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„Ein Sandkorn genügt.“

Der neue Roman von Pierre Jarawan

Yeki Bud Yeki Nabud

„Die besten, die ältesten Geschichten der Welt beginnen seit jeher auf diese Weise: Es war so. Und es war nicht so. Ein einzelner persischer Satz aus einer ganzen Schatzkiste persischer Sätze, aber dieser ist das Fundament. Die Triebfeder jedes Geschichtenerzählens. Der Beginn jedes Märchens. 

Jemand war dort. Und jemand war nicht dort. 

Es gab einmal eine Zeit, und es gab keine Zeit.“

"So viele Geschichten in einer Geschichte, man taucht in wie in die Märchen aus 1001 Nacht." 


Ralph Schöllkopf, Barbarossa-Buchhandlung, Göppingen

"Spannende Figuren, orientalische Erzählkunst, ein Page-Turner voller Gefühle aber niemals kitschig. Unbedingt lesen!"


Annette Krohn, Programmleitung Stadtbüchereien Düsseldorf

Mit „Am Ende bleiben die Zedern“ legte Autor Pierre Jarawan sein großes Romandebüt vor.

Blick ins Buch
Am Ende bleiben die ZedernAm Ende bleiben die Zedern

Roman

Samir ist auf einer Reise, die Gegenwart und Vergangenheit verbinden soll: Er will endlich die Wahrheit über seinen Vater erfahren, der die Familie vor zwanzig Jahren ohne eine Nachricht verlassen hat. Mit einem rätselhaften Dia und den Erinnerungen an die Geschichten seines Vaters im Gepäck macht der junge Mann sich in den Libanon auf, das Geheimnis zu lüften. Seine Suche führt ihn durch ein noch immer gespaltenes Land, und schon bald scheint Samir nicht mehr nur den Spuren des Vaters zu folgen …

„Wer glaubt, er habe den Libanon verstanden, dem hat man ihn nicht richtig erklärt.“

Libanesisches Sprichwort

I

„Wie hätte ich damals wissen sollen, dass dieses Bild mich für immer verfolgen würde?“

PROLOG

Alles pulsiert, alles leuchtet. Beirut bei Nacht, diese funkelnde Schönheit, ein Diadem aus flirrenden Lichtern, ein Band aus Atemlosigkeit. Schon als Kind liebte ich die Vorstellung, einmal hier zu sein. Doch jetzt steckt mir dieses Messer zwischen den Rippen, und der Schmerz schießt in meinen Brustkorb, dass ich nicht mal schreien kann. Wir sind doch Brüder, will ich rufen, während sie mir den Rucksack vom Rücken reißen und mich treten, bis ich auf die Knie sinke. Der Asphalt ist warm. Von der Corniche her weht der Wind, ich höre das Meer ans Ufer schlagen und die Musik aus den Restaurants an der Straße. Ich rieche das Salz in der Luft und den Staub und die Hitze. Ich schmecke Blut auf meiner Lippe, ein metallisches Rinnsal auf trockener Haut. Ich fühle Angst in mir aufsteigen. Und Wut. Ich bin nicht fremd hier, will ich ihnen hinterherschreien. Das Echo ihrer Schritte verhöhnt mich. Ich habe Wurzeln hier, will ich rufen, doch heraus kommt nur ein Gurgeln.

Ich sehe das Gesicht meines Vaters. Seine Silhouette im Türrahmen meines Kinderzimmers, bevor mir die Augen zufielen, der letzte gemeinsame Moment. Ich frage mich, ob Zeit und Bedauern an ihm genagt haben.

Ich denke an die Verse, die der Bärtige vorhin gemurmelt hat: Dann gibt es für sie keine Möglichkeit, um Hilfe zu rufen, und sie finden keine Rettung.

Der Rucksack, denke ich und meine damit nicht Geld und Pass, die jetzt fort sind. Ich meine das Bild in der vorderen, eingenähten Tasche. Und ich meine sein Tagebuch. Alles fort. Der Schmerz nimmt mir fast das Bewusstsein.

Ich bin für den Tod eines Mannes verantwortlich, denke ich.

Dann, während das Blut aus der Wunde sickert: Reiß dich zusammen, das muss etwas bedeuten. Ein Zeichen.

Die Schritte der Männer verhallen, ich bin allein, höre nur noch meinen Herzschlag.

Wenn du das hier überlebst, denke ich und verspüre auf einmal eine seltsame Ruhe, dann hat das einen Grund. Dann ist deine Reise noch nicht zu Ende. Dann unternimmst du einen letzten Versuch, ihn doch noch aufzuspüren.

1

1992.

Vater stand auf dem Dach. Oder besser: Er balancierte. Ich stand unten, beschirmte mein Gesicht mit der Hand und sah mit zusammengekniffenen Augen hinauf, wo er sich wie ein Seiltänzer dunkel vom Sommerhimmel abhob. Meine Schwester saß im Gras, wedelte mit einer Pusteblume und schaute zu, wie die kleinen Fallschirme Pirouetten schlugen. Die Beine hatte sie dabei so unnatürlich verrenkt, wie es nur Kleinkinder können.

„Nur noch ein bisschen“, rief unser Vater fröhlich herab und drehte an der Satellitenschüssel, während er breitbeinig das Gleichgewicht hielt. „Passt es jetzt?“

Im ersten Stock steckte Hakim den Kopf aus dem Fenster und rief: „Nein, jetzt sind Koreaner im Fernsehen.“

„Koreaner?“

„Ja, und Pingpong.“

„Pingpong. Und der Kommentar? Auch koreanisch?“

„Nein. Russisch. In deinem Fernseher spielen Koreaner Pingpong, und ein Russe kommentiert das.“

„Was sollen wir mit Pingpong?“, rief Vater.

„Ich glaube, du bist zu weit rechts.“

Mein Kopf war jetzt ebenfalls in einem Pingpongspiel gefangen. Ich verfolgte den Dialog der beiden und ließ meinen Blick immer wieder vom einen zum anderen schweifen. Vater zog einen Schraubenschlüssel aus der Hosentasche und lockerte die Befestigung. Dann holte er den Kompass hervor und drehte die Schüssel weiter nach links.

»Denk dran: 26,0° Ost«, rief Hakim, und sein grauer Kopf verschwand wieder im Wohnzimmer.

Bevor Vater aufs Dach gestiegen war, hatte er es mir genau erklärt. Wir standen auf dem schmalen Grasstreifen vor unserem Haus. Die Leiter lehnte bereits an der Wand. Sonnenstrahlen schimmerten durch die Kirschbaumkrone und erzeugten wundersame Schatten auf dem Asphalt.

„Im Weltraum kreisen Satelliten um die Erde“, sagte er, „mehr als zehntausend Satelliten. Sie zeigen uns, wie das Wetter wird, vermessen die Erde und andere Planeten und Sterne oder sorgen dafür, dass wir fernsehen können. Die meisten von ihnen bieten ziemlich schlechtes Fernsehen. Doch manche haben auch gutes im Angebot. Wir wollen den Satelliten mit dem besten Fernsehen, und der ist ungefähr dort.“ Er sah auf den Kompass und drehte ihn so lange in der Hand, bis seine Nadel die 26°-Markierung auf der rechten Seite erreichte. Dann deutete er in den Himmel, und mein Blick folgte seinem Finger.

„Immer?“, wollte ich wissen.

„Immer“, sagte er, bückte sich, strich dabei meiner Schwester über den Kopf und hob zwei Kirschen auf, die im Gras lagen. Die eine aß er. Dann hielt er die andere vor unsere Gesichter und ließ den abgenagten Kern mit spitzen Fingern in einiger Entfernung darum kreisen. „Er dreht sich genauso schnell um die Erde, wie die Erde sich um sich selbst dreht.“ Langsam zeichnete er mit dem Kern einen Halbkreis in den Himmel. „Dadurch ist er immer in der gleichen Position.“

Mir gefiel die Vorstellung von außerirdischem Fernsehen. Aber noch mehr gefiel mir die Idee, dass irgendwo dort oben ein Satellit seine Bahnen zog, immer an der gleichen Stelle, immer im gleichen Kreislauf, konstant und verlässlich. Vor allem jetzt, da auch wir unsere feste Position hier gefunden hatten.

„Passt es nun?“, rief Vater wieder vom Dach.

Mein Blick wanderte zum Wohnzimmerfenster, aus dem Hakim sogleich seinen Kopf schob.

„Nicht wirklich.“

„Pingpong?“

„Eishockey“, rief Hakim, „italienischer Kommentator. Ich glaube, du bist zu weit links.“

„Ich glaube, ich spinne“, antwortete Vater.

Inzwischen hatten sich mehrere Männer auf der Straße vor unserem Haus versammelt und reichten sich gegenseitig Pistazien. Auf den Balkonen gegenüber hatten die Frauen aufgehört, ihre Wäsche auf die Leinen zu hängen, und verfolgten das Schauspiel mit in die Hüften gestemmten Armen und amüsierten Mienen.

„Arabsat?“, fragte einer der Männer nach oben.

„Ja.“

„Sehr gutes Fernsehen“, rief ein anderer.

„Ich weiß“, kam es von Vater zurück, während er erneut die Schrauben löste und die Schüssel ein wenig nach rechts bewegte.

»26,0° Ost«, rief einer der Männer.

„Wenn Sie zu weit nach links drehen, kriegen Sie italienisches Fernsehen“, meinte ein anderer.

„Ja, und die Russen sind nicht weit rechts davon, da müssen Sie aufpassen.“

„Die ganze Welt macht Sport, ich sollte auch mehr Sport machen“, kam es von Hakim jetzt ein bisschen verzweifelt, dann verschwand sein Kopf wieder im Wohnzimmer.

„Mein Schwiegervater ist mal vom Dach gefallen, als er eine Katze retten wollte“, sagte ein Mann, der sich soeben zur Runde gesellt hatte. „Der Katze geht’s gut.“

„Soll ich hochkommen und den Kompass halten?“, fragte ein Jüngerer.

„Ja, hilf ihm, Khalil“, riet ihm ein Älterer, vermutlich sein Vater. „Russisches Fernsehen ist grauenhaft – haben Sie mal russische Nachrichten gesehen? Überall nur Jelzin und Panzer und ein Akzent wie ein Unfall!“ Dann schob er sich noch eine Pistazie in den Mund und fragte in Richtung des Dachs: „Soll ich den Grill holen? Sieht aus, als bräuchten Sie noch eine Weile.“ Es klang eher wie ein Scherz. Die Männer um mich herum lachten. Vater lachte nicht. Er dachte kurz nach und setzte das spitzbübische Lächeln auf, das immer dann seine Lippen umspielte, wenn er merkte, dass ein Plan aufging:

„Ja, mein Lieber, holen Sie den Grill. Wenn ich hier fertig bin, feiern wir ein Fest.“ Und dann sah er zu mir herunter: „Samir, Habibi, geh und sag deiner Mutter, sie soll Salat machen. Die Nachbarn kommen zum Essen.“

Das war typisch für ihn. Ein impulsives Erkennen von Situationen, die es auszukosten galt. Wenn das Leben ihm die Möglichkeit bot, aus einem gewöhnlichen Augenblick einen besonderen zu machen, ließ er sich nie zweimal bitten. Meinen Vater umgab stets ein Mantel der Zuversicht. Er verströmte diese ansteckende Heiterkeit, die wie eine Parfumwolke von ihm ausging und jeden in seiner Nähe erfasste. In seinen Augen, die meist tiefbraun waren und manchmal ihre Farbe wechselten, wenn ein sonst kaum merklicher Grünton dazustieß, konnte man das Sichanbahnen seiner lausbübischen Gedanken erkennen, was ihn jedes Mal aussehen ließ, als sei er den Seiten eines Schelmenromans entstiegen. Seine Lippen umspielte stets ein lockeres Lächeln. Auch wenn die Naturgesetze ihm vorschrieben, dass plus und minus minus ergab: Er strich einfach das Negativzeichen, sodass nur ein Plus übrig blieb. Für ihn galten derlei Regeln nicht. Abgesehen von den letzten gemeinsamen Wochen habe ich ihn fast ausschließlich so erlebt: ein fröhlicher Geist, tänzelnd auf den guten Nachrichten des Lebens, während die schlechten nie den Weg in seine Gehörgänge fanden; als verhindere ein einzigartiger Glücksfilter ihr Eindringen in seine Gedanken.

Er hatte auch andere Seiten. Momente, in denen er eines verkörperte: in Stein gemeißelte Gefasstheit wie eine atmende Statue, unerschütterlich. Dann war er nachdenklich, sein Atem ging ruhig und sein Blick tiefer als tausend Wasser. Und er war liebevoll. Stets glitt seine warme Hand durch meine Haare oder über meine Wangen, und wenn er etwas erklärte, hatte seine Stimme den ermutigenden Tonfall unendlicher Geduld. Wie in dem Moment, als er mir auftrug, ins Haus zu gehen, weil er gerade den Entschluss gefasst hatte, ein Fest zu feiern mit Menschen, die er nicht kannte.

Also ging ich hinein und half Mutter beim Gemüseschneiden und Salatwaschen. Das Haus, in das wir gerade eingezogen waren, musste sehr alt sein. Die Treppen hatten faustgroße Dellen und knarrten bei jedem Schritt. Es roch nach nassem Holz und Moder. Im Treppenhaus wellte sich die Tapete. Dunkle wolkenförmige Flecken siedelten auf dem einstigen Weiß, in der Lampenfassung steckte nackt eine Glühbirne, die nicht funktionierte.

Für mich roch es neu. In den Ecken unserer Wohnung standen noch die Kartons vom Umzug, und der Duft frisch gestrichener Wände durchzog die Zimmer wie eine fröhliche Melodie. Alles war sauber. Ein Großteil der Schränke war bereits aufgebaut; vereinzelt lagen noch Schrauben und Werkzeuge herum: eine Bohrmaschine, ein Hammer, Schraubenzieher, Verlängerungskabel, Holzdübel wild durcheinander. In der Küche waren Töpfe, Pfannen und Besteck bereits verstaut. Wir hatten sie sogar poliert, bevor wir sie einräumten, und auch die Kochplatten glänzten. So ein großes, schönes Zuhause hatten wir nie gehabt. Es kam mir vor wie ein verzauberter Palast, etwas morsch von der Zeit, doch mit dem unbestreitbaren Glanz alter Tage versehen. Was noch fehlte waren helle Vorhänge, ein paar Pflanzen und Bilder an den Wänden, von meinen Eltern, meiner Schwester und mir, und ich stellte mir vor, wie sie bald schon dort hängen würden neben der Fernsehwand und ein vergrößertes neben der Wohnzimmertür, das man immer dann sah, wenn man in den Flur hinausging, wo ich jetzt stand.

Ich warf einen kurzen Blick ins Wohnzimmer. Dort saß Hakim vor dem Fernseher, der im Moment nichts anderes zeigte als weißes Rauschen. Er sah mich, lächelte mir zu und hob die Hand zum Gruß. Hakim war der beste Freund meines Vaters. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben und liebte seine Kauzigkeit. Seine Hemden waren stets verknittert, seine Haare standen wirr in alle Richtungen, was ihm das Aussehen eines verlotterten Genies verlieh, das man am liebsten kämmen wollte. Seine neugierigen Augen wanderten aufgeschreckt in ihren Höhlen; ein bisschen wirkte er wie ein Erdmännchen, nur dass er rundlicher daherkam. Hakim zählt zu den liebenswürdigsten Personen, die ich je getroffen habe, immer mit einem offenen Ohr und nie um einen gutgemeinten Rat oder einen Witz verlegen. All diese Facetten seiner Persönlichkeit dominieren meine Erinnerung, trotz der Dinge, die er mir jahrelang verschwieg. Schon in unserer alten Wohnung war er mit Yasmin, seiner Tochter, täglich ein- und ausgegangen. Und als wir hier in dieses Haus zogen, richteten sich Hakim und Yasmin die Wohnung unter unserer ein. Im Grunde gehörten beide zur Familie.

Als Mutter und ich wenig später mit Salat und Fladenbrot vor das Haus traten, hing der Geruch von grillendem Fleisch in der Luft. Einige schnauzbärtige Männer saßen im Kreis mit der Wasserpfeife auf dem kleinen Stück Rasen. Der Tabakduft – Apfel oder Feige, ich weiß es nicht mehr genau – war angenehm, ließ mich jedoch schwindeln. Zwei Männer spielten Dame. Irgendjemand hatte drei komplette Biertischgarnituren in unseren Hof gestellt, die von einigen Frauen mit Papptellern und Plastikbesteck gedeckt wurden. Kinder spielten vor unserem Schuppen und wurden immer wieder ermahnt, nicht auf die Straße zu laufen. Alles in allem tummelten sich wohl mehr als zwei Dutzend fremder, freundlicher Menschen vor unserem Haus. Und nach und nach kamen weitere Nachbarn aus unserer Straße hinzu. Einige Männer hielten Kinder auf den Armen, die Frauen trugen knöchellange Kleider und Essen in riesigen Töpfen.

Es gibt etwas, das man über meinen Vater wissen muss. Eine Regel, die ich all die Jahre immer wieder bestätigt sah: Niemand schlug jemals eine seiner Einladungen aus. Auch dann nicht, wenn die Eingeladenen ihn gar nicht kannten.

Es war ein warmer Sommernachmittag 1992, der Tag unseres Einzugs. Ich erinnere mich gut. Die winzige Sozialwohnung am Stadtrand, in der wir nie richtig zu Hause gewesen waren, hatten wir hinter uns gelassen. Wir waren endlich angekommen. Mitten in der Stadt. Jetzt hatten wir ein schönes, großes Heim, und Vater verschraubte eine Schüssel auf unserem Dach, die fortan auf einen in festen Bahnen mit uns kreisenden Satelliten ausgerichtet war. Alles war gut.

„Willst du denn gar nicht mehr runterkommen?“, rief Mutter ihm zu.

„Nicht, bevor es funktioniert“, kam es zurück, während Vater den Schraubenschlüssel aus Khalils Händen entgegennahm. Die Männer um mich herum nickten Mutter freundlich zu.

„Ahlan wa sahlan“, sagten sie. Herzlich willkommen.

Ein Mann tippte mir auf die Schulter.

„Wie heißt du, Junge?“

„Samir.“

„Gib mir das, Samir“, sagte er lächelnd und nahm mir die Salatschüssel aus der Hand.

Dann hörten wir plötzlich arabische Musik aus unserem Wohnzimmerfenster. Ein paar Sekunden später erschien Hakims hochroter Kopf.

„Es funktioniert!“

„Sicher, dass es kein Tennis ist?“, fragte Vater von oben.

„Musik!“, rief Hakim. „Rotana TV!“

„Musik!“, rief noch ein Mann und sprang auf. Und ehe ich mich versah, packte der Fremde mich an den Händen und tanzte mit mir im Kreis, indem er von einem aufs andere Bein sprang und lachte und sich drehte wie ein Jahrmarktkarussell.

„Lauter, Hakim!“, rief Vater vom Dach, und der Alte verschwand vom Fenster und ein paar Wimpernschläge später pulsierte arabische Musik aus unserem Wohnzimmer auf die Straße. Trommel, Tamburin, Zither, Geige, Fiedel und Flöte vermischten sich zu tausendundeinem Ton, gefolgt vom Gesang einer Frau. Die Menschen begannen zu tanzen und klatschten rhythmisch in die Hände, Kinder drehten sich unbeholfen, wurden von den Männern hochgehoben, herumgewirbelt, und die Frauen jubelten und machten schrille, trällernde Freudentöne. Dann formierten sich alle zu einer Reihe, fassten sich bei den Schultern und tanzten stampfend den Dabke. Es war verrückt. Es war traumhaft. In diesem Moment deutete nichts darauf hin, dass wir in Deutschland lebten. Das hier hätte die abseitige Straße eines Viertels in Zahlé sein können, Vaters Heimatstadt an den Ausläufern des Libanon-Gebirges. Zahlé, Stadt des Weins und der Poesie. Stadt der Schriftsteller und Dichter. Um uns herum nur Libanesen, die sprachen und aßen und feierten wie Libanesen.

Dann trat Vater aus dem Haus. Wie immer, wenn er sich körperlich angestrengt hatte, hinkte er ein wenig. Aber er lachte und tanzte mit kleinen schnellen Schritten und pfiff zur Musik, Hakim und den jungen Khalil im Schlepptau. Und die Tanzenden bildeten eine Gasse, klopften ihm auf die Schulter, herzten ihn und begrüßten auch ihn mit „Ahlan wa sahlan“.

Ich sah zu meiner Schwester, die sich verwundert ans Bein unserer Mutter klammerte und mit großen Augen diesen Menschen zusah, die uns wie alte Freunde empfingen, wie eine Familie, die hier schon lange wohnte und die sie sehr gut kannten.

Irgendwann lag ich in meinem Bett, satt und müde und erschöpft. Das Stimmengewirr und der Klang der Lieder summten mir in den Ohren nach. Wieder und wieder strichen die Bilder des Tages vor meinem inneren Auge vorbei. Die gefüllten Schalen mit Weinblättern, Oliven, Hummus, Fattoush, das gegrillte Fleisch, die Mandeln, Teigtaschen, das Fladenbrot. Sternanis, Sesam, Safran. Die Familien. Die Frauen, die den strampelnden Kindern auf ihren Schößen die Münder abwischten, die Männer, die sich, Wasserpfeife rauchend, mit den Fingern durch die Schnauzbärte fuhren und lachten und sprachen, als sei diese Straße eine eigene Welt, die ihnen alleine gehörte. Hakim, der den Männern seine Witze erzählte. Yasmin, zwei Jahre älter als ich, die mit Blatt und Stift etwas abseits saß und zeichnete, während ihr die langen schwarzen Locken immer wieder wild ins Gesicht fielen. Ab und zu strich sie sich in einer raschen Bewegung mit dem Handrücken über die Stirn oder pustete Strähnen zur Seite und winkte, wenn ich zu ihr rübersah. Oder Mutter mit ihrem in sich gekehrten Lächeln. Meine Freude, das Gefühl, angekommen zu sein. Hier war unser Platz, unser Zuhause. Hier half man einander. Hier war man auf einen Kompass nicht angewiesen. In unserer Straße zeigten alle Schüsseln 26,0° nach Osten.

Und mittendrin Vater, der Feste liebte und der hinkend um die neu gewonnenen Freunde kreiste wie ein Satellit.

Zum Erscheinen der Taschenbuchausgabe konnten wir mit dem Autor rückblickend über seine mehr als einjährige Lesereise, damit verbundene Veränderungen und bleibende Eindrücke sprechen.

Was hat sich seit dem Erscheinen des Hardcovers von „Am Ende bleiben die Zedern“ alles in deinem Leben geändert?
Ich hatte eine sehr turbulente Zeit mit einer langen Lesereise direkt nach dem Erscheinen, die dann in eine ruhigere Zeit übergangen ist, in der ich die Eindrücke sacken lassen konnte. Der Roman hat mich mit den vielen Lesungen, Interviews, und allem Drumherum, mehr als ein Jahr lang komplett vereinnahmt. Ich habe dann eine ganze Weile gebraucht, um diese Eindrücke abzuschütteln, und mich einem neuen Projekt zu widmen. Verändert hat sich, dass ich jetzt nicht mehr ausschließlich als Slam Poet, sondern vor allem als Buchautor wahrgenommen werde und das ist etwas, das mich sehr freut.

Rückblick zum Erscheinen des Taschenbuchs: Was waren die eindrücklichsten Momente für dich auf deiner Lesereise?
Da gab es viele Dinge, die mich beeindruckt und erstaunt haben: Die Leidenschaft der Buchhändlerinnen und Buchhändler, die sich so stark für den Roman eingesetzt haben, zum Beispiel. Oder wie viele Menschen bei den Lesungen waren, die den Roman bereits kannten. Ich durfte sehr viele spannende Persönlichkeiten auf dieser Lesereise kennenlernen, das war das Schönste an ihr.

Welche Frage hättest du deinen Lesern gerne mal gestellt?
Wie kommt ihr auf eure Ideen?

Welche waren die drei meistgestelltesten Fragen der Leser zum Buch oder an dich während deiner Lesereise?
Ist das Buch autobiografisch?
Wie lange haben Sie an dem Buch geschrieben?
Was hat Sie dazu bewogen, diesen Roman zu schreiben?

Aber meine Lieblingsfrage:
Haben Sie auch was Anständiges gelernt? :)

Wie ist es für dich, auch eine Lesung in Beirut veranstalten zu können?
Das ist etwas sehr Besonderes! Für deutsche Leserinnen und Leser war der Roman ja unter anderem deswegen interessant, weil er sie in den Libanon, und damit in ein für sie eher unbekanntes Land entführt hat. Es wird spannend sein, zu sehen, wie die Menschen, die dort Leben, nicht nur die Beschreibungen des Landes, sondern auch die Thematik des Buches aufnehmen. Ich freue mich auf jeden Fall schon auf die Gespräche dort!

Wie geht es für dich weiter? Schreibst du bereits an einem neuen Roman?
Ja, aktuell widme ich meine Zeit fast ausschließlich dem zweiten Roman, die Handlung behalte ich aber noch für mich. :)

Einblicke in Pierre Jarawans Lesereise
und die Entstehung seines Romans


„Ich wollte eine besondere Erinnerung an meine erste Lesereise mit meinem ersten Roman.

Also habe ich in jeder Buchhandlung, in der ich gelesen habe, ein Buch gekauft und es von den Buchhändlerinnen und Buchhändlern signieren lassen. Ich verbinde mit jedem dieser Bücher eine Stadt, ein Datum, eine Buchhandlung, ein persönliches Gespräch, eine Geschichte und so lässt der Blick ins Bücherregal mich diese besondere Lesereise jedes Mal aufs Neue erleben.“

„Ich hatte mir eine erste grobe Struktur der Handlung und der unterschiedlichen Zeitebenen aufgemalt, bevor ich mit dem Schreiben anfing.

Ich dachte: bei so vielen Wendungen, ist es wichtig, alles vorher genau festzulegen. Ein bisschen so, als würde ich mir einen Stadtplan anfertigen, damit ich mich nicht verlaufe. Aber als ich dann in der Stadt war, habe ich schnell gemerkt, dass ich ihn gar nicht brauche, weil es viel spannender war, einfach durch die Straßen zu laufen, und zu erfahren, was hinter der nächsten Ecke auf mich wartet. Außerdem konnte ich meine Schrift nicht mehr lesen.“

Pierre Jarawan

Über Pierre Jarawan

Biografie

Pierre Jarawan wurde 1985 in Amman, Jordanien, als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Er kam im Alter von drei Jahren nach Deutschland und wuchs in Kirchheim unter Teck auf. Er studierte an der Münchener Hochschule für Fernsehen und Film. Seine Romane „Am Ende bleiben die Zedern“ (2016) und „Ein Lied für die Vermissten“ (2020) wurden mit Preisen bedacht, in zahlreiche Sprachen übersetzt und sind internationale Bestseller. Im April 2025 wird sein dritter großer Roman „Frau im Mond“ erscheinen. Er lebt mit seiner Familie in München.

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