Fettnäpfchen: Wo sie herkommen und wie man sie zielsicher ansteuert
Wer sich jemals in China bei Tisch geschnäuzt, in Indien die linke Hand zur Begrüßung ausgestreckt oder in den USA einen richtig dreckigen Witz erzählt hat, der weiß: Interkulturelle Begegnungen haben viel mit der letzten Fahrt der Titanic gemeinsam. Wartet man mit den Kurskorrekturen, bis die Spitze des Eisbergs sichtbar ist, hat man sich längst an dessen unsichtbaren Unterwasserausläufern den Rumpf aufgeschlitzt. Und mal ehrlich: Jeder, der bereits im Ausland unterwegs war, hat wohl schon mal die heiße Erkenntnis verspürt, gerade kapital einen versenkt zu haben. Wenn sich eben noch herzlich nette Menschen scheinbar grundlos zurückziehen, die neuen und wirklich freundlichen Bekannten auf einmal einen angeekelten Gesichtsausdruck bekommen, wenn der Kellner schlagartig unhöflich wird oder die potenziellen Geschäftspartner keinerlei Willen mehr zum Vertragsabschluss zeigen – dann hat man sich wohl ungewollt kolossal danebenbenommen.
Alternativ ist es auch ein unglaublich peinliches Erlebnis, anderen beim zielsicheren Endspurt aufs Fettnäpfchen zuzusehen: Der wird doch nicht wirklich in China einen Schlitzaugenwitz erzählen ? Hat der jetzt allen Ernstes den Amerikaner zwischen Vorsuppe und Hauptspeise in die Nacktsauna eingeladen ? Es schmerzt, anderen dabei zuzuschauen, wie sie in Korea nach einem üppigen Mahl penibel getrennt die Rechnung begleichen, in Dubai Luftküsschen an die weiblichen Angestellten verteilen oder in Italien an der Rezeption mal so richtig dozieren, wie sich aus dem Saftladen noch ein ordentliches Hotel machen ließe.
Die Möglichkeiten, sich im Ausland zu blamieren, sind vielfältig, und selbst wer meint, sich vor der Reise gut auf die Besonderheiten des Ziellandes vorbereitet zu haben, ist vor peinlichen Benimm-Ausrutschern nicht gefeit. Doch warum eigentlich ? Können wir uns nicht einfach die Grundlagen einer anderen Kultur aneignen und damit solcherlei Fehltritte von vornherein verhindern ? Denn dass Kulturen unterschiedlich sind und in anderen Ländern auch andere Regeln gelten, wissen wir schließlich alle.
Kultur ! Kultur ?
Doch was bedeutet Kultur in diesem Zusammenhang ? Ab wann befindet man sich in einer anderen Kultur und wo genau liegen ihre Grenzen ?
An diesem Begriff arbeiten sich seit vielen Jahrzehnten Sozialwissenschaftler, Anthropologen, Kulturwissenschaftler, Psychologen und wer nicht noch alles ab, sodass es eine Vielfalt von verschraubten Definitionen gibt. Tatsache ist aber: So ganz genau lässt sich eine Kultur nicht abgrenzen – weder gefühlt noch wissenschaftlich. Es geht schon damit los, dass sich jede Kultur in Unterkulturen spaltet, und das nicht zu knapp. Vergleichen Sie doch mal das korrekte Begrüßungsritual unter bayrischen Stammtischmitgliedern mit dem einer Gruppe Berliner Punker. Auch das unterschichtige Offenbacher „ Wos ged, Alder “ lässt die Passanten nur wenige Straßenzüge weiter im Frankfurter Speckgürtel die Augenbrauen nach oben ziehen. Wissenschaftler differenzieren daher gerne nach Alter, Geschlecht, Einkommen, Herkunft und vielen anderen Kriterien. Im Alltag ist das allerdings weniger praktikabel. De facto würde das bedeuten, immer erst nach Ausbildung und Kontostand fragen zu müssen, bevor man sich die Hände reicht ( oder eben nicht ).
Nicht minder schwierig ist die Frage: Wo liegen die Grenzen zwischen individuellen Marotten und der gemeinsamen Kultur ? Und vor allem: Woran erkennt man sie ? Je fremder die Kultur, desto eher tappt der Fremde in die Kulturfalle und schreibt alles Ungewohnte und Unverständliche, jede skurrile Verhaltensweise der lokalen Kultur zu: So geht das hier also ! Wer zu schnelle Rückschlüsse zieht, schlürft in Frankreich fortan die Suppe, nur weil er beim ersten Restaurantbesuch in Paris neben einem Rüpel gesessen hat, oder er liegt regional richtig, aber sozial total daneben: Wer die komplizierten Handschlag-Rituale der Gangs von New York beherrscht, ist auf einer Professoren-Party in Harvard ja nicht zwingend im Vorteil.
Doch zurück zur Frage: Wo also beginnt eine fremde Kultur ? Grenzen sind bei der Suche nach der Antwort nur eine unzuverlässige Orientierungshilfe. Gehört die Frittenbude hinter der belgischen Grenze schon zu einer anderen Kultur ? Der Mann an der Fritteuse spricht zwar hervorragend deutsch, allerdings mit Eupener Akzent, außerdem besitzt er einen belgischen Pass und eine Vorliebe für Kirschbier hat er auch. Welche Regeln gelten denn nun im Umgang mit ihm ? Und wie verhält man sich korrekt gegenüber Menschen, die viele Jahre in einer anderen Kultur verbracht haben oder deren Eltern aus einem anderen Land stammen ?
Kurzum, Definitionen von Kultur und Kulturräumen mögen wissenschaftlich hochinteressant sein, von praktischem Nutzen für unterwegs sind sie eher nicht. Am besten hält man es im Ausland mit der Regel: Wenn es sich anders anfühlt und anders aussieht, dann ist es wohl so. Und falls dies nicht zutrifft: Es ist trotzdem alles anders, nur merken Sie es dann erst später.
Feste Regeln, bitte
Ein bisschen Hoffnung gibt es dennoch, quasi eine Benimm-Krücke, mit der man Aufenthalte in fremden Ländern passabel bewältigen kann. Die sogenannten Kulturstandards. Dabei handelt es sich um die zentralen Regeln und Normen einer Kultur, die vorgeben, welches Verhalten als normal, annehmbar oder völlig daneben gilt. Die gute Botschaft ist: Man kann sie lernen, zumindest die wichtigsten, und mit ein wenig Übung gelingt es vielleicht sogar, sie aktiv und passiv zu beherrschen. Die schlechte Botschaft ist: Man kann sie nicht ohne Weiteres erkennen. Die meisten Menschen wissen noch nicht einmal so ganz genau, welches ihre eigenen Kulturstandards sind, schließlich hält man diese Verhaltensweisen einfach für „ normal “: Öffnet ein Mann in Deutschland einer Frau die Tür, dann ist das höflich, in Australien jedoch Anzeichen einer steinzeitlichen Haltung in Sachen Gleichberechtigung. Auch innerhalb Deutschlands findet man solche Unterschiede: Sparen und aufs Geld achten ist normal, finden die meisten Schwaben. Selbstverständlich gibt man dort die Flasche Sonnenblumenöl für 39 Cent oder die Flasche Cola, die man sich vom Nachbarn geliehen hat, auch wieder zurück – schon weil Pfand dafür anfällt ! Die meisten Schwaben kämen gar nicht auf den Gedanken, dass sich diese Haltung im Ruhrpott als Geiz manifestieren könnte.
Diese nie hinterfragte Normalität, die vor dem Hintergrund einer anderen Kultur ihre Bedeutung verändert, treibt wahrscheinlich mehr Besucher ( und ihre Gastgeber ) in den Wahnsinn, als die sichtbaren kulturellen Unterschiede.
Der Vorteil der Kulturstandards ist, dass man nicht immer wieder von Neuem darüber nachdenken muss, wie man in dieser oder jener Situation passend reagiert. Wie wichtig diese Standards sind, stellt man erst in Situationen fest, in denen es keine festen Verhaltens-Vorlagen gibt. Denn wie verhält man sich korrekt nach einem aus dem Alkohol geborenen One-Night-Stand ? Wie reagiert man richtig, wenn man feststellt, dass der neue Chef just jener Typ ist, den man am Abend zuvor in der Kneipe angeblafft hat ? Oder, ganz schlicht und einfach, welche Begrüßung ist angemessen, wenn man demselben Mitarbeiter zum dritten Mal am gleichen Vormittag im Büro-Flur begegnet ? Solche Situationen riechen förmlich nach Blamagen und sind Steilvorlagen für Fettnäpfchen, für die es noch nicht einmal interkulturelle Spannungen braucht, um sie gesellschaftlich in eine hochexplosive Handgranate zu verwandeln.
Im Ausland erweitert sich das Repertoire an Peinlichkeiten und Fauxpas naturgemäß noch um ein Vielfaches. Schaut man jedoch genauer hin, zeigt sich, dass gewisse Arten von Fettnäpfchen ganz besonders beliebt sind:
Der Regelverstoß
Visitenkarten werden in Fernost mit zwei Händen übergeben und angenommen. Diese Regel wird in einer klar definierten Situation angewandt und hat erst einmal keine ideologische Bedeutung. Oder anders gesagt: Man bricht sich keinen ab und muss auch keine persönlichen Gewissenskonflikte bewältigen, um sie zu befolgen.
Wenn es um solche einfachen Regeln geht, zeigt sich schlicht, wer beim Hinflug die Zeit zur Lektüre eines interkulturellen Führers genutzt und wer lieber alle Blockbuster des Inflight-Entertainments durchgeklickt hat. Weil man diese Regeln so schön auswendig lernen kann, sind sie bei interkulturellen Seminaren sehr beliebt. Außerdem ist es doch ein beruhigendes Gefühl, wenigstens einen kleinen Teil des Aufenthalts ohne soziale Unfälle bewältigen zu können. Auch die Menschen im Ausland wissen diese kleine Geste zu schätzen. Vor allem, wenn man danach nur noch von einem Fettnapf zum nächsten trottelt.
Die Ekelfalle
Gegrillte Meerschweinchen, Kakerlaken am Spieß, Schildkröten in der Suppe oder Katzenragout: Die Welt ist voller Spezialitäten, die man zu Hause nicht mal dem Hund vorsetzen würde. Leider gebietet es die Höflichkeit in den meisten Kulturen, dass man sie sich trotzdem mit viel Lob und geheuchelter Anerkennung einverleibt: „ Richtig lecker, dieses Flughund-Ragout ! “ Sind die Zutaten an sich wenig erschreckend, lässt sich über Lagerung und Zubereitung noch allerhand wettmachen: 14 ungekühlte Stunden auf einem tropi-
schen Dritte-Welt-Markt gehen auch am leckersten Steak nicht unbemerkt vorüber. Neben diesen kulinarischen Fallen gibt es noch eine körperliche Variante, denn auch um die Körperhygiene ist es in Kulturen mit extremen Wetterlagen nicht immer optimal bestellt. Logischerweise verleitet die Kombination aus fehlendem Badezimmer und Minustemperaturen nicht wirklich zur täglichen Dusche, und Wasserknappheit lässt Menschen in der Wüste vielerorts seltener zu Waschlappen und Seife greifen. In diesem Fall heißt es dann „ Nase zu und durch “ – und keine unbedachten Bemerkungen zu diesem Thema fallenzulassen.
Die Altlast
Es gibt Standards, die widersprechen einfach jedem westeuropäischen Höflichkeitsgefühl. Da kann man als Deutscher hundert Mal wissen, dass es im südlichen Afrika unhöflich ist, anderen Menschen lange in die Augen zu schauen, unsere Erziehung sagt uns etwas anderes: Wer dem Blick ausweicht, hat etwas zu verbergen. Und schon glotzen wir, grundehrlich, jedem ins Gesicht. Auch der Hinweis, dass es hier und da auf der Welt weder nötig noch höflich ist, zu einer Einladung pünktlich zu erscheinen, kollidiert heftig mit allem, was man in den ersten zwei Jahrzenten als Westler eingebläut bekommt. Wenigstens annähernd pünktlich, das müsste doch okay sein … oder ?, fragt man sich. Das Leben belohnt einen dann reichlich für das frühe Erscheinen: zum Beispiel mit dem Anblick der Gastgeber in Feinrippunterhemd und Lockenwickler …
Die Missdeutung
Ganz besonders tückisch sind Situationen, von denen alle Beteiligten sicher zu wissen glauben, wie sie zu entschlüsseln sind – und doch in ihrer Interpretation meilenweit auseinanderliegen ! Dummerweise dechiffrieren Menschen nämlich die Welt auch im Ausland vor dem Hintergrund ihrer eigenen Kultur – und steuern damit gezielt auf das nächste Fettnäpfchen zu. Ein Klassiker ist beispielsweise das fernöstliche Nein. Sagt der Chinese: „ Da muss ich noch mal drüber nachdenken “, dann meint er „ Nein “. Der Deutsche denkt sich jedoch: „ Kann gut sein, dass er noch zustimmt. “
Die Nationalisten-Falle
„ Willst du meine Heimat in den Dreck ziehen ? “ Schon die kleinste angedeutete Kritik verwandelt den einheimischen Saufkumpan in einen bedrohlichen Lokalmatador, der sich tief in seiner Ehre verletzt fühlt, nur weil man über die Frisur einer Landsmännin herzieht – oder eine ähnlich nichtige Kleinigkeit. Eine grobe Handreiche ist hier die Regel: Je ärmer und simpler, desto nationalistischer. Oft sind es jene, die sonst nichts haben, auf das sie stolz sein könnten, die sich am wohligen Feuer des Nationalismus wärmen und erst so richtig aufblühen, wenn ihnen die Landesflagge um die Nase flattert.
Die Rückkopplung
Dies ist eine der tückischsten Varianten, quasi der Fettnapf für Fortgeschrittene ! Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass ein anderer einen Fauxpas begeht. Würde man ihn darauf aufmerksam machen, verhielte man sich jedoch inakzeptabel und würde damit die peinliche Situation verstärken. Engländer und Chinesen haben dafür jeweils einen treffenden Ausdruck, der sich in keinem der beiden Fälle mit dem Wort „ peinlich “ angemessen ins Deutsche übertragen lässt: „ Embarrassing “ oder „ bu hao yisi “ ist bei ihnen eine solche Situation. Um es erst gar nicht so weit kommen zu lassen, schaut man vermeintlich ungerührt zu, wie der Besucher gegen die herrschenden Regeln in aller Öffentlichkeit ein Taschentuch zückt, weil man den Unwissenden in der beschämenden Situation nicht noch weiter belasten will.
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