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Psychothriller und Horror

Die besten Psychothriller 2024 - Unsere Lesetipps für Halloween

Psychothriller nehmen uns mit in die dunklen Abgründe der menschlichen Seele. Perfekt für alle, die den Nervenkitzel lieben und das Spiel zwischen Wahrheit und Wahnsinn.

„Ich liebe ›Schlafenszeit‹.“ Stephen King

Blick ins Buch
Schlafenszeit – Albträume erwachen, wenn diese Tür sich schließtSchlafenszeit – Albträume erwachen, wenn diese Tür sich schließt

Thriller

„Ich habe ›Schlafenszeit‹ gelesen und geliebt ... die Plot-Twists sind wirklich überraschend, und es hat diese schwer zu erreichenden Sogkraft, die einen das Buch nicht aus der Hand legen lässt. Und die Bilder sind großartig!“ -STEPHEN KING

Der fünfjährige Teddy malt für sein Leben gerne. Seine neue Babysitterin Mallory liebt seine Kreativität, und gemeinsam spielen, malen und lachen sie. Doch dann werden Teddys Zeichnungen immer düsterer und verstörender. Nach dem so liebenswürdigen Gekritzel malt der kleine Junge plötzlich einen grausamen Mord, immer und immer wieder. Mallory ist besorgt und verängstigt, doch Teddys Eltern behaupten, es sei nur eine Phase. Aber Mallory lassen die schrecklichen Bilder keine Ruhe und rauben ihr nachts den Schlaf, wenn sie allein in ihrer Hütte im Garten ist. Sie versucht dahinterzukommen, was es mit den schrecklichen Zeichnungen auf sich hat, ohne zu ahnen, in welche Spirale des Grauens sie sich begibt.

Mit Schwarz-Weiß-Illustrationen

Das mitreißende Horrordebut von Jason Rekulak überzeugt nicht nur durch Hochspannung und unvorhersehbare Plottwists, sondern liefert auch düstere Schwarz-Weiß-Illustrationen, die essentieller Teil der Handlung sind und den Lesespaß ins Unermessliche steigern. 

Gewinner “Bestes Horror-Buch” des Goodreads Choice Awards 2022

Jason Rekulak ist Autor und Herausgeber von Quirk Books in Philadelphia. Dort hat er bereits zahlreiche New-York-Times-Bestseller mitkonzipiert und veröffentlicht. Mit „Schlafenszeit“  legt er nun sein Horror-Debüt vor, das Leser:innen und Autor:innen gleichermaßen begeistert. Die Illustrationen stammen von Will Staehle und Doogie Horner.

1

Als ich vor ein paar Jahren pleite war, stellte ich mich freiwillig für eine Forschungsstudie an der Universität von Pennsylvania zur Verfügung. Die Wegbeschreibung führte mich zur Klinik auf dem Campus in West Philly und schließlich in einen großen Hörsaal, in dem jede Menge Frauen saßen, alle zwischen achtzehn und fünfunddreißig.

Es waren nicht ausreichend Stühle vorhanden, und da ich eine der Nachzüglerinnen war, musste ich mich fröstelnd auf den Boden hocken. Es gab kostenlosen Kaffee und Schokodonuts, und auf einem großen Bildschirm lief The Price Is Right, aber die meisten glotzten auf ihre Handys. Die Stimmung glich der im Warteraum einer Zulassungsstelle, außer dass wir stundenweise bezahlt wurden und mehr oder weniger alle recht froh darüber zu sein schienen, den ganzen Tag warten zu müssen.

Irgendwann erhob sich dann eine Ärztin in einem weißen Laborkittel und stellte sich uns vor. Sie sagte, ihr Name sei Susan oder Stacey oder Samantha und sie sei Gastmitglied im Programm für klinische Forschung. Sie las uns die üblichen Haftungsausschlüsse und warnenden Hinweise vor und erinnerte uns daran, dass die Entlohnung in Form von Amazon-Geschenkgutscheinen erfolgen werde, nicht in Form von Schecks oder Bargeld. Hier und da kam Gemurre auf, aber mir war das egal, denn ich hatte einen Freund, der mir Geschenkgutscheine für achtzig Cent pro Dollar abkaufte. Also war ich weiterhin bereit, teilzunehmen.

Alle paar Minuten rief Susan (ich glaube, sie hieß Susan?) einen Namen vom Zettel auf ihrem Klemmbrett auf, worauf eine von uns den Raum verließ. Niemand kam jemals zurück. Bald gab es reichlich freie Plätze, aber ich blieb auf dem Boden sitzen, weil ich befürchtete, mich bei der kleinsten Bewegung übergeben zu müssen. Mein ganzer Körper schmerzte, und ich hatte Schüttelfrost. Immerhin sprach sich irgendwann herum, dass man die Probanden nicht vorher untersuchte. Das hieß, niemand würde meinen Urin testen, meinen Puls messen oder sonst irgendwas tun, was mich aus dem Rennen geworfen hätte. Also schob ich mir eine 40er in den Mund und lutschte sie so lange, bis sich der wachsgelbe Überzug ablöste. Dann spuckte ich sie mir auf die Handfläche, zerdrückte sie mit dem Daumen und schnupfte etwa ein Drittel davon, gerade genug, um mich wieder auf Touren zu bringen. Den Rest wickelte ich in ein kleines Stück Folie für später. Danach hörte das Zittern auf, und auf dem Boden zu warten, war nicht mehr ganz so übel.

Etwa zwei Stunden später rief die Ärztin schließlich: „Quinn? Mallory Quinn?“ Ich ging den Gang hinunter auf sie zu, wobei ich meinen schweren Winterparka hinter mir herschleifte. Falls sie bemerkte, dass ich high war, gab sie keinen Kommentar dazu ab. Sie fragte mich nur nach meinem Alter (neunzehn) und meinem Geburtsdatum (3. März) und verglich dann meine Antworten mit den Daten auf dem Zettel an ihrem Klemmbrett. Ich schätze mal, sie entschied, dass ich nüchtern genug war, denn sie führte mich durch ein Labyrinth von Fluren, bis wir zu einem kleinen, fensterlosen Raum gelangten.

In ihm saßen fünf junge Männer nebeneinander auf Klappstühlen. Da sie alle auf den Boden starrten, konnte ich ihre Gesichter nicht sehen. Ich ging davon aus, dass sie Medizinstudenten oder Assistenzärzte waren – sie trugen alle Krankenhauskittel, noch mit Bügelfalten und strahlend marineblau, als seien sie eben erst gekauft worden.

„In Ordnung, Mallory, bitte stellen Sie sich vorne in den Raum, mit dem Gesicht zu den Männern. Genau hier auf das X, perfekt. Bevor wir Ihnen eine Augenbinde anlegen, erkläre ich Ihnen kurz, was geschehen wird.“ Ich sah, dass sie eine schwarze Augenmaske in der Hand hielt, so eine weiche aus Baumwolle, wie sie meine Mutter immer vor dem Schlafengehen aufsetzte.

Sie erklärte mir, dass die Männer im Moment alle auf den Boden starrten, in den nächsten Minuten jedoch meinen Körper ansehen würden. Meine Aufgabe sei es, die Hand zu heben, wenn ich das Gefühl hätte, einen „männlichen Blick“ auf meinem Körper zu spüren. Ich solle meine Hand so lange erhoben halten, wie das Gefühl andauere, und sie wieder senken, wenn es verschwinde.

„Wir machen das fünf Minuten lang, aber wenn wir fertig sind, werden wir Sie vielleicht bitten, das Experiment zu wiederholen. Haben Sie noch irgendwelche Fragen, bevor wir beginnen?“

Ich fing an zu lachen. „Ja, habt ihr Typen Fifty Shades of Grey gelesen? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass das hier eine Szene aus Kapitel zwölf ist.“

Das war mein Versuch, die Sache mit ein wenig Humor aufzulockern. Susan lächelte, um höflich zu sein, aber keiner der Jungs achtete auf mich. Sie nestelten alle an ihren Klemmbrettern herum und synchronisierten ihre Stoppuhren. Die Stimmung im Raum war rein wissenschaftlich. Susan setzte mir die Schlafmaske auf und stellte den Verschluss so ein, dass sie nicht zu eng anlag. „In Ordnung, Mallory, sitzen Sie bequem?“

„Klar doch.“

„Und sind Sie bereit, anzufangen?“

„Ja.“

„Dann zähle ich jetzt bis drei, und wir legen los. Meine Herren, halten Sie Ihre Uhren bereit. Und eins, zwei, drei.“

Es ist total schräg, fünf Minuten lang mit verbundenen Augen in einem mucksmäuschenstillen Raum reglos zu verweilen und dabei zu wissen, dass diese Kerle einem auf die Titten oder den Hintern oder was auch immer schauen. Es gab keinerlei Geräusche oder Anhaltspunkte, die mir hätten helfen können, zu erraten, was geschah. Aber ich spürte es definitiv, wenn sie mich anschauten. Ich hob und senkte meine Hand mehrmals, und die fünf Minuten fühlten sich wie eine Stunde an. Als wir fertig waren, bat Susan mich tatsächlich, das Experiment zu wiederholen, und wir machten alles noch einmal. Dann bat sie mich sogar, das Experiment ein weiteres Mal zu wiederholen! Als sie mir schließlich die Augenbinde abnahm, standen alle Kerle auf und begannen zu klatschen, als hätte ich gerade einen Oscar gewonnen.

Susan erklärte, sie hätten das Experiment schon die ganze Woche mit Hunderten Frauen durchgeführt. Ich sei jedoch die erste, die ein nahezu perfektes Ergebnis abgeliefert und die Blicke in den drei Runden mit 97 Prozent Genauigkeit gemeldet habe.

Sie sagte den Jungs, sie sollten eine Pause machen, führte mich in ihr Büro und begann, Fragen zu stellen. Und zwar: Woher wusste ich, dass die Männer mich anstarrten? Mir fehlten die Worte, um das zu erklären – ich hatte es einfach mitbekommen. Es war so ein flattriges Gefühl am Rande meiner Wahrnehmung – eine Art Spidey-Superhelden-Sinn. Bestimmt haben Sie es auch schon mal gehabt und wissen genau, wovon ich spreche.

„Außerdem war da noch so eine Art Geräusch.“

Nun riss sie die Augen auf. „Wirklich? Sie hören etwas?“

„Manchmal schon. Es ist so ein hoher Ton. Wie wenn eine Stechmücke ganz nah am Ohr summt.“

Sie griff so hektisch nach ihrem Laptop, dass sie ihn fast fallen gelassen hätte. Dann tippte sie auf der Tastatur herum und fragte mich schließlich, ob ich in einer Woche für weitere Tests wiederkommen würde. Ich sagte ihr, für zwanzig Dollar die Stunde würde ich so oft wiederkommen, wie sie nur wollte. Ich gab ihr meine Handynummer, und sie versprach, mich anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren. Aber noch am selben Abend tauschte ich mein iPhone gegen fünf Oxy-80er Tabletten ein. Sie hatte also keine Möglichkeit, mich zu erreichen, und ich habe seitdem nie wieder von ihr gehört.

 

Jetzt, da ich clean bin, bereue ich eine Million Dinge, und mein iPhone eingetauscht zu haben, ist das geringste Problem. Aber manchmal erinnere ich mich an das Experiment und denke dann darüber nach. Ich habe versucht, die Ärztin im Internet aufzuspüren, aber ich kann mich ja nicht einmal mehr an ihren korrekten Namen erinnern. Eines Morgens nahm ich mal den Bus zur Uniklinik und versuchte, den Seminarraum zu finden, aber der Campus sieht heute ganz anders aus; da stehen jede Menge neuer Gebäude, und alles ist total zugebaut. Ich habe versucht, Begriffe wie „Blickwahrnehmung“ bei Google zu suchen, aber jedes Ergebnis besagt, dass so ein Gespür kein nachweisbares Phänomen ist – es gibt keinen Beweis dafür, dass jemand „Augen im Hinterkopf“ hat.

Ich schätze mal, ich habe mich damit abgefunden, dass das Experiment nicht wirklich stattgefunden hat. Es ist vermutlich eher eine der vielen nicht realen Erinnerungen, die mir dank meines Missbrauchs von Oxycodon, Heroin und anderen Drogen im Gedächtnis hängen geblieben sind.

Mein Sponsor, Russell, meint, derart falsche Erinnerungen seien unter Süchtigen weit verbreitet. Er sagt, das Gehirn eines Süchtigen „erinnere“ sich an glückliche Fantasien, damit wir die echten Erinnerungen vermeiden können – all die beschämenden Dinge, die wir angerichtet haben, um high zu werden, all die beschissenen Lügen und Betrügereien, mit denen wir gute Menschen, die uns liebten, verletzt haben.

„Achte doch nur mal auf die Details deiner Geschichte“, gibt Russell zu bedenken. „Du kommst auf dem Campus einer renommierten Ivy-League-Universität an. Du bist zugedröhnt vom Kiffen, und niemand kümmert sich um dich. Du betrittst einen Raum mit gut aussehenden jungen Ärzten. Die starren dann fünfzehn Minuten lang auf deinen Körper – und brechen am Ende in stürmischen Applaus aus! Ich meine, nun komm schon, Mallory! Man muss nicht Sigmund Freud sein, um dahinterzukommen!“

Natürlich hat er recht. Bei der Rehabilitation für Suchtkranke ist es mit am schwersten, sich damit abzufinden, dass du deinen eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen kannst. Du musst dir sogar darüber klar werden, dass dein eigenes Gehirn zu deinem schlimmsten Feind geworden ist. Es wird dich zu schlechten Entscheidungen verleiten, Logik und gesunden Menschenverstand außer Kraft setzen und deine am meisten geschätzten Erinnerungen zu abstrusen Fantasien verfälschen.

Aber hier mal ein paar Fakten, an denen es nichts zu rütteln gibt:

Ich heiße Mallory Quinn und bin einundzwanzig Jahre alt.

Ich bin seit achtzehn Monaten in der Reha und kann guten Gewissens von mir sagen, dass ich kein Verlangen verspüre, Alkohol oder Drogen zu mir zu nehmen.

Ich habe das Zwölf-Schritte-Programm durchlaufen und mich dem Glauben zugewandt. Sie werden mich zwar nicht gerade an Straßenecken stehen sehen, wo ich Bibeln verteile, aber ich bete jeden Tag dafür, clean zu bleiben, und bis zum jetzigen Zeitpunkt klappt das auch.

Ich lebe im Nordosten von Philadelphia im Safe Harbor, einem von der Stadt geförderten Heim für Frauen im fortgeschrittenen Reha-Stadium. Wir nennen es „Dreivierteloffene Einrichtung“, weil wir alle bewiesen haben, dass es uns ernst ist mit dem Cleansein und wir uns eine Menge persönlicher Freiheiten verdient haben. Wir kaufen unsere eigenen Lebensmittel, kochen unsere eigenen Mahlzeiten und müssen nicht mehr Unmengen nerviger Regeln befolgen.

Montags bis freitags arbeite ich als Hilfslehrkraft in der Aunt Becky’s Childcare Academy, einem von Mäusen befallenen Reihenhaus mit sechzig zukünftigen Schülerinnen und Schülern im Alter von zwei bis fünf. Ich verbringe einen Großteil meiner Zeit damit, Windeln zu wechseln, Goldfisch-Cracker zu verteilen und Sesamstraßen-DVDs abzuspielen. Nach der Arbeit gehe ich joggen und nehme anschließend an einem Meeting teil oder bleibe einfach im Safe Harbor mit meinen Mitbewohnerinnen. Wir schauen uns dann alle auf Hallmark Channel Filme wie Sailing into Love oder Forever in My Heart an. Lachen Sie ruhig, wenn Sie wollen, aber ich garantiere Ihnen, dass Sie in einem Film auf Hallmark niemals eine Prostituierte sehen werden, die weiße Pulverlinien schnupft. Ich will nämlich nicht, dass solche Bilder bei mir Erinnerungen wachrufen.

Russell hat sich bereit erklärt, mich zu betreuen, weil ich mal Langstreckenläuferin war; er hat viel Erfahrung im Trainieren von Läufern. Russell war Assistenztrainer des Teams USA bei den Olympischen Sommerspielen 1988. Später führte er die Uniteams von Arkansas und Stanford zu NCAA Leichtathletik-Meisterschaften. Noch später hat er dann unter dem Einfluss von Methamphetamin seinen Nachbarn überfahren. Russell verbüßte fünf Jahre wegen fahrlässiger Tötung und wurde danach zum Priester geweiht. Heute betreut er gleichzeitig fünf oder sechs Süchtige, die meisten von ihnen sind aus der Bahn geworfene Sportler wie ich.

Russell hat mich dazu inspiriert, wieder mit dem Training zu beginnen (er nennt es „Rennen für die Reha“), und er erarbeitet Woche für Woche auf mich zugeschnittene Trainingspläne: Langstreckenläufe, im Wechsel mit Windsprints entlang des Schuylkill River; dazu kommen noch Gewichtheben und Konditionstraining im YMCA. Russell ist achtundsechzig und hat eine künstliche Hüfte: Trotzdem stemmt er immer noch zweihundert Pfund und kommt an den Wochenenden vorbei, um Seite an Seite mit mir zu trainieren, mir Tipps zu geben und mich zu motivieren. Er erinnert mich ständig daran, dass Läuferinnen ihren Zenit nicht vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr erreichen und dass meine besten Jahre noch weit vor mir liegen.

Außerdem ermutigt er mich, Pläne für die Zukunft zu schmieden, einen Neuanfang in einer neuen Umgebung zu wagen, weit weg von alten Freunden und Gewohnheiten. Aus diesem Grund hat er für mich ein Vorstellungsgespräch bei Ted und Caroline Maxwell arrangiert – Freunde seiner Schwester, die kürzlich nach Spring Brook, New Jersey, gezogen sind. Die beiden suchen ein Kindermädchen, das auf ihren fünfjährigen Sohn Teddy aufpasst.

„Sie sind gerade aus Barcelona zurückgekommen. Der Vater arbeitet in der Computerbranche. Oder in der Wirtschaft? Irgendwas, das gut bezahlt wird, die Details habe ich vergessen. Jedenfalls haben sie sich hier niedergelassen, damit Teddy – das Kind, nicht der Vater – im Herbst eingeschult werden kann. Vorschule. Sie wollen also, dass du ihn bis September betreust. Aber wenn alles gut läuft – wer weiß? Vielleicht übernehmen sie dich ja.“

Russell besteht darauf, mich zum Vorstellungsgespräch zu fahren. Er gehört zu den Leuten, die ständig so aussehen, als wollten sie gleich ins Fitnessstudio, auch wenn sie gerade gar nicht trainieren. Heute trägt er einen schwarzen Adidas-Trainingsanzug mit weißen Streifen. Wir sitzen in seinem SUV, fahren auf der linken Spur über die Ben Franklin Bridge und überholen den langsam fließenden Verkehr, während ich mich am Angstgriff festklammere und auf meinen Schoß starre, bemüht, nicht auszuflippen. In Autos fühle ich mich nicht besonders wohl. Ich benutze sonst eigentlich immer den Bus oder die U-Bahn. Außerdem verlasse ich gerade seit fast einem Jahr zum ersten Mal Philadelphia. Wir fahren zwar nur zehn Meilen raus in die Randbezirke, aber es fühlt sich so an, als würde ich zum Mars fliegen.

„Was hast du denn?“, fragt Russell.

„Nichts.“

„Du bist verkrampft, Mallory. Mach dich locker.“

Wie soll ich denn entspannen, wenn uns gerade dieser riesige Bus rechts überholt? Er ist wie die Titanic auf Rädern und so nah, dass ich aus dem Fenster greifen und ihn berühren könnte. Ich warte, bis er vorbeigefahren ist und ich reden kann, ohne schreien zu müssen.

„Was ist mit der Mutter?“

„Caroline Maxwell. Sie ist Ärztin im Veteranenkrankenhaus, in dem auch meine Schwester Jeannie arbeitet. Von ihr weiß ich, dass sie jemanden suchen.“

„Wie viel weiß sie über mich?“

Er zuckt mit den Schultern. „Sie weiß, dass du seit achtzehn Monaten clean bist. Und ich habe dich ihr ohne Wenn und Aber empfohlen.“

„Das habe ich damit nicht gemeint.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich habe ihr deine ganze Geschichte erzählt, und sie freut sich sehr darauf, dich kennenzulernen.“ Ich muss eine skeptische Miene aufgesetzt haben, denn Russell legt nach: „Die Frau arbeitet beruflich mit Süchtigen. Und ihre Patienten sind altgediente Soldaten. Wir reden hier von Navy SEALs, von echt abgefuckten afghanischen Kriegstraumata. Nimm mir das nicht krumm, Mallory, aber im Vergleich zu denen klingt deine Geschichte gar nicht so dramatisch.“

Ein Arschloch in einem Jeep wirft eine Plastiktüte aus dem Fenster, und wir haben keinen Platz, um einen Schlenker zu machen, also knallen wir mit sechzig Meilen pro Stunde gegen das Ding, und es erklingt ein lauter Knall von zerberstendem Glas. Es hört sich an wie die Explosion einer Bombe. Russell greift einfach nach dem Regler der Klimaanlage und klickt sie auf zwei Stufen kühler. Ich halte den Blick auf meinen Schoß geheftet, bis ich höre, wie der Motor leiser wird, und spüre, wie wir die sanfte Kurve einer Ausfahrt nehmen.

Spring Brook ist eines dieser kleinen Käffer in South Jersey, die es schon zu Zeiten der Amerikanischen Revolution gab. Hier stehen jede Menge historischer Häuser im Kolonial- und im viktorianischen Stil, auf deren Veranden US-Flaggen flattern. Die Straßen sind ordentlich gepflastert, die Bürgersteige makellos sauber. Nirgends liegt auch nur ein Fitzelchen Müll herum.

Wir halten vor einer roten Ampel, und Russell fährt beide Fensterscheiben herunter.

„Hörst du das?“, fragt er.

„Ich höre gar nichts.“

„Genau. Es ist friedlich. Das ist genau das Richtige für dich.“

Die Ampel springt auf Grün, und wir fahren nun einen drei Häuserblock langen Straßenabschnitt mit Geschäften und Restaurants entlang – mit einem Thai, einem Smoothie-Laden, einer veganen Bäckerei, einer Hundetagesstätte und einem Yogastudio. Es gibt eine Nachmittagsschule namens „Mathe-Gymnasium“ und einen kleinen Buchladen mit angeschlossenem Café. Und natürlich darf auch ein Starbucks mit hundert Teenagern und Jugendlichen davor, die allesamt auf ihren iPhones rumdaddeln, nicht fehlen. Sie sehen aus wie die Kinder in einem Werbefilm von Target. Sie tragen bunte Klamotten und brandneue Schuhe.

Dann biegt Russell in eine Seitenstraße ein, und wir fahren an einem makellosen Vorstadthaus nach dem anderen vorbei. Große, ausladende Bäume werfen lange Schatten auf die Bürgersteige und den Straßenzug. Auf Hinweisschildern steht in großen Buchstaben FUSS VOM GAS – HIER LEBEN KINDER!, und als wir an einer großen Kreuzung ankommen, winkt uns dort ein lächelnder Schülerlotse in einer neonfarbenen Sicherheitsweste durch. Alles ist bis ins kleinste Detail so perfekt, dass es sich anfühlt, als würden wir durch eine Filmkulisse fahren.

Schließlich fährt Russell an den Straßenrand und hält im Schatten einer Trauerweide an. „Also, Mallory, bist du bereit?“

„Ich weiß nicht.“

Ich klappe die Sonnenblende herunter und betrachte mein Spiegelbild. Auf Russells Anregung hin habe ich mich wie eine Betreuerin in einem Sommercamp gekleidet – grüner Rollkragenpullover, khakifarbene Shorts und makellos weiße Sneaker. Ich hatte immer lange Haare, die mir bis zur Taille reichten, aber gestern habe ich mir meinen Zopf abgeschnitten und die Haare einer Krebshilfe-Organisation gespendet. Geblieben ist nur noch ein sportlicher schwarzer Bob. Ich erkenne mich selbst kaum wieder.

„Hier noch zwei kostenlose Ratschläge“, sagt Russell. „Erstens, vergiss nicht zu erwähnen, dass das Kind begabt ist.“

„Wie soll ich das denn erkennen?“

„Das spielt keine Rolle. In dieser Stadt sind alle Kinder begabt. Bau das einfach irgendwie ins Gespräch mit ein.“

„Na gut. Und wie lautet der zweite Ratschlag?“

„Tja, wenn das Gespräch schlecht läuft? Oder wenn du glaubst, dass die beiden unentschlossen sind? Dann kannst du immer noch hiermit punkten.“

Er öffnet das Handschuhfach und zeigt mir etwas, das ich wirklich nicht mit ins Haus dieser beiden nehmen möchte.

„Oh, Russell, ich weiß nicht.“

„Nimm es, Mallory. Betrachte es als eine Art Trumpfkarte. Du musst sie nicht ausspielen, aber vielleicht brauchst du sie.“

Ich habe während der Reha genug Horrorgeschichten gehört, um zu wissen, dass er wahrscheinlich recht hat. Also nehme ich das blöde Ding und schiebe es tief in meine Tasche.

„Gut“, lenke ich ein. „Danke, dass du mich hergefahren hast.“

„Hör zu, ich werde beim Starbucks auf dich warten. Ruf mich an, wenn du fertig bist, dann fahre ich dich wieder zurück.“

Ich behaupte beharrlich, dass es mir gut geht, sage ihm, dass ich den Zug zurück nach Philadelphia nehmen kann, und dränge Russell, jetzt nach Hause zu fahren, bevor der Verkehr noch dichter wird.

„Also schön, aber ruf mich an, wenn du fertig bist“, erwidert er. „Ich möchte jedes Detail erfahren, okay?“

„Finstere High-Fantasy-Lektüre mit starken Gefühlen, glühender Leidenschaft und dunkler Romantik.“ - CarpeGusta

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The Darkest Queen The Darkest Queen

Kuss der Dämonen

Ein Kuss, der Macht verleiht – doch ist er genug, um die Welt zu retten?
42 Thronanwärterinnen, eine Halbdämonin und der Prinz, den sie umbringen will.

Halbdämonin Skylar muss um jeden Preis an der Brautschau des Prinzen teilnehmen. Und das nicht, weil sie ihn für sich gewinnen will. Im Gegenteil, sie muss ihn töten und seine Schwester heiraten. Nur so kann sie die Macht über das Land erlangen. Denn genau das verlangt Dämon Andras, dem sie drei Jahre lang dienen muss, von ihr. Sollte sie scheitern, droht das große Sünderfressen, und die Welt wird im Chaos versinken. Doch mächtige Feinde kommen Skylar in die Quere genau wie ihre wachsenden Gefühle für Prinz Read, der ihr Herz und ihre Absichten ins Wanken bringt.

Mitreißend und düster-romantisch!

Kapitel 1

Wenn der Dämon nicht gewesen wäre, ich hätte keinen Fuß in das Schloss dieses dämlichen Prinzen gesetzt. Wirklich. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich das Tuscheln. Und dahinter den Fluss, der sich wie eine Schlange durch die Stadt wand und hinter dem königlichen Schloss verschwand.

Ein Ball, um den Prinzen zu verkuppeln. In seinem zwanzigsten Erntejahr. Hatte man je etwas Klischeehafteres gehört? Fast hätte ich mich genauso klischeehaft geschüttelt. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass Tausende Augenpaare auf mich gerichtet waren. Denn ich war auf dem Weg zu ebendiesem Prinzen. Der Auftrag, auf den mich der verdammte Dämon drei Erntejahre lang vorbereitet hatte. Unauffällig hob ich den Taftrock an meinem Kleid an, um meine Finger am Stoff abzuwischen. Wenn einfach alles auf dem Spiel stand, konnte es vorkommen, dass selbst mir der Schweiß ausbrach. Die Kunst bestand darin, es niemanden merken zu lassen. Ich hob den Kopf. Die achtzig Stufen bis zum Schlossportal konnte ich sicher als Vorwand für meine schweißnassen Finger ausgeben. Einen Moment atmete ich tief ein, genoss den kühlen Windhauch auf meinen nackten Schultern. Auf den weißen Marmorstufen spiegelte sich das Mondlicht. Genau wie in der Nacht, die mein Leben verändert hatte. Vor ziemlich genau drei Erntejahren.

Noch zwanzig Stufen, vielleicht weniger. Mit meinen Eckzähnen zwickte ich mir von innen in das Fleisch meiner Wange, die sich nun wie ein aufgeschlitzter Fisch anfühlte. Wieso gestattete ich es meinen Gedanken, derart abzuschweifen? Man könnte meinen, ich hätte sämtliche Trainingseinheiten von Andras, meinem dämonischen Ausbilder und seines Zeichens einer der obersten Dämonenfürsten, verdrängt. Das Raunen der Bevölkerung am Fuß der Treppe verstummte langsam. Auf dieser Höhe konnte ich sie zumindest nicht mehr hören. Dabei war mir durchaus bewusst, dass ich nur noch einen einzigen Gedanken zulassen durfte. Den an unseren Plan. Ansonsten war nicht bloß diese Stadt verloren. Bevor ich das oberste Plateau vor den Flügeltüren zum Schloss erreichte, warf ich einen Blick zurück. Auf die Bevölkerung und die letzten zwei Mädchen in Ballkleidern, die mir nach oben folgten. Wem machte ich etwas vor? Sie alle bedeuteten mir nichts. Nur Harlyn bedeutete einfach alles für mich. Andras und ich waren den Plan mehr als hundertmal durchgegangen, vielleicht annähernd tausendfach. Ich wusste, was ich zu tun hatte, um das Große Sünderfressen der Dämonen zu stoppen. Den Tag, an dem sich alles ändern würde. An dem Sünder wie ich von Dämonen gefressen wurden. Unumstößlich. Zusätzlich hatte Andras versprochen, sollte ich es aufhalten können, würde er meine Zwillingsschwester von den Toten zurückholen. Das war Ansporn genug.

Entschlossen warf ich die restlichen Haare, die nicht halb hochgesteckt und mit rubinbespickten Nadeln fixiert waren, über meine Schulter. „Gräfin Calla Da Silva“, informierte ich den weiß behandschuhten Pagen mit seiner Pergamentrolle, der den Türsteher spielte. Es gab lediglich einen Weg: Indem ich den Prinzen tötete und seine Schwester heiratete, würde ich sie alle retten. Auch diesen Jungen vor mir, bei dessen Anblick mir sofort das Wort „Opfer“ durch den Kopf schoss. Der erste Eindruck, der sich bei mir meist bewahrheitete. Meine Schicksalssicht, wie Harlyn es genannt hatte. Gut, ihn konnte ich vermutlich nicht retten. Dagegen hoffentlich so viele wie möglich in dieser Stadt und auf dem ganzen Kontinent, deren Leben durch das Große Sünderfressen auf dem Spiel stand. Allen voran Graf Prahar und Risha – die beiden Sterblichen, die einer lebenden Familie für mich am nächsten kamen. Ich blinzelte, verbot mir, daran zu denken, was geschehen würde, wenn der Plan scheiterte. Auch mit mir. Denn nicht nur der Graf hatte unbeschreibliche Sünden begangen, sondern auch ich. Wie fast alle Menschen – weshalb die Dämonen uns beim Großen Sünderfressen als Erste verschlingen würden.

„Da Silva“, murmelte der Page. Auf dem Pergament bemerkte ich, dass einige der Namen in goldenen, andere in silbernen Lettern geschrieben waren, die meisten jedoch mit einem tiefschwarzen Kohlestift. Diejenigen, die ganz unten standen. Wie mein Name. Der drittletzte. Niemand würde an diesem Abend auf mich setzen. Mein Herz sackte genau wie mein hektischer Atem in meinen Magen und schnellte dann wieder nach oben. Ich musste das Reinheitsritual überstehen, den Prinzen für mich gewinnen und ihn in weniger als zwei Monden töten, koste es, was es wolle. Den Prinzen verführen, den Prinzen töten, seine Schwester heiraten, betete ich wie ein Mantra in meinem Kopf herunter.


Kapitel 2

Zwei Pagen führten mich in einen Nebenraum, in dem schon einige Mädchen in den kostbarsten Ballkleidern auf Stühlen und Chaiselongues saßen. Einige unterhielten sich gedämpft. Was mir direkt auffiel, war erstens, wie sie mich musterten – was sie höchstwahrscheinlich bei jedem Neuankömmling vor mir getan hatten –, und zweitens, dass einige von ihnen Diademe trugen. Auf dem Kopf eines Mädchens mit dunkelblondem Haar und eisblauen Augen funkelte sogar eine ausladende Krone. Selbstverständlich wusste ich, wer sie war. Prinzessin Amaryllis. Sowohl mein Herr und Meister auf Zeit – Dämonenfürst Andras – als auch Graf Prahar Da Silva hatten mir Zeichnungen von den höchsten adeligen Junggesellinnen der fünf Königreiche gezeigt, die bei der ersten Auswahl dabei sein würden. Ich zwang mich, flach zu atmen, unauffällig jedes der Mädchen zu mustern. Beginnend mit Prinzessin Amaryllis, der künftigen Großfürstin der Seenlande. Sollte sie Prinz Read heiraten, würden sie beide nicht nur über Itdris, meine Heimat, herrschen, sondern auch über die Seenlande.

Es stellte sich heraus, dass die beiden Mädchen, die nach mir eintrafen, Bürgerliche waren. Mutig. Bürgerliche wurden traditionell, wenn sie bei der Brautschau ausschieden, getötet. Lediglich wirklich verzweifelte nicht adelige Frauen nahmen daher daran teil. Ich musterte das Mädchen, das viel zu jung aussah, vielleicht erst fünfzehn Erntejahre, und dazu mager wie ein trockener Zweig daherkam. Ihr rotbraunes Haar hing glatt herunter. Durch das beige Kleid mit den Puffärmeln wirkte sie recht blass. Die andere Bürgerliche trug Schwarz. Aus diesen beiden Farben durften Nichtadelige bei Bällen wählen. Das war aber auch alles. Die zweite Bürgerliche scannte die Adeligen, wie es gewöhnlich Wachmänner taten, die potenzielle Bedrohungen einschätzten. Durch ihre rechte rabenschwarze Augenbraue zog sich eine Narbe, was sie nicht nur schön, sondern auch interessant machte. Ebenso das nachlässig hochgesteckte schwarze Haar. Gerade bei ihr hätte ich angenommen, dass sie sich besonders viel Zeit für ihr Äußeres genommen hätte.

Mein jadegrünes Kleid war tatsächlich so geschnitten, dass es meiner Figur schmeichelte und dazu genügend versteckte Taschen für Waffen bot. Obwohl mir natürlich meine Gabe als wirksamste Waffe blieb. Fluch und Segen zugleich. Und weil sie ausschließlich bei Frauen wirkte, musste Prinz Read sterben – etwas, was ich gern verhindert hätte, wenn ich es mir hätte aussuchen dürfen, doch ihn würde ich nie aussaugen und im Anschluss kontrollieren können. Dazu kam, dass ich es mir nicht leisten konnte, zu offenbaren, dass ich eine Halb-Reeva war. Aus eindeutigen Gründen. Da musste man sich hier bloß umsehen. Wie schon im Eingangsbereich des Schlosses und auch auf dem Korridor, der sich daran anschloss: Überall standen Ritterrüstungen herum, die Schrumpfköpfe von Dämonen in einer Hand hielten oder als Ketten trugen. Dazu überall Bilder an der Wand, die die Königin, den verstorbenen König oder deren Vorfahren zeigten, wie sie Dämonen ein Schwert sonst wohin rammten oder meinesgleichen enthaupteten. Ich kniff die Augen zusammen, als mein Blick auf ein besonders scheußliches, riesiges Gemälde fiel, das die Königin zeigte, die ein Schwert mitten durch das Auge eines Sukkubus stieß. Der weibliche Dämon mit dem Teufelsschwanz hatte seinen Kopf nach hinten geworfen und schrie. Autsch! Genau das taten Menschen mit Dämonen wie mir. Am Ende war es gut, dass mich diese Bilder an meinen Auftrag erinnerten und daran, dass die Anwesenden hier niemals meine Freunde werden konnten. Ich war zumindest zur Hälfte eine Reeva und damit eine nahe Verwandte von einem Sukkubus. Also zwang ich mich, das Bild länger zu betrachten. Dieses Schicksal würde auch meines sein, wenn sie herausfanden, dass ich eine Halbdämonin war.

Das Getuschel wurde lauter. Amaryllis, umgeben von zwei blonden Mädchen, von denen eine einen viel zu grellen roten Lippenstift trug, lästerte über die Bürgerlichen. Die jüngere im beigen Puffärmelkleid wusste offenbar gar nicht, wo sie hinsehen sollte, senkte den Kopf. Sicherlich verstand sie, dass es um sie ging. In meinen Fingerspitzen kribbelte es. Füllten sich ihre Augen gerade mit Tränen? Die ältere im schwarzen Kleid ballte die Hände zu Fäusten, sagte jedoch nichts.

Das Bedürfnis überkam mich, der jungen Bürgerlichen einen Arm um die Schultern zu legen – was natürlich ein vollkommen unsinniger Gedanke war.

„… so gut wie tot“, ätzte Prinzessin Amaryllis. Herzogin Margerite, die perlrosa Lippenstift aufgetragen hatte, stand links neben ihr und kicherte.

Ich atmete tief ein. „Heute Abend sind wir alle gleich vor dem Prinzen“, sagte ich laut, ehe ich mich zurückhalten konnte. „Noch ist keines unserer Schicksale entschieden.“

„Du solltest ganz ruhig sein, Da Silva“, fuhr mich Amaryllis ohne jegliche Höflichkeitsform an. Mein Einwurf schien sie nicht erzürnt zu haben. Stattdessen sprach sie mit mir wie mit einer Dienerin. „Du wirst nicht mal das Reinheitsritual bestehen. Wie man hört, hast du bereits heimlich ein Kind entbunden.“

Mist, wie konnte sie das wissen? Tatsächlich hatte ein ähnliches, wenn auch weitaus schlimmeres Schicksal die echte Calla Da Silva ereilt, deren Platz ich eingenommen hatte. Und das Reinheitsritual vor dem Ball konnte mir wahrlich gefährlich werden, bloß aus anderen Gründen. Wenn Andras recht hatte, würde die Königin damit nicht nur Jungfrauen von Nichtjungfrauen unterscheiden können, sondern auch Dämonen von Nichtdämonen. Ersteres war kein Problem für mich, Zweiteres schon.

„Du wirst gleich sehen, dass das lediglich ein fieses Gerücht ist“, erklärte ich mit erhobenem Kinn, obwohl das Gegenteil der Fall war. Immerhin konnte ich mit einem bestandenen Test die Ehre der echten, verstorbenen Calla Da Silva wiederherstellen, was ein kleiner Trost für den Grafen sein würde. Ach, Graf Prahar … auf einmal vermisste ich ihn schrecklich. Und noch mehr seine Hausangestellte Risha.

Ein Klopfen unterbrach meine Gedanken. Wieder ein behandschuhter Page in einem schwarzen Jackett mit goldenen Knöpfen. Er verneigte sich vor uns, wobei mir auffiel, wie jung er war. Vielleicht erst vierzehn oder fünfzehn Erntejahre und damit noch jünger als die schmale Bürgerliche. „Die Königin ist nun bereit, das Reinheitsritual durchzuführen.“

Natürlich würde das die Königin höchstpersönlich übernehmen. Nur mit Mühe konnte ich mir ein Augenrollen verkneifen. Wie es wohl ablaufen würde? Selbst Andras konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie genau die Königin vorhatte, uns zu testen. Zweifellos die größte Hürde für mich an diesem Abend, doch ich zwang mich, nicht mehr auf die Innenseite meiner Wange zu beißen.

Junge Frauen mit rauschenden Kleidern in allen Farben quollen durch die Tür. Den Abschluss bildeten erneut die beiden Bürgerlichen.

Das Mädchen im schwarzen Kleid hielt mir mit einem anerkennenden Nicken die Tür auf. Zuerst verstand ich nicht, woher das kam, bis ich begriff, dass sie es guthieß, wie ich Amaryllis die Stirn geboten hatte.

„Danke!“ Ich versuchte mich an einem Lächeln, was nicht gerade meine Spezialität war und vermutlich grässlich misslang.

Ich war schon halb aus der Tür. Spielte an meinen dunklen Haarsträhnen, als ich mich noch mal zu ihr umdrehte. „Wieso tust du dir das an? Du weißt, was für dich auf dem Spiel steht?“ Was für eine Frage! Sie konnte wohl kaum so unwissend sein, dass ihr die Konsequenzen ihrer Teilnahme nicht bewusst waren. Oder nicht? Vielleicht hatte ich in den letzten drei Erntejahren zu viel unter Dämonen statt unter Menschen gelebt. Vielleicht hatten sich die Regeln dieser Welt verändert.

Ihr Körper wirkte auf einmal steif. Fast glaubte ich, sie würde mir überhaupt nicht antworten, doch dann senkte sie den Blick. „Manchmal muss man Opfer für ein höheres Ziel bringen.“

Ich blinzelte. Wenn jemand wusste, wie sich das anfühlte, dann ich. „Aber … heiligt in deinem Fall der Zweck wirklich die Mittel?“

„Du meinst meinen Einsatz?“ Ihre Augen glühten förmlich, sobald sie ihr Kinn hob. „Für mich schon.“

Ich nickte. Damit war alles gesagt, und wir drohten bereits den Anschluss zu verlieren.

Wir hasteten den anderen hinterher bis zu einem runden Raum voller Marmorsäulen und Eimern, gefüllt mit Wasser. Eimer, gefüllt mit Wasser? Sollten wir etwa putzen? Oder uns waschen? Sah so das Reinheitsritual der königlichen Familie aus? Weder Andras noch Graf Prahar hatten das genau sagen können. Es gab zahlreiche Möglichkeiten, um zu prüfen, ob ein Mädchen noch unbefleckt war. Einige moralisch verwerflicher als andere. Noch eine Unbekannte in unserem Spiel – eine besonders gefährliche, wenn man bedachte, dass genau dieses Ritual meinen Tod bedeuten könnte. Wieder glitt mein Blick über die gerahmten Bilder an der Wand. Sie alle zeigten den verstorbenen König oder die Königin – bei dem wenigen Licht in diesem Raum konnte man bloß kaum sagen, wen von beiden die Gestalt darstellen sollte. Noch dazu trugen beide dieselbe Langhaarfrisur auf den Bildern, und die Königin besaß markante, harte Gesichtszüge, ganz ähnlich wie ihr Mann. Jedenfalls war einer von beiden auf einem Bild ganz in meiner Nähe zu sehen, wie er oder sie einer gehörnten Frau den Kopf abschlug. Sehr … einladend, was Gäste wie mich betraf.

Alle Mädchen hatten sich nahe der Tür in einem Knäuel an Reifröcken versammelt, offenbar unschlüssig, was sie tun sollten.

Während ich noch ein Bild nach dem anderen betrachtete, die an den blaugrünen Marmorwänden hingen, öffnete sich eine Tür am anderen Ende des runden Saals.

Ein Page hielt die massive Tür für niemand Geringeres als die Königin höchstpersönlich auf. Gekleidet in ein bodenlanges Kleid mit Trompetenärmeln und mit ihren weißblonden Haaren erinnerte sie mich an eine Elfe. Sie hatte einen Teil ihrer Haare geflochten, was den Eindruck noch verstärkte. Und das Kleid von der Farbe getrockneten Bluts vermittelte, wie viel Gefahr von ihr zweifellos ausging.

„Willkommen!“ Ein schmales Lächeln von einer schmalen Königin, die ihren Sohn verheiraten wollte oder, besser gesagt, musste. An eine von uns. Irgendwie verlieh mir der Gedanke Auftrieb. Mit einer Hand fächelte ich mir Luft zu, bedeutete einem Pagen, das Fenster zu meiner Linken zu öffnen, obwohl ich mich in diesem Moment nicht kälter hätte fühlen können. Schritt eins meines Plans.

„Liebe Prinzessinnen, Edelfrauen, Damen und Bürgerliche.“ Das letzte Wort betonte Königin Marigold so, als hätte sie Mühe, es auszusprechen. Es klang aus ihrem Mund eher, wie wenn man einen Frosch auswürgte. Und damit kannte ich mich aus.

„Ich freue mich, Euch zu sehen. Bevor Ihr gleich meinem Sohn, dem Kronprinzen von Itdris, vorgestellt werden könnt, müsst Ihr Eure Reinheit unter Beweis stellen. Dafür wird jede von Euch mit nackten Füßen in einen Eimer voll Weihwasser steigen.“ Sie wies auf den Kreis aus Metalleimern, die in der Mitte des Saals noch vor den Marmorsäulen aufgestellt waren. „Zweiundvierzig Eimer für zweiundvierzig Anwärterinnen um die Hand meines Sohnes.“

Für meinen Geschmack machte sie wirklich etwas viel Aufhebens um ihren Sohn. Allerdings bereitete mir die Sache mit dem Weihwasser größere Sorgen. Sobald ich mit dem Zeug in Berührung kam und vor Schmerzen schrie, wäre ich aufgeflogen.

„Das Weihwasser ist so präpariert, dass es ein weißes Leuchten erzeugt, wenn sich eine Person mit reiner Seele hineinbegibt“, erklärte die Königin weiterhin.

Damit stand sogar absolut fest, dass ich geliefert war. Und von einem Eimerritual hatte ich nie zuvor gehört. Mein Blick glitt zum geöffneten Fenster. Wie viele Ellenlängen lagen wir über dem Fluss? Zweihundert? Ziemlich weit oben jedenfalls.

„Eure letzte Hürde, bevor Ihr am Ball teilnehmen könnt.“ Ein zynisches Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht der Königin. Als könnte sie es kaum erwarten, zu sehen, wie viele von uns an ihrem Test scheiterten.

„Verzeihung, Eure Königliche Hoheit?“, meldete sich ein Mädchen in einem sonnenholzgelben Kleid zu Wort. „Darf ich sprechen?“

Großmütig winkte Königin Marigold in ihre Richtung, um die Erlaubnis zu erteilen, auch wenn die Frage eher stümperhaft vorgebracht klang. Ihr Name lautete … ich kramte in meinen Erinnerungen: Ivy, Gräfin von West-Nurnendal. Eine große, stolze junge Frau, die laut Graf Prahar Da Silva gern an sportlichen Wettkämpfen teilnahm. Eine Außenseiterin, die von ihrer Familie im frühen Kindesalter von Nurnendal nach Itdris geschickt oder, besser gesagt, verbannt worden war.

„Was passiert mit denjenigen von uns, die nicht bestehen?“ Sie schluckte. Und mir war sofort bewusst, weshalb sie es fragte. Das Deckenlicht brach sich in ihren roten Haaren, betonte ihre spitzen Schlüsselbeine.

So als hätte sie sich eine Frage wie diese sehnlichst herbeigewünscht, zeigte die Königin ein breites Lächeln. Ihre Zähne mussten spitz zugefeilt worden sein, um Feinde zu verunsichern, nahm ich an. Niemand konnte von Natur aus mit solchen Nadelzähnen gesegnet oder eher verflucht sein. „Selbstverständlich haben die Adeligen unter Euch nicht mehr zu befürchten, als einfach nach Hause geschickt zu werden. Scheitert jedoch eine Bürgerliche auf welcher Stufe auch immer im Wettbewerb um die Hand des Kronprinzen – droht ihr der Gifttod.“

Die meisten der Mädchen atmeten hörbar ein oder aus. Nur die schwarz gekleidete Bürgerliche neben mir blieb vollkommen starr.

Die Königin erhob die Stimme über das Gemurmel hinweg. „Gibt es darüber hinaus noch Fragen? Nein, keine? Dann sollten wir beginnen. Bitte stellt Euch auf.“

Selbst diese Adelige aus Nurnendal wurde von der Königin respektlos abgekanzelt. Eigentlich ein Affront. Andererseits war genau das ihr Stil. Vor allem jüngeren Frauen gegenüber. Eilig stellte ich mich nach links, direkt vor das offene Fenster, platzierte mich dort hinter dem Eimer, etwa zehn Ellenlängen von der Freiheit entfernt. Direkt neben der Baroness von Altwingen, wobei ich es vermied, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen. Nicht dass die Königin am Ende glaubte, Angst in meinen Augen zu erkennen. Wenn man eines im Angesicht einer Raubkatze wie der Königin nicht zeigen durfte, dann war es Angst – oder sonst eine Unvollkommenheit. Und sie, die wahrscheinlich gefährlichste Frau der Welt, die dunkelste Königin, die es je gegeben hatte, stand zwischen mir und meinem Ziel, Harlyn zurückzubekommen. Und natürlich den Plan des Dämons zu erfüllen, um die Welt vor seinen dämonischen Brüdern zu retten.

Inzwischen hatte sich auch das letzte Mädchen hinter einem Eimer platziert. Ironisch irgendwie, wie wir so dastanden, als wären wir das Putzkommando und nicht die Anwärterinnen auf den Platz an der Seite des Kronprinzen – wodurch eine von uns bald Königin sein würde.

„Gut.“ Die Königin breitete ihre Hände mitsamt den Trompetenärmeln aus, wobei es eindeutig war, dass eine Armee an jungen Frauen nicht gerade ihr Lieblingspublikum darstellte. Kurz dachte ich an das Gerücht, dass sie angeblich Dienstmägde töten ließ, um in deren Blut zu baden, was ihre Haut verjüngte. Ihr Blick traf meinen, glitt an mir herunter und dann wieder zu meinem Gesicht. Ein Lächeln voller Zynismus zeigte sich auf ihren Lippen. Einen Moment spürte ich die Kälte, die aus dem Fenster hinter mir zu uns hereindrang, auf jedem kleinen Fleck meiner freien Haut. Aber nein, es konnte nicht sein, dass sie wusste, dass ich nicht die echte Calla war. Schlicht unmöglich.

„Bitte steigt nun mit bloßen Füßen in den Eimer. Die Kristalle piksen Euch vermutlich, doch das wird Euer geringstes Problem in den kommenden Stunden und Tagen sein.“ Das Zähnefletschen, das die Königin bei diesen Worten zeigte, wirkte alles andere als einladend. Seltsamerweise erweckte ihre Art, mit uns zu reden, den Eindruck, als würde sie die Situation hassen und gleichzeitig genießen.

Tatsächlich kicherten ein paar Mädchen, sobald sie ihre Kleider rafften und in die Eimer stiegen. Instinktiv wusste ich, dass ich genau das nicht tun sollte. Neben mir beobachtete mich die Baroness genau, stieg dann in ihren Eimer, woraufhin das Wasser kurz flackerte, erlosch und dann in gleißend weißem Licht erstrahlte. Reihum flackerte das Wasser in den Eimern wie Leuchttürme auf. Reinweiß. Es wurde Zeit. Ich biss die Zähne zusammen, reckte das Kinn. Lediglich ich und noch eine weitere Adelige, die vier Plätze rechts von mir stand, waren noch nicht ins Wasser getreten. Die Adelige im roten Kleid zitterte so sehr, dass ich ihre Zähne bis zu mir klappern hörte. Ich konnte es nicht länger hinauszögern. Gleich würde sich mein Schicksal zeigen.

„Nun?“ Die Königin sah erst mich und dann die Adelige mit den braunen Locken im roten Kleid an. „Tretet in Eure Eimer.“ Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte vor Ungeduld die Augen verdreht. Obwohl ich es nicht für möglich gehalten hätte, wurden ihre Züge noch härter, sodass sie mich an einen wütenden Krieger auf dem Schlachtfeld erinnerte. Ganz wie auf dem Bild von ihr, das ich vorhin passiert hatte.

Um ihr nicht die kleinste Angriffsfläche zu bieten, blinzelte ich nicht einmal, während ich den Rock meines Kleids anhob und meinen nackten Fuß über den Eimer hielt. Das Mädchen im roten Kleid blieb starr, strich sich lediglich über ihren seitlichen Zopf, aus dem dunkle Locken hervorquollen, die sie mit Rosenblütenspangen bestückt hatte.

Und dann passierte es. Ein schwarzer Blitz schoss durch das Fenster herein, direkt an meiner linken Schulter vorbei.

„Eine Fledermaus!“ Prinzessin Amaryllis kreischte. Mädchen sprangen aus ihren Eimern, die Baroness neben mir stieß ihren sogar um beim Versuch zu fliehen.

Die Fledermaus, die eigentlich ein ziemlich großer Flughund war, kümmerte das Chaos jedoch nicht. Palastdiener flitzten umher, öffneten noch mehr Fenster. Seelenruhig drehte der Flughund eine weitere Runde oben an der Kuppel, ehe er dem Zug der Nachtluft folgte, herabstieß und durch eins der Fenster verschwand. Jagger – mein bester und einziger Freund auf der Welt – hatte ganze Arbeit geleistet. Der klügste Flughund – und der flauschigste. Nur mit Mühe konnte ich mein Grinsen verbergen und stieg in den Eimer. Wie bei der Baroness von Altwingen flackerte das Wasser kurz und erlosch, ehe es weiß erstrahlte – was der Moment war, in dem ich ausatmete. Es hatte funktioniert. Obwohl die Illusion nicht ganz perfekt war, aber das konnte man von den wenigsten behaupten. Unser Ablenkungsmanöver war geglückt.

Die Königin klatschte in die Hände. „Ruhe bitte. Ihr werdet Euch wohl nicht wegen einer Fledermaus in kopflose Hühnchen verwandeln.“

Ich sah mich um. Doch, das hatten einige getan. Vier Eimer waren umgekippt.

Der Blick der Königin fand mich, die als Einzige im Wasser stand, das mich von unten weiß anstrahlte. Die Kristalle kitzelten an meinen Fußsohlen, was ich ohne eine Regung hinnahm.

Das Mädchen im roten Kleid hatte mehrere Schritte rückwärts gemacht und presste sich gegen die Wand. Genau neben dem schrecklichen Jagdbild, das die Königin zeigte.

„Wisteria von Everlaine?“ Die Königin sprach das Mädchen direkt an. „Bitte tretet in den Eimer, damit wir endlich fortfahren können.“ Wieder fiel mir auf, wie respektlos sie mit uns sprach.

Wisteria blieb schlichtweg nichts anderes übrig. Mit kurzen, tapsigen Schritten näherte sie sich dem Eimer, während ich meinen bereits verließ. Den Kopf gesenkt, streifte sie ihre Schuhe ab, die so flach wie die von Balletttänzerinnen waren. Sie berührte die Wasseroberfläche – erst mit einem Fuß, den sie sogleich zurückzog, wieder absetzte, um dann den zweiten zu heben. Nicht nur sie hielt den Atem an. Mehrere Mädchen versteiften sich, wobei die Spannung im Raum beinahe greifbar war. Und dann berührte sie mit ihrem nackten Fuß das Wasser. Wisteria von Everlaine schniefte – vielleicht vor Schreck oder Panik, weil sie wusste, was kommen würde, oder aus beiden Gründen, ehe sie den zweiten Fuß nachzog. Dieses Mal sprang das Licht sofort ohne ein Flackern an. Aus dem Eimer von Wisteria schoss ein Lichtstrahl nach oben, so rot wie ihr Kleid.

Einige der Mädchen atmeten scharf ein.

„Ihre arme Mutter“, flüsterte diese schreckliche Margerite ebenso zynisch wie die Königin vorhin. Am liebsten hätte ich ihr verboten, so zu reden. Sah sie nicht, wie sehr Wisteria sowieso schon litt? Ihr Gesicht hatte fast komplett die Farbe verloren.

„Wisteria von Everlaine.“ Die Stimme der Königin hallte gnadenlos durch den Turmsaal, sodass alle Mädchen verstummten, die eben noch miteinander geflüstert hatten. „Da Ihr nicht mehr unbefleckt seid, werdet Ihr von der Teilnahme am heutigen Abend ausgeschlossen und müsst sogleich den Palast verlassen.“

Obwohl ich Wisteria nicht kannte und normalerweise nichts für Adelige übrighatte – abgesehen von Graf Prahar –, fühlte ich ihren Schmerz zu gut. Wie ungerecht war das bitte? Was machte es, wenn man schon Erfahrungen mit Männern hatte? Ich atmete tief ein. Selbstverständlich mussten sich einzig Frauen diesem Ritual unterziehen. Laut Andras waren bei der letzten Auswahl für den inzwischen verstorbenen König auch Jünglinge mit dabei gewesen, weil der König nicht ausschließlich Frauen zugeneigt gewesen war. Dem Ritual, das damals aus einem Blütenbad bestanden hatte, hatten sich jedoch nur Frauen unterziehen müssen.

Verbissen versuchte Wisteria, nicht in Tränen auszubrechen, das war deutlich zu erkennen. Mit gesenktem Kopf stieg sie aus dem Eimer. Gleich würde sie die Außentreppe nehmen und sich dem Gespött der wartenden Menge draußen stellen müssen. Was für eine Schmach! Das Publikum unten würde starren, hatte aus genau diesem Grund ausgeharrt. Um die Ersten von uns scheitern zu sehen. Hautnah. Alle würden über ihre Familie hinter vorgehaltener Hand flüstern, bis sich ein noch skandalöseres Thema in adeligen Kreisen auftat.

Knarrend öffneten sich die Türen auf beiden Seiten des Raumes.

Während alle anderen schweigend auf den Ausgang hinter der Königin zuströmten, blieb Wisteria, wo sie war. Die Baroness von Altwingen und ich hatten uns ebenfalls nicht gerührt.

„Ich eskortiere Euch nach unten“, sagte die Baroness unvermittelt und fügte mit lauter Stimme in Richtung Königin hinzu: „Das ist doch gestattet? Sie braucht eine Begleitung. Und ich bin in wenigen Momenten zurück. Die Pagen können mir den Weg zeigen.“

An den Augen der Königin konnte man nicht ablesen, was sie davon hielt. An den durchgedrückten Schultern der Baroness jedoch konnte ich ihre Entschlossenheit erkennen. Gespielte Entschlossenheit. Denn das alles gehörte zu unserem Plan, und jetzt, da wir die große Unbekannte der Reinheitsprüfung hinter uns hatten, konnten wir uns leichten Herzens trennen. Andras, der mit seiner dämonischen Illusionsmagie die Gestalt der Baroness von Altwingen angenommen hatte und gleich mit der echten den Platz zurücktauschen würde. Ein Handel, den die Baroness zu gern eingegangen war, da ihr Wasser genau wie das von Wisteria rot erstrahlt wäre. Sie hatte keinen Dreijahresvertrag wie ich mit Andras unterschrieben. Lediglich ein kleines Abkommen, damit er mich zur Prüfung begleiten konnte. Kurz sah ich den beiden hinterher. Der armen Wisteria und Andras in Gestalt der Baroness von Altwingen. Ich hatte die Hürde genommen, dank Andras’ Illusionsmagie und dank Jagger, der alle so lange abgelenkt hatte, dass Andras sein Wasser hatte umkippen und die Illusion auf mein Wasser hatte lenken können. Leider konnte selbst er nicht mehrere Illusionen auf einmal für längere Zeit aufrechterhalten. Nicht gleichzeitig und schon gar nicht zwei gleiche wie zwei bestandene Reinheitsrituale. Einen Moment dachte ich daran, wie einfach es gewesen wäre, wenn er es doch fertiggebracht hätte. Dann hätte Andras nämlich selbst als Calla das Herz des Prinzen gewinnen können, aber da das nicht dauerhaft funktionierte und er unbedingt meine Kräfte brauchte, um die Prinzessin zu kontrollieren, hatte er natürlich mich dafür ausfindig machen müssen.

Für mehr Gedanken an die Vergangenheit blieb mir keine Zeit. Auch so schon würde ich mich beeilen müssen, um die anderen Mädchen einzuholen. Also schlüpfte ich in meine Schuhe und hastete ihnen hinterher. Die Treppe empor, die etwas schräg in den Stein gehauen war, wie um einen anstrengenden Bergaufstieg zu simulieren.

Brutale Serienkiller, blutige Morde und ein grausamer Fall

Blick ins Buch
AngsttreiberAngsttreiber

Thriller

Kann man einen Mörder fassen, wenn der einzige Beweis ein Komatraum ist?

Mit 11 Jahren muss James zusehen, wie seine Eltern hingerichtet werden, bevor ihn ein Schuss in den Kopf trifft. Erst 9 Jahre später erwacht er aus dem Koma. Die Killer sind noch auf freiem Fuß und wollen ihn nun wieder zum Schweigen bringen. Rebecca Kent soll den alten Fall aufklären, bevor die Täter James ein weiteres Mal zu fassen bekommen. Doch sie steckt tief in den Ermittlungen um einen brutalen Copycat-Mörder, der Christchurch heimsucht. Als James aber von seinem Traum im Koma erzählt, ändert sich alles für Rebeccas Ermittlungen. Denn was er berichtet, schockiert alle zutiefst …

Der neue clevere und blutige Thriller vom SPIEGEL-Bestsellerautor Paul Cleave, dem Meister der harten Serienkiller-Spannung

Mit düsteren Thrillern begeistert Paul Cleave seine treue Fanschar, die Cleaves böse Helden liebt. Er lebt in Christchurch (Neuseeland), aber hat seine Frisbees schon in mehr als 40 Ländern geworfen, seine Lesetouren gelten als legendär. Zahlreiche Preise und Nominierungen säumen den Weg von Paul Cleave, doch ihm ist vor allem eins wichtig: seine Fantasie von der Leine zu lassen und das nächste Buch zu schreiben.

Für Leser:innen von Ethan Cross und Michael Tsokos

1

Wenn James im Bett liegt, ist er in Gedanken gern bei dem, was er gerade gesehen oder gelesen hat – nicht gut, wenn es in einer Geschichte um Killerclowns geht, die sich im Schrank verstecken. Seine Eltern wissen, dass nächtliche Geräusche ihn am Einschlafen hindern, und senken deshalb ihre Stimmen auf Flüsterlautstärke, bewegen sich mit leisen Schritten. Was er aber jetzt hört, sind Geräusche in Tageslautstärke: ein Klopfen an der Tür, gefolgt von Stimmen, dann ein Streit, und das alles um – er schaut auf die Uhr auf dem Nachttisch – 23:00 Uhr. Er versteht nicht, worum es geht, aber der Klang gefällt ihm nicht, ebenso wenig wie das darauffolgende Poltern und Stoßen.

Was ist da unten los?

Die Neugier treibt ihn aus dem Bett. In seinem Zimmer ist es dunkel. Sein Nachtlicht steht seit zwei Jahren im Kleiderschrank, nachdem Hazel ihn damit aufgezogen hat, dass er es immer noch braucht. Behutsam bahnt er sich den Weg durch das Minenfeld von Spielzeug zur Tür, Spielzeug, das er hätte wegräumen sollen, es aber nicht getan hat. Sehen kann er sie nicht, doch das muss er auch nicht. Er gehört zu den Menschen, die über die besondere Gabe verfügen, einen Raum verlassen zu können und Monate später noch genau zu wissen, wo alles gestanden hat. Sein Gedächtnis ist so gut, dass er fürchtet, sein Gehirn könnte eines Tages von all dem platzen, was er sich merkt. Vorsichtig öffnet er die Tür und tritt in den Flur hinaus, an Hazels Zimmer vorbei, die all den Lärm natürlich verschläft.

Von unten hört er seine Mutter: „Bitte nicht.“

Das Blut stockt ihm in den Adern, doch ein schnalzendes Patsch lässt es zu einem Klumpen Eis gefrieren, sodass die Beine beim nächsten Schritt auf der Treppe nachzugeben drohen und er sich an der Wand abstützen muss, um einen Sturz zu vermeiden.

„Nein, nicht“, hört er seinen Vater, mit der gleichen Angst in der Stimme wie seine Mutter. „Bitte nicht.“

James’ Brustkorb zieht sich um sein rasendes Herz zusammen. Die Welt um ihn herum verschwimmt. Er ringt nach Luft. Aus seinem Blickwinkel sieht er von der Treppe ins Wohnzimmer hinab – das hat er immer gemacht, wenn seine Eltern Horrorfilme angesehen haben. Die Beine bieten ihm keine Standsicherheit, daher legt er sich auf den Bauch und robbt langsam über den Teppich.

Patsch. Das Geräusch lässt ihn zusammenzucken.

„Wo ist es?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagt sein Vater. „Bitte, Sie sind im falschen Haus, Sie haben die …“

Ein weiterer Schlag. James hält sich die Hand vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der ihm die Kehle hochsteigt. Weitere Schläge und dumpfe Stöße von unten. Er muss die Polizei rufen. Aber das kann er nicht – seine Eltern sagen, er sei zu jung für ein Handy. Dasselbe gilt für Hazel, obwohl all ihre Freunde eins haben. Einen Festnetzanschluss haben seine Eltern zu allem Überfluss schon seit Jahren nicht mehr. Seinen Freunden könnte er von seinem Computer aus eine Nachricht schicken, doch die schlafen alle schon. Kann man eine E-Mail an die Polizei schicken?

Er robbt sich weiter vor. Das Wohnzimmer kommt in Sicht. Es ist beleuchtet. Er sieht die untere Hälfte von jemandem mit schwarzer Hose und schwarzen Schuhen. Ein Fremder. Er zieht sich noch ein Stück vor, sieht noch jemanden. Größe, Statur und auch die Kleidung könnten die seines Vaters sein. Er kniet auf dem Boden und hat einen Kissenbezug über dem Kopf. Auf dem Kissenbezug befindet sich ein Blutfleck. Neben diesem Jemand ist ein anderer Jemand. Auch der kniet, auch mit einem Kissenbezug über dem Kopf, und dieser Jemand trägt die Kleidung seiner Mutter.

Der Fremde sagt: „Sagt uns einfach, wo es ist.“

„Es gibt keinen …“

Ein weiterer Schlag ins Gesicht lässt seinen Vater zurücktaumeln. Doch bevor er fallen kann, packt ihn der Mann, der ihn geschlagen hat, am Hemd, und hält ihn aufrecht. James kann nicht erkennen, wem er sagt: „Geh und hol die Kinder.“ Im selben Moment taucht ein zweiter Mann auf, auch er in dunkler Kleidung und mit einer Skimaske über dem Gesicht. In Filmen sind Monster immer Zombies, Vampire oder sonderbare Mutanten, doch jetzt sagt ihm sein elfjähriges Gehirn, dass er sich die ganze Zeit geirrt hat. Was er jetzt vor sich hat, sind Monster. Echte Monster.

Der zweite Mann – das zweite Monster – geht auf die Treppe zu.

„Nicht!“, schreit sein Vater, worauf sich das erste Monster umdreht und erneut zuschlägt.

Wenn du jetzt nicht aufstehst, werden sie dir etwas antun. Sie werden dich umbringen.

Auf allen vieren arbeitet er sich von der Treppe weg. Seine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding, der Boden ist wie Treibsand, und die Wände gleichen den Seiten eines sinkenden Schiffs. Wenn er hier im Flur bleibt, erwischen sie ihn. Mit einer Hand an der Wand abgestützt, steht er auf, wankt zu Hazels Zimmer, öffnet die Tür und macht sie leise hinter sich zu. Abschließen kann man sie nicht, und ihm fehlt die Kraft, um sie mit schweren Möbeln zu blockieren. Er geht durchs Zimmer. Erst als er die Vorhänge zurückzieht und das Fenster öffnet, rührt Hazel sich. Bleibt ihnen noch Zeit, aufs Dach zu klettern? Er hört das zweite Monster auf der Treppe.

„W … was machst du da? James?“

Er schüttelt sie, und flüstert in dringlichem Ton: „Wir müssen weg von hier.“

„Was …?“

Er legt ihr einen Finger auf die Lippen und ergreift ihre Hand.

„Es sind Monster im Haus. Wir müssen aus dem Fenster klettern.“

Hazel ist vierzehn, gibt aber immer gern die Sechzehnjährige. Sie reißt ihre Hand zurück und wird langsam wach: „Für deine albernen Spiele ist es ein bisschen spät, James.“

Seit letztem Jahr ist sie dazu übergegangen ›Spiele‹ und ›James‹ immer in einem Satz zu nennen.

„Wir müssen weg von hier!“ Er flüstert nicht mehr, in der Hoffnung, sich, wenn schon nicht mit Worten, über die Lautstärke verständlich machen zu können. Erneut greift er nach ihr.

„Ich gehe nirgendwohin. Und jetzt verschwinde aus meinem Zimmer!“

Sie stößt ihn weg. Ein heller Streifen leuchtet unter der Schlafzimmertür auf, als das Licht im Flur angeht.

Weinend fleht er: „Bitte, Hazel, bitte.“

Seine Tränen machen sie stutzig. Sie sieht sie nicht, kann sie aber hören. Doch es ist zu spät. Die Tür öffnet sich. Von hinten angestrahlt, steht das zweite Monster in der Tür. Es ist riesig. Zweimal so groß wie alle, die er je gesehen hat. Als hätte Doktor Frankenstein ein paar tote Bodybuilder zu einem zusammengesetzt.

Hazel erstarrt. James ebenfalls.

„Kommt mit“, sagt das Monster mit tiefer Stimme, als würden diese Bodybuilder ihre Steroide eimerweise zu sich nehmen.

„Nein.“ James ist so verängstigt, dass er nicht einmal weiß, ob er laut genug gesprochen hat, um sich verständlich zu machen.

Doch das muss er wohl, denn das Monster zeigt auf sie beide. „Beim nächsten Nein bringe ich dich um.“

Hazel nimmt James’ Hand.

„Ihr habt drei Sekunden. Danach breche ich euch die Knochen.“

James lässt die Bücher, die er gelesen hat, vor seinem inneren Auge an sich vorbeiziehen. Es waren viele, doch an eine Szene wie diese kann er sich nicht erinnern. Die Kinder, die darin vorkommen, oft in seinem Alter, sind immer sehr mutig. Manche kommen sogar Geheimnissen auf die Spur.

„Wir kommen“, sagt er, ohne die Absicht zu haben, es wirklich zu tun. Durch das offene Fenster kommen sie aufs Dach, dann zum Zaun, zur Straße, zu den Nachbarn, zur Polizei.

Könnt ihr beide das schaffen?

Nein. Nicht beide.

Er zieht Hazel am Arm. Sie steigt aus dem Bett. Sie zittert.

„Eins“, sagt das Monster.

Würde ein wirklich mutiger Junge nicht alles tun, um seine Schwester zu beschützen?

„Zwei.“

Selbst eine Schwester, die sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihre Eltern den kleinen Bruder zu einem verlassenen Bauernhof bringen und ihn dort zurücklassen würden?

„Drei.“

Er dreht Hazel zum Fenster. „Los, raus!“

Sie zögert und dreht sich stattdessen zu James um.

„Na los!“ Er gibt ihr einen Schubs. Dann stürzt er sich auf das Monster, denn das tun mutige Jungs. Es ist ein Kampf zwischen David und Goliath, aber David hat gewonnen, also kann …

Das Monster hebt James hoch und schleudert ihn gegen das Bücherregal. Er landet hart auf dem Boden. Bücher, Bilderrahmen, eine Lampe, ein paar Puppen, alles regnet auf ihn herab. Von unten ruft sein Vater, doch das Wort wird ihm abgeschnitten. Das Monster springt zum Fenster und packt Hazel, als sie hinausklettern will. James ist gestürzt, doch der Boden fühlt sich nicht mehr wie Treibsand an und seine Beine nicht mehr wie Wackelpudding. Ihm ist, als hätte er sein Gleichgewicht zurückgewonnen, nachdem er durch den Raum geschleudert wurde. Er hebt die Lampe auf, rappelt sich hoch und schleudert sie dem Monster in den Rücken. Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Das Monster wirbelt herum und verpasst James einen harten Schlag ins Gesicht, sodass er erneut zu Boden geht. Doch das Monster hält Hazel nicht mehr fest. Mit unbeholfenen Bewegungen entkommt sie durchs Fenster, die Dachziegel klappern, dann ist es still. Konnte sie sich noch festhalten? Oder liegt jetzt ein Haufen gebrochener Knochen unten?

Das Monster sieht zum Fenster hinaus und wendet sich dann wieder James zu. Es packt ihn am Bein und schleift ihn durch den Flur und die Treppe hinunter, wobei der Kopf auf jeder Stufe aufschlägt. James wird ins Wohnzimmer gezerrt und auf die Knie gezwungen.

Ihm gegenüber kniet sein Vater mit einem Kissenbezug über dem Kopf, die Arme auf den Rücken gefesselt. Die Mutter liegt auf der Seite. Auch sie hat einen Kissenbezug über dem Kopf, die Hände vor ihr mit einem Kabelbinder zusammengebunden. Er weiß nicht, ob sie tot oder bewusstlos ist. Das erste Monster, das er gesehen hat, steht mit einer Pistole in der Hand vor ihnen. Er hat schon tausend Pistolen im Fernsehen gesehen, aber noch nie eine echte. Diese hier hat einen Schalldämpfer. Die Möbel sind in die Mitte des Zimmers gezogen und umgekippt worden. Die Fotos seiner Mutter wurden zu Boden geworfen.

„Das Mädchen ist zum Fenster raus“, sagt Monster zwei. „Sie holt Hilfe.“

„Such sie.“

Es sind nicht nur zwei Monster, es sind drei, wie er feststellen muss, als Monster zwei wegtritt und Monster drei erscheint. Das Monster reißt James die Hände auf den Rücken und fesselt sie ebenfalls mit einem Kabelbinder. Er ist nicht imstande, den Blick von dem Blut auf dem Kissenbezug abzuwenden, der das Gesicht seines Vaters verdeckt.

„Bitte“, sagt sein Vater. Er klingt kurzatmig, panisch, verängstigt. „Tun Sie meiner Familie nichts. Ich habe Geld. Nicht viel, zwanzigtausend vielleicht, vielleicht auch etwas mehr. Morgen früh kann ich zur Bank gehen. Sie können alles haben. Sie können sich online meine Konten ansehen. Dann sehen Sie, wie viel ich habe. Sie können alles tun. Tun Sie ihnen nur nicht weh. Wir können es auch überweisen, wenn Sie wollen.“

„Sagen Sie uns, wo er sich befindet.“

„Wir haben keinen Safe“, sagt sein Vater. Gäbe es einen, wüsste James davon. In dem Jahr, in dem er begriff, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt, hat er den ganzen Dezember über das Haus nach Stellen durchsucht, wo ein Geschenk versteckt sein könnte. Einen Safe hat er nicht gesehen.

„Gibt es oben ein Büro?“

„Ja, aber dort ist kein Safe.“

„Ich hatte eigentlich nicht vor, die Kinder umzubringen, aber du lässt mir keine Wahl“, sagt Monster eins.

James verliert die Kontrolle über seine Blase. Seine Brust verkrampft sich. Er wird sterben, und er wird das Kind sein, das sich vorher in die Hose gemacht hat.

Bitte, Hazel, lauf. Renn und hol Hilfe.

„Um Himmels willen, es gibt keinen Safe!“, sagt sein Vater mit noch mehr Panik und Verzweiflung in der Stimme. „Nehmt euch, was ihr wollt, egal, was.“

Monster zwei kehrt zurück. „Die kleine Schlampe ist entkommen.“

Erleichterung macht sich in James breit. Die Polizei wird kommen, und die Männer wissen das. Und Ende.

„Scheiße“, sagt Monster eins.

„Los, wir müssen verschwinden“, sagt Monster drei. „Wahrscheinlich steht sie schon bei jemandem vor der Tür.“

„So schnell kommt die Polizei nicht“, sagt Monster eins.

„Das wissen wir nicht“, sagt Monster drei. „Und irgendein Nachbar kommt möglicherweise sofort her.“

„Das wäre aber nicht gut für ihn“, entgegnet Monster zwei.

„So oder so, wir müssen verschwinden“, sagt Monster drei.

„Nicht, bevor wir haben, weshalb wir gekommen sind.“

„Und wenn er die Wahrheit sagt? Wenn wir im falschen Haus sind?“

„Wir haben eure Gesichter nicht gesehen“, sagt sein Vater. „Wir können euch nicht identifizieren. Bitte, geht einfach.“

Monster eins reißt James’ Vater den Kissenbezug vom Kopf. Er sieht kaum noch wie sein Vater aus. Das rechte Auge ist zugeschwollen, die Haare sind zerwühlt, die Lippen aufgequollen, das Kinn voller Blut.

„Letzte Chance.“

„Wir haben keinen Safe!“

Monster eins richtet die Waffe auf James’ Mutter. Ein leises Pfft. Der Körper seiner Mutter zuckt. Ein roter, zunächst münzgroßer Fleck breitet sich in der Mitte des Bezugs aus.

Sein Vater ist halb aufgesprungen, als ein zweites Pfft ertönt. Die Nase zerspringt in einem Nebel aus Blut, die Gesichtszüge erschlaffen, und das Leben weicht aus seinem Blick. Er sackt zusammen. James schreit. Er hört kaum, wie Monster eins sagt: „Erledige du das Kind.“

James schließt die Augen, wartet auf das Pfft.

Er muss nicht lange warten.


2

Die Straße ist hell erleuchtet – Streifenwagen, Krankenwagen, die Presse –, alles mit dem Licht aus den umliegenden Häusern vermischt, wo die Nachbarn von ihren Veranden und aus den Vorgärten heraus alles beobachten. Die Straße ist abgesperrt. Menschen drängen gegen die Absperrung, manche auf Zehenspitzen, andere recken den Hals, um besser sehen zu können. Manche haben ein Fernglas mitgebracht, andere einen Kaffee. Alle haben Handys, die meisten davon auf den Tatort gerichtet.

Die Absperrung wird zur Seite gezogen, damit die Detectives Theodore Tate und Carl Schroder hindurchfahren können. Die Journalisten rufen ihnen Fragen zu, die sie ignorieren. Tate sitzt am Steuer. Er parkt gegenüber dem Haus. Die Nacht ist warm, die Luft schwer. Es war einer dieser seltenen Sommertage, die es mitten im Winter schon einmal geben kann.

„Bereit?“, fragt Schroder.

Tate schüttelt den Kopf. „Du?“

„Nein.“

Sie steigen aus dem Wagen. Das Stimmengewirr der Leute, die einfach nur gaffen, durchdringt die warme Luft. Die Scheinwerfer im Garten und an der Hauswand sind so hell, dass ein Flugzeug sicher landen könnte. Das Haus ist zweistöckig, wie die meisten in diesem Viertel. Auch in der Bauart unterscheidet es sich kaum von den anderen – als hätte der Architekt einen Mengenrabatt ausgehandelt. Die Häuser in der Gegend sind etwa zehn Jahre alt. Zäune um die Vorgärten gibt es nicht, aber jede Menge penibel gepflegte Gärten und Rasenflächen, denen im Winter allerdings die Farbe fehlt. Die Eingangstür steht weit offen. Ein halbes Dutzend Polizisten ist ums Haus herum verteilt. Drinnen ist niemand. Das Haus wurde geräumt, um alles möglichst unberührt zu lassen. Die beiden Männer bleiben an der Tür stehen, streifen sich die Latexhandschuhe über und steigen in die Schuhüberzieher, bevor sie eintreten. Zur Linken eine offene Küche und ein Esszimmer, moderne Möbel, moderne Geräte. Geradeaus eine Treppe, ein weißes Holzgeländer mit schmalen, schwarzen Geländerpfosten. Rechts ein Wohnzimmer, darin die Leichen der Garrets. Tate schaudert.

„Großer Gott“, entfährt es Schroder.

Schon jetzt zu wissen, was sie gleich sehen werden, mildert das Grauen nicht, auch wenn beiden klar ist, dass sich ihnen ein noch verheerenderes Bild bieten würde, wenn Hazel Garrett nicht die Flucht gelungen wäre. Der Nachbar, zu dem sie gerannt ist – Brian Mann –, ist sofort hergeeilt, nachdem er drei Männer zur Haustür hinauslaufen sah. James war noch am Leben – wenn auch nur knapp. Mann war Notarzt im Ruhestand und setzte bis zum Eintreffen der Krankenwagen all sein Können ein, um den Jungen am Leben zu halten.

Für Frank und Avah Garrett konnte er nichts mehr tun.

Frank und Avah liegen zusammengesunken am Boden. Mann erzählte dem ersten Officer am Tatort, dass Avah einen Kopfkissenbezug über dem Kopf hatte, den er abnahm, um sich ein Bild von ihrem Zustand zu machen. Der Kissenbezug liegt neben ihrer Leiche. Sie liegt auf der Seite, das Gesicht auf dem Teppich, die Augen geöffnet, ein Einschussloch in der Wange, die Haare zwischen Gesicht und Teppich blutverfilzt, die Hände gefesselt vor dem Körper. Tate würde ihr gern sagen, dass er die Leute fassen wird, die das getan haben, doch er bringt nichts heraus. Niemand sagt etwas. Nur das Raunen der Menschenmenge draußen ist zu hören. Avah Garrett kommt ihm bekannt vor.

Er wendet sich Frank zu. Auch neben seinem Körper liegt ein Kissenbezug, aber Mann sagte, dass er bereits abgenommen worden war. Er liegt auf dem Rücken, die Beine unter sich eingeknickt. Dort, wo seine Nase sein sollte, befindet sich ein Einschussloch. Schwer zu sagen, ob er ihm auch bekannt vorkommt.

Tate richtet den Blick auf die Stelle am Boden, wo Mull, das Verbandszeug und die blutigen Handtücher liegen, mit denen James am Leben gehalten wurde. Auch der Kricketschläger ist dabei, den Mann zur Verteidigung mitgebracht hat. In dem Durcheinander findet sich auch Kabelbinder, passend zu dem, mit dem die Eltern gefesselt sind. Die Sanitäter hatten ihn James abgenommen. Tate hat noch nie so viel Blut von jemandem gesehen, der nicht schon tot war. Er nimmt Uringeruch wahr. Schwer zu sagen, ob Hazel entkommen konnte, weil die übrige Familie erschossen wurde, oder ob sie sowieso alle erschossen werden sollten. Bei Menschen, die zu so etwas fähig sind, ist vermutlich eher von Letzterem auszugehen.

„Kennst du sie?“, fragt Tate.

Schroder schüttelt den Kopf. „Wieso? Du etwa?“

„Avah, vielleicht, weiß aber nicht genau, woher.“

Tate dreht sich einmal um die eigene Achse. Überall moderne Möbel. Alle umgeworfen. Ein zertrümmerter Fernseher auf dem Boden, heruntergerissene Bilder, Löcher in der Leinwand, ein umgekipptes Bücherregal.

„Sie haben nach etwas gesucht“, sagt Schroder. „Nach einem Wandsafe, vielleicht.“

„Warum haben sie ihnen nicht gesagt, wo er ist? Drei bewaffnete Männer kommen in dein Haus, dann gibst du denen doch, wonach sie suchen.“

„Vielleicht haben sie das ja, und sind trotzdem umgebracht worden. Dann müsste der Safe in einem anderen Raum sein.“

Sie teilen sich auf. Schroder übernimmt das untere Stockwerk, Tate geht nach oben. Im ersten Zimmer im Obergeschoss befindet sich ein Büro mit Blick auf den Garten hinter dem Haus. Die Gemälde hängen an den Wänden, und die Möbel stehen an ihrem Platz. Die Gemälde stammen alle von einem Künstler und passen zu denen im Erdgeschoss. Bei näherem Hinsehen entdeckt er eine Signatur. Er glaubt, die von Avah Garrett zu erkennen. Wunderschöne Landschaften. Denjenigen, der für diese Tat verantwortlich ist, würde er am liebsten in einer dieser Landschaften begraben.

Im Büro kann er keinen Safe entdecken, weiß aber jetzt, woher er Avah kennt. Avah und Frank Garrett sind die Immobilienmakler, die Bridget und ihm das Haus verkauft haben. Er erinnert sich an warmherzige, freundliche Menschen, die immer ein Lächeln auf den Lippen trugen. Was für eine schreckliche Vorstellung, dass man gerade noch ein Haus verkauft hat und im nächsten Augenblick schon hingerichtet auf dem Boden eines anderen liegt.

Der nächste Raum ist Hazels Zimmer. Er stellt sich vor, wie sich alles abgespielt hat. Mutter und Vater, mit vorgehaltener Waffe in Schach gehalten, weigern sich preiszugeben, was die Männer hören wollen. Die Mörder beschließen, die Kinder als Druckmittel zu benutzen, aber die Tochter entkommt. Die drei Männer ändern ihren Plan. Sie beschließen, sich aus dem Staub zu machen. Statt einfach nur das Weite zu suchen, haben sie beschlossen, die Familie auszulöschen. Eiskalt. Kaltblütiger als alles, was er je gesehen hat.

Er geht zu Schroder im Elternschlafzimmer. „Hast du etwas gefunden?“

„Ein paar Visitenkarten. Die Garretts sind Immobilienmakler.“

„Ich weiß. Wir haben unser Haus von ihnen gekauft.“

„Die Welt ist klein. Kannst du etwas über sie sagen?“

„Nur, dass wir sie mochten. Ich werde mal mit der Tochter sprechen.“

„Soll ich mitgehen?“

„Ich schaff das schon“, sagt er und geht wieder nach unten.

Ein Freizeitpark ohne Entkommen

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14 Kandidaten. 7 Tage. 1 Labyrinth ohne Entkommen …

Bei dieser Gameshow überlebt nur, wer das beste Versteck findet ... für alle Fans von „Squid Game“!

Die Challenge: eine Woche lang in einem verlassenen Freizeitpark versteckt bleiben, ohne gefunden zu werden.
Der Gewinn: genug Geld, um sein Leben zum Besseren zu verändern.
Obwohl alle Teilnehmenden unbedingt gewinnen wollen, ist sich Mack sicher, dass sie siegen kann. Im Verstecktbleiben ist sie ein Profi: Das ist der Grund, warum sie noch lebt und ihre Familie nicht.
Doch als die anderen nach und nach verschwinden, wird Mack klar, dass mit dieser Gameshow etwas nicht stimmt. Vielleicht ist der einzige Weg, ihrer aller Leben zu retten, aus den Verstecken zu kommen und gemeinsam zu kämpfen.

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Der spannende Thriller mit mehr als 5000 5-Sterne-Bewertungen

„Kein Buch für schwache Nerven. Es ist sehr spannend, sehr packend.“ ― Niederbayern TV „Bücherecke“

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Psychothriller

Keine Gnade, kein Entkommen: Dieser Psychothriller verursacht Gänsehaut!   
Vergessen Sie alles, was Sie über Psychopathen wissen. „Das Böse in ihr“ stellt das Rachemotiv in ein neues, dunkles Licht. 

Claras Freund Luke verschwindet spurlos. Die Polizei findet schnell heraus, dass er eine Affäre hatte und Zielscheibe einer Stalkerin war. Doch es kommt noch viel schlimmer. Bei ihren eigenen Nachforschungen stolpert Clara über das Mädchen Hannah. Und die ist ein wahres Teufelskind. Was hat sie mit Luke zu tun, und gibt es noch eine Chance auf Erlösung? 

„Kein Buch für schwache Nerven. Es ist sehr spannend, sehr packend.“ – Niederbayern TV „Bücherecke“  

Der Durst nach Rache lauert auf jeder Seite, bis er in einem zwingenden, unbarmherzigen Finale eskaliert: Wer Psychothriller verschlingt, findet in „Das Böse in ihr“ einen Garanten für Gänsehaut, in dem nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint.   

Ein ultimativer Thriller für alle Fans von Sophie McKenzie und Harlan Coben  

„Perfekt packende Lektüre, bei der man die eigene Haltestelle vergisst, um 2 Uhr morgens noch wach ist und nicht bemerkt, dass das Badewasser längst kalt ist. Dieser Psychothriller reißt selbst die abgebrühtesten Leser mit.“ – THE STYLIST  

Auch in ihrem neuen Thriller „Sie beobachtet dich“ gelingt es der Autorin wieder eine düstere, unheilvolle Atmosphäre zu erschaffen.

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„Eine atemberaubende Geschichte.“ ― Express Köln

Du siehst sie nicht, du hörst sie nicht - und dennoch teilen sie dein Leben.

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Die VerborgenenDie VerborgenenDie Verborgenen

Sie leben in deinem Haus, und du weißt es nicht.

Was wäre, wenn das Böse nicht von außen kommt, sondern längst mit dir unter einem Dach lebt?

Sven und Franziska Hoffmann haben alles, wovon sie einst träumten: eine wunderbare Tochter und ein traumhaftes Haus an der Küste. Alles könnte perfekt sein. Doch dann dringt jemand heimlich in ihr Haus ein. Der ungebetene Gast bedient sich an ihrem Essen, stöbert in ihren Schränken und steht neben ihren Betten, wenn sie schlafen. Als dann noch Gegenstände verschwinden und fremde Fußspuren im Keller auftauchen, bezichtigen sich die Eheleute gegenseitig. Je merkwürdiger die Vorgänge in ihrem Haus werden, desto mehr bröckelt die makellose Fassade der perfekten Familie. Und genau das ist es, was der Eindringling will …

Eine Woche zuvor

Du

Es ist kalt, es ist Nacht, und vor einer Stunde hat der Wind stark zugenommen. Er weht vom Meer über Dünen und Felder hinweg, biegt Gräser und Halme, bricht sie aber nicht. Du schaust nach oben. Der Himmel ist bewölkt, nur ab und zu sieht man zwischen den Wolken auch Sterne funkeln. Die Lichter ganzer Ewigkeiten.

Zwischen den Dünen und der schmalen Küstenstraße wachsen ein paar unansehnliche Sträucher, und hinter einem davon hast du dich versteckt. Regungslos verharrst du und beobachtest das Haus, das auf der anderen Seite der Straße steht. Es ist ein altes Haus, groß und würdevoll, aber in keinster Weise protzig. Seine zweigeschossige Fassade ist weiß getüncht, die Fenster sind mit grünen Läden versehen und das Satteldach mit Reet bedeckt. Es fügt sich in die Landschaft ein, als sei es schon immer ein Teil von ihr gewesen.

Das nächste Gebäude ist zweihundert Meter entfernt, der nächste Ort anderthalb Kilometer. In dieser Gegend leben Menschen, die ihre Ruhe haben wollen. Menschen wie die Hoffmanns. Obwohl das Haus viele Zimmer hat, bewohnen es die Hoffmanns nur zu dritt: Mama, Papa, Kind, eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Der Vater arbeitet als Journalist, die Frau in einem Tourismusbüro, und die siebzehnjährige Tochter Tabea steht kurz vor dem Abitur. Abgesehen von dem Haus ist sie der eigentliche Grund, warum du hier bist.

Noch ist es zu früh, um loszugehen, die Lichter sind gerade erst verloschen. Bevor du dein Versteck verlassen kannst, müssen die Hoffmanns erst noch die schmale Grenze überschreiten, die das Wachsein vom Schlaf trennt. Sobald sie tief und fest in ihren Träumen versunken sind, kannst du dich aus ihren Albträumen erheben.

Die stundenlange Warterei macht dir nichts aus, die Einsamkeit auch nicht. Um die aufkommende Langeweile zu vertreiben, breitest du das Innere des Hauses wie eine Landkarte in deinem Kopf aus. Du kennst jedes Zimmer, jeden Winkel und jeden potenziellen Unterschlupf. In den vergangenen Tagen hast du das Gebäude bereits ausgiebig erkundet – immer dann, wenn die Hoffmanns nicht daheim waren.

Wenn dieses Haus ein Neubau wäre, könnte es in Verbindung mit der modernen Einrichtung vielleicht kalt wirken, aber das ist es nicht. Es ist alt – es lebt. Die Augen, Ohren und Gefühle ehemaliger Bewohner haben es über die Jahrzehnte hinweg in ein Lebewesen verwandelt. Es atmet durch sie, nimmt Anteil an ihrem Leben und beobachtet geduldig, was neue Bewohner in ihm anstellen. Privatsphäre ist in solchen Häusern nur eine Illusion, das weißt du. Es gibt sie nicht, zumindest nicht wirklich. Alles, was dort geschieht, kann unsichtbare Spuren hinterlassen. Angst kann in die Mauern eindringen, Freude, das Lachen eines Kindes.

Der Schmerz der Eltern, wenn diesem Kind etwas geschieht.

Um deine kalt werdenden Muskeln zu lockern, machst du ein paar Dehnübungen, dann hältst du plötzlich inne. Auf der Landstraße nähern sich zwei Lichter, die schnell größer werden. Du gehst wieder in Deckung, kurz darauf zieht auch schon ein weißer Lieferwagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Du schaust ihm hinterher, bis die Rücklichter in der Ferne verschwunden sind; zwei rote Glühwürmchen auf dem Weg nach Irgendwo.

Auch du wirst irgendwann weiterziehen. Weit weg, in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent. Sobald du hier fertig bist und das Haus und seine Bewohner dir gegeben haben, wonach du dich sehnst.

Doch das liegt noch in der Zukunft, entscheidend ist das Hier und Jetzt, und im Hier und Jetzt leistet dir nur der Wind Gesellschaft. Er vertreibt die wenigen Wolken und zerrt an der olivfarbenen Jacke sowie an dem schweren Rucksack, der über deinen Schultern hängt. Zehn weitere Minuten geht das so, zwanzig, dann schaust du dich ein letztes Mal um. Vor dir ist nur Dunkelheit, und hinter dir ist nur Dunkelheit. Es ist perfekt. Du gehst los.

Mit gleichmäßigen Schritten überquerst du die Küstenstraße und wendest dich dem schmalen Fußweg zu, der neben dem Haus auf die dahinterliegenden Felder führt. Auf diesem Weg kommst du geradewegs an einem kleinen Anbau des Hauses vorbei, einer ehemaligen Waschküche vielleicht. Anders als die anderen Türen des Hauses wurde die des Anbaus nie ausgetauscht oder modernisiert. Ein dummer Fehler, denkst du, aber vielleicht wollten die Hoffmanns ja, dass du kommst. Möglicherweise haben sie sich heimlich gewünscht, dass ihre kleine Familie Zuwachs erhält.

Als du dein Ziel erreicht hast, bleibst du stehen und lässt den Rucksack von den Schultern gleiten. Du nimmst heraus, was du brauchst, es ist nicht viel. Nach sieben Sekunden ist das einfache Schloss bereits geöffnet, nach drei weiteren stehst du im Warmen. Du schließt die Tür hinter dir und gibst dich dem erhabenen Gefühl hin, das dich immer überkommt, wenn du in ein fremdes Haus eindringst. Dem Adrenalin, das in solchen Momenten deine Blutbahn flutet. Dieses faszinierende Hormon aus den Nebennieren sorgt dafür, dass alles an dir effizient wird. Deine Atmung, deine Instinkte, jede einzelne Bewegung.

Ab jetzt gibt es für dich kein Zurück mehr, also entscheidest du dich, voranzugehen. Durch den Anbau in den Flur und von dort aus weiter in die Küche. Das schwache Mondlicht, das durch die Fenster fällt, genügt dir. Du weißt sowieso, wo alles steht; du kennst das Haus bereits, als ob es dein eigenes wäre.

Aus einem Hängeschrank über der Spüle holst du eine Packung Cornflakes. Du isst, bis du satt bist, dann stellst du die Packung wieder an genau die gleiche Stelle zurück. Jetzt musst du dich lediglich noch um deinen Durst kümmern. Im Kühlschrank findest du nur wenige Getränke, aber in der kleinen Vorratskammer direkt daneben stößt du auf mehrere Kisten Bier, Wasser und Apfelschorle. Das ist perfekt. Niemand wird morgen merken, dass zwei Flaschen fehlen.

Nachdem du die Getränke im Rucksack verstaut hast, bist du im Erdgeschoss fertig. Jetzt ist die Zeit gekommen, endlich deinen Unterschlupf für die nächsten Tage aufzusuchen. Um ihn zu erreichen, musst du auf Zehenspitzen die Treppe hochschleichen, die ins obere Stockwerk führt. Du setzt deine Schritte bedächtig, und die dritte Stufe lässt du aus, sie knarzt manchmal.

Am oberen Ende der Treppe schließt sich ein weiterer Flur an, von dem mehrere Zimmer abgehen. Tabeas Schlafzimmer und das der Eltern, außerdem ein Gästezimmer, eine Abstellkammer und zwei Bäder. Du legst das Ohr an die Tür des Elternschlafzimmers und lauschst, hörst ein leises Schnarchen und glaubst sogar, die Ausdünstungen ihrer Körper riechen zu können. Du lächelst. Wie einfach es jetzt wäre, sie ein für alle Mal aus ihren friedlichen Träumen zu reißen.

Doch das tust du nicht, noch nicht. Stattdessen schleichst du weiter, bis du vor dem Zimmer der Tochter stehst. Der Gedanke, dass sie hinter dieser Tür in ihrem Bett liegt, lässt dich zittern. Wenn du wolltest, könntest du die Tür jetzt öffnen, dich neben sie legen und sie mit den Armen umschlingen, aber so bist du nicht. Du willst sie, natürlich willst du das, aber nicht auf diese Weise.

Noch immer kannst du dein Glück nicht fassen, sie unter Millionen von Menschen gefunden zu haben. Tabea ist nicht Miriam, selbstverständlich ist sie das nicht, aber sie sieht aus wie sie, und das genügt. Fürs Erste zumindest.

In den letzten Jahren ist es immer nur um Miriam gegangen, auch wenn du dir das lange nicht eingestehen wolltest. Miriam ist eine Wunde, die sich tief in dein Herz gegraben hat, sich niemals schließt und ewig schmerzt. Wenn du an sie denkst, dann denkst du an Tage voller Freude und an Nächte voller Leidenschaft. Du denkst an ihre Küsse und Berührungen und an das, was ihr gemeinsam vorhattet. Du denkst an alles, nur an das Ende denkst du nie.

An die Schreie.

Das viele Blut.

Das ist zu grausam. Selbst für jemanden wie dich, der manchmal glaubt, die Grausamkeit erfunden zu haben.

Nur widerwillig löst du dich von der Tür, hinter der Tabea schläft, und schüttelst den Gedanken an sie ab wie ein nasser Hund die Wassertropfen. Du darfst nicht schwach werden, nicht jetzt. Schließlich hast du eine Aufgabe zu erledigen.

Die Rache ist dein, und jetzt, so kurz vor dem Ziel, willst du sie auch auskosten. In den nächsten Tagen wirst du dich voll und ganz den Hoffmanns widmen. Du wirst sie besser kennenlernen, ihre dunkelsten Geheimnisse sezieren und dein neues Wissen dann gegen sie einsetzen. Das bist du Miriam schuldig. Tabea ist nur ein Bonus.

Als du das Haus zum ersten Mal betreten hast, galt dein Hauptaugenmerk dem passenden Unterschlupf. Das Gästezimmer, das offenbar nie benutzt wurde, kam in Betracht. Der Keller auch. Doch der Dachboden schien dir am besten geeignet. Die dichte Staubschicht auf den Dielen und das Quietschen der Tür haben dir verraten, dass seit Monaten niemand mehr dort gewesen war. Er war perfekt, in jeder Hinsicht, und nachdem du die Entscheidung getroffen hattest, hast du die Türangeln bei deinem nächsten Besuch geölt. Natürlich hast du das, du denkst an alles.

Auch jetzt bewegt sich die Tür vollkommen geräuschlos in ihren Angeln, als du sie öffnest. Oben angekommen nimmst du den Rucksack ab und breitest die mitgebrachte Isomatte in einer Ecke auf dem Boden aus. Zusammen mit einem dünnen Schlafsack wird dies in den nächsten Tagen dein Nachtlager sein. Mehr brauchst du nicht, für alles andere sind die Hoffmanns zuständig. Sie werden dich mit Essen versorgen, mit frischer Kleidung und Getränken. Du wirst ihre Toilette benutzen und dich unter ihre Dusche stellen, wenn sie nicht da sind. Solltest du etwas brauchen, was die Hoffmanns nicht haben, kannst du das Haus jederzeit verlassen und es dir im nächsten Ort besorgen. Du hast genug Geld, über vierzigtausend Euro. Ein Hoch auf alle Hausbesitzer, denkst du, die ihre Ersparnisse nicht zur Bank bringen, weil sie eine leere Kaffeedose in der Küche für sicherer halten.

Müde kriechst du in den Schlafsack und schließt die Augen. Das lange Warten in der Kälte hat dich mürbe gemacht, der abklingende Adrenalinrausch tut das Übrige. Als der Schlaf kommt und seine Arme nach dir ausstreckt, lässt du dich hineinfallen. Es war ein guter Tag, und endlich bist du angekommen.

In ihrem Zuhause.


Buch Eins

Die Lebenden


Gegenwart

Sven

Mein Name ist Sven Hoffmann, und schon mit siebzehn wusste ich, dass ich lieber ein anderer wäre. Ich wusste nur nicht, wie das geht.

Jetzt, mit zweiundvierzig, bin ich verheiratet und Vater einer siebzehnjährigen Tochter, die auf den schönen Namen Tabea hört. Für Außenstehende sind wir eine perfekte Familie, und dennoch frage ich mich manchmal, wie zum Teufel ich hierhergekommen bin.

Was mit mir passiert ist, mit meinem Leben.

Ich habe es nicht gewollt, nicht auf diese Art zumindest. Weder den eintönigen Job bei einem Bremer Fernsehsender, für den ich Beiträge erstelle, über deren Inhalte andere bestimmen, noch die Ehe mit einer Frau, die ich zwar auf eine geschwisterliche Art noch liebe, aber nicht mehr begehre. Die Dinge haben einfach ihren Lauf genommen, fast ohne mein Zutun. So, als hätten fremde Mächte mit meinem Schicksal Karten gespielt, und die Asse wären bei jemand anderem gelandet.

Nichts in meiner Vergangenheit hat mich auf das Leben vorbereitet, das ich heute führe. Wie auch? Ich bin als Kind einer alleinerziehenden Mutter im Ruhrgebiet aufgewachsen, die einen schlecht bezahlten Job im Supermarkt hatte. Wir konnten uns kein Auto leisten, und bis ich volljährig wurde, sind wir nur zweimal im Urlaub gewesen. Das erste Mal besuchten wir ein Feriendorf nahe der holländischen Küste, da war ich sechs, beim zweiten Mal verbrachten wir zehn Tage in Rimini. Dort, an der Adriaküste, hat es mir besser gefallen. Der Strand schien in meinen Kinderaugen endlos zu sein, genau wie das Gebilde aus dicht an dicht gestellten Sonnenliegen.

Wir hatten nur ein Hotel mit Frühstück gebucht, also gingen wir jeden Abend in einem der unzähligen Restaurants essen. Ich glaube, ich habe meistens Pizza Margherita bestellt, immer mit extraviel Käse, und Mutter hat mir jedes Mal lächelnd über den Kopf gestreichelt, während ich freudestrahlend mampfte. Irgendetwas muss sie auch gegessen haben, schon klar, aber wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kann ich mich nur noch daran erinnern, dass sie mir beim Essen zugesehen hat.

In Essen-Rüttenscheid haben wir in einer kleinen Zweizimmerwohnung gewohnt, deren Balkon so winzig war, dass man nur zu zweit darauf stehen konnte. Von den beiden Zimmern war eins mein Reich, und in dem anderen, das auch als Wohnzimmer diente, hat meine Mutter auf einem ausklappbaren Sofa geschlafen. Abends saßen wir dann oft gemeinsam vor dem Fernseher, irgendeine Show im Fernsehen ansehend, wobei Mutter häufig parallel meine Socken stopfte, die vom Fußballspielen ganz löchrig waren. Sie hat mich auch stets ermahnt, die guten Sachen sofort auszuziehen, sobald ich nach Hause kam, damit sie geschont wurden und ich sie am nächsten Tag wieder tragen konnte. So war sie eben, pragmatisch und liebevoll. Eine Frau, die sich nur selten irgendwelchen Tagträumen hingab, und wenn, dann handelten diese bestimmt ausschließlich von meiner Zukunft. Von einem guten, geregelten Einkommen, das ich irgendwann als Dachdecker oder Mechaniker haben würde, wenn ich in der Schule nur fleißig genug wäre. Faulheit ist schon immer mein Hauptproblem gewesen, das wusste sie ebenso gut wie ich.

Umso größer war dann die Überraschung, als ich wider Erwarten sogar das Abitur schaffte. Meine Mutter konnte es nicht glauben, als sie das Zeugnis sah. Sie betonte ständig, dass ich der Erste in der Familie sei, dem dieses Kunststück gelungen wäre. Als Onkel Manfred uns kurz darauf besuchte, erzählte sie ihm freudestrahlend, dass ich jetzt Abitur hatte und eventuell sogar studieren wollte. Er sah mich daraufhin nur kritisch an und fragte, ob ich schwul sei.

Sein dämlicher Kommentar war mir egal, ich hatte meinen Weg gefunden. Wollte mit aller Macht raus aus dieser kleingeistigen Welt, in die mich ein ungnädiger Gott geschmissen hatte. Weg von Onkel Manfred und Tante Frieda, die oft sagte, dass unter dem Führer ja nicht alles schlecht gewesen sei, und die Horst Schimanski – den Helden meiner Kindheit – für einen Kommunisten hielt, der auf die Mattscheibe geschickt wurde, damit er die Jugend verderben konnte. Nur meine Mutter ragte aus dieser Familie heraus, auf sie lasse ich nichts kommen. Der einzige Lichtschein in einer verwandtschaftlich bedingten Finsternis.

Kurz darauf fand ich einen Studienplatz in Bochum und ein winziges Apartment, in dem es nur leicht nach Schimmel roch. Um mir die einundzwanzig Quadratmeter Freiheit leisten zu können, ging ich an fünf Abenden in der Woche kellnern. Immer im sogenannten Bermudadreieck, der berüchtigten Bochumer Partymeile. Das hatte zur Folge, dass ich viel zu selten für mein Studium lernte, aber die ungeheuerlichsten Sachen erlebte.

Schon früh merkte ich, dass ich anders war als meine Kommilitonen, die meist aus gutbürgerlichen Kreisen stammten. Vor allem mein unstillbarer Hunger unterschied mich von ihnen. Niemals wurde ich satt, ständig wollte ich mehr. Mehr Leben, mehr Sex, mehr Abenteuer. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen, war geradezu süchtig danach. Vor allem nach den regelmäßig stattfindenden Studentenpartys, und auf einer dieser Partys lernte ich Franziska kennen.

Sie saß auf einem geblümten Sofa, ein wenig in die Ecke gedrückt, und wirkte, als sei sie an dem Geschehen im Raum nicht sonderlich interessiert. Ich setzte mich zu ihr, sprach sie an und ließ mich auch von ihrer einsilbigen Antwort nicht abschrecken. Wir haben dann den ganzen Abend miteinander gequatscht, später ein bisschen rumgeknutscht und anschließend Nummern ausgetauscht. Sie war schön, hatte lange, braune Haare und ein ebenmäßiges Gesicht mit Lippen, deren oberer Teil wie Vogelschwingen geformt war. Außerdem war sie reich. Das musste sie mir nicht sagen, das konnte man spüren. Sie hat einfach diese Form von Sicherheit ausgestrahlt, die nur Menschen ohne finanzielle Sorgen an sich haben. Keiner meiner früheren Freunde hat diese Sicherheit ausgestrahlt, und ich schon gar nicht.

Beim Abschied dachte ich noch, dass sie vollkommen anders war als alle anderen Frauen, die ich kannte. Alles an ihr war glatt, zu glatt; die Haare, die Haut, die Ausdrucksweise. Kein Makel, nirgends, eine fleischgewordene Mischung aus Vollendung und Langeweile. Warum ich sie dennoch ein paar Tage später angerufen habe, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war es der Reiz, ein solches Wesen näher kennenzulernen, und ein bisschen verknallt war ich auch.

In den Wochen darauf haben wir uns regelmäßig getroffen und unseren Spaß gehabt, doch dann wurde sie schwanger, und das hat alles verändert. Im ersten Moment war ich geschockt, völlig verwirrt, aber dann hat Franziska geweint. Dieses Weinen hat einen Punkt in mir berührt, von dem ich nicht einmal wusste, dass es ihn gab. Ich habe sie anschließend in den Arm genommen, ihr über den Kopf gestreichelt und gesagt, dass ich sie liebe und dass wir das zusammen schon schaffen werden. Der erste Teil mochte gelogen sein, an den zweiten glaubte ich selbst. Ich fühlte mich ihr und dem ungeborenen Kind gegenüber augenblicklich verpflichtet, so war ich nun mal. Ein einfach gepolter Junge aus dem Ruhrgebiet, der aber instinktiv wusste, was richtig oder falsch war.

Zwei Monate später haben wir dann im Rahmen einer kleinen, aber feinen Feier geheiratet. Natürlich waren ihre Eltern auch dabei, und natürlich haben sie alles bezahlt, was sie auch jedem Gast gegenüber erwähnten. Die Höhenbergs, oder wie ich sie hinter vorgehaltener Hand spöttisch nannte: Herr Professor Doktor nebst Gemahlin.

Ich konnte die beiden vom ersten Moment an nicht ausstehen. Zum einen, weil sie meine Mutter bei der Feier kaum beachtet haben, sie geradezu von oben herab behandelten, während sie mir gleichzeitig versicherten, dass ich von nun an wie ein Sohn für sie wäre. Trotz ihrer geheuchelt schönen Worte haben sie mir dabei stets das Gefühl vermittelt, nicht gut genug für ihre Tochter zu sein, und vielleicht hatten sie damit auch recht. Es war aber nicht meine Schuld, ich hatte mir die Situation schließlich nicht ausgesucht und tat nur, was ich glaubte, tun zu müssen.

Obwohl die Hochzeit mit Franziska keine Liebesheirat war, ist sie rückblickend auch kein Fehler gewesen. Wir sind jetzt seit siebzehn Jahren verheiratet, und es gab schlechtere Ehen als unsere, viel schlechtere. Natürlich auch bessere, aber die sind selten.

Ich bin immer davon ausgegangen, dass wir nach der Hochzeit im Ruhrgebiet bleiben würden, aber Franziska und ihre Eltern hatten andere Pläne. Gemeinsam drängten sie darauf, dass wir an die Nordsee ziehen sollten, nicht weit von dem Ort entfernt, aus dem Franziska stammt. Ihr Vater sagte, dass er sogar schon das richtige Haus für uns gefunden hätte. Teuer zwar, aber kein Problem, um die Finanzierung würde er sich kümmern. Man müsse nur schnell zuschlagen, meinte er, es sei eine einmalige Gelegenheit, außerdem wäre das Baby ja bald da.

Alles in mir hat sich gegen den Gedanken gesträubt. Ich bin ein Kind der Großstadt, und die Vorstellung, meine Zukunft in einem abgelegenen Küstenort verbringen zu müssen, klang alles andere als verheißungsvoll. Es fühlte sich einfach nicht richtig an, nichts davon, doch immer, wenn ich Franziska von meinen Bedenken erzählte, hat sie meine Aussagen abgeblockt, um dann sofort ihre Argumente vorzubringen. Irgendwann habe ich nachgegeben und mir gedacht, ich könne mir das Ganze ja wenigstens mal anschauen. Diesen Ort, aus dem sie stammte, und das Haus, das ihr Vater gefunden hatte.

Drei Stunden dauerte die Fahrt, und ich weiß noch, wie ich mich fühlte, als ich das Haus dann zum ersten Mal sah. Das hier … Das war nicht ich, nichts von alledem. Menschen wie ich wohnen nicht in solchen Palästen. Sie ertragen auch diese Weite nicht, überall nur Landschaft, brauchen andere Menschen um sich herum, das pulsierende Leben.

All das habe ich Franziska auf der Rückfahrt auch gesagt, aber es spielte keine Rolle mehr – sie hatte immer ein Gegenargument zur Hand. In den nächsten Tagen glichen unsere Diskussionen einem Boxkampf, bei dem die Treffer gleichmäßig verteilt sind und die Gegner irgendwann merken, dass es niemals enden wird, wenn nicht einer der beiden vorzeitig aufgibt. Und natürlich war ich derjenige. Vielleicht auch, weil es sich nicht gut anfühlt, mit jemandem zu streiten, der hochschwanger ist.

Stattdessen fing ich an, mir einzureden, dass Franziska mit ihren Argumenten wohl recht hatte. Für unser Kind würde es auf dem Land besser sein, für Franziska auch, so nah bei ihren Eltern. Und ich? Konnte mich ja immer noch mit dem Gedanken trösten, dass ich stets von einem anderen Leben geträumt hatte und es jetzt endlich bekam.

Glückwunsch!

Vier Wochen später zogen wir um, weitere fünf Wochen danach kam Tabea zur Welt. Mein Studium musste ich infolge des Umzugs natürlich aufgeben, aber Franziskas Vater besorgte mir eine gut bezahlte Stelle bei einem Bremer Fernsehsender, dessen Intendanten er vom Golfspielen kannte. Ein guter Job sei wichtig, meinte er, schließlich hätte ich jetzt ja eine Familie zu ernähren. Franziskas Vater lächelte, während er das sagte, aber es wirkte nicht so, als würde er Spaß machen.

Trotz des schlechten Starts liefen die ersten Jahre an der Nordsee besser als gedacht. Tabea entwickelte sich prächtig, der Job als fester freier Mitarbeiter war genau der richtige für mich, und Geld war jederzeit ausreichend vorhanden. Unser gemeinsames Leben war sorgenfrei, mein eigenes hingegen wurde fortan aber immer langweiliger. Es gab kaum noch Veränderungen, nur noch wenige Abenteuer und schon gar keine Herausforderungen mehr. Besonders bewusst wird mir das immer, wenn ich meine Tochter ansehe, die alles noch vor sich hat. Sagt man nicht, dass Kinder der Anblick eines Landes sind, in das man nie mehr zurückkehren kann?

Einst wollte ich so vieles erleben, aber von diesem nicht zu stillenden Hunger ist nicht mehr viel übrig geblieben. Nur noch Gedankenspiele, denen ich in den wenigen stillen Momenten nachgehe, die mir noch geblieben sind. Sie alle beginnen mit den immer gleichen Worten:

Was wäre, wenn …

Vielleicht sind dies die mächtigsten Worte der Welt, weil sie Gedankenspiralen auslösen, die nicht mehr aufzuhalten sind. Man kann sich ihnen ewig hingeben, sollte aber aufpassen, weil sie in den meisten Fällen zu nichts Gutem führen.

Was wäre, wenn ich mich nicht so früh gebunden hätte?

Was wäre, wenn mein Leben anders verlaufen wäre, selbstbestimmter?

Was wäre, wenn ich der geworden wäre, der ich immer sein wollte?

Die Antwort ist stets dieselbe – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es da draußen mehr geben muss als das, was mir mein eintöniges Familienleben bietet. Eine unterschwellige Sehnsucht, die ich kaum benennen kann, ist zu meinem ständigen Begleiter geworden. Ein Verlangen nach Veränderung vielleicht, doch dieses Verlangen bleibt Jahr für Jahr unerfüllt. Das frustriert mich, und manchmal muss ich mich geradezu zwingen, die Dinge wieder wertzuschätzen, die ich habe.

Einen gesicherten Job.

Eine liebende Frau.

Eine fantastische Tochter.

Aber vielleicht ist heute ja mein Glückstag, zumindest ändert sich gerade alles. Ich starre ungläubig auf die Waffe am Boden, auf die Gestalt mit dem Messer in der Hand. Alles dreht sich, das muss das Ende sein. Ich spüre die Ohnmacht nahen und weiß nicht, ob ich jemals wieder aus ihr erwachen werde. Ob meine Frau dann noch lebt, meine geliebte Tochter.

Was wäre, wenn …


Sechs Tage zuvor

Sven

„Sven?“

Ich drehe mich um und sehe die Frau an, die ich vor siebzehn Jahren geheiratet habe. Franziska ist attraktiv, immer noch, und es vergeht kaum ein Tag, an dem ich ihretwegen nicht beneidet werde. Dank ihrer ebenmäßigen Gesichtszüge wirkt sie deutlich jünger, als sie es mit ihren vierzig Jahren ohnehin erst ist, und auch ihre Figur passt dazu. Franziska ist einen Meter zweiundsiebzig groß und wiegt achtundfünfzig Kilogramm; darauf ist sie stolz, ebenso wie auf ihre fast faltenfreie Haut. Kein einziges Tattoo befindet sich darauf, natürlich nicht, sie selbst ist das Gemälde.

Dann fällt mir ein, dass das Gemälde wohl immer noch auf eine Antwort wartet.

„Was denn?“

„Wir haben schon kurz vor zwei“, sagt sie. „Musst du nicht so langsam los? Ich dachte, die Pressekonferenz fängt bald an.“

„Entspann dich“, entgegne ich. „Ein bisschen Zeit habe ich noch.“

Sie verzieht das Gesicht, wie immer, wenn ich ihren Aufforderungen nicht mit dem nötigen Einsatz folge. So ist sie eben, unsere Familienmanagerin. Alles hat sie im Blick, jeden Termin und jede gesellschaftliche Verpflichtung. Hinter ihrer schön geschwungenen Stirn muss sich eine riesige Excel-Tabelle verbergen. Ich kenne sie so gut, nach all den Jahren vielleicht zu gut. Ich weiß, dass sie mich gleich vorwurfsvoll anschauen wird, weil ich nicht reagiere, also wende ich mich rechtzeitig ab, um ihrem strafenden Blick zu entgehen. Schaue stattdessen weiter durch das Wohnzimmerfenster hinaus in die Weite, von der es hier so viel gibt.

Durch das Fenster kann man nicht nur die vor dem Haus verlaufende Küstenstraße sehen, sondern auch die dahinterliegenden Dünen und einen kleinen Teil der Nordsee, die sich bleigrau bis zum Horizont erstreckt. Kein Schiff ist auf dem Wasser zu erkennen, nur Möwen kreisen umher, aber die sind ja immer da. Es ist unmöglich, auch nur zehn Meter am Strand entlangzugehen, ohne in ihre matschigen Hinterlassenschaften zu treten.

Ich könnte noch stundenlang hier stehen und einfach nur aufs Meer schauen, aber Franziska lässt mich nicht. Erneut treibt sie mich zur Eile an, und das Schlimme ist, dass sie damit auch recht hat. Ich sollte mich tatsächlich beeilen, wenn ich zu der anstehenden Pressekonferenz nicht zu spät kommen will. Dabei bin ich sicher, dass die Polizei auch heute nichts Neues zu verkünden hat.

Es ist bereits die dritte Pressekonferenz in vier Tagen, die wegen des vermissten Mädchens einberufen wird, obwohl es seit ihrem Verschwinden praktisch keine Neuigkeiten mehr gab. Dennoch sind Torge – der Kameramann, mit dem ich am häufigsten zusammenarbeite – und ich derzeit mit nichts anderem beschäftigt. Wir machen das, weil der Sender es so will, und der Sender will es, weil jeder Beitrag fantastische Einschaltquoten verspricht. Alles an dem Fall ist mysteriös, und die Zuschauer lechzen geradezu nach Informationen.

Ich kann sie verstehen, die Zuschauer.

Mir geht es ja genauso, wenn auch aus anderen Gründen.

Rebecca Sandtner ist vor fünf Tagen spurlos aus ihrem Elternhaus verschwunden. Die Siebzehnjährige, deren Eltern in Aurich ein Autohaus besitzen und die von Bekannten als erstaunlich reif für ihr Alter bezeichnet wird, hat in dieser Nacht weder Geld noch Papiere mitgenommen. Sie hat auch keine Nachricht hinterlassen, und ihr ebenfalls verschwundenes Handy ist seitdem ausgeschaltet geblieben, sodass schon bald die Möglichkeit einer Entführung im Raum stand. Die Eltern gerieten in Panik, und die Polizei wurde nervös – so, wie das bei potenziellen Entführungen immer der Fall ist.

Die anschließende Rekonstruktion der Ereignisse ergab, dass Rebecca am Vorabend ihres Verschwindens gegen 23 Uhr ins Bett gegangen war, nachdem sie mit ihren Eltern noch ferngesehen hatte. Anschließend schickte sie einer Freundin eine WhatsApp-Sprachnachricht, in der es um den Schulunterricht des darauffolgenden Tages ging. Dann schaltete sie das Licht aus. Als ihre Mutter sie am nächsten Tag wecken wollte, war das Bett leer.

Da es keine Spuren gibt, die das Gegenteil andeuten, geht die Polizei davon aus, dass das Mädchen das Elternhaus freiwillig verlassen hat. Wohin sie wollte und ob sie in jener Nacht mit jemandem verabredet war, bleibt ungewiss. Das Mädchen hat seit einem Jahr einen Freund, Yannick, der sich das Ganze allerdings auch nicht erklären kann. Er hat die fragliche Nacht in seinem Elternhaus verbracht, und die Polizei hat trotz intensiver Bemühungen keinen Hinweis darauf gefunden, dass er etwas mit Rebeccas Verschwinden zu tun haben könnte.

Das ist die Faktenlage, und sie sieht weiß Gott nicht gut aus. Die Polizei hat nichts, womit sie arbeiten kann, und alle bisherigen Ermittlungsansätze liefen ins Leere. Man kann nur eins mit Gewissheit sagen: Rebecca ist verschwunden. Einfach so, als hätte sie sich in ihrem Bett aufgelöst.

Unwillkürlich zucke ich zusammen, als Franziska ihre Hand auf meine Schulter legt. Ich drehe mich um und sehe ihr in die Augen. Ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert. Sie schaut mich jetzt nicht mehr vorwurfsvoll an, eher unsicher, besorgt vielleicht.

„Du denkst an das Mädchen, nicht wahr?“

Ich nicke.

„Ich hoffe ja immer noch, dass sie nur von zu Hause ausgerissen ist und bald wieder auftaucht“, sagt Franziska. „Trotzdem möchte ich mir nicht vorstellen, was die armen Eltern gerade durchmachen. Ich meine … Wenn das eigene Kind verschwindet, das muss grausam sein!“

Ich gebe ein zustimmendes Geräusch von mir, was soll ich auch sagen? Ja, es ist schlimm, aber schlimme Dinge passieren nun mal – in den Jahren beim Sender habe ich genug davon mitbekommen. Das volle Programm aus Katastrophen halt, außerdem ist es auch nicht der erste Vermisstenfall, über den wir berichten. Ich weiß, was hinter den Kulissen abläuft, und ich kenne auch die Kriminalstatistiken.

Die meisten verschwundenen Menschen in Deutschland tauchen innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden wieder auf, der Großteil der anderen dann binnen drei Tagen. Sollte die vermisste Person auch dann nicht wieder zurück sein, nimmt die Wahrscheinlichkeit für ein Verbrechen mit jedem Tag zu, bis es irgendwann immer unwahrscheinlicher wird, dass diese Person überhaupt noch lebt.

All das weiß ich, und Franziska weiß es auch. Dennoch ist ihre Sicht auf die Welt eine völlig andere als meine. Nicht nur in diesem Fall, sondern ständig. Und das liegt vor allem an Franziskas Wesen. Sie ist ein Mensch, der geradezu zwanghaft an ein Happy End glauben will. Egal wie schlimm die Vorzeichen auch sein mögen. Wenn die Realität ihr dann hin und wieder einen Strich durch die Rechnung macht, reagiert sie auf solche Vorkommnisse völlig perplex. Überrascht, dass eine Welt wie diese tatsächlich existiert und sie darin leben muss.

„Vielleicht ist diese Rebecca ja wirklich nur weggelaufen“, wiederholt sie und sieht mich nach Zustimmung heischend an. „Manchmal machen Teenager so etwas doch. So selten ist das nicht. Warum geht jeder immer direkt vom Schlimmsten aus?“

„Vielleicht tun die meisten Menschen das, weil sie im Gegensatz zu dir Realisten sind.“

Sie zuckt zusammen, die Worte treffen sie wie ein Peitschenhieb. „Dann denkst du also auch, dass das Mädchen tot ist?“

„Keine Ahnung“, weiche ich aus und merke selbst, wie lahm das klingt. „Wir werden sehen.“

Ich habe den letzten Satz kaum ausgesprochen, als ich meine Worte auch schon bedauere. Ich sollte Franziska nicht so behandeln. Nicht so kurz angebunden reagieren, so gleichgültig. Das hat sie nicht verdient, niemand hat das, und dennoch tue ich es, ständig. Ich erzähle nichts mehr, ich berichte nur noch. Irgendwann auf unserer langen Reise muss mir der Wille abhandengekommen sein, sie vollumfänglich an meinem Leben teilhaben zu lassen. Ich glaube, dass sie das auch weiß. Zumindest hat sie sich in den letzten Wochen verändert, auch wenn ich den Grund für diese Veränderung nicht benennen kann.

Anstatt mich zu entschuldigen, werfe ich einen Blick auf die Uhr und sage, dass ich jetzt wirklich losmuss. Sie nickt nur und bleibt im Wohnzimmer zurück, während ich in den Flur gehe, um mir die Schuhe anzuziehen. Ich will gerade nach dem Autoschlüssel greifen, als ich mitten in der Bewegung innehalte. Der Schlüssel ist weg. Er liegt nicht mehr auf dem Sideboard hinter der Eingangstür, wo ich ihn immer deponiere, wenn ich nach Hause komme.

„Franziska?“, rufe ich.

„Was denn?“, kommt es aus dem Wohnzimmer zurück.

„Weißt du, wo mein Autoschlüssel ist?“

„Wahrscheinlich da, wo du ihn zuletzt hingelegt hast.“

„Da ist er aber nicht.“

„Hmm“, macht sie und kommt in den Flur. „Welche Hose hast du denn gestern angehabt?“

Dieselbe wie heute, denke ich. Dennoch befühle ich automatisch die Hosentaschen, leer, bevor ich auf das Schlüsselbrett an der gegenüberliegenden Wand schaue, an das Franziska und Tabea immer ihre Schlüssel hängen. Mitten unter ihnen: der des Jeeps. Ich schüttle den Kopf – Tabea vielleicht – und greife danach.

Als ich Franziska zum Abschied einen flüchtigen Kuss auf die Wange gebe, lächelt sie sanft. Kein böses Wort mehr wegen meines unsensiblen Verhaltens, kein Vorwurf. Auch das passt nicht zu ihr, normalerweise ist sie nachtragend. Sie leidet dann zwar eher still und heimlich, lässt mich dieses Leiden aber spüren. Durch Gesten, durch Blicke, ganz subtil.

Man kann ihr vieles nachsagen, aber nicht mangelnde Klasse. Obwohl sie zart und zerbrechlich wirkt, verfügt sie über jede Menge Kampfgeist. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sie lange nach unserer verloren gegangenen Liebe gesucht hat, ich hingegen nach einem Ausweg.

Als ich das Haus verlasse, erstrahlt der Himmel über dem Meer in einem tiefen Blau. Nur ein paar vereinzelte Schäfchenwolken sind zu sehen und jede Menge Möwen, die darunter wie entflohene Gefühle kreisen.

 

Die Pressekonferenz ist ein kompletter Reinfall, zumindest aus unserer Sicht. Claudia Lüders, die zuständige Ermittlerin, fasst zunächst die bekannten Vorkommnisse zusammen, bevor sie die Bevölkerung um Mithilfe bittet. Es ist ein eindringlicher Appell; gerichtet vor allem an Rebeccas Freundinnen und verbunden mit der Ermahnung, dass dies der falsche Zeitpunkt sei, um aus falsch verstandener Loyalität irgendwelches Wissen für sich zu behalten.

Wirkliche Neuigkeiten dagegen hat sie nicht zu verkünden. Sie betont, dass man in jede Richtung ermitteln würde und keine Möglichkeit ausschließen könne, aber ihr Gesicht sagt etwas anderes. Es sieht müde aus, abgekämpft und leer. Als sie fertig ist, dürfen wir Pressevertreter noch ein paar Fragen stellen, auf die sie nur ausweichend antwortet. Kurz darauf stehen Torge und ich auch schon wieder vor der Tür der Polizeiinspektion.

„Und jetzt?“, will der gebürtige Däne wissen, nachdem er die Kameraausrüstung in seinen Kombi verladen hat. „Was machen wir?“

„Ich habe Hunger und Lust, ein paar Menschen zu sehen. Wie wär’s mit der Trattoria am Markt? Der Primitivo dort ist auch nicht schlecht.“

„Dann los“, sagt er, und wir machen uns zu Fuß auf den Weg.

Bis zum Marktplatz ist es nicht weit. Die Sonne scheint, es riecht durchdringend nach Frühsommer, und am Marktplatz stoßen wir auf ukrainische Straßenmusiker, die irgendein Volkslied spielen. Sie sind gut, richtig gut. Ich mag Musik, also schmeiße ich drei Euro in den vor ihnen liegenden Akkordeonkoffer, und auch Torge bleibt stehen. Er zögert kurz, dann grinst er und beginnt zu tanzen. Irgendwann klatscht er auch den Rhythmus mit, während ich nicht weiß, ob ich bei seinem Anblick lachen oder die Hand verschämt vor die Augen legen soll. Die Musiker entscheiden sich fürs Lachen, wenigstens ihnen scheint die Darbietung zu gefallen.

Ich mag Torge, aber ich habe nie verstanden, warum er so krampfhaft versucht, wie ein Jugendlicher zu wirken. Dabei geht es nicht nur um sein Verhalten, auch um die Kleidung oder die Wortwahl. Sobald er irgendeinen neuen Begriff aufschnappt, baut er ihn in seinen Wortschatz ein. Nicht weil er das wirklich cool findet – sondern einfach nur, weil er glaubt, so jünger zu wirken.

Als ich ihn einmal darauf angesprochen habe, meinte er nur, dass er nicht einer dieser Idioten sein will, die mit Ende dreißig schon wie ihre eigenen Väter wirken. Das ist ihm gelungen. Jetzt wirkt er wie einer dieser Idioten, die einfach nicht älter werden können.

„Du brauchst mich gar nicht so sonderbar anzuschauen“, sagt Torge, nachdem er die Tanzeinlage beendet hat. „Bin ich dir etwa peinlich?“

„Nicht mehr als an anderen Tagen“, grinse ich. „Ich wäre dir aber trotzdem dankbar, wenn wir jetzt einfach weitergehen könnten.“

In der Trattoria ist um diese Uhrzeit noch nicht viel los, sodass wir problemlos einen Tisch im Freien finden. Torge bestellt eine Pizza, ich entscheide mich für Cannelloni. Nachdem die Kellnerin die Bestellung aufgenommen hat, trifft mein Blick den seinen. Er schaut mich seltsam an, wirkt irgendwie besorgt.

„Was ist?“, frage ich.

„Nichts“, sagt er lahm.

„Für nichts guckst du aber ganz schön kritisch.“

„Okay“, gibt er sich geschlagen. „Ich finde, dass du heute echt fertig aussiehst. Was ist los? Gibt es mal wieder Stress mit Franzi?“

Franziska würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass er sie Franzi nennt.

„Zu Hause ist alles okay“, lüge ich.

„Was ist es dann?“

„Keine Ahnung. Ich bin einfach nur müde.“

„Oh … Hattest du etwa Sex mit Franzi? Hat sie sich dabei mal bewegt?“

„Nein, das nicht“, sage ich und verdrehe die Augen.

„Wie jetzt? Sie hat sich nicht bewegt?“

„Doch, das heißt … Nein, wir hatten keinen Sex, obwohl ich nicht wüsste, was dich das angeht! Es war nur … In der letzten Nacht ist unser Fernseher mehrmals angegangen. Einfach so, ohne Grund. Irgendwann habe ich den Stecker rausgezogen, konnte dann aber nicht mehr einschlafen. Die Stunden fehlen mir jetzt wohl.“

Torge kneift die Augen zusammen. „Wie jetzt, der Fernseher ist angegangen? Von ganz allein?“

„Ja“, bestätige ich. „Dreimal.“

„Tabea vielleicht?“

„Die hat tief und fest geschlafen. Außerdem hat sie in ihrem Zimmer einen eigenen Apparat. Ich denke, dass das Teil einfach nur eine Macke hat. Morgen will ich in die Stadt und mich nach einem neuen umsehen.“

Bevor Torge antworten kann, kommt die Kellnerin und stellt das Essen auf den Tisch. Wir reden noch kurz über die Pressekonferenz und darüber, was man aus dem wenigen Material machen könnte, und nach dem Essen hat Torge die Geschichte mit dem Fernseher schon wieder vergessen. Er putzt sich den Mund ab, lehnt sich entspannt zurück und wendet sich umgehend dem nächsten Thema zu – seiner neuesten Eroberung, Tina oder Tanja.

Der gebürtige Däne hat ständig neue Partnerinnen, obwohl niemand aus unserem Bekanntenkreis versteht, wie er das hinbekommt. Torge ist nicht gerade ein Traum von einem Mann, kein klassischer Womanizer. An seinem Körper gibt es keine sichtbaren Muskeln, und wenn er T-Shirts trägt, ragen seine Arme wie Bindfäden aus den Ärmeln hervor. Den schütteren Haarwuchs versucht er unter einem Baseballcap zu verbergen, und im Sommer wird seine Haut nur kurzzeitig rot, um zwei Tage später wieder blass wie die eines Albinos zu sein.

Insgeheim glaube ich, dass die Gründe für seinen Erfolg in seiner Stimme zu finden sind, die so tief und dunkel wie der Marianengraben ist. Dazu verfügt sie über diesen skandinavischen Akzent, der in den Ohren vieler Frauen wohl unwiderstehlich klingt, irgendwie nach Hygge und so.

Während ich einen Rotwein trinke, gerät Torge über seine neueste Bekanntschaft regelrecht ins Schwärmen. Wie gut diese Tina oder Tanja doch aussieht, wie unkonventionell sie ist, wie gebildet. Irgendwann kommt er auch auf ihre sexuellen Vorlieben zu sprechen, er nimmt da kein Blatt vor den Mund. Ich höre seinen amourösen Schilderungen nur noch mit einem Ohr zu, befürchte aber, zukünftig keine Erdbeeren mehr essen können, ohne an diese Tina oder Tanja denken zu müssen.

„Das klingt doch prima“, sage ich, als er endlich fertig ist. „Vielleicht ist sie ja die Richtige für dich.“

Er zieht die kaum sichtbaren Augenbrauen hoch und sieht mich zweifelnd an.

„Wer weiß?“, schiebe ich nach, um ihn ein wenig zu provozieren. „Wenn ich ganz leise bin, glaube ich sogar, die Hochzeitsglocken schon läuten zu hören.“

Er lacht, und ich lache natürlich mit, weil wir beide wissen, dass das niemals passieren wird. Torge ist ein Mann für den aufregenden Sprint, nicht für die ermüdende Langstrecke. Er ist der festen Überzeugung, dass der Alltag der natürliche Feind der Liebe ist und dass kein Erlebnis mehr etwas Besonderes darstellt, wenn man es tagtäglich hat. Zum Glück teilen die meisten seiner Bekanntschaften diese polygame Haltung. Nicht auszudenken, welche Dramen sich sonst abspielen würden.

Die Erdbeerfrau scheint nicht nur seine diesbezügliche Sichtweise zu teilen, sondern auch über telepathische Kräfte zu verfügen, zumindest klingelt kurz darauf sein Handy. Den Antworten entnehme ich, dass sie ihn gerne sehen will, also signalisiere ich ihm, dass es okay ist, wenn er mich hier sitzen lässt und zu ihr fährt. Er formt mit Daumen und Zeigefinger das Okay-Zeichen, bei seinen nächsten Sätzen muss ich dann weghören. Auch ich habe so etwas wie ein Schamgefühl, obwohl Franziska da sicher etwas anderes behaupten würde.

„Ist das auch wirklich okay für dich?“, will er wissen, nachdem das Gespräch beendet ist. „Ich kann auch …“

„Alles gut“, versichere ich und nicke bekräftigend, bevor ich ihm zuzwinkere. „Wenn ich deine Aussagen richtig verstanden habe, scheint die Angelegenheit ja dringend zu sein.“

Sein Grinsen schneidet kleine Fältchen in die blasse Haut. „Danke, Mann, das ist echt nice! Wir sehen uns dann übermorgen, oder?“

„Das tun wir. Hab einen schönen Abend und viel Spaß.“

Als Torge aufsteht und geht, schaue ich ihm noch eine Zeit lang hinterher. Ich sehe seinen schmalen Rücken und die hängenden Schultern und weiß nicht, ob ich ihn in diesem Moment beneiden oder bedauern soll. Sein Leben ist, wie meines einmal war, aber dann ist etwas passiert.

Irgendetwas von mir – in mir – ist in den letzten Jahren verloren gegangen, und ich würde es nur zu gerne wiederfinden.

 

Es ist kurz vor Mitternacht, als ich mich endlich auf den Heimweg mache. Um diese Uhrzeit sind die Straßen schon recht leer, und nur wenige Fahrzeuge kommen mir entgegen. Die kleinen Dörfer entlang der Strecke wirken wie ausgestorben. Nur hinter wenigen Fenstern brennt noch Licht, und der einzige Mensch, der mir unterwegs begegnet, ist ein einsamer Mann, der mit seinem altersschwachen Schäferhund Gassi geht.

Die grellen Lichtkegel der Scheinwerfer reißen immer nur Details aus der Dunkelheit, beleuchten nie das große Ganze. Sie gleiten über akkurat gestutzte Hecken, streifen alte Bauernhäuser und hinter Bäumen liegende Scheunen. Es ist eine Gegend, in der Vergangenheit und Zukunft zum Jetzt verschwimmen. Wahrscheinlich hat es hier vor dreißig Jahren schon so ausgesehen, und vermutlich wird sich in den nächsten dreißig Jahren daran auch nichts ändern.

Die meiste Zeit bleibe ich unter dem Tempolimit und lasse den Jeep einfach nur dahingleiten. Ich will nicht nach Hause zu Franziska, will mich nicht ihren Fragen und der stummen Enttäuschung darüber aussetzen, dass ich ihr schon lange nicht mehr geben kann, wonach sie sich sehnt. Mein Verhalten ihr gegenüber ist ein freundschaftliches geworden, sie würde sich ein liebevolles wünschen, aber das packe ich nicht mehr.

Dennoch fahre ich weiter und weiter, als würde ich von einem unsichtbaren Magneten angezogen, obwohl ich in dieser Nacht lieber woanders wäre. Ich passiere kleine Wäldchen und unbeschrankte Bahnübergänge, bis ich irgendwann die Küstenstraße erreiche. Hier lasse ich das Seitenfenster halb nach unten gleiten, und salzige Meeresluft strömt herein. Vielleicht ist dieser Geruch das Einzige, was ich vermissen werde, wenn ich nicht mehr hier bin. Ihn und das Meer.

Als ich in den Rückspiegel schaue, sehe ich einen einsamen Lichtkegel hinter mir, wahrscheinlich ein später Motorradfahrer. Dann taucht schon wie aus dem Nichts rechts vor mir unser Haus auf. Ich bremse und biege auf die kurze Zufahrt ein, höre den Kies unter den Reifen knirschen. Als der Wagen steht, schalte ich den Motor aus, schließe meine Augen und lausche der Stille, dem leisen Knacken des sich langsam abkühlenden Motors. Fünf Minuten lang bleibe ich so sitzen, vielleicht auch zehn, aber als ich die Augen wieder öffne, ist das Haus immer noch da.

Unser Haus.

Jetzt, im Dunkeln, sieht es noch größer aus, als es ohnehin schon ist. Fast schon bedrohlich groß, und ganz sicher zu groß für uns. Im Erdgeschoss nutzen wir nur die Küche, das Wohnzimmer und mein Arbeitszimmer, im ersten Stock die beiden Schlafzimmer und Bäder und gelegentlich das Gästezimmer. Es gibt noch drei weitere Räume, die Franziska und Tabea eher als Abstellkammern betrachten, dazu den Keller und den riesigen Dachboden, auf dem seit Monaten schon niemand mehr war.

Ich habe das Haus damals nicht gewollt, und ich mag es immer noch nicht. Das Haus nicht, und diese Gegend schon gar nicht. Landschaftlich ist sie wunderschön, und dennoch fühle ich mich hier auch nach so vielen Jahren immer noch wie ein Fremder. Das liegt nicht an der Landschaft oder den Menschen hier, es liegt an mir. Man kann nichts lieben, auf das man sich nicht einlassen will.

Franziska und ich hätten damals im Ruhrgebiet bleiben oder nach Köln ziehen sollen, nach Hamburg oder nach München. Irgendwohin halt, wo die Dinge fifty-fifty gestanden hätten, nicht hundert Prozent Franziska, null Prozent ich. Doch damals war ich noch verliebt, so richtig, und man macht viele Dinge, die man später bereut, wenn man verliebt ist.

Ich kann nur hoffen, dass ich das, was ich bald tun werde, niemals bereue.

Seufzend steige ich aus dem Fahrzeug und gehe auf das Haus zu. Ich öffne die Tür, lege den Schlüssel aufs Sideboard und ziehe im Halbdunkeln die Schuhe aus. Um Tabea und Franziska nicht zu wecken, schleiche ich, so leise es geht, die Treppe hinauf, bis ich auf der Hälfte des Weges plötzlich stehen bleibe.

Irgendetwas stimmt nicht. Etwas ist anders als sonst.

Ich kann den Grund dafür nicht benennen. Es ist auch eher ein Gefühl, ein Flirren der Sinne. Ich schaue mich um, sehe aber nichts Ungewöhnliches. Dann schließe ich die Augen und atme ein. Jetzt kann ich riechen, was mich innehalten ließ. Ein ungewohnter Geruch hängt in der Luft, der schwache Duft eines Parfüms. Es dauert einen Moment, bis ich ihn erkenne – irgendetwas von Hermès, Franziskas Lieblingsmarke. Franziska parfümiert sich jedoch nie, wenn sie zu Hause ist. Sie tut das nur, wenn wir ausgehen, und auch dann nur zu besonderen Anlässen.

Ist sie etwa ausgegangen? Mit wem, wohin?

Vielleicht sollte ich jetzt eifersüchtig sein, aber das bin ich nicht. Nicht wirklich zumindest. Wenn Franziska ebenfalls eine Affäre hätte, würde mich das nicht umhauen. Es würde mich eher verwundern, weil es so gar nicht zu ihr passt. Franziska ist keine Frau, die Zuspruch oder Liebe in den Armen eines anderen sucht. Das ist sie doch nicht, oder?

Ohne darauf eine Antwort zu finden, schleiche ich die letzten Stufen hoch und dann den Flur entlang. Im Badezimmer schalte ich das Licht erst ein, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Sofort fällt mein Blick auf einen Parfümflakon, der mit der Prägung von Franziskas Lieblingsmarke versehen ist. Der Flakon ist offen, die Schutzkappe liegt achtlos daneben. Auch solche Nachlässigkeiten passen nicht zu ihr, und ich überlege, ob sich Tabea vielleicht an dem teuren Zeug probiert hat. Sie ist jetzt siebzehn; gut möglich, dass sie einen neuen Freund hat, von dem wir nichts wissen.

Wenn das so wäre, dann wäre es okay für mich. Jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse, und Tabea ist da sicher keine Ausnahme. Außerdem habe ich noch nie daran geglaubt, dass bedingungslose Offenheit das Fundament jeder guten Vater-Tochter-Beziehung ist.

Die meisten Väter, die das behaupten, verwechseln Offenheit mit Kontrolle. Sie meinen, ihren Kindern einen guten Dienst zu erweisen, indem sie ihnen heimlich nachspionieren und möglichst wenig Freiraum lassen. Das ist nie mein Weg gewesen, meine Vorstellung von Erziehung. Ich vertraue eher darauf, dass Franziska und ich Tabea das moralische Rüstzeug mitgegeben haben, auf das es im Leben ankommt. Jetzt ist sie alt genug, um es in gewissen Grenzen selbstbestimmt einzusetzen. Wenn sie wirklich einen neuen Freund hat, wird sie uns schon davon erzählen, sobald sie es für richtig hält.

Nachdem ich im Bad fertig bin, schalte ich das Licht wieder aus und taste mich durch die Dunkelheit ins Schlafzimmer vor. Meine Bettseite ist leer, auf Franziskas Seite kann ich unter dem Laken ihren Körper ausmachen. Sie schläft bereits, atmet ganz regelmäßig. Ich schlüpfe behutsam unter die Decke, beuge mich vor und schnuppere an ihrem Hals. Keine Spur von Parfüm, nur der Geruch von warmer, weicher Haut.

Bis vor Kurzem hat mir dieser Geruch wenigstens noch das Gefühl von Geborgenheit vermittelt; verbunden mit der Hoffnung, dass das, was da nebeneinander liegt, vielleicht doch noch zusammengehört. Aber auch solche Momente sind jetzt vorbei. Mittlerweile ist Franziska nur noch jemand, der neben mir im Bett liegt, während ich die Augen schließe und an eine andere denke.

An sie. Und zwar jede Nacht. Auch jetzt kommen und gehen die Gedanken, drehen sich um Lara wie um einen Fixstern. Das sollte nicht so sein, es ist nicht richtig, und dennoch fühlt es sich so verdammt richtig an. Die Bilder im Kopf, die sündigen Gedanken.

Mit ihnen schlafe ich ein, um dann mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden. Irgendetwas muss mich geweckt haben, ich weiß nur nicht, was. Im Zimmer ist es still, kein Laut ist zu hören, und nur ganz schwach fällt ein kaum wahrnehmbarer Lichtschein herein. Dort, wo die Tür einen Spaltbreit offen steht. Dahinter liegt der Flur. Der Schimmer muss Mondlicht sein, das durch das Flurfenster eindringt. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich die Tür aber zugemacht, als ich ins Bett ging. So wie jede Nacht, ich bin ein Gewohnheitstier.

Es ist seltsam, aber auch nicht so seltsam, dass ich deswegen aufstehen würde. Vielleicht musste Franziska mal zur Toilette, vielleicht habe ich die Tür einfach nur nicht richtig zugedrückt, weil ich sie nicht wecken wollte. Egal. Ich bin müde, will einfach nur weiterschlafen, aber in dieser Nacht ist mir keine Ruhe vergönnt.

Als ich fast schon wieder weggedämmert bin, höre ich etwas. Leise Schritte, die sich behutsam über den Flur bewegen. Sie kommen aus der Richtung, in der Tabeas Zimmer liegt, und bewegen sich auf die Treppe zu, die ins Erdgeschoss führt. Dann verstummen sie wieder, als ob die Person, die sie erzeugt hat, stehen geblieben wäre und nach irgendetwas lauschen würde.

Ein paar Sekunden nur, wenige Augenblicke des Luftanhaltens. Dann wenden sich die Schritte ab und entfernen sich. Obwohl ein sonderbares Gefühl im Bauch zurückbleibt, entspanne ich mich wieder. Es kann nur Tabea sein, denke ich. Wahrscheinlich ist sie ebenfalls wach geworden und gerade auf dem Weg in die Küche, um sich etwas zu trinken zu holen. Das tut sie manchmal, obwohl ich ihr immer sage, sie soll sich einfach eine Flasche Wasser neben das Bett stellen.

Im Halbschlaf bekomme ich noch mit, wie Tabea die Treppe hinuntersteigt, vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Man bildet sich vieles ein, wenn man im Halbschlaf liegt.

Manchmal sieht man dann sogar Dinge, die es nicht gibt. Hört Geräusche, die es niemals gegeben hat.

Ein wiederentdeckter Klassiker des Horror-Genres

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Der Horror-Klassiker endlich wieder lieferbar

Ein wiederentdeckter Klassiker in neuer, hochwertiger Ausstattung: „The Ceremonies“ ist ein Meilenstein des Horror-Genres, der den Vergleich zu den Werken Stephen Kings nicht scheuen muss.

Eigentlich wollte Jeremy Freirs sich für den Sommer aufs Land zurückziehen, um an seiner Doktorarbeit zu schreiben. Doch er merkt schnell, dass die Bewohner des verschlafenen Dorfes Gilead einer religiösen Sekte angehören und seltsame Rituale befolgen. Jeremy wird immer tiefer in die Ereignisse verstrickt, bis in der Sommerhitze ein uraltes Grauen erwacht, das nicht aus dieser Welt stammt …

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Interview über Psychothriller und Horror

Carsten Polzin spricht im Interview mit dem „Streifband“ über das wachsende Interesse an Horror- und Thrillerbüchern, die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, und die Sinnhaftigkeit einer Alterempfehlung in der Horrorliteratur. 

 

Horror-/Thrillerliteratur erlebt gerade einen richtigen Hype, auch durch diverse Buchverfilmungen. Können Sie dies aus Verlagssicht bestätigen? Werden vermehrt Manuskripte in diesem Bereich eingereicht?
Horror war im Flimgenre schon immer stark, was sich bemerkenswerterweise nicht immer auf den Buchmarkt übertrug. Während es im Film vor allem sehr explizite Splatterserien wie „Saw“, „Hostel“ oder Klassiker wie „Freitag, der 13.“ sind, die ein größeres Publikum anziehen, führt Splatter in Buchform eher ein Nischendasein. Hier dominiert nach wie vor Stephen King mit seiner ihm eigenen Mischung aus Horror, Thriller und Gesellschaftsroman alles - daneben gibt es noch die „Walking Dead“-Romane, ein bisschen John Sinclair und dann lange nichts. Wobei auch viele Bücher inhaltlich dem Genre zuzuordnen wären, ohne dass der Verlag oder Handel es tut. Ist etwa Wolfgang Hohlbeins „Armageddon“ Science Fiction oder Horror? Da sind die Grenzen fließend. Allgemein trifft es aber zu, dass sich in letzter Zeit immer mehr Autor:innen ›trauen‹, ihre Romane als Horror zu bezeichnen. Da gibt es diverse interessante neue Stimmen, die das Genre auch im Buch neu beleben könnten.

Nach welchen Kriterien wählen Sie neue Horrorliteratur?
Es sollte sich wie in jedem Bereich um Romane handeln, die den Gestzen des Genres entsprechen und zugleich aber nicht nur ein Abklatsch der großen Vorbilder sind, sondern eigene Ideen mitbringen. Da ist gerade im Horrorbereich der Film oft noch innovativer unterwegs als das Buch. Aber letztendlich zählt: Die Geschichte muss gut unterhalten.

Oft schaut man in die dunkelsten Abgründe der Menschheit. Wie gehen Sie mit Gewalt- bzw. Mordszenen um? Gibt es da interne Verlagsrichtlinien?
Es gibt keine ausdrücklichen Richtlinien, schließlich kommt es auf das einzelne Buch und die jeweilige Geschichte an, welches Maß an Gewalt notwendig/erträglich oder schlicht effekthascherisch ist. Und natürlich spielt das Lesealter des Zielpublikums eine entscheidende Rolle. Gerade im Kinder- und Jugendbuch trägt der Verlag eine besondere Verantwortung dafür, dass Inhalte altersgerecht sind.

Müssen die Autoren die Szenen umschreiben bzw. werden Passagen rausgenommen, wenn diese Grenzen überschritten werden? 
Das kann passieren.

Kamen Sie jemals mit der von der Regierung ins Leben gerufenen Liste der verbotenen Bücher ìn Berührung? 
Eine Liste der ›verbotenen Bücher‹ gibt es in Deutschland glücklicherweise nicht. Wir leben noch immer in einem Land, in dem Kunstfreiheit herrscht und (vorbeugende) Zensur verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist. Gemeinhin werden aber die Listen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien als ›Verbote‹ empfunden. Da muss man aber unterscheiden: Ist ein Medium indiziert, darf es zwar nicht Kindern und Jugendlichen, aber doch Erwachsenen zugänglich gemacht werden. Anders bei der Beschlagnahme, bei denen Filme und Bücher, insbesondere bei menschenverachtender Gewaltdarstellung nach §131 StGB, gar nicht mehr zugänglich gemacht werden dürfen. 
Wir hatten einmal eine Beschwerde wegen eines Fantasyromans, in dem nach Ansicht eines Jugendamtmitarbeiters gewaltverherrlichende Passagen enthalten waren. Wir sahen das anders und eine Anhörung der Bundesprüfstelle gab uns recht.

Halten Sie es für sinnvoll, eine Altersempfehlung für Horror-/Thrillerliteratur, sichtbar im Impressum zum Beispiel, einzuführen?
Bei Kinder- und Jugendbüchern ist eine Altersempfehlung sinnvoll und wird ja auch regelmäßig gemacht, bei Erwachsenenbüchern aus meiner Sicht nicht. Hinzu kommt, dass das  Label ›ab 18‹ für viele Jugendliche gerade ein Anreiz sein dürfte. Gerade dafür kann man die Listen der Bundesprüfstelle auch kritisieren, denn für manche stellen sie regelrecht eine Einkaufsliste dar.

Kommt es noch oft vor, dass Sie über die Phantasie der Autoren geschockt sind, beziehungsweise negativ überrascht?
Manchmal ist man schon verärgert, vor allem, wenn in einem guten Roman ohne Not oder Vorwarnung auf einmal völlig übertriebene Gewaltszenen auftauchen. Oft lässt sich das in Zusammenarbeit mit den Autoren entschärfen. Wenn nicht, wird sich jeder Verlag überlegen, ob er das Buch veröffentlichen will. Auch diese Entscheidung muss man aber im Einzelfall treffen.

 

Das Interview erschien in Ausgabe 31 des „Streifband“.
Das „Streifband“ ist ein studentisches Projekt an der HTWK Leipzig. Studierende der Buch- und Medienproduktion veröffentlichen zweimal jährlich das buchbranchenspezifische Magazin zur Leipziger und Frankfurter Buchmesse.

Blog: https://streifbandblogging.wordpress.com/
 

08. Januar 2020
Nervenkitzel 2023 - die besten Thriller
Spannung und Nervenkitzel: Die neuen Thriller garantieren Gänsehaut ab der ersten Seite. Auch das neue Buch von Bestseller-Autor Linus Geschke werden Sie nicht mehr aus der Hand legen können.
07. Juli 2024
Hexen Romane
Magisch, mystisch und bezaubernd: Zauberer, Hexen und Magier jeder Art faszinieren seit jeher. Unsere Romane entführen in die fabelhaften Welten von Zauberschulen und Hexenzirkel.

Montag, 18. Oktober 2021 von Piper Verlag


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