mit einem Gedenkmarsch gewürdigt. Und seitdem finden weltweit Christopher Street Days statt. Diese sind bis heute noch nötig: Der Lesben- und Schwulenverband LSVD berichtet auf seiner Website, dass gleichgeschlechtliche Sexualität noch immer in 66 Ländern strafrechtlich verfolgt wird, in 12 davon steht sie sogar unter Todesstrafe. Das FBI sah sich jüngst genötigt, vor Terroranschlägen auf CSDs zu warnen. Und auch hierzulande nimmt die gemeldete Anzahl an Fällen homophober Hasskriminalität seit Jahren zu. „Christopher Street Days sind wichtig“, sagt Handel. „Auch, weil queere Menschen und Allys dann zusammenkommen können und feststellen, wie viele sie sind, dass sie nicht allein sind.“

Wer selbst diesen Sommer einen Christopher Street Day besuchen möchte, findet alle Termine auf  www.csd-termine.de.