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Romane, in denen Bücher die Hauptrolle spielen

Bücher über Bücher

Bücher über Bücher - in diesen Romanen spielen Bücher, Buchhandlungen und Schriftsteller die Hauptrolle. Es sind Buchgeschichten, die in die magische Welt der Literatur entführen.

Blick ins Buch
Die Buchhändlerin von KönigsbergDie Buchhändlerin von Königsberg

Roman

Eine tapfere Buchhändlerin und die Kraft der Worte

Frieda ist Buchhändlerin mit Leib und Seele. Der Krieg hat ihr schönes Königsberg bisher kaum erreicht, aber die Spannungen sind deutlich spürbar. Ihre Lieblingsbücher werden verboten, in der Buchhandlung, dem Ort der freien Gedanken, trauen die Leute sich nicht, offen zu sprechen. Und dann musste auch ihr Verlobter an die Front. Frieda klammert sich an die Bücher, bis Königsberg angegriffen wird und die Bomben fallen. In diesen dunklen Stunden sucht Frieda nach Hoffnung zwischen den Seiten. Doch wie weit können Worte durch schwere Zeiten tragen?


Wenn Sie Ines Thorns „Die Buchhändlerin“ und Kerri Mahers „Die Buchhändlerin von Paris" gelesen haben, werden Sie diesen Roman lieben! 

Ein Sommerspaziergang durch Königsberg

Königsberg, 3. Juni 1940

„Donnerlittchen“, rief Frieda laut aus, als sie die Haustür hinter sich zugezogen hatte. „So ein herrlicher Tag!“ Sie atmete tief ein und roch die salzige Seeluft, die der Wind vom Kurischen Haff über die sandigen Dünen der Nehrung und die grünen Felder des Samlandes direkt bis vor ihr Elternhaus blies. Für einen Moment blieb sie mitten auf dem Bürgersteig an der Vorstädtischen Langgasse stehen, schloss die Augen und ließ die warmen Sonnenstrahlen ihr Gesicht bedecken. Ein wohliges Kitzeln durchzog ihre Mundwinkel, und sie reckte die Nase nach der lauen Brise, die auf ihrem Weg durch die preußisch-königliche Residenzstadt Königsberg den süßlichen Schweißgeruch abgekämpfter Pferde aufgenommen hatte. Den ganzen Tag über hatten die Tiere Getreidewagen aus den entlegensten Gebieten Ostpreußens zu den Speichern der Altstadt transportiert.

Frieda öffnete die Augen und schaute die Straße hinunter, die gesäumt war von Altbauten mit aufwendig verzierten Fassaden und Erkern. In großen Schaufenstern präsentierten Händler ihre Waren – von Seidentüchern und Schmuck bis hin zu frischem Obst und Gemüse. Aus der Ferne hörte Frieda zwischen dem Lachen spielender Kinder das vertraute Klingeln der Straßenbahnglocken heraus. Noch bekannter war ihr das heisere Husten, das sie in dem Moment hinter sich wahrnahm. Sie drehte sich um und erkannte ihren Vater, der durch die Eingangstür zu seinem Ladengeschäft im Erdgeschoss ihres vierstöckigen Hauses trat.

Hermann Wehlau wischte sich mit seiner karierten Schiebermütze den Schweiß von der Stirn, musterte seine Tochter und bemerkte beim Anblick ihrer auffälligen Wonne: „Na kiek mol an! Wat is denn schon en Book gegen dat schöne Wedder hier buten, nich wohr?“

„Aber ja, Vati“, antwortete Frieda und blinzelte ihn an. Wenn ihr Vater gute Laune hatte, verfiel er regelmäßig ausgeprägt in die ostpreußische Mundart. Seine Tochter mochte das, obwohl sie selbst stets darauf achtete, sauberes Hochdeutsch zu sprechen. Akademikern und Künstlern war das ausgesprochen wichtig. Sie war zwar weder das eine noch das andere, aber immerhin doch ziemlich belesen. Sie antwortete daher klar und deutlich: „Und wie viel zauberhafter ist es noch, wenn man bei dieser liebreizenden Wetterlage keine Schule hat, stattdessen durch die Stadt spazieren kann, nur um sich dann in seinem Lieblingsbuchladen einen brandneuen Roman kaufen zu können?“

Frieda trat nah an ihren Vater heran, streckte sich in ihren weißen, mit Holzperlen besetzten Schnürschuhen auf die Zehenspitzen und drückte dem leicht untersetzten Mann in brauner Schürze einen Kuss auf die Wange mit den rotgrauen Bartstoppeln. „Einen, den der liebste Vater der Welt seiner allerbesten und einzigen Tochter spendiert.“ Sie kicherte. „Danke, Vati.“

„Mensch, un ick hebb gehofft, mien Bookgutschein to dien Abituhr würd vielleicht wenigst’ns in en paar Fachböker für Kolonialwohrenkunde investiert, die du bold in de Beruffschool bruken könnst. Du weißt doch, dat ick de hülpenden Hänn miner eenzigen Dochter dringend in’t Familiengeschäft bruken do.“

„Papperlapapp, wo denkst du hin? Ich weiß doch auch so immer, was unsere Kunden wünschen, und kann dir deshalb immer im Laden helfen.“ Frieda hüpfte von einem Bein auf das andere und schleuderte den Trageriemen ihrer Leinenhandtasche gekonnt um das Handgelenk. Während sie zügig die Straße hinunterlief, drehte sie sich noch einmal zu ihrem Vater um, winkte ihm zu und rief: „Und so lange lese ich natürlich nur die schmutzigsten Sittenromane.“

„Ei, warscht du woll dat Muul hoalde“, jauchzte Hermann Wehlau, „du dreidammlicher Dämlack.“ Er lachte laut und warf Frieda seine Mütze hinterher. Aber sie war schon außer Reichweite. Sie wusste, dass ihr Vater sie manchmal gerne triezte und seinen Spruch mit dem Fachbuch sicher nicht ernst gemeint hatte, obwohl er damit auf ein sensibles Thema anspielte. Die Entscheidung über ihre berufliche Zukunft hatte Frieda in den vergangenen Monaten anstrengende Diskussionen mit ihren Eltern gekostet. Aber nun war alles durchgestanden. Am Freitag letzter Woche hatte sie nach einer kleinen Feier ihr Abgangszeugnis der höheren Mädchenschule erhalten – das beste ihres Jahrgangs. Alles Einsen und nur in Mathematik eine mit einem Minus davor. Eigentlich war sie prädestiniert dafür, zu studieren, das hatten ihr die meisten Lehrer persönlich gesagt. Insgeheim träumte sie schon lange davon, sich für Literatur einschreiben und danach Bibliothekarin werden zu können. Das war Friedas langersehnter Traum, aber eben nicht mehr als das, und dass er spätestens nach dem Abitur zerplatzen würde, war ihr immer schmerzlich klar gewesen. Sie hatte früh gewusst, dass ein Studium für sie nicht angedacht war, denn sie hatte schon darum kämpfen müssen, statt die Hauptschule das Mädchenlyzeum besuchen zu dürfen. Friedas Eltern besaßen nicht das Geld, um sie finanziell länger unterstützen zu können, das musste sie wohl oder übel akzeptieren.

Eine hell bimmelnde Glocke riss Frieda aus ihren Gedanken und ließ sie auf die Straße schauen. Sie erkannte, wie der Straßenbahnfahrer der Linie 2 hinter dem Fenster seinen Hut anhob und sie grüßte. Sie war eben eine echte Vorstadtdame und fühlte sich hier, wo sich über zwei Kilometer lang ein buntes Ladengeschäft an das andere reihte, im Grunde pudelwohl. Mit Bravour würde sie ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau absolvieren, das wusste sie. Irgendwann würde sie zwischen der Konditorei Adomeit und der Fahrradbereifung Skibowski den elterlichen Kolonialwarenladen übernehmen und eben auf diese Weise glücklich werden. Ihre so geliebte literarische Welt würde damit nicht Geschichte sein. Im Gegenteil, schließlich hatte sich, sollte sie ihrem Vater diesbezüglich Glauben schenken, während einer Lesereise sogar schon einmal Thomas Mann hierher verirrt. Er hatte bei Kolonial- und Rauchwaren Wehlau Zigarren gekauft – bei ihrem Vater persönlich –, und das, nachdem der Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhalten hatte.

Es war nicht ausgeschlossen, dass ebendieses große Vorbild eines Tages, wenn der überflüssige Krieg ein Ende gefunden hatte, noch einmal Königsberg besuchte und dann zu ihr in den Laden käme, um über den Zauberberg zu sprechen. Das war natürlich eine Spinnerei, aber Frieda schmiedete schon Pläne, die ihr Tabakverkäuferinnendasein versüßen könnten und die realistischer wären als der Besuch eines literarischen Genies wie Thomas Mann im elterlichen Laden. Sie dachte darüber nach, eines Tages Romanheftchen mit ins Verkaufssortiment aufzunehmen oder heimlich im Nebenberuf und unter Pseudonym als erfolgreiche Romankritikerin zu veröffentlichen. Vieles war möglich und das Leben für sie hoffentlich noch lang. Außerdem, bestimmt würde sie auf der Berufsschule nette Freundinnen finden. Und das war schon was wert.

Als Frieda auf der Vorstadtstraße ankam, die direkt zum Pregelufer führte, blieb sie einen Moment stehen und schloss die obersten Knöpfe ihrer weißen Bluse, die sie über einem hellblauen Sommerkleid trug. Ihr fiel jetzt deutlich auf, dass trotz des ausgezeichneten Wetters nur wenige Spaziergänger auf den Beinen waren. Das beobachtete sie jedes Jahr zu Anfang der Sommerferien. Der Großteil der Königsberger Familien reiste gleich am ersten Ferientag ab, um sich keine Minute Erholung an ihren Urlaubsdomizilen an der Samlandküste oder in den Fischerdörfern auf der Kurischen Nehrung entgehen zu lassen. Und in diesem Jahr war zusätzlich Pfingsten auf den Beginn der Ferien gefallen. Vom Nordbahnhof fuhren jetzt täglich mehr als dreißig Bäderzüge ab, die fast immer voll besetzt waren.

Frieda lief weiter über die alte und unebene Straßenpflasterung, aus der kleine Grasbüschel zwischen den Steinen hervorsprossen. Sie genoss die Stille ihrer Stadt und beobachtete, wie die Blätter der großen Lindenbäume sanft im Wind wogten. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Geschichten, die sie liebte, und sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn ihre Lieblingsfiguren durch die historischen Straßen ihrer Stadt wandelten. Warum gab es eigentlich keinen erstklassigen Roman, der in Königsberg spielte? Der fehlte noch. Sie lächelte. Vielleicht würde sie eines Tages selbst dieses Buch schreiben.

Frieda konnte schon das Geländer der Grünen Brücke erkennen, die über den blaugrün schimmernden Pregel führte, als sie das Getrappel beschlagener Hufe hinter sich wahrnahm. Kurz darauf polterten mit zusammengeschnürten weißen Getreidesäcken bepackte Wagen, die von schweißnassen Pferden gezogen wurden, in Kolonne an ihr vorbei. Vor dem Ufer bogen sie nach Westen in Richtung Große Krahngasse ab, wo die Kornkammern der neuen Speicher darauf warteten, mit Getreide für den Winter vollgepackt zu werden.

Ein Gaul, der sie passierte, wieherte laut, sodass es fast wie ein Lachen klang. Das ist die pure Vorfreude, dachte Frieda, die am heutigen Tag vom gleichen Gefühl befallen war. So wie sie sich an der Pforte zur Altstadt auf ihre Bücher freute, erkannten die Pferde beim Anblick des Pregels und der hohen Kräne, dass man ihnen in ein paar Minuten die wuchtige Last, die sie viele anstrengende Stunden lang gezogen hatten, abnehmen würde. Während die Arbeiter dann die Getreidespeicher der riesenhaften, spitzen Fachwerkhäuser und die Silos befüllen würden, dürften die Pferde sich endlich ihren wohlverdienten Hafer schmecken lassen.

„Hallo, Hexe, he, Frieda.“ Von der anderen Straßenseite kreuzte ein rostiges Fahrrad, auf dem Horst saß. Er klingelte. „Wohin des Weges?“

„Haus der Bücher“, rief sie ihm zu. „Ich habe einen Gutschein von meinem Vater.“

„Toll“, schrie der Zehnjährige im Vorbeifahren. „Vergiss bloß nicht, mir Der Schatz im Silbersee zu kaufen.“

Frieda tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn, doch das sah der Junge, der bei ihnen Milch auslieferte, schon nicht mehr. Sie mochte Horst, selbst wenn er sie wegen ihrer roten Haare triezte. Da hatte es auch nicht geholfen, dass sie ihm vor ein paar Wochen erklärt hatte, dass Hexenverbrennungen in der Frühen Neuzeit Frauen und selbst Männer aller Haarfarben getroffen hatte und dass Horst einem Mythos aufgesessen war. Frieda machte sich nichts aus den Neckereien, sie liebte ihre Haare, die obendrein nicht rot, sondern erdbeerblond waren. Außerdem glaubte sie, dass Horst in sie verliebt war und nicht anders konnte. Nun ja, er war ein paar Jährchen zu jung für sie, und obwohl sie von Männern jeden Alters bezirzt wurde, hatte Frieda bislang kein großes Interesse am anderen Geschlecht. Jedenfalls nicht im realen Leben. „Die besten Kerle finden sich in Romanen“, sagte sie, wenn sie von Bekannten mal wieder gefragt wurde, ob sie denn endlich jemanden gefunden hätte. Der Richtige würde schon kommen – irgendwann.

Nun zurück zu den wichtigen Dingen, dachte sie. Wie sie die fünfzehn Reichsmark, die auf dem Gutschein ausgewiesen waren, anlegen wollte, wusste Frieda längst. Theoretisch könnte sie sich zwar davon zwei brandaktuelle Romane leisten, andererseits einen neuen und dazu ein paar ältere Schmöker oder aber einen ganzen Korb voller Romanheftchen. Doch warum sollte sie sich überhaupt begrenzen? Frieda brauchte das großzügige Geschenk ihres Vaters schließlich nicht in Neuwaren investieren. Dazu gab es doch zu viel, das man lesen musste. Zum Glück war der Abiturientin das Sommerangebot der sich im Haus der Bücher befindlichen Leihbibliothek nicht entgangen, die sie seit Jahren mehrmals die Woche und immer, wenn sie ein bisschen Freizeit hatte, besuchte, um alles lesen zu können, was sie sich zu kaufen nicht leisten konnte. Das liebte sie so am Verkaufsprinzip von Deutschlands umfangreichster Buchhandlung, dass selbst in den Verkaufsräumen alle Interessenten zu fast jedem Werk Leseexemplare fanden, mit denen sie sich in Ruhe in eine Leseecke setzen durften. In der Leihbibliothek, die allein über 45.000 Titel umfasste, konnten sich seit Ende Mai Kunden gegen eine Pfandgebühr von zehn Reichsmark pro Woche fünf Bücher entleihen. Dafür waren dann fünfzig Pfennig fällig. Bezahlte man zwei Mark im Monat obendrauf, erhielt man zusätzlich das Recht, täglich ein Buch nach Belieben zu wechseln. Eine Rechnung, die sich für Frieda ganz sicher bezahlt machen würde. Ein Traum! Die Bibliothek im Haus der Bücher war eben keine normale städtische Leihanstalt oder langweilige Volksbibliothek, wo man nur Titel der vergangenen Jahre in tristen, einfarbigen Schutzumschlägen ausgehändigt bekam. Die Auswahl war riesengroß. Das bedeutete, dass Frieda sich, sofern sie schnell genug war, dort für ihr Geld immer die neuesten Romane, schon am Tag, an dem sie in den Verkauf gingen, entleihen konnte. Natürlich waren die nur in stark begrenzter Anzahl zu haben, aber Frieda hatte überhaupt kein Problem damit, jeden Tag am Haus der Bücher vorbeizugehen. Sie liebte diese Besuche, nicht nur wegen der Romane, sondern auch der Menschen halber, die sich dort versammelten – andere Buchliebhaber, Studenten, Professoren und gelegentlich ein Schriftsteller oder Dichter, der seine neuesten Werke signierte. Gerade jetzt in den Ferien, wo sich weniger Kunden in die Buchhandlung verirrten, standen die Chancen sogar mehr als gut, ihre Wunschtitel zu finden. Außerdem hatte Frieda sich längst gemerkt, um welche Uhrzeit die Bibliothekarinnen die Bücher, die am späten Abend des vergangenen Tages zurückkamen, auf ihre Wagen legten und neu einsortierten. Während Frieda auf die Grüne Brücke lief, rechnete sie im Kopf noch mal genau nach. Natürlich, am findigsten wäre es, die kompletten fünfzehn Mark direkt in der Bibliothek anzulegen, so hätte sie schon sechs Wochen im Voraus für insgesamt mindestens dreißig Bücher bezahlt, getauschte Titel nicht eingerechnet.

„Warum habe ich eigentlich ein Minus vor der Eins in Mathe?“, sprach sie leise zu sich selbst, als sich vor ihr das Panorama des Hundegatts eröffnete. Auf dem sonnenglänzenden Wasser sah Frieda die großen, rauchenden Dampfschiffe, die morschen Fischerkutter und die schnittigen Segelboote kreuzen. Dann fiel ihr Blick auf die am östlichen Flussufer in ihren Verkaufsständen hantierenden, in schwarzen Westen steckenden Fischersfrauen. Ihr Krakeelen hörte man bis hier rauf auf die Brücke: „Dörsche, freesche Dörsche – Karpe, Karpe, goode Karpe, wohlfeil – Strämling – Späckflundre – ei Butterzant – Hie freeschen Krabben.“

Eine Horde Kinder war damit beschäftigt, mit Besen oder Brettern aufdringliche Möwen von den aufgebahrten Dorschen, Flundern, Plötzen und besonders von den kostbaren geräucherten Aalen fernzuhalten. Frieda schmunzelte, weil dies so ein typisches Bild für ihr einmaliges Königsberg abgab. Doch ihre Mundwinkel fielen schon wieder herab, als sie im nächsten Moment auf ihre Armbanduhr schaute.

Mist, es ist elf Uhr dreißig! Frieda hatte ihrer Freundin Lotti, mit der sie sich um zwölf Uhr treffen wollte, versprochen, dass sie etwas eher am Blutgericht sein würde, um für sie einen Tisch auf der Außenterrasse zu reservieren. Jetzt aber zackig!

Frieda hatte ihrem Vater lieber nicht erzählt, dass sie vor ihrem Einkauf in die historische Weinstube im Schlosshof einkehren wollte. Obwohl er natürlich wusste, dass es Tradition für alle Königsberger Schüler war, sich nach ihrem Schulabschluss – welcher Art auch immer – in der sagenumwobenen Gaststätte ein Glas Wein abzuholen. Er nahm jedoch sicherlich an, dass seine Tochter an so etwas gar nicht interessiert wäre, und damit hätte er auch recht. Frieda setzte sich weder gerne unter betrunkene Menschen, noch konnte sie in der Regel selbst dem Alkohol etwas abgewinnen. Aber sie hatte es Lotti versprochen, die unbedingt ein letztes Mal mit ihr zusammenkommen wollte, bevor sie verreisen würde. Und das Blutgericht lag ja genau auf dem Weg, den Frieda zum Haus der Bücher nehmen musste. Also weiter!

Die Grüne Brücke führte zu den vierstöckigen, hanseatischen Häusern mit schmaler Front und straßenseitig gewölbten Giebeln der Kneiphofschen Insel, dem Zentrum der Stadt, das von den Einheimischen schlicht die Pracht genannt wurde. Um die geschäftige Stadtinsel flossen die Arme des Neuen und des Alten Pregel zusammen, bevor sie gemeinsam östlich ins Frische Haff mündeten. Frieda lief schnellen Schrittes durch die enge Kneiphofsche Langgasse, vorbei am vierhundert Jahre alten Rathaus mit seiner weitläufigen Freitreppe und am imposanten Dom, in dem die Gebeine des Philosophen Immanuel Kant ruhten, dessen Schriften sie fast vollständig gelesen hatte. Zwischen den hohen Türmen des Gotteshauses, von denen einer nie fertiggestellt wurde, konnte sie schon die Dächer der Albertina sehen, der alten, ehrwürdigen Universität, in der auch das wunderschöne Bernsteinmuseum untergebracht war.

Beim Anblick dieser bedeutenden Stätten spürte Frieda immer etwas, das sie selbst als Lokalpatriotismus bezeichnen würde und das sie weit mehr ergriff als der Stolz aufs Vaterland oder gar die Treue zum Führer. Königsberg war viel älter als all das. Frieda lebte innerhalb einer Festung, ihr zu Füßen lag die Seele der preußischen Armee. Wenn sich unsere Vorfahren auf eines verlassen konnten, dann auf den Festungswall von Königsberg, hatte ihre Mutter, die aus einer alten Soldatenfamilie stammte, gesagt. Das hatte sie betont, als Frieda sich anfänglich Sorgen über den Ausbruch des Krieges gemacht und sogar befürchtet hatte, ihr eigener Vater könnte zum Kampf eingezogen werden. Ihre Mutter hatte daraufhin versichert, dass Frieda sich auch heute nirgendwo so sicher fühlen könne wie innerhalb der Mauern ihrer Heimatstadt. Dieses Gefühl spürte sie nun selbst. Es war unvorstellbar, dass auf Königsberg einmal Bomben fallen könnten.

Mit erhobener Brust verließ Frieda die Pracht über die Krämerbrücke. Gedankenversunken wäre sie dahinter beinahe in die Altstädtische Langgasse eingebogen und ihren täglichen Schulweg gegangen. Ganz am Ende der Straße lag die Körte-Schule für Mädchen, die jetzt ihrer Vergangenheit angehörte. Also Augen geradeaus, Frieda!

Sie lief auf den Kaiser-Wilhelm-Platz zu, am Bismarck-Denkmal und an einem Geigenspieler vorbei, der sich vor einem der Fontänen-Brunnen aufgestellt hatte. Ein paar kleine Kinder und ein bildschöner brauner Hund hüpften und tanzten um den Musiker herum. Friedas Blick wanderte über die massiven, mit Moosen und Kletterpflanzen bewachsenen Wehrtürme und Burgmauern hoch bis zur Uhr auf dem Dach des spitzen, weit in den Himmel ragenden Schlossturmes, von dem eine mindestens zehn Meter lange Hakenkreuzfahne herabfiel. So schwer und scheinbar fest verwachsen mit den Steinen, dass kein Windstoß sie bewegte. Die Zeiger der Uhr standen auf fünf vor zwölf. Also früh genug.

Jetzt musste sie nur hoffen, dass Lotti noch nicht da war. Frieda bog um die Ostflanke der Schlossmauer und schaute dahinter schon direkt auf die neuen Außentische des Blutgerichts, die unter aufgespannten schwarz-gelben Sonnenschirmen standen und bis auf einen einzigen nicht besetzt waren. Das war doch klar, dass da keiner sitzen wollte, dachte Frieda, schließlich sollte den Reiz des Blutgerichts ausmachen, dass sich die Gäste unten in dem Kellergewölbe gruselten, während sie ihren Wein tranken. So wie es der Text auf dem bronzenen Schild versprach, das an der Schlossmauer vor der in jedem Reiseführer als beste Weinstube der Stadt beworbenen Gaststätte hing:

Schaurig Gewölbe, drohend einst den Sündern mit Pein und Marter – aber heute bluten nur Pullen hier für Böse und Gerechte.

 

Als Frieda den Text las, meinte sie, dass das doch nun wirklich keine schmackhafte Einladung sein könnte. Warum sollte überhaupt jemand Blut und Folter mit Weingenuss assoziieren wollen? Aber vor allem bei den Besuchern Königsbergs kam das offensichtlich gut an. Auch heute hörte Frieda aus dem Gewölbe lautes Grölen und Lachen aus Männerkehlen und war nur froh, dass sie da unten nicht reingehen musste, und auch, dass sie sich erst ein paar Tage nach der Abschlussfeier hier verabredet hatten.

Vom einzigen besetzten der vier Tische prosteten ihr drei Fischersleute zu. Mit wettergegerbten Gesichtern und rauen Händen hoben sie ihre Gläser, aus denen Bierdunst aufstieg, und brabbelten irgendetwas von „schicket Marjellchen“. Ihre groben, abgetragenen Wollpullover und schmutzigen Hosen, die von den vielen Tagen auf See erzählten, verstärkten den Eindruck ihrer harten Lebensweise. Frieda lächelte verlegen und suchte sich schnell den äußersten Tisch aus, wo sie sich mit dem Rücken zu den Männern niederlassen konnte. Sie hatte keine Lust auf einen derben Spruch und schon gar nicht auf ein unangenehmes, aufgezwungenes Gespräch mit mittelalterlichen Fischersfritzen.

„Willkommen in der ostpreußischen Pein- und Weinkammer. Darf ich Ihnen schon etwas bringen?“ Als Frieda die aufgesetzt freundlich klingende Stimme hinter sich hörte, drehte sie sich um. Der Kellner, ein hochgewachsener Mann mit gebückter Haltung, trug eine abgenutzte blaue Weste über einem weißen, leicht vergilbten Hemd. Eine schmale schwarze Krawatte hing lose um seinen Hals. Er hielt ein Tablett in der Hand, auf dem sich einige leere Gläser und eine Weinflasche befanden.

„Nein danke“, antwortete Frieda. „Ich warte noch auf …“

„Nicht nötig“, drang es von der anderen Seite an ihr Ohr. „Bin schon da, und, der Herr, wir wissen schon lange, was wir wollen. Seit dreizehn Schuljahren warten wir darauf. Bringen Sie uns zuerst zwei Gläser Türkenblut und danach zwei bis oben hin volle Gläser ihres über alle Grenzen hinaus bekannten und geschätzten Hausweins.“

„Selbstverständlich, die Damen. Und ganz herzlichen Glückwunsch Ihnen beiden zum Abitur.“ Der Kellner zog einen Schreibblock aus seiner umgebundenen Lederschürze, notierte etwas darauf und lief zurück zum Eingang des Gewölbes.

„Wie unglaublich frech du bist, Lotti“, sagte Frieda, während sie aufstand und ihre Schulfreundin lächelnd in den Arm nahm. Lotti mit ihren langen braunen Locken, die weich auf ihre Schultern fielen, trug ein schlichtes, aber elegantes Sommerkleid in Hellgrün, das ihre schlanke Figur betonte. Ihre großen blauen Augen funkelten vor Freude, und ihre Wangen waren leicht gerötet vor Aufregung.

Sie herzten sich ein paar Sekunden, dann setzten sich beide Mädchen an den Tisch, steckten die Köpfe eng zusammen und ließen die letzten Schultage Revue passieren. Als ihr Sekt mit dem Schuss Rotwein kam, sprudelte die blubbernde Flüssigkeit in den schmalen Gläsern und schimmerte im Licht der Sonne. Sie stießen auf ihren glorreichen Abschluss an, und Frieda konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn sie wusste, dass Lotti mit ihren Noten eigentlich nicht zufrieden sein konnte. Aber ihrer Freundin waren die vielen Dreier augenscheinlich egal. Sie strahlte eine ungezwungene Fröhlichkeit aus, mit der sie jeden in ihrer Nähe anzustecken vermochte.

Als der Kellner den Hauswein in einem stilechten braunen 1,5-Liter-Krug brachte, zusammen mit einem übervollen Teller voll Schmalzbroten, hatten sich die Klassenkameradinnen bereits darüber ausgetauscht, was jede von den anderen Mädels wusste: wer nach dem Abitur welchen Weg einschlagen würde, wer aktuell einen Freund hatte und wer sogar schon von einer Hochzeit sprach.

„Ei, tut das gut“, sagte Lotti und kicherte, nachdem sie einen großen Schluck aus ihrem Tonbecher mit aufgemaltem Königsberger Wappen genommen hatte. Ihre Augen leuchteten vor Genuss. „Eine unglaublich süße Rebe, sorgfältig gelesen von unseren fleißigen französischen Kriegsgefangenen.“

Frieda musste lachen. Sie griff nach einer Scheibe des frisch gebackenen Brotes, das mit einer großzügigen Schicht Schmalz bestrichen war, und biss herzhaft hinein. „Ja, das hat Charme“, antwortete sie, während sie den warmen, würzigen Geschmack genoss. Dann trank sie selbst. „Mmh, wirklich erfrischend.“

Sie stießen nacheinander darauf an, keine Hausaufgaben mehr erledigen zu müssen, endlich für immer die albernen Schulkleider in den Schrank räumen zu können, nie wieder BDM-Dienst machen zu brauchen, und vor allem darauf, frei und erwachsen zu sein. Sie fanden so viele Gründe zum Zuprosten, dass der Krug nach einer Stunde fast leer war und die Brote aufgrund der anregenden Wirkung des Getränkes aufgegessen.

„Und jetzt trinken wir noch auf den Führer“, sagte Lotti und goss den Rest in ihre Becher. „Auf dass er bald England niederringe und wir wieder frei in der Welt herumreisen können.“

„Trinken wir doch lieber gleich auf den Frieden“, sagte Frieda, strich sich mit der linken Hand verlegen eine Locke hinter ihr Ohr und stieß dann mit Bedacht ihren Becher gegen den ihrer Freundin.

„Ei ja, warum eigentlich nicht gleich auf den Weltfrieden?“, antwortete Lotti und lachte in ihr Getränk. Nach einem weiteren großen Schluck waren die Freundinnen für ein paar Sekunden still, in denen sie überlegten, über was sie sich mit der jeweils anderen noch dringend austauschen wollten.

„Du, Frieda, ich freu mich ja so auf Cranz“, sagte Lotti schließlich. „Das Meer ist an der Küste jetzt so hellblau und glänzend und erscheint unendlich weit, wenn man vom Steg rausschaut.“

„Kann ich mir vorstellen. Und ihr fahrt morgen schon los?“

„Ei ja, deswegen kann ich auch nicht so lange heute, ich muss ja alles noch packen. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht. Wolltest du noch eine zweite Karaffe bestellen?“

„Donnerlittchen, du spinnst wohl“, lachte Frieda. „Mir dreht sich ja jetzt schon alles. Ich will gleich unbedingt zum Haus der Bücher und meinen …“

„Gutschein einlösen“, ergänzte Lotti. „Jaja. Du hast mir das doch am Freitag schon alles erzählt. Du und deine Bücher. Das ist echt eine Liebe für die Ewigkeit. Ich verstehe das nicht. Was findest du darin nur?“

Sie schüttelte den Kopf und hielt dabei die Krempe ihres weißen Strohhutes fest. „Ich werde nicht ein einziges Buch mitnehmen in den Urlaub. Wenn ich in meinem gemütlichen Strandkorb am Badestrand sitze, höre ich nur den Möwen zu und dem lieblichen Orchester aus dem Musikpavillon. Ich werde den ganzen Tag die Promenade beobachten und schauen, wer sich diese Saison sehen lässt. Mensch, bis zu fünfzehntausend Gäste erwartet das kleine Cranz. Ein Wahnsinn. Und das mitten im Krieg.“ Sie überlegte: „Vielleicht ist ja dieser unglaublich attraktive Litauer wieder da, der Schachspieler, der Deutschbalte, der im gleichen Hotel untergekommen ist im vergangenen Jahr. Du weißt schon. Damals an der Bar, als er mir den Hof gemacht hat vor allen. Dieses Mal werde ich ihm sicher keinen Tanz abschlagen.“

„Genau das“, sagte Frieda, trank ihren letzten Schluck und lächelte.

„Wie bitte?“ Lotti schaute sie fragend an. „Ich verstehe nicht, was du meinst.“

„Na, genau das“, wiederholte sie. „Wegen deiner Frage eben. Genau das finde ich in meinen Büchern. Die schönen Dinge, die du gerade beschreibst.“

„Wie? Cranz?“

„Zum Beispiel.“

„Welches Buch spielt denn an der Samlandküste?“ Lotti zog die Stirn in Falten und nahm dann Friedas Hand. „Ach, entschuldige, Liebchen. Ich habe nicht daran gedacht, dass ihr kein Geld habt und nie in den Urlaub fahren könnt. Wie unsensibel von mir. Das muss wirklich schrecklich für dich sein. Und jetzt schwärme ich auch noch so.“

„Ist es nicht“, antwortete Frieda. „In meinen Büchern kann ich sogar noch viel weiter reisen. Was ist schon Cranz, wenn ich an einem Tag im luxuriösesten aller Speisewagen durch die schneebedeckten Alpen fahren kann, am nächsten Tag mit einem Glas Champagner auf dem Balkon meiner römischen Villa an der Adria sitze und den Wellen zusehe oder wieder einen Lesetag später von meiner Erste-Klasse-Kabine auf einem Hochseedampfer bei Sonnenaufgang die Freiheitsstatue vor New York bestaune?“

„Ei, du spinnst ja“, raunte Lotti und lachte. „Amerika. Roosevelt will doch gar keine Deutschen mehr haben in seinem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“

„Dir fehlt einfach die Fantasie.“

„Nein, du hast zu viel davon.“

„Vielleicht. Aber in meinen Büchern habe ich die absolute Freiheit, tun und lassen zu können, was immer ich will. Ich kann nicht nur sein, wo ich sein möchte, sondern auch, wer ich sein möchte. Egal, ob Mann oder Frau, Kind oder Greis. Ich bin mal Prinzessin Cleopatra in der heißen Sonne Ägyptens, dann der Walfänger Kapitän Ahab auf stürmischer See oder Alice im Wunderland und spreche mit Hasen. Ich kann auch der Litauer sein oder die Litauerin oder ein Engländer oder ein Jude.“

„Tss“, zischte Lotti. „Jude? Also bitte, der Wein geht mit dir durch. Wer will denn heutzutage ein Jude sein?“ Sie hob den Arm und winkte nach dem Kellner. „Zahlen bitte!“

„Bist du jetzt neidisch?“, fragte Frieda mit ernster Miene und brach kurz darauf in Gelächter aus, weil Lotti sie entgeistert angeschaut und entgegnet hatte: „Nein, du etwa?“ „Wirklich nicht“, antwortete Frieda. „Also nicht auf Cranz oder deine Reisen. Aber dass du studieren kannst, wenn du zurück bist, das macht mich schon neidisch, das gebe ich zu.“

„Erinnere mich jetzt bloß nicht daran“, sagte Lotti. „Ich hoffe eher darauf, dass mir der Litauer vorher einen Heiratsantrag macht und mich mitnimmt auf sein Schloss nach Reval.“

„Wilna.“

„Hä? Wo willst du hin?“ Lotti verzog eine Augenbraue.

„Du meinst Wilna“, sagte Frieda. „Das ist die Hauptstadt von Litauen. Reval ist in Estland. Davon abgesehen ist das keine gute Idee, weil beide Länder seit letztem Jahr von der Sowjetunion besetzt sind.“

„Ei, wie auch immer“, antwortete Lotti. „Hauptsache, er liebt mich und beschenkt mich reich, dann ist mir egal, wo.“ Sie zog ihre Geldbörse aus der Handtasche, weil der Kellner mit der Rechnung zum Tisch gekommen war. „Ich lade dich ein.“

Frieda schüttelte den Kopf. „Oh, danke“, sagte sie. „Aber das musst du nicht. Also, ich wollte nicht darauf anspielen, dass … So war es nicht gemeint.“

Lotti lächelte und gab dem Kellner den Schein. „Stimmt so“, sagte sie und winkte ab, als der Ober sich bedankte. Dann nahm sie erneut Friedas Hand und streichelte sie sanft. „Denk doch nicht immer so viel, Menschenskind.“

Frieda seufzte und murmelte: „Cogito, ergo sum.“

Lotti lachte leise. „Was auch immer. Versprich mir, dass du auf dich und unser Königsberg aufpasst, solange ich weg bin, ja?“

„Natürlich. Versprochen.“

Lotti strahlte. „Wenn ich wiederkomme, haben wir noch ein paar Tage Zeit, und wir kommen noch mal her, ja? Und gehen ins Freibad am Oberteich, einverstanden?“

Friedas Augen leuchteten bei der Vorstellung. „O ja“, antwortete sie begeistert. „Das klingt wunderbar.“

Die beiden Freundinnen standen auf und nahmen sich noch lange in den Arm. Sie kannten sich seit dem ersten Tag in der Volksschule und hatten jeden einzelnen Schultag, sofern niemand krank gewesen war, nebeneinandergesessen. Nichts hatte sie bisher auseinanderbringen können – auch nicht der völlig unterschiedliche Lebensstandard ihrer Familien. Lotti war die Tochter des wohlhabenden Eisfabrikanten August Froese, der alle Cafés und Restaurants in der Stadt mit seinen Kugeln, Eisschnitten und selbst gebackenen Waffeln belieferte. Außerdem war er Ehrenmitglied der Königsberger SA und mit allen Politbonzen befreundet. Es war also kein Wunder, dass seine Geschäfte nach der Machtergreifung immer weiter expandieren konnten und er heute nahezu konkurrenzlos war. Zum Glück machte sich Lotti nicht viel aus Politik, doch ab und an ließ sie Ansichten durchblicken, die sie von ihrem Vater übernommen hatte. In der Regel ignorierte Frieda blöde Bemerkungen aus der NS-Kiste, der sie selbst gar nichts abgewinnen konnte. Ihre Eltern hatte sie immer unpolitisch erlebt. Das gefiel ihr.

Nachdem sich Lotti endgültig verabschiedet hatte und in Richtung Roßgärtner Markt davongelaufen war, schlenderte Frieda zufrieden den Weg zum Paradeplatz entlang, wo sich das Haus der Bücher neben den Gebäuden der Universität befand. Dabei merkte sie, dass sie leicht wankte, und nutzte die Gelegenheit, sich noch einmal kurz auf eine Bank am Ufer des Schlossteiches zu setzen, den sie auf ihrem Weg passierte.

Frieda genoss den leichten Schwindel, der in ihrem Kopf aufzog, das wohlig warme Kribbeln in ihrer Brust und schaute träge den Schwänen und Ruderbooten zu, die sich auf den flachen grünen Wellen gegenseitig spielerisch, aber gekonnt auswichen. Auf der Promenade erspähte sie ein paar junge Männer in Wehrmachtsuniform. Einige trugen Verbände um Kopf und Arme, einer humpelte auf Krücken, ein weiterer wurde von einer Krankenschwester in einem Rollstuhl geschoben.

Donnerlittchen, wenn wir uns da bloß mal nichts vormachen in unserer schönen, heilen Königsberger Welt. Nicht weit von uns tobt anscheinend die Hölle.

Blick ins Buch
Das Echo vergessener BücherDas Echo vergessener Bücher

Roman

Von der Wahrheit, die in Büchern steckt, und der großen Liebe 

Buchhändlerin Ashlyn ist immer auf der Suche nach besonderen Schätzen. Eines Tages findet sie zwei wunderschön gebundene Bücher, die noch unveröffentlicht sind. Die Verfasser Hemi und Belle erzählen von ihrer tragischen Liebe und schildern offenbar zwei Seiten der gleichen Geschichte. Doch wer waren sie, und wo sind sie jetzt? Ashlyn ist entschlossen, das Geheimnis um die beiden einstigen Liebenden zu lüften. Auf der Fährte von gebrochenen Versprechungen und unverzeihlichen Fehltritten kommt Ashlyn der Wahrheit immer näher. Dabei entfaltet sich auch ihr eigenes Leben auf ganz neue Weise.

Einzigartig berührend!

Für Fans von Lucinda Riley.

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Roman

Eine Love Story mit ganz besonderem Twist ... Willkommen in der Welt von „Badger Books“!

Lektor Bash kämpft im Indie-Verlag Badger Books zwischen Manuskriptstapeln und Verlagsdruck für seine Herzensprojekte. Als er die verschlossene Agentin Camille kennenlernt, steht Bash plötzlich vor einem unerwarteten Gefühlschaos, denn trotz der professionellen Distanz zieht Camille ihn magisch an. Während sie gemeinsam an einem aufregenden Buchprojekt arbeiten, entwickeln sich zarte Gefühle zwischen den beiden. Doch eine unerwartete Enthüllung stellt Bash vor eine schwierige Entscheidung. Können die beiden den Mut aufbringen, ihre Differenzen zu überwinden und die Liebe zuzulassen?

Band 1 der Badger-Books-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Kathinka Engel – die drei Geschichten aus dem Universum des Indie-Verlags versprechen jede Menge Funkensprühen!

Hotness-Skala: 3 von 5 heißen Chilis

1 Jethro


In der Dunkelheit werde ich unsichtbar. Ich verschmelze mit der Schwärze der Nacht, verschmelze mit der Welt. Niemand sieht mich. Niemand hört mich. Ich bewege mich lautlos, bewege mich schnell. Selbst wenn sich jemand nach mir umdrehen sollte, bin ich im nächsten Augenblick verschwunden. Denn ich bin ein Phantom. Ich bin unsichtbar.

Meine letzte Aktion liegt zwei Monate zurück, und es juckt mich in den Fingern. Ich spüre es schon seit einiger Zeit. Ich merke es immer daran, dass ich unruhiger werde. Und gleichzeitig stiller. Und dann entschlossener.

Wenn ich länger nicht unterwegs war, vermisse ich nicht so sehr das Unsichtbarsein. Nicht so sehr den Nervenkitzel. Ich vermisse das Gehörtwerden. Das Etwas-zum-Ausdruck-Bringen. Das Jemand-Sein. Kompromisslos Ich-Sein. Denn ich habe etwas zu sagen. Ich will gehört werden. Will, dass meine Botschaft gesehen wird.

Ich husche zwischen geparkten Autos über die Straße. Die Laterne oben an der Kreuzung flackert. Es ist beinahe gespenstisch still. Kein Motorenlärm ist zu hören, kein Hundegebell. Nur mein leiser Atem, während ich mich im Schatten der Häuserwand fortbewege.

Mein Ziel ist ein altes Warehouse an der Waterfront, der ideale Ort für mein neuestes Gedicht, um den ich schon eine Weile herumschleiche. Lange genug habe ich gezögert. Aber jetzt, im Dunkel der Nacht, bin ich mir sicher.

Ich bin so bei mir, dass ich das Auto, das auf einmal neben mir hält, zu spät bemerke. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, es ist vorbei. Denke ich, es ist die Polizei. Wie automatisch ducke ich mich, schnell atmend und dennoch mucksmäuschenstill. Aus meiner Hosentasche ziehe ich meine Sturmmaske und setze sie mir mit hektischen, aber geübten Bewegungen auf, ziehe sie zurecht. In meiner Deckung hinter – wie ich jetzt feststelle – einer Mülltonne blicke ich mich hektisch nach meinen Fluchtmöglichkeiten um. Nur nicht in eine Sackgasse rennen.

Bei einem meiner ersten Graffitis wäre ich beinahe geschnappt worden, weil ich auf einmal vor einem abgeschlossenen Maschendrahttor stand. Diesen Fehler macht man kein zweites Mal. Seither kenne ich die Routen, die ich zurücklege, auswendig – auf dem Hinweg eine andere als auf dem Rückweg, nur um sicherzugehen – und weiß in jedem Fall, wohin ich mich wenden muss. Ich bin schnell. Wenn sie auf der Suche nach mir sind, kann ich aus der Deckung das Überraschungsmoment für mich nutzen, die Straße hinunterrennen und mich dann nach links orientieren. Sobald ich zwischen den Hafengebäuden bin, gibt es jede Menge sichere Verstecke.

Als ich Autotüren höre, bereite ich mich auf meine Flucht nach vorne vor. Ich atme tief ein und aus, dann noch mal ein, halte die Luft an, um zu hören, was passiert. Zwei Männer unterhalten sich. Lachen. Das klingt nicht, als wären sie auf der Suche. Ihre Stimmen entfernen sich. Ich atme langsam aus. Noch mal gut gegangen.

Trotzdem warte ich einen Augenblick, meinen Rucksack fest an die Brust gedrückt. Ich kann nicht vorsichtig genug sein. Denn meine Identität muss geheim bleiben, um jeden Preis. Schon wegen der sehr realen juristischen Konsequenzen, die mein Schattendasein mit sich bringt. Während die einen meine Kunst bejubeln und zu Hunderttausenden auf Social Media teilen, werfen mir die anderen Vandalismus vor. Aber auch die hören mich. Lesen mich. Und darum geht es.

Ich biege in eine kleine Seitenstraße ein. Der Asphalt ist rissig, brüchig. Hier und da sieht man im fahlen Licht der Straßenlaternen, dass er ausgebessert wurde. Ich husche über eine Straße, über eine weitere. Kein Blick zurück. Wer sich umsieht, wird langsamer und macht sich verdächtiger. Wer eine Strumpfmaske trägt, auch, weswegen ich sie mir normalerweise erst kurz vor der Aktion überziehe. Aber die Holyoke Wharf liegt nun verlassen vor mir. Die Luft ist schwanger vom Geruch nach frühem Herbst und Meer, und in einiger Entfernung sehe ich ein Tier. Es könnte ein Fuchs sein. Oder ein Hund. Auf der Suche nach Fischabfällen. Ansonsten bin ich mutterseelenallein. Das einzige Geräusch neben den Autos, die zu dieser nachtschlafenden Zeit unregelmäßig in der Ferne zu hören sind, ist das Knarzen der sich wiegenden Fischerboote am Rand des Kais.

Und dann stehe ich vor dem Gebäude. Die halb blinden Fenster im Erdgeschoss liegen in völliger Dunkelheit. Neben einer unscheinbaren Eingangstür hängen halb abgerissene Plakate von Konzerten oder Festivals, deren Datum weit in der Vergangenheit liegt, doch ich sehe sie mir nicht näher an. Ihre losen Ecken flattern bei jedem Windhauch.

Stattdessen trete ich einen Schritt zurück, blicke an die Wand. Dann hole ich die Stencils aus dem Rucksack. Einen nach dem anderen befestige ich an der Wand. Ich muss schnell sein, aber gleichzeitig nicht leichtsinnig. Immer wieder halte ich inne, lausche. Dann arbeite ich weiter, bis die festen Papierschablonen ein Ganzes ergeben.

Ich ziehe meine Spraydose aus dem Rucksack. Sprühe eine dünne Schicht Farbe gleichmäßig über die ausgestanzten Buchstaben. Es würde schneller gehen, wenn ich dauersprühen würde, statt das Cap immer nur kurz zu drücken, aber die Gefahr, dass Farbe hinter die Schablone läuft, ist zu groß. So sprühe ich erst eine Schicht, dann eine zweite, schließlich eine dritte.

Es dauert alles in allem nur ein paar Minuten, dennoch kommt es mir vor wie eine Ewigkeit. Endlich entferne ich die Schablonenteile behutsam und werfe noch einen Blick auf mein fertiges Werk. Weiße Buchstaben auf roten Ziegelsteinen.

Ich zücke mein Handy, mache ein schnelles Foto. Dann drehe ich mich um und renne. Lautlos in die Dunkelheit. In die Unsichtbarkeit.



2 Bash


Der Pitch des Projekts klang vielversprechend, aber je länger ich lese, desto prätentiöser finde ich die Sprache. Irgendwie gewollt. Unauthentisch. Als hätte der Autor versucht, so poetisch und intellektuell wie irgend möglich zu klingen, dabei aber vergessen, wer er selbst ist. Niemand will ein Buch lesen, das aufgesetzt wirkt.

Das ist bereits das vierte Manuskript, in das ich heute reinlese. Es ist Sonntagabend – oder eher Montagnacht, wie mir der Blick auf meine Handyuhr verrät. Ein Uhr fünfundzwanzig. Dabei hatte ich Louise versprochen, mir einen Tag freizunehmen. Dafür ist es nun zu spät, aber so ist das eben, wenn man zusammen mit seinen zwei besten Freunden einen kleinen Indie-Verlag gründet. Man arbeitet. Immer.

Doch weil Louise recht hat und mein Kopf vor verschwurbelten Bandwurmsätzen und schiefen Metaphern ohnehin kurz davor ist, abzuschalten, lege ich die Leseprobe zur Seite und will gerade meine Nachttischlampe ausmachen, als mein Handy vibriert.

Nicht viele Leute rufen mich mitten in der Nacht an. Eigentlich nur zwei Personen. Entweder es ist meine kleine Schwester Evie, die sich Gott weiß wo in Europa herumtreibt, sich mit Gott weiß was für Jobs über Wasser hält und mich betrunken von ihrem Heimweg aus Gott weiß welchem Club anruft, um mir zu sagen, wie lieb sie mich hat und dass ich mich mal entspannen soll. Oder es ist wie in diesem Fall meine Highschool-Ex-Freundin Laura.

„Hi Laura“, sage ich und unterdrücke ein Gähnen.

„Bash?“ An der Art und Weise, wie sie meinen Namen sagt, merke ich bereits, dass sie geweint hat. Shit.

„Hey, was ist los?“ Ich schalte den Lautsprecher ein und lege das Handy neben mein Kopfkissen, sodass ich schon mal die Augen schließen kann, während wir telefonieren.

„Habe ich dich geweckt?“

„Nein, alles gut. Ich habe noch gearbeitet. Wo bist du?“

„Im Auto.“

„Warum?“

„Ich musste raus.“ Ihre Stimme bricht.

„Habt ihr euch wieder gestritten?“

Einen Moment lang sagt sie nichts. Ich sehe sie vor mir, wie sie in ihrem kleinen Peugeot durch die nächtlichen Straßen unseres Heimatorts fährt, sich auf die Unterlippe beißt, gegen neuerliche Tränen ankämpft. Dann sagt sie: „Ja.“

„Willst du drüber reden?“ Louise würde mich schimpfen. Nicht nur, weil ich längst schlafen sollte, wenn ich morgen pünktlich und fit im Büro sein will, sondern auch, weil sie findet, ich solle den Kontakt zu Laura abbrechen. Oder wenigstens auf ein Minimum reduzieren. Sie haben sich zwar nie kennengelernt, aber Louise sagt, ich müsse mich mehr um mich kümmern als um eine Person, die mich mit siebzehn betrogen hat. Ich habe Laura allerdings längst verziehen. Wir waren jung. Kinder. Man macht Fehler. Nur, dass sie immer noch mit diesem Fehler zusammen ist – inzwischen zusammenwohnt –, macht die Sache ein bisschen schwieriger. Aber ich versuche eben, ein guter Freund zu sein. Versuche, das Richtige zu tun.

„Ich verstehe einfach nicht, wie man jemanden lieben und gleichzeitig so ein Arsch sein kann.“

„Was ist denn passiert?“

„Jayden hat Sachen gesagt, Bash. Richtig üble Sachen. Und ich weiß, dass er es nicht so meint, dass er einfach auch echt viel um die Ohren hat und kein Ventil und …“

„Du musst ihn nicht verteidigen. Niemand hat das Recht, ein Arsch zu dir zu sein, Laure.“ Der vertraute Spitzname kommt mir wie automatisch über die Lippen. Louise würde schimpfen. Vielleicht zu Recht. Louise hat meistens recht.

„Ich weiß, ich meine ja nur … Er ist manchmal nicht er selbst.“

Oder er ist immer er selbst.

„Mit dir habe ich mich nie so beschissen gefühlt, Bash. Du hättest nie gesagt, dass du dich zwingen musst, mit mir zu schlafen, weil ich es nicht bringe. Du hättest mich nie …“ Sie stockt. „Du hättest mich nie betrogen.“

Du mich schon. „Er hat dich betrogen?“

„Ich weiß es nicht. Er hat es gesagt, aber vielleicht wollte er mir auch nur wehtun.“

„Warum wollte er dir wehtun?“

„Weil ich mit meiner Mom shoppen war und mir ein Kleid gekauft habe, von dem ich dachte, es würde ihm gefallen. Aber ich habe vergessen, das Preisschild abzumachen, und er hat gesehen, wie viel ich ausgegeben habe. Und ich weiß ja selbst, dass wir nicht einfach so fünfzig Dollar übrig haben. Aber Mom hat die Hälfte bezahlt, und ich habe mich endlich mal wieder ein bisschen wie ich gefühlt.“

„Hast du ihm das gesagt?“

„Ja. Aber da hatte er schon entschieden, dass wir uns streiten würden.“

„Laura“, sage ich behutsam und achte darauf, ihren richtigen Namen zu benutzen, „du weißt, dass du das nicht machen musst, oder? Bei ihm bleiben?“

„Ich weiß“, flüstert sie erstickt. „Aber ich liebe ihn. Und es ist nicht immer so.“

„Aber es ist oft so.“

„Sag das nicht, Bash, bitte. Mach es mir nicht schwerer, als es ist.“

„Ich versuche, es dir weniger schwer zu machen.“

„Aber das tust du nicht. Du tust so, als sei es leicht. Zehn Jahre wirft man nicht einfach weg.“

Nee, man packt noch mal zehn Scheißjahre obendrauf. „Ich weiß, es ist hart, Laura. Und ich weiß, du liebst ihn. Aber das ist das vierte Mal diesen Monat, dass du mich weinend anrufst. Und das zweite Mal diese Woche. Und ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen um dich.“

„Ach was.“ Sie schnieft. „Manchmal muss es einfach raus, weißt du? Aber es geht mir schon viel besser.“ Ich höre, dass sie sich an einem Lächeln versucht. „Wenn ich mit dir rede, geht’s mir immer besser. Danke.“

„Ist doch selbstverständlich“, sage ich. „Ich bin da, wenn du mich brauchst.“ Ich bin immer da. Weil man das so macht unter Freunden. Weil es das Richtige ist.

„Danke.“

„Kannst du heute Nacht woanders schlafen? Bei deiner Mom?“

„Ich werde einfach im Auto schlafen.“

„Laura!“ Auf einmal bin ich wieder hellwach. „Du kannst doch nicht im Auto schlafen!“

„Es ist sogar ganz bequem.“

„Verriegelst du wenigstens die Türen?“ Die Kleinstadt in Illinois, aus der wir kommen, ist zwar nicht unbedingt gefährlich, aber man weiß ja nie.

„Natürlich.“

„Ich finde das ziemlich kacke, Laure.“

„So ist vielleicht das Leben. Ziemlich kacke.“

„Aber so muss es nicht sein.“

„Für manche schon.“ Sie lacht.

Genau das Lachen, in das ich mich mit fünfzehn verliebt habe. Genau das Lachen, das mir zwei Jahre später das Herz gebrochen hat, als es nicht mehr mir galt, sondern Jayden. Unter der Tribüne des Highschool-Footballfelds. Was für ein Klischee. Es ist leise und ein bisschen verschämt. Es klingt, wie Zuckerguss schmeckt. Zu süß. Und ich hasse Jayden dafür, dass er ihr das Leben so schwer macht.

„Gute Nacht, Bash. Danke, dass ich dir mein Herz ausschütten durfte.“

„Gute Nacht. Und jederzeit.“

Wir legen auf, und ich spüre mein Herz überdeutlich in meiner Brust. Es rast. Vor Wut. Vor Wut auf Jayden. Und vor Wut auf Laura, weil sie damals etwas Gutes weggeworfen hat für etwas, das ihr Leben elend macht. Aber das ist eine Entscheidung, die sie getroffen hat. Sie hat mit mir nichts zu tun. Nur insofern, als dass ich eben nicht der Bad Boy bin, von dem man hofft, er würde sich für die Liebe ändern.

Ich lösche nun endgültig das Licht, rolle mich auf die Seite, schließe die Augen. Drehe mich um. Schüttle mein Kissen, weil irgendwas nicht stimmt. Strample die Decke von den Beinen, denn mir ist auf einmal viel zu heiß. Scheiße, warum konnte der Anruf nicht von Evie sein? Ihre etwas zu laute Stimme, weil sie gerade aus einem lauten Berliner Technoclub kommt, die mir kichernd irgendwas aus ihrem Leben erzählt. Aber ich habe seit zwei Monaten nichts mehr von ihr gehört. Wo sie wohl ist?

Kurzerhand entsperre ich mein Handy. Das helle Licht des Displays blendet mich im ersten Moment. Ich suche unsere Unterhaltung, die viel zu weit nach unten gerutscht ist. Die letzten vier Nachrichten stammen allesamt von mir.

 

Lange nichts gehört. Wie geht’s dir? Ich denke an dich!

 

Alles gut bei dir? Louise hat heute Muffins mitgebracht, da musste ich an dich denken. Deine sind besser.

 

Hey Sis, ich bin mit Coulter im Great Beers (great name, oder?) und hab schon das ein oder andere great beer getrunken (das ist eine Lüge, sie haben hier nur Cors Light und Bud) und denke an dich. Lass mal was von dir hören.

 

Hi Evie. Hab mit Mom telefoniert. Sie macht sich langsam Sorgen. Ich hab ihr gesagt, dass sicher alles gut ist, aber es wäre gut, du würdest mal ein Lebenszeichen von dir geben.

 

 

Sie hat alle Nachrichten bekommen und gelesen, aber nicht reagiert. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert, aber das bedeutet nicht, dass es leichter wird.

Gute Nacht, Evie, schreibe ich jetzt und schicke die Nachricht ab. Sie wird zugestellt, im nächsten Moment sehe ich, dass Evie online ist. Ich warte ab, ob sie etwas antwortet. Starre auf das kleine Bild von ihr. Das Wort online daneben. Ich stelle mir vor, wie sie sieht, dass auch ich online bin. Wir beide zur selben Zeit, wie wir diese digitale Version von uns anschauen. Aber sie antwortet nicht. Und dann ist sie wieder weg.

Ich seufze. Wenn wir wenigstens wüssten, dass es ihr gut geht. Andererseits, Evie geht es immer gut. „Keine Nachricht ist eine gute Nachricht“, sagt unser Dad in solchen Momenten immer, und das stimmt vermutlich. Denn wenn etwas wäre, würde man uns informieren. Denke ich. Und sie ist ab und zu online, also kann es so schlimm nicht sein. Oder?

Die Gedanken verselbstständigen sich. Ich weiß, dass ich nicht werde schlafen können, wenn ich in diese Spirale aus Sorge und – ja – Wut gerate. Also mache ich das, was ich immer tue, wenn ich unruhig bin. Ich gebe den Namen Jethro in die Suchleiste meines Handys ein und scrolle mich durch die neuesten Artikel und Forenbeiträge. Es gibt einige Theorien, wer sich hinter dem berühmten Street Poet verbirgt, der seit ein paar Jahren vor allem in Portland (Maine, nicht Oregon) und Umgebung, selten auch mal an anderen Orten in den USA seine Gedichte auf Hauswände und Straßen sprayt. Er sei der Sprössling einer Politikerfamilie, der vor Jahren für einen Eklat sorgte, als er dabei erwischt wurde, wie er stümperhaft Wände beschmierte. Er sei ein bedeutender Name aus der Sprayerszene, genauer gesagt BIGboy77, der auch aus Maine stammt und ebenfalls mit Schablonen arbeitet. Einer schrieb neulich, es handle sich bei Jethro um einen Literaturprofessor der University of Southern Maine, der eine Vorlesungsreihe zum Thema Lyrik im 21. Jahrhundert gehalten und mehrere Stunden lang vermeintlich tiefe Einsichten in Jethros Werke gewährt hat.

Ich klicke auf den neuesten Beitrag im Forum. Er stammt von WhoIsJethro123 und ist mit „Bestsellerautor Jethro???“ überschrieben. Obwohl ich eigentlich schlafen sollte, klicke ich auf den Beitrag, denn ich liege Louise und Coulter schon seit Ewigkeiten damit in den Ohren, dass man ein Buch mit Jethro machen sollte. Und mit „man“ meine ich „wir“. Leider lief bislang jede Kontaktaufnahme meinerseits ins Leere, da es abgesehen von einem Instagram-Account keine Möglichkeit gibt, ihn anzuschreiben.

Doch als ich beginne zu lesen, merke ich schnell, dass es nur eine weitere abstruse Theorie ist. WhoIsJethro123 ist der Meinung, es handle sich bei Jethro um das Alter Ego des neuen amerikanischen Wunderkindes der Literatur, Cy Bellamy, der mit seinem Debütroman The Gentle Art of Losing your Mind vor anderthalb Jahren die nationalen und internationalen Bestsellerlisten stürmte. Was natürlich nichts damit zu tun hat, dass sein Vater die Autorenlegende Holm Bellamy ist. Und, na gut, das Buch ist auch so ungefähr das Beste, was in den letzten Jahren geschrieben wurde. Zufällig ist er außerdem Louise’ bester Freund seit Kindertagen, weswegen ich die Bitterkeit sein lassen sollte. Sie steht mir ohnehin nicht.

Jethros Graffiti „Dieser Tag wie eine Ewigkeit“ sei eine Anspielung auf Allen Ginsbergs Gedicht Howl, das außerdem die Grundlage für den ikonischen letzten Satz „Ich bin bei dir Rockland“ aus Bellamys Debüt lieferte. Außerdem seien die Kapitelanfänge ein Anagramm des Namens Jethro, wenn man die Kapitel 3–10, 13, 15–18 und 20–25 ausklammert. Hier hört die Beweisführung allerdings auf, sodass ich kopfschüttelnd den Thread „Neues von J“ öffne. Er ist nach oben gerutscht, weil der letzte Beitrag nur ein paar Minuten alt ist. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich lese, was JeThRoOoOo geschrieben hat: Es gibt ein neues Gedicht.

Sofort schließe ich die Seite und öffne Instagram. Und tatsächlich – nach Monaten der Stille sehe ich als Erstes einen neuen Post von Jethro. Wie jedes Mal handelt es sich um einen beinahe laienhaft aufgenommenen nächtlichen Schnappschuss. Ich kann nicht identifizieren, wo er aufgenommen wurde, aber ich lese gebannt die Worte, die Jethro auf die Ziegelsteine gesprayt hat.

 

Wer, wenn nicht du

Wann, wenn nicht jetzt

Wo, wenn nicht hier

Was, wenn nicht

dein eigener verfluchter Traum

 

Ich weiß nicht, warum, aber immer, wenn ich ein Gedicht von Jethro lese, resoniert etwas in mir. Seine Worte sind vielleicht nicht die poetischsten. Die Botschaften nicht unbedingt die tiefsten. Aber er trifft einen Nerv. Hat damals mit seinem Gedicht über Identität genau meinen Nerv getroffen, was wohl der Grund ist, warum ich – in Louise’ und Coulters Worten – „besessen“ von ihm bin.

Und ja, vielleicht bin ich das, denke ich, als ich auf sein Profil klicke und dann auf den Nachrichten-Button. Die Konversation mit Jethro ist ebenso einseitig wie die mit Evie seit ein paar Monaten. Laura reagiert wenigstens auf das, was ich ihr sage, wenn auch nur passiv. Drei Vorstöße habe ich bereits gewagt und mir eigentlich geschworen, dass ich es nun auf sich beruhen lasse. Er sieht meine Nachrichten nicht einmal. Und dennoch – vielleicht weil es inzwischen nach zwei Uhr nachts ist oder weil Lauras Anruf und ihr Nicht-Handeln und Evies Schweigen dazu geführt haben, dass ich meine masochistische Ader aktiviert habe – tippe ich eine weitere Nachricht an Jethro.

Hi Jethro, schreibe ich und weiß jetzt schon, dass Coulter und Louise sich morgen über mich lustig machen werden.

Ich noch mal, Bash, der Lektor aus dem Indie-Verlag Badger Books, der großes Interesse daran hätte, ein Buch mit dir zu machen. Deine Anonymität würden wir selbstverständlich wahren. Es würde mich freuen, von dir zu hören. Viele Grüße, Bash Hanlon.

Ich schicke die Nachricht ab, starre ein paar Minuten darauf, in der bescheuerten Hoffnung, Jethro könnte sie lesen. Denn wenn jemand mitten in der Nacht wach ist, dann ein Typ, der auf den Schutz der Dunkelheit angewiesen ist, oder? Aber nichts dergleichen geschieht. Stattdessen wird mein Display irgendwann dunkel, und ich mache mir nicht mehr die Mühe, draufzutippen, sondern schließe endlich die Augen.

Blick ins Buch
Ink Blood Mirror MagicInk Blood Mirror Magic

Roman

Bücher, in Blut geschrieben. Spiegel, durch die mysteriöse Verfolger jeden Schritt beobachten. Und eine magische Bibliothek voller Geheimnisse.

Seit Generationen hütet die Familie Kalotay eine Sammlung alter und seltener Bücher. Bücher, mit denen man Magie wirken kann – vorausgesetzt, man zahlt den Preis in Blut. Ein solches Buch hat Abe Kalotay das Leben gekostet, und seine Tochter Joanna setzt alles daran, herauszufinden, warum. Als ihre Halbschwester Esther von Unbekannten bedroht wird, müssen die beiden entfremdeten Schwestern wieder zueinander finden, um sich einem mysteriösen Feind in den Weg zu stellen. Doch dieser schreckt vor nichts zurück, um Abes Buch zu stehlen – nicht einmal vor Mord.

„Einfach ein Genuss von Anfang bis Ende.“ The New York Times

Eins


Esther konnte nicht fassen, wie blau der sonnenhelle Himmel war.

Es war ein vielschichtiges Blau, beinahe weiß am verschneiten Horizont, doch je weiter sie den Blick hob, desto dunkler wurde es: vom blassen Hellblau eines Rotkehlcheneis über Coelinblau bis hin zu einem ruhigen, leuchtenden Azur. Das arktische Eis war blendend hell, und die vereinzelten Nebengebäude, die Esther durch ihr schmales Zimmerfenster sehen konnte, warfen lange indigoblaue Schatten über die weißen Spurrillen der Straße. Alles schimmerte. Es war 8 Uhr am Abend und kein bisschen dunkler als um 8 Uhr an diesem Morgen.

»´tschuldigung«, sagte Pearl und stieß sie mit der Hüfte beiseite, damit sie ein Stück zurechtgeschnittenen Karton in den Fensterrahmen klemmen konnte. Esther ließ sich auf ihr ungemachtes Bett zurückfallen, stützte sich auf die Ellbogen und sah Pearl zu, die sich über den winzigen, überfüllten Schreibtisch beugte, um das Fenster zu erreichen.

„Wenn du mir vor zwei Wochen gesagt hättest, dass ich die Sonne aussperren würde, sobald sie wieder auftaucht, hätte ich dich gründlich ausgelacht“, erklärte Esther.

Mit den Zähnen riss Pearl ein Stück Klebeband ab. „Tja, aber vor zwei Wochen konntest du auch noch die Nacht durchschlafen. Sag nicht, dass die Dunkelheit dir nichts zu bieten hatte.“ Sie klebte den Karton fest. „Oder ich.“

„Danke, Dunkelheit, und danke, Pearl“, erwiderte Esther. Auch wenn sie tatsächlich schlecht schlief, seit die Sonne nach sechs Monaten Winter wieder aufgegangen war, kam es ihr irgendwie niederdrückend vor, dabei zusehen zu müssen, wie das Licht und die fernen Berge verschwanden und sie zurück in die Realität ihres zellenartigen Zimmers geschleudert wurde: das Bett mit den zerwühlten lila Laken, erhellt von einer nackten Glühbirne, der verkratzte Fliesenboden und der Sperrholzschreibtisch, auf dem sich lose Blätter stapelten. Bei den meisten davon handelte es sich um Notizen zu dem mexikanischen Roman, den Esther zu ihrem Vergnügen übersetzte. Der Roman selbst lag auf ihrer Kommode, sicher vor der Sammlung halb ausgetrunkener Wassergläser, die ringförmige Abdrücke auf ihren Schreibblöcken hinterließen.

Pearl setzte sich ihr gegenüber ans Fußende des Betts und sagte: „Und? Bist du bereit, dich den ungewaschenen Massen zu stellen?“

Als Antwort darauf legte sich Esther den Arm über die Augen und ächzte.

Esther und Pearl hatten den vergangenen Winter als Teil eines nur dreißigköpfigen Teams verbracht, das diese kleine Forschungsstation am Südpol am Laufen hielt, doch dann hatte der November das Sommerhalbjahr eingeläutet, und während der letzten Tage waren fast hundert neue Mitglieder aus kleinen, knatternden Frachtflugzeugen in die Korridore der Station geschwappt. Mit einem Mal waren die Schlafräume, die Kantine, der Fitnessraum und die oberen Arbeitszimmer voller Wissenschaftler und Astronomen. Fremde, die alle Kekse aufaßen, die schlafenden Computer hochfuhren und ständig nervös danach fragten, zu welcher Tageszeit der Internetsatellit erreichbar wurde.

Esther war davon ausgegangen, dass sie sich darüber freuen würde, all diese neuen Gesichter zu sehen. Sie war von Natur aus extrovertiert. Keine typische Kandidatin, wenn es darum ging, sich inmitten einer Eislandschaft in einer Forschungsstation einschließen zu lassen, die sehr an ihre winzige Highschool auf dem Land erinnerte. In dem Jahr, bevor sie in die Antarktis gekommen war, hatte sie in Minneapolis gelebt, und ihre Freunde waren aufrichtig entsetzt gewesen, dass sie über den Winter einen Job als Elektrikerin auf einer Polarstation annehmen wollte. Jeder kannte jemanden, der jemanden kannte, der so etwas schon einmal ausprobiert, es furchtbar gefunden und sich früher als geplant wieder hatte ausfliegen lassen, um der erdrückenden Isolation zu entkommen. Doch Esther schreckte das nicht.

Schließlich konnte die Antarktis auch nicht schlimmer sein als die isolierenden, extremen Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen war. Sie würde gut verdienen, ein Abenteuer erleben und – dies vor allem – für fast alle anderen Menschen auf dem Planeten vollkommen unerreichbar sein.

Irgendwann im Laufe des langen Winters war ihre Extrovertiertheit jedoch verloren gegangen und mit ihr jene fröhliche Maske, die sie eigentlich jeden Morgen anlegte, wenn sie in ihre Uniform schlüpfte. Nun sah sie zur Decke empor, die in demselben Industrieweiß gehalten war wie die industrieweißen Wände, die industrieweißen Korridore und ihre industrieweißen Kollegen.

„Ob ich in Wahrheit schon immer eher introvertiert war?“, fragte sie. „Habe ich mir die ganze Zeit selbst was vorgemacht? Die echten Extrovertierten sind jetzt da draußen und sagen, ›Hell Yeah, Frischfleisch, Party nonstop‹! Die lassen es krachen und rocken die USA.“

„Sie rocken das Internationale Territorium des Antarktisvertrags“, korrigierte Pearl, die Australierin mit doppelter Staatsbürgerschaft war.

„Von mir aus auch das.“

Pearl begann über das Bett auf Esther zuzukrabbeln. „Ich könnte mir vorstellen, dass sechs Monate im unfreiwilligen Zölibat und eine Flugzeugladung voller neuer Gesichter so ziemlich jeden extrovertiert werden lassen.“

„Hmm“, summte Esther. „Dann meinst du also, dass ich auf die Seite der Introvertierten gewechselt bin durch die schiere Macht …“

„… meines unglaublichen Körpers, ganz genau“, führte Pearl ihren Satz zu Ende und strich mit den Lippen über Esthers empfindliche Ohrmuschel.

Esther schob ihre Hand in Pearls blondes Haar, das irgendwie trotz des vollständigen Mangels an Sonnenlicht immer noch sonnengeküsst wirkte. Eine Australierin eben. So unerschütterlich strandverliebt und immer voll dabei. Sie ließ die zerzausten Strähnen durch die Finger gleiten und zog Pearl an sich, um sie zu küssen. Sobald sie Pearls Lächeln an ihrem Mund spürte, drückte sie diese noch fester an sich.

Während der vergangenen zehn Jahre, seit sie achtzehn gewesen war, hatte Esther jeden November den Wohnort gewechselt – neue Städte, Staaten, Länder. Sie hatte flatterhafte Freundschaften geschlossen und lockere Beziehungen begonnen, als würde sie sich etwas bei einem Take-away aussuchen, und dann alles beiläufig wieder hinter sich gelassen. Alle mochten sie, und wie so viele, die von allen gemocht wurden, ging sie mit einem unguten Gefühl davon aus, dass jene, denen es gelang, sie wirklich kennenzulernen und dieses strahlende Schild der Liebenswürdigkeit zu durchdringen, sie ganz und gar nicht mehr mögen würden. Das war der Vorteil daran, wenn man nie lange an einem Ort blieb.

Der andere, viel wichtigere Vorteil bestand jedoch darin, dass man nicht gefunden wurde.

Esther ließ die Hand unter Pearls Pullover gleiten und ertastete den glatten Schwung ihrer Taille, während Pearl eines ihrer langen Beine zwischen Esthers Knie schob. Doch noch während Esther auf der Suche nach Berührung instinktiv die Hüfte hob, hallten jene fernen Worte ihres Vaters ungebeten in ihrem Kopf wider – ein Glas kaltes Wasser mitten in das Gesicht ihres Unterbewusstseins.

„Am zweiten November um 11 Uhr abends, Eastern Standard Time.“ Das waren Abes Worte gewesen, bei ihrer letzten Begegnung vor zehn Jahren, in ihrem Haus in Vermont. „Wo auch immer du bist, du musst am zweiten November gehen und vierundzwanzig Stunden in Bewegung bleiben, sonst holen die Leute, die deine Mutter getötet haben, auch dich.“

Vor ein paar Tagen war der fünfte November gewesen, offiziell der Beginn der Sommersaison. Drei Tage nachdem Esther dem dringlichen Appell ihres Vaters zufolge den Ort hätte verlassen sollen.

Doch sie war nicht verschwunden. Sie war immer noch hier.

Abe war nun seit zwei Jahren tot, und zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Flucht vor zehn Jahren gab es einen Grund für Esther, zu bleiben. Einen warmen, greifbaren Grund, der gerade ihren Hals küsste.

Zum ersten Mal waren Esther und Pearl einander schon am Flughafen in Christchurch begegnet, wo sie beide zu einer großen Gruppe gehört hatten, die auf ihren Flug in die Antarktis warteten. Die zahllosen Schichten, die an Bord des Flugzeugs vorgeschrieben waren, hatten sie verborgen: Wollmütze, riesiger orangeroter Parka, Handschuhe, klobige gefütterte Stiefel, dunkle, ins Haar geschobene Sonnenbrillen. Esther hatte nur einen kurzen Eindruck von funkelnden Augen und einem vollen kehligen Lachen erhascht, bevor die ganze Truppe in das Flugzeug gescheucht wurde, wo Pearl einen Platz auf der anderen Seite des Laderaums fand.

Wegen ihrer vielen Aufgaben und der unterschiedlichen Zeitpläne hatten sich ihre Wege erst am Ende des ersten Monats wieder gekreuzt, als Esther auf der Suche nach Sparringspartnern ein Schild im Fitnessraum aufgehängt hatte.

 

Boxen, Muay Thai, BJJ, MMA, Krav Maga,
lass uns kämpfen! :) :) :)

 

Die Smileys hatte sie nur angefügt, um dem aggressiven „kämpfen“ die Schärfe zu nehmen, doch sie hatte es sofort bereut, als ein Elektriker – ein ekelhafter, riesiger Typ aus Washington, der darauf bestand, dass ihn alle „J-Dog“ nannten – den Aushang entdeckte und ihr danach hartnäckig auf die Nerven ging.

„Da kommt Killer-Smiley!“, grölte er jedes Mal, wenn sie zum Schichtwechsel auftauchte. Wann immer sie ihm beim Mittagessen in der Kantine über den Weg lief, tat er so, als würde er sich wegducken. „Machst du mich jetzt mit deinem Granatenlächeln so richtig fertig?“ An dem Tag, da er aber allen lauthals von seinem schwarzen Gurt in Karate erzählte und versicherte, einen Sparringspartner zu suchen, der es mit der Kampfkunst „wirklich ernst“ meinte, brachte er das Fass zum Überlaufen.

Das ging eine Woche so weiter, bis er sich einmal in der Kantine vor ihr aufbaute, ihr den Weg zur Pizza versperrte und so breit grinste, dass Esther seine Backenzähne sehen konnte.

„Was soll das?“, fragte sie.

„Ich kämpfe gerade mit dir.“

„Nein“, widersprach sie und stellte ihr Tablett ab. „So kämpft man mit mir.“

Ein paar Minuten später hatte sie J-Dog am Boden und im Schwitzkasten. Einer seiner Arme steckte fest in ihrem Griff, während er mit dem anderen vor ihrem Gesicht herumfuchtelte und mit seinen langen Beinen völlig effektlos über den gekachelten Boden fuhr. Alle um sie herum johlten und klatschten. „Ich lasse dich erst los, wenn du für mich lächelst“, sagte sie, und er verzog den Mund wimmernd zu einer gezwungenen Imitation seines vorherigen Grinsens. Sobald sie ihn aus ihrem Griff entließ, sprang er auf, klopfte sich die Kleider ab und sagte: „Nicht cool, Dude, nicht cool!“

Als Esther sich wieder ihrem vernachlässigten Essenstablett zuwandte und dabei versuchte, ihr eigenes, sehr echtes Lächeln zu unterdrücken, stand sie plötzlich Nase an Nase – plus/minus ein paar Zentimeter – vor Pearl. Ohne die vielen Flugzeugschichten erkannte sie nun, dass Pearl groß und tough war, mit einem Wust sonnengebleichter Haare, die sie zu einem irgendwie lässigen Knoten hochgesteckt hatte, der aber ständig drohte, zur Seite zu rutschen. Ihre braunen Augen funkelten tatsächlich genauso, wie Esther es in Erinnerung hatte. Vor allem jetzt, als ihr Funkeln Esther galt.

„So was Fantastisches habe ich noch nie gesehen“, sagte Pearl und legte eine schlanke, langfingrige Hand auf Esthers Arm. „Du gibst nicht zufällig Unterricht?“

Pearl war miserabel in Selbstverteidigung. Sie hatte keinen Killerinstinkt und zweifelte ständig an sich selbst, ihre Schläge waren zu langsam, ihre Tritte zu tief, und immer wieder musste sie so heftig lachen, dass sie in Esthers Griff ganz schlaff wurde. Nach drei Einheiten verwandelte sich der Unterricht in wilde Küsserei, und sie wechselten aus dem Fitnessraum in ihre Schlafräume. Als sie zum ersten Mal miteinander schliefen, fragte Pearl sie, während sie die Hüfte hob, damit Esther ihr die Jeans abstreifen konnte: „Warst du schon mal mit einer Frau zusammen?“

Empört sah Esther zwischen Pearls Beinen auf. „Ja, schon oft! Warum?“

„Komm runter, Don Juan“, sagte Pearl lachend. „Ich beschwere mich nicht über deine Technik. Du kommst mir nur ein bisschen nervös vor.“

Da hatte Esther begriffen, dass sie möglicherweise in Schwierigkeiten steckte. Denn es stimmte, sie war nervös. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch wie seit Jahren nicht mehr … und Pearl hatte es bemerkt. Irgendwie hatte sie es in ihrem gut trainierten Gesicht oder ihrem gut trainierten Körper gelesen. Esther war nicht daran gewöhnt, dass andere erkannten, was sie eigentlich niemandem zeigen wollte, und die Art, wie Pearl sie ansah, sie durchschaute, war beunruhigend. Daraufhin hatte sie Pearl ihr selbstbewusstestes, offenstes Lächeln geschenkt und die Zähne sehr sanft in Pearls zarte Haut auf der Innenseite ihres Oberschenkels gebohrt. Womit die Unterhaltung beendet war. Doch selbst da, noch ganz am Anfang, war ihr der Verdacht gekommen, dass es nicht leicht sein würde, Pearl zu verlassen.

Nun, eine ganze Saison später, bewirkten allein der Gedanke an die Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben, sowie das Echo der Worte ihres Vaters, dass ihre Stimmung kippte. Vorsichtig schob sie Pearl von sich hinunter und beendete den Kuss. Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken, und Pearl machte es sich an ihrer Schulter gemütlich.

„Heute Abend lasse ich mich so richtig volllaufen“, erklärte Pearl.

„Vor oder nach unserem Auftritt?“

„Davor, dabei, danach.“

„Ich auch“, beschloss Esther.

Esther und Pearl spielten in einer Pat Benatar-Coverband, die bei der Party an diesem Abend auftreten sollte. Den ganzen langen Winter über hatten sie geprobt und waren immer wieder für dieselben dreißig Leute aufgetreten, die zwar eifrig applaudierten, doch am Ende war es trotzdem so, als würde man den eigenen Eltern in Dauerschleife einen Song vorspielen, während diese trotz allen Stolzes nicht länger verbergen konnten, dass sie Hot Cross Buns keine Sekunde länger ertrugen. Heute vor neuem Publikum aufzutreten würde ebenso an ihren Nerven zerren, als müssten sie die Bühne des Madison Square Gardens erklimmen.

„Dann sollten wir zur Vorbereitung schon mal mit dem Wassertrinken anfangen“, erklärte Pearl. „Damit wir später nicht kotzen wie die Reiher.“

Sie holte zwei Gläser, und Esther stützte sich auf die Ellbogen hoch, damit sie sich das Wasser beim Trinken nicht über Kinn und Brust schüttete. Dies hier war der trockenste Ort, an dem sie je gewesen war. Jedes letzte bisschen Feuchtigkeit in der Luft war zu Eis gefroren. Im Handumdrehen war man dehydriert.

„Glaubst du, Wissenschaftler saufen so viel, um irgendwie die vielen Schreibtischjahre wieder aufzuholen?“, fragte Esther.

„Nein“, gab Pearl ohne Zögern zurück, die hier als Tischlerin arbeitete. „Nerds sind totale Partyfreaks. In Sydney bin ich öfter auf irgendwelchen abgedrehten Fetischpartys gewesen, und da war immer alles voller Chirurgen, Ingenieure und Kieferorthopäden. Wusstest du, dass Leute, die auf BDSM stehen, einen messbar höheren IQ haben als Angehörige der Blümchensexfraktion?“

„Ich glaube nicht, dass das eine belastbare Hypothese ist.“

Pearl grinste. Ihre Eckzähne waren ungewöhnlich lang und scharf, ein regelrechter Störfaktor in ihrem sonst so weichen Mund, und stellten die lustigsten Dinge mit Esthers Puls an. „Stell dir mal die entsprechenden Variablen vor.“

„Gern“, gab Esther zurück. „Aber nicht jetzt. Wir sollten uns ein bisschen beeilen.“

Pearl warf einen Blick auf die Uhr und sprang auf. „Oh, Mist! Du hast recht.“

Seit dem Abendessen vor ein paar Stunden saßen sie nun schon in dieser Höhle von einem Schlafraum, und Esther streckte sich ausgiebig, bevor sie die besockten Füße in ihre Stiefel schob.

„Gott, ich bin ja so froh, dass du hiergeblieben bist“, sagte Pearl. „Keine Ahnung, wie ich das ohne dich hinkriegen sollte.“

Esther wollte etwas erwidern, konnte die Frau vor sich jedoch nicht richtig ansehen. Diese Frau, die sie mochte wie schon seit Langem niemanden mehr. Sie verspürte ein Ziehen der Sehnsucht in der Brust, kein Verlangen, sondern etwas, das ihr viel vertrauter war, etwas, das sie immer begleitete. Sie vermisste Pearl, obwohl sie hier bei ihr war. Eine Vorwegnahme des Vermissens, als hätten ihre Gefühle noch nicht mit ihrem Entschluss gleichgezogen, dass es dieses Mal anders sein sollte, dass sie dieses Mal blieb.

Die Paranoia ihres Vaters wisperte wieder in ihrem Ohr, ermahnte sie weiterzuziehen, sagte ihr, dass sie einen schrecklichen, selbstsüchtigen Fehler machte. Dass sie Pearl in Gefahr brachte. Diese sah sie immer noch an, offen und voller Zuneigung, was sich jedoch nach und nach in Vorsicht verwandelte, da Esther nicht antwortete.

„Ich bin auch froh“, sagte Esther. Mittlerweile hatte sie ihre Miene in Pearls Gegenwart im Griff. Auch diesen plötzlichen Stimmungsumschwung, diesen Anflug von Melancholie, würde sie verheimlichen können. Sie lächelte Pearl an und sah, wie diese sich daraufhin entspannte. „Komm mich abholen, sobald du angezogen bist“, fügte sie hinzu. „Dann trinken wir uns mit einem Shot ein bisschen Mut an.“

Pearl hob die Hand und schloss die langen Finger um den Stiel eines imaginären Glases. „Auf die Massen. Mögen sie uns lieben.“

 

Die Massen liebten sie. Alle vier Mitglieder der Band hatten gewissenhaft geprobt, und es war ihnen sogar gelungen, einigermaßen passable Achtzigerjahrebandkostüme zusammenzustellen: schwarze Jeans, Lederjacken. Esther und Pearl hatten ihr Haar wild auftoupiert. Mit Haarspray wäre es noch überzeugender rübergekommen, doch das besaß niemand auf der Forschungsstation. Sie sahen gut aus, und sie hörten sich gut an. Außerdem profitierten sie davon, dass alle zu der Zeit, in der sie ihre Verstärker einsteckten, schon mehr oder weniger betrunken waren und ihnen nur zu gern zujubelten.

Esther war Bassistin und zweite Sängerin, und als sie ihren Gig mit Hell Is for Children beendeten, war ihre Kehle rau, und ihre Finger waren wund. Die Party stieg in der Kantine, die bei Tag wie eine Highschool-Cafeteria aussah, komplett mit langen grauen Plastiktischen, die man an diesem Abend an die Wände geschoben hatte, um eine Art Tanzfläche zu schaffen. Obwohl die Neonröhren an der Decke ausgeschaltet worden waren und stattdessen eine Reihe rot und lila blitzender Partyleuchten für Licht sorgte, lag eindeutig ein gewisses Mittelstufenfeeling in der Luft. Esther fühlte sich jung und albern und auf pubertäre Weise ausgelassen. Die Band hatte im vorderen Teil des Saals unter einer weißen Lichterkette gespielt, und sobald ihr Auftritt beendet war, dröhnte Popmusik aus den neuen Lautsprechern, die Esther selbst vor ein paar Monaten in den Raumecken installiert hatte.

Um Esther herum standen Leute, die sie nicht kannte und die einander nicht kannten. Ein paar weitere saßen auf Stühlen und blockierten den Schwingtüren-Durchgang zur Warmhaltetheke der dunklen Edelstahlküche. Esther fiel auf, dass die neue Sommercrew erstaunlich braun gebrannt und gesund wirkte im Vergleich zu ihren antarktisch blassen Kollegen. Auch die neuen Gerüche waren überwältigend in ihrer Vielschichtigkeit. Wenn man mit ständig denselben Leuten zusammenlebt, dasselbe Essen isst, dieselbe wiederaufbereitete Luft atmet, dann nimmt man irgendwann auch denselben Geruch an – den nicht einmal eine so feine Nase wie die von Esther spezifizieren konnte. Die neuen Kollegen brachten – buchstäblich – frischen Wind mit.

Und den Hauch von noch etwas anderem.

Esther unterhielt sich gerade mit einem neuen Tischler aus Colorado, ein Mann namens Trev, der Pearl zufolge „gefallen wollte“, als sie auf einmal wie ein Jagdhund den Kopf hochriss und die Nasenflügel blähte.

„Trägst du Aftershave?“, fragte sie. Unter dem Partygeruch nach Alkohol und Plastik war etwas, das sie ganz plötzlich an zu Hause denken ließ.

„Nein“, antwortete Trev und lächelte amüsiert, als sie sich zu ihm vorbeugte und schamlos an seinem Hals schnupperte.

„Hmm“, sagte sie.

„Vielleicht ist es mein Deo. Zeder. Sehr männlich.“

„Es riecht gut, aber nein, ich dachte … Ist ja auch egal.“ Sie standen jetzt näher beieinander, und Trevs freundlicher Blick funkelte in Flirtlaune. Anscheinend hatte er ihr Geschnüffel an seinem Hals als Interessenbekundung gedeutet. Esther wich einen Schritt zurück. Selbst wenn sie nicht vergeben wäre, machte er den Eindruck eines Mannes, der eine ganze Menge Outdoor-Ausrüstung besaß und ihr unbedingt beibringen wollte, wie man sie benutzte. Wie furchtbar originell … Allerdings bewunderte sie die kontrollierte Art, mit der er sich bewegte. Es erinnerte sie an die Trainer der Martial-Arts-Kurse, die sie seit Jahren besuchte.

Sie lächelte, um auf den Flirt einzugehen, schließlich wollte sie ja nicht einrosten, doch da fing ihre Nase schon wieder diesen Geruch auf, der sie gerade eben abgelenkt hatte. Gott, was war das? Es versetzte sie zurück in die Küche ihrer Kindheit. Sie konnte den bauchigen grünen, altersschwachen Kühlschrank vor sich sehen, die Dellen und Kerben der Ahornholzschränke. Sie fühlte das verzogene Linoleum unter ihren Füßen … Ein gemüseartiger Duft, aber kein Gemüse. Fast würzig, und es roch frisch, was hier wirklich ungewöhnlich war. Rosmarin? Chrysanthemen? Kohl?

Schafgarbe.

Auf einmal war die Antwort da, und fast hätte sie sich an den Worten verschluckt, die ihr plötzlich auf der Zunge lagen. Schafgarbe, Achillea millefolium, Plumajillo.

„Entschuldige mich“, sagte Esther und wandte sich ohne Rücksicht auf die Etikette von dem verblüfften Tischler ab. Sie schob sich an einer Gruppe von Leuten vorbei, die in der Frühstücksecke zusammenstanden und ihre Tattoos verglichen, und duckte sich unter den blauen Luftschlangen durch, die irgendjemand offenbar nach dem Zufallsprinzip an die Decke geklebt hatte. Dabei sog sie kurz und scharf die Luft durch die Nase ein. Sie folgte dem unverkennbaren Duft des Krauts, dem Geruch ihrer Kindheit, auch wenn sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Schon war der Duft wieder nur eine Erinnerung, überdeckt von dem Aromagemisch aus Pizza, Bier und Körpern.

Sie stand in der Mitte des Raums, umgeben von Musik und lärmenden Fremden, zutiefst erstaunt darüber, mit welcher Wucht der Geruch ihr Herz getroffen hatte. Trug hier irgendjemand ein Parfum, das nach Schafgarbe roch? Falls ja, dann wollte sie die Arme um denjenigen schlingen und das Gesicht an seine Haut schmiegen. Normalerweise hielt Esther jeden Verlustschmerz auf Armeslänge von sich fern. Sie dachte nicht an diejenigen, die sie im Lauf der Jahre hinter sich gelassen hatte. Sie dachte nicht an jene Orte, die sie Zuhause genannt hatte, und abgesehen von der Postkarte, die sie einmal im Monat an ihre Schwester und ihre Stiefmutter schickte, dachte sie auch nicht an ihre Familie. Es war eine beständige, ermüdende Anstrengung, dieses Nichtdenken. Als wäre es ein Muskel, den sie permanent anspannen musste. Der Geruch nach Schafgarbe hatte diesen verhärteten Muskel jedoch mit einem Ruck gelockert, und mit der Entspannung kam eine Traurigkeit in ihr auf, die jener ähnelte, die sie kurz vor der Party mit Pearl in ihrem Zimmer empfunden hatte.

Pearl stand auf der anderen Seite des Raums, das Gesicht gerötet, ihr toupiertes Haar zerzaust, sodass sie aussah, als wäre sie gerade von einem fremden Motorrad oder aus einem fremden Bett gestiegen. Sie trug dunkelvioletten Lippenstift, der ihre Augen wie glänzende Beeren wirken ließ, und sie unterhielt sich mit einer Frau, die fast genauso groß war wie sie selbst. Esther stürmte auf sie zu, wild entschlossen, sich ebenso schnell aus diesem Stimmungsumschwung zu befreien, wie dieser sie überfallen hatte.

„Tequila“, verlangte sie von Pearl.

„Das ist Esther“, sagte diese zu der Frau, mit der sie sich unterhielt. „Elektrikerin. Esther, das hier ist Abby, Mechanikerin, sie hat letztes Jahr in Australien gelebt!“

Abby und Pearl brachen in gemeinschaftliches Kichern aus, fröhlich betrunken. Pearl schenkte für jede einen Shot ein und füllte Esthers Glas sofort nach, da diese den ersten Tequila in einem Zug geleert hatte. Schon fühlte sie sich besser, und nach und nach gelang es ihr, das ungute Gefühl abzuschütteln, das ihr die Kehle zugeschnürt hatte. Sie war jemand, der in der Gegenwart lebte, nicht in der Vergangenheit. Das durfte sie nie vergessen.

Die Party tat, was sie sollte, und fegte den protektiven Isolationismus aller fort, die hier überwintert hatten. Schon bald wurde getanzt und immer mehr getrunken, dann folgte ein absurdes Spiel, bei dem es irgendwie darum ging, Vogelnamen zu brüllen, und dann wurde wieder getrunken. Wie vorhergesehen kotzte auch jemand wie ein Reiher. Pearl und Abby schrien sich eine ganze Weile fröhlich Bemerkungen über jemanden zu, der irgendwie ein gemeinsamer Bekannter aus Sydney zu sein schien und der offenbar einen wirklich schlimmen Hund hatte. Schließlich wurde Esther von Pearl auf die improvisierte Tanzfläche geschleift, wo sie ihren langen, fast nur aus Beinen bestehenden Körper um Esthers kleinere Gestalt schlang. Die Bässe wummerten, und irgendwann tanzten sie so eng, als befänden sie sich in einem echten Club statt in einem aufgeheizten Kasten auf einer gewaltigen Eisfläche, viele tausend Meilen von allem entfernt, das man als Zivilisation bezeichnen konnte.

Esther schob Pearl das Haar aus dem verschwitzten Gesicht und versuchte, nicht an ihre Familie, die Warnungen ihres Vaters oder an die Tage zu denken, die seit dem zweiten November verstrichen waren. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Gegenwart, auf die Musik und Pearls Körper, der sich an ihren schmiegte. Ich wünschte, ich könnte ewig so weitermachen, dachte sie.

Doch da machte ihr Körper ihr einen Strich durch die Rechnung: Sie musste pinkeln.

Die Toilette lag ein Stück den Gang hinunter, wo es fast unheimlich still war. Esther stieß mit einem Krachen die Tür auf und fummelte an ihrer Jeans. Das Plätschern des Urins hallte laut in der Edelstahlschüssel wider, und Esther konnte ihren eigenen betrunkenen Atem hören, schwer vom Tanzen, rau vom Sprechen. Die Toilettenspülung war das reinste Brüllen. Vor dem Waschbecken betrachtete sie sich kurz im Spiegel. Mit einem Finger strich sie ihre dunklen Brauen glatt, klimperte mit den Wimpern und drehte sich ein paar Haarsträhnen um die Finger, um ihren leichten Locken etwas mehr Form zu geben. Dann hielt sie inne, verengte die Augen.

Am Rand des Spiegels entdeckte sie eine Reihe kleiner Flecken. Braunrote Schlieren auf dem Glas, sie waren symmetrisch, aber nicht identisch, ein Fleck an jeder Ecke, wie mit einem Pinsel oder mit dem Daumen gemalt. Sie beugte sich vor, musterte die Markierungen genauer und befeuchtete dann ein Papierhandtuch, um sie fortzuwischen. Das Tuch richtete nichts aus, nicht einmal, als sie Seife dazugab. Ihr Herz fing zu rasen an. Sie versuchte, die Markierungen abzukratzen, doch vergeblich.

Esther wich so hastig zurück, dass sie fast gefallen wäre.

Wer wie Esther aufgewachsen war, erkannte getrocknetes Blut auf den ersten Blick, ganz zu schweigen von einem Muster aus Blut, das sich nicht entfernen ließ. Wer wie Esther aufgewachsen war, wusste ganz genau, was ein blutiges Muster bedeutete. Der Geruch nach Schafgarbe war wieder da, allerdings wusste sie nicht, ob sie ihn wirklich hier im Toilettenraum roch oder ob er nur in ihrem Verstand existierte.

Blut. Kräuter.

Irgendjemand hier besaß ein Buch.

Irgendjemand hier übte Magie aus.

„Nein“, sagte Esther laut. Sie war betrunken. Paranoid. Seit sechs Monaten in einem Betonkasten eingesperrt. Kein Wunder, dass sie jetzt Dinge sah, die nicht da waren.

Sie wich vor dem Spiegel zurück, den Blick immer noch auf ihr eigenes entsetztes Gesicht gerichtet und zu verängstigt, um dem Glas den Rücken zuzukehren. Als sie gegen die Tür stieß, fuhr sie herum und stürmte hinaus. Sie rannte den schmalen Korridor hinunter zu den Fitnessräumen. Im Cardio-Raum war es so hell, dass das Licht zu sirren schien, die Geräte standen in akkuraten Reihen auf dem grauen gepolsterten Boden, und die grünen Wände ließen alles und jeden kränklich blass aussehen. Auf einer der Hantelbänke saß ein wild knutschendes Pärchen, das ein überraschtes Keuchen ausstieß, als Esther an ihnen vorbeirannte und in die weiße Toilette stürmte, in der es nur eine Kabine gab.

Auf dem Spiegel prangten die gleichen rotbraunen Markierungen. Dasselbe Muster. Esther entdeckte die Flecken auch in der Toilette des Gemeinschaftsraums, in der des Labors und in der neben der Küche. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie in ihr eigenes Zimmer stolperte, doch ihr Spiegel war Gott sei Dank unberührt geblieben. Wahrscheinlich waren nur die öffentlichen Spiegel markiert worden. Immerhin ein kleiner Trost. Schließlich konnte sie ja wohl kaum jeden Spiegel in der gesamten Forschungsstation zertrümmern, ohne sich in Schwierigkeiten zu bringen.

Esther schloss die Tür hinter sich ab und stellte sich vor das Glas, die Hände auf die niedrige Kommode gestemmt. Sie stützte sich schwer auf das Holz, um nachzudenken. Es handelte sich hier eindeutig um irgendeine Form von Spiegelmagie, doch sie war zu panisch und zu betrunken, um sich daran zu erinnern, was das bedeutete. Eines der Bücher ihrer Familie konnte einen Spiegel in eine Art Stimmungsring verwandeln, woraufhin das Glas etwa eine Stunde lang die wahren Emotionen einer Person reflektierte. Dann gab es da noch den Spiegel in Schneewittchen, den die böse Königin immer nach der Schönsten im ganzen Land fragte … Aber war dies hier nur irgendein Märchenmist, oder war es das echte Leben?

Sie brauchte Klarheit. Nüchternheit. Mit gesenktem Kopf atmete sie bewusst tief und ruhig. Auf der Kommode lag, gerahmt von ihren Händen, der Roman, den sie gerade aus dem Spanischen ins Englische übersetzte, und sie starrte das vertraute grüne Cover an, den Schmuckrahmen und die stilisierte Zeichnung eines dunklen Türrahmens unter dem Titel La Ruta Nos Aportó Otro Paso Natural von Alejandra Gil aus dem Jahr 1937. Soweit Esther es hatte herausfinden können, war dieser Roman Gils erste und einzige Publikation – außerdem war es Esthers einziger Besitz, der früher einmal ihrer Mutter Isabel gehört hatte.

Auf der Innenseite des Covers gab es eine Notiz, eine Übersetzung des Titels in der perfekten, gleichmäßigen Handschrift ihrer Mutter. „Vergiss nicht“, hatte ihre Mutter sich selbst auf Englisch ermahnt. „Der Pfad weist uns den natürlichen nächsten Schritt.“

Esthers Stiefmutter Cecily hatte ihr diesen Roman an ihrem achtzehnten Geburtstag gegeben. Noch am selben Tag verließ sie für immer ihr Zuhause. Damals war die Übersetzung noch nötig gewesen. Eigentlich hätte Spanisch ihre Muttersprache sein sollen, doch Isabel war gestorben, bevor Esther ihr erstes Wort sprach. Inzwischen beherrschte sie die Sprache ihrer Mutter. Ein paar Monate nach ihrer Flucht ließ sie sich den spanischen Titel auf das Schlüsselbein tätowieren: „la ruta nos aportó“ auf die rechte, „otro paso natural“ auf die linke Seite. Ein Palindrom, das man auch im Spiegel lesen konnte …

Es fühlte sich an, als wären seit der Party bereits Stunden verstrichen, doch der Schweiß vom Tanzen trocknete noch immer auf ihrer Haut. Sie trug nur noch ein schwarzes Tanktop, in dem sie nun zitterte. Im Glas konnte sie die Worte ihrer Tätowierung unter den Trägern sehen. Als sie damals gestochen wurde, stand sie zum ersten Mal ohne ihre Familie da. Sie hatte sich haltlos gefühlt, verängstigt in einer Welt, in der es auf einmal keine Struktur mehr gab, weshalb ihr die bloße Vorstellung eines Pfads und erst recht eines natürlichen nächsten Schritts wie etwas ungeheuer Tröstliches erschienen war. Nun jedoch, da sie bald dreißig wurde, hervorragend Spanisch sprach und jenen Roman gelesen hatte, begriff sie, dass Gils Titel keineswegs Trost bedeutete. Vielmehr sprach er von einer Art vorgegebener Bewegung, von dem sozialen Konstrukt eines Pfads, der die Menschen, vor allem die Frauen, zu einer Abfolge von Schritten zwang, während man ihnen vorgaukelte, sie hätten sich aus freien Stücken dafür entschieden.

Heute kamen ihr diese Worte wie ein kämpferischer Schrei vor, eine Aufforderung, dem Pfad nicht zu folgen, sondern von ihm abzuweichen. Tatsächlich hatte diese Interpretation des Satzes ihr bei der Entscheidung geholfen, die längst vergangenen Anweisungen ihres Vaters zu ignorieren und auch die Sommersaison über in der Antarktis zu bleiben.

Eine Entscheidung, von der sie nun fürchtete, sie würde sie noch schrecklich bereuen.

„Du musst am zweiten November gehen“, hatte ihr Vater ihr eingeschärft, „sonst holen dich die Leute, die deine Mutter getötet haben. Und nicht nur dich, Esther. Sie werden auch deine Schwester jagen.“

Zehn Jahre lang hatte sie auf ihn gehört, hatte gehorcht. Hatte an jedem ersten November ihre Sachen gepackt und sich an jedem zweiten November auf den Weg gemacht. Manchmal war sie den ganzen langen Tag und die Nacht durchgefahren, manchmal hatte sie eine Reihe von Bussen, Flugzeugen und Zügen genommen, ohne zu schlafen. Von Vancouver nach Mexico City. Von Paris nach Berlin. Von Minneapolis in die Antarktis. Jedes Jahr, wie ein Uhrwerk. Nur dieses Jahr nicht. Dieses Jahr hatte sie die Warnung ignoriert. Dieses Jahr war sie an Ort und Stelle geblieben.

Und nun war der fünfte November da. Die Forschungsstation wimmelte von Fremden – und irgendjemand hatte ein Buch mitgebracht.

Blick ins Buch
Ein Garten voller BücherEin Garten voller Bücher

Mein toskanisches Märchen

Vom Glück, mit Büchern zu leben

„Das Cottage hat zwölf Quadratmeter und ein Fenster, das auf den Prato Fiorito hinausgeht. Auf der Fensterbank, auf einem kleinen schmiedeeisernen Pult, liegen immer abwechselnd drei Bücher: Der Garten der Virginia Woolf, Emily Dickinsons Herbarium und Alice im Wunderland, die Ausgabe mit den Illustrationen von John Tenniel. Es ist ein Damenfenster, und wer hereinkommt, fotografiert es."

Die wahre Geschichte der vielleicht kleinsten, charmantesten Buchhandlung Europas - und eines Dorfes, das nicht sterben will.

Als die Dichterin Alba Donati verkündet, ihr Traum sei es, in ihrem sterbenden Heimatdorf einen Buchladen zu eröffnen, schütteln alle nur mit dem Kopf. Doch mitthilfe von Crowdfunding und dein paar „Wundern“ entsteht in einem Gärtchen am Hang tatsächlich eine zauberhafte kleine „Literaturhütte“ — und fällt nur wenige Wochen später einem Brand zum Opfer. Aber in einem toskanischen Dorf ist man nicht allein!

So erleben wir mit, wie Alba mit Nachbar:innen und Freund:innen noch einmal neu anfängt und wie die Libreria sopra la Penna zum magischen Ort für Literaturfans aus aller Welt wird.

In bibliophiler Ausstattung – ein besonderes Geschenk für alle Buchliebhaber.

Januar

20. Januar

Jedes kleine Mädchen ist auf seine Weise unglücklich, und ich war es sehr. Vielleicht lag es an der Heirat meines Bruders, die mich im Alter von sechs Jahren völlig aus der Bahn warf, oder an meiner ziemlich archaischen Mutter, vielleicht auch ein bisschen an provinziellem Mobbing von der Sorte „Heute darfst du mitspielen, morgen nicht“.

Seit ich die Buchhandlung eröffnet habe, hat es kein Interview gegeben ohne die Frage: „Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Buchhandlung in einem gottverlassenen Nest mit hundertachtzig Einwohnern aufzumachen?“

Heute habe ich viele Päckchen gepackt. Eine Frau aus Salerno begeht den Valentinstag so: Der einen Tochter schenkt sie eine Ausgabe der Gedichte Emily Dickinsons, den Emily-Dickinson-Kalender und „Emily“, ein Parfum auf der Basis von Osmanthus Absolue, der anderen Tochter ebenfalls einen Band von Emily Dickinson, den Emily-Kalender und ein handgemachtes Armband aus Rosenblüten und Gipskraut. Damit nicht genug, möchte die Signora für sich selbst das Herbarium der allzeit geliebten Emily sowie den Kalender.

Wie bin ich auf diesen Einfall gekommen? Die Dinge fallen einem nicht plötzlich ein, sie reifen, sie gären, beschäftigen uns im Schlaf. Die Dinge haben Beine und begeben sich auf eine parallele Wanderschaft in einem Bereich, von dem wir nicht mal annähernd wissen, wo er sich befindet, und irgendwann klopfen sie an: Hallo, hier sind wir, deine Ideen, hör uns zu. Die Idee mit der Buchhandlung schlummerte bei mir sicher schon in den Winkeln dieses ebenso düsteren wie fröhlichen Bereichs, den wir Kindheit nennen.

So wurde sie vielleicht vom Fall Lavorini angeregt, dem ersten Mord an einem Kind, an den ich mich erinnere, ein Junge, gefunden in den Dünen von Viareggio. Nachmittags hörte ich oft eine Hörspielversion des Dramas bei meinem Großvater, der einen Kassettenrekorder besaß. Nicht, dass Nonno Tullio so fortschrittlich gewesen wäre, aber meine Tanten waren es, modern und ausschweifend (so hieß es im Dorf). Zwar war mir ihre Fortschrittlichkeit auch ein bisschen peinlich, aber ich himmelte sie an.

In der anderen Waagschale, was die Tanten betraf, gab es Zia Polda, die Schwester meiner Mutter, Bäuerin von Beruf, eine herzensgute Frau, die nie geheiratet hatte und stolz darauf war. Ich verbrachte Stunden damit, ihre Strickjacke auf- und wieder zuzuknöpfen, ein Vorwand, um auf ihrem Schoß sitzen bleiben und ihren Geschichten zuhören zu können. Dann war da noch Zia Feny, mit vollem Namen Fenysia, Haushälterin bei fremden Leuten, zierlich und stark, schüchtern und klug, die mir ihre von der Herrschaft geschenkten Bücher mitbrachte und mich in die Lektüre von Romanen einführte.

Ihr zu Ehren habe ich die Schreibschule benannt, die ich vor ein paar Jahren zusammen mit meinem Partner Pierpaolo gegründet habe – Fenysia. Bildung und Talent zu pflegen schien mir genauso notwendig zu sein, wie eine gute Minestrone nach ihrer Art kochen zu können.

Die Geschichten dagegen, die meine Mutter erzählte, hätten sogar einen Dinosaurier aus dem Pleistozän umgehauen. Eine ihrer Lieblingsstorys handelte von einem Mädchen, das unter einem Baum einschlief, während seine Mutter auf dem Feld arbeitete. Da kam eine große Schlange und kroch der Kleinen in den Hals … An dieser Stelle verzeichnet mein Gedächtnis einen gesunden Blackout, der wohl retten sollte, was zu retten war und was lange Zeit später Doktor Lucia während einer zehnjährigen Psychoanalyse bearbeiten sollte.

Das Dorf war klein, und ich liebte es. Ich malte den Berg vor unserem Haus im Frühling, Sommer, Herbst und Winter, als wäre es der Kilimandscharo. Das Anderswo, würde ein Philosoph sagen, ist dort, wo du noch nie gewesen bist. Und ich bin bis heute nicht auf dem Berg gegenüber gewesen. Ich liebte den Reif auf den Feldern, er schien mir aus Kristall zu sein wie das Schloss von Dornröschen. Außerdem liebte ich die Ameisen, wie mühselig sie ihr Leben fristeten. Tja, wenn man in einem Haus ohne Heizung und ohne Bad wohnt und einem die Augen, die Hände und sogar die Ohren vor Kälte kribbeln, ist es irgendwann normal, dass man auf seltsame Gedanken kommt.

In diesem einleitenden Familienbild fehlt der Vater. Er fehlte mir tatsächlich sehr, und wenn er sich an mein Bett setzte, das sich oft wie mein Krankenlager anfühlte, hörten meine Augen, meine Hände und die Ohren auf zu kribbeln, und die Welt wurde wieder anschaubar.

 

Dieses Tagebuch beginne ich zufällig am 20. Januar, dem Datum, an dem Büchners Lenz einsetzt und das Paul Celan, der am 22. Oktober 1960 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde (neun Jahre, fünf Monate und neunundzwanzig Tage, bevor er sich vom Pont Mirabeau in die Seine stürzte), bei der Verleihung in den Mittelpunkt seiner Dankesrede stellte.

Denn Daten sind wichtig, und jeder von uns hat seinen 20. Januar, an dem Lenz alles zurücklässt und aufbricht. Am 20. Januar 1943 brach auch der erste Mann meiner Mutter auf. Er hatte zusammen mit den anderen überlebenden Alpenjägern den Befehl bekommen, die Stellungen am Don aufzugeben und sich zurückzuziehen. Der Epilog des Russlandkriegs, der allein in jenen Tagen 51 000 Soldaten das Leben kostete, Tote und Vermisste zusammengerechnet. Es waren 40 Grad unter null, und viele hatten noch nicht einmal mehr Schuhe. Meine Mutter war vierundzwanzig Jahre alt, ihr Mann achtundzwanzig, mein Bruder sechs Monate. Die Familie, die es nie richtig gegeben hatte, zerbrach in der Nähe von Woronesch, wo der Dichter Ossip Mandelstam in der Verbannung lebte, bevor er in ein sibirisches Lager gebracht wurde und dort starb.

 

Du lass mich frei, Woronesch, gib mich wieder –

Lässt du mich los oder verpasst mich lieber,

Du lässt mich fallen, nicht? Du Rabennest,

Woronesch – Netz, Woronesch – wahre Pest!

 

Meine Mutter wartete und wartete, aber es kam keine Nachricht von ihrem Mann, als hätte ihn die Steppe verschluckt. Stattdessen gab es eine Kriegshinterbliebenenrente für die Ehefrauen von Vermissten.

Mandelstam hatte mich in die Steppe mitgenommen, noch bevor ich wusste, dass es dieselbe Steppe war, wegen der meine Mutter geweint hatte. Die offiziellen Verlautbarungen über die Gefallenenlisten endeten am 23. Januar 1943, danach nichts mehr.

Derweil habe auch ich alles zurückgelassen, eine der schönsten Städte der Welt, eine beneidenswerte Arbeit, eine tolle Wohnung nahe der Biblioteca Nazionale, und bin in mein Heimatdorf aufgebrochen, um nachzusehen, ob die Schlange verschwunden ist und ob das Mädchen unter dem Baum nicht zufällig die gerade eingeschlafene Alice im Wunderland ist.

Bestellungen heute: Der Widersacher von Emmanuel Carrère, Kleine Aussichten. Ein Roman von Mädchen und Frauen von Alice Munro, City Boy von Edmund White, Ein Start ins Leben von Anita Brookner, Zwischen den Akten von Virginia Woolf, Miss Island von Auður Ava Ólafsdóttir.

 

21. Januar

Die Idee mit der Buchhandlung hat, schon voll ausgereift, eines Nachts an meine Tür geklopft. Es war der 30. März 2019. Ich besaß ein abschüssiges Stück Land vor unserem Haus, auf dem meine Mutter Salat zog und ich an einem zwischen zwei altersschwachen Pfählen befestigten Draht die Wäsche aufhängte. Geld hatte ich wenig, ich musste mir etwas einfallen lassen.

Als Kind hatte ich einen riesigen Dachboden für mich allein. Das Haus spiegelte meine Familie wider, halb heimelig und halb im Chaos versunken. Wenn man hineinkam, war da die Küche und rechts davon ein großes Zimmer, das meine Mutter mithilfe eines grünen Vorhangs mit großen rosa Schleifen (zu der Seite hin, die, je nach Tagesform, mein Zimmer oder mein Krankenlager war) zweigeteilt hatte. Auf der linken Seite außerdem ein kleines Wohnzimmer, originalgetreu im Stil der Siebzigerjahre eingerichtet, mit Tisch, Stühlen und Kommode aus Spanplatten und dermaßen blitzsauber, dass es noch künstlicher wirkte, als es war. Es gab noch zwei Türen: Die eine führte in den Keller, einen Ort, der meine Analyse bei Doktor Lucia um mindestens zwei Jahre verlängert hat und wo vermutlich sämtliche seit grauer Vorzeit existierenden Horrormärchen geschrieben worden waren. Die andere ging auf den Dachboden.

Dabei gab es eine Besonderheit. Der erste Treppenabschnitt bestand aus unverputzten Lochziegeln, eine Arbeit, die mein Vater kurz nach unserem Einzug in das Haus begonnen hatte, doch nach der Kehre war Schluss damit, und es ging über eine jahrhundertealte Holztreppe weiter nach oben. Die väterliche Liebe war abgebrochen. Jedes Mal, wenn ich dort hinaufstieg, betete ich, dass die Stufen halten und ich nicht in den Abgrund stürzen möge, in das Nichts, wo mich gewiss die ewige Schlange erwartete.

Diese zweigeteilte Treppe, Zeichen einer angefangenen und dann aufgegebenen Arbeit, war die Startrampe für meine Träume. Wenn ich um die Ecke gebogen war und diese verdammten fünf baufälligen Stufen hinter mir hatte, befand ich mich in Sicherheit. Ich hatte es geschafft. Ich war in meinem Reich. Dort oben unterrichtete ich eine imaginäre Schulklasse, jedes Kind mit einem Heft vor sich, und korrigierte als Lehrerin meine eigenen Hausaufgaben von vor ein, zwei Jahren. Oder ich las in meiner persönlichen Bibel, dem Wissenslexikon Conoscere aus dem Fabbri-Verlag, zwölf Bände plus vier Anhänge. Von dem ist sogar mein Modegeschmack bis heute geprägt. Es gab allein drei der römischen Fußbekleidung gewidmete Seiten, von denen ich regelrecht besessen war – ich kaufte mir zwei Paar Römersandalen mit bis zum Knie geschnürten Riemen, eines in Gold und eines in Schneeweiß. Ich war ungefähr zwölf, in Lolitas Alter. Ansonsten wurden in der Enzyklopädie sehr ernste Themen behandelt:

 

Die Carbonari-Bewegung

Der heilige Franziskus von Assisi

Vom Holz zum Papier

Rom erobert Tarent

Giuseppe Mazzini

Reformation und Gegenreformation

Die Rachenmandeln

Leonardos Genie

Dante

Die fünf Tage von Mailand

Textilpflanzen

Japan

 

Allein zu erfahren, dass die Frauen bei den Carbonari „Base Gärtnerin“ genannt wurden, bereitete mir ungeheures Vergnügen. Es war, als hätte ich eine Zeitmaschine, ich schlug eine Seite auf, drückte den Knopf, und weg war ich, anderswo, an meinem Lieblingsort. „Wir fragen sie nicht ab, sie macht uns Angst“, sagten die Lehrerinnen in der Grundschule zu meiner Mutter, die mittlerweile die Geschichte mit dem eingeschlafenen Mädchen und der Schlange durch Bannflüche aller Art ersetzt hatte. Denn mein Vater hatte sich davongemacht.

Jetzt packe ich die Päckchen für die Frau aus Salerno und ihre beiden Töchter fertig. Deshalb bin ich auf den Einfall gekommen, eine Buchhandlung in einem Dörfchen in der nördlichen Toskana aufzumachen, inmitten der Berge, zwischen dem Prato Fiorito und den Apuanischen Alpen: damit eine Mutter aus Salerno ihren beiden Töchtern zwei bunte Schachteln voll Emily Dickinson schenken kann.

Bestellungen heute: Petite von Edward Carey, Unsere Seelen bei Nacht von Kent Haruf, Im Hause Longbourn von Jo Baker, All Things Cease to Appear von Elizabeth Brundage, Die Mitford Sisters von Karlheinz Schädlich.

 

22. Januar

Einer der Vorteile meines neuen Lebens ist es, den Regen aufs Dach trommeln hören zu können. In der Stadt muss man aus dem Bett aufstehen und die Vorhänge aufziehen, um zu sehen, wie das Wetter ist. Hier dagegen sagt es einem der Körper. Das sanfte Geräusch des Regens, wie Diana Athill es in einer ihrer Kurzgeschichten nennt, gleicht in meinem Dorf einer Stimme, mal sanfter, mal kräftiger, die mir etwas zuflüstert. Heute Morgen jedoch hat das Festnetztelefon geklingelt, und eine andere, vollkommen ausdruckslose Stimme hat uns eine Unwetterwarnung mitgeteilt, mit Gefahr von Überflutungen und Erdrutschen. Das ist ein Problem für die Buchhandlung, denn bei schlechtem Wetter haben die Leute keine Lust, sich eine schmale Bergstraße hinaufzuwagen.

Lucignana liegt 500 Meter über dem Meeresspiegel, eine ideale Lage, weil es nie zu kalt oder zu heiß wird. Es wurde um das Jahr 1000 herum gegründet, ist ganz aus Naturstein gebaut und hatte einst eine Wehranlage mit einer Mauer und einer Burg, die wohl eher ein größeres Haus war. Nach dieser Burg heißt ein Teil des Dorfs heute noch Castello.

In Lucignana geht man entweder nach Castello oder auf die Penna, nach Scimone, nach Varicocchi, auf die Piazza, auf den Piazzolo oder nach Sarrocchino, Verschleifungen inklusive. Scimone war ursprünglich San Simone, Sarrocchino San Rocchino.

Heute wohnt Mike in Castello, ein supersympathischer Engländer, Soldat im Ruhestand, der Afghanistan und wer weiß was sonst noch durchgemacht haben muss. Er bringt mich zum Lachen, weil er sich einen Pool im Garten gebaut hat und im Sommer dort rumläuft, wie Gott ihn geschaffen hat, zum Entsetzen der Dorfbewohner. Wenn ich ihn besuche, knotet er sich, bevor er vor einem der schönsten Ausblicke der Welt einen Spritz nach Art des Hauses zubereitet – das heißt Aperol mit jeder Menge Schweppes –, hastig ein Handtuch um und läuft unter lauter „Sorrys“ ins Haus, um sich ein Paar Shorts überzuziehen.

Sein Haus hat wirklich den schönsten Blick von allen, direkt auf die Apuanischen Alpen mit ihren feuerroten Sonnenuntergängen, die den Eindruck vermitteln, dass die gerade hinter der Panie-Gruppe versunkene Sonne nun langsam in die Wasser der Versilia-Küste eintaucht.

An diesem Ort wollte ich vor einigen Jahren mal ein Haus für Schriftstellerinnen und Übersetzer aufmachen. Zusammen mit meiner Freundin Isabella, wie ich eine hart arbeitende Frau in der Verlagswelt, fantasierte ich monatelang davon, doch schlussendlich wurde nichts daraus. Das Haus, das einmal Leo und Evelina Menchelli und ihren Kindern Antonio und Roberta gehörte, ging in die Gemeinde der Engländer über. Ich mag die Engländer in der Toskana sehr, um das klarzustellen, denn sie kaufen, restaurieren behutsam und verbessern folglich dort, wo wir in der Vergangenheit nur verschlechtert haben. Mike hat im oberen Stockwerk jede Menge wunderbarer Bücher in englischer Sprache und mir ein paar von Dorothy Parker und Silvia Plath geschenkt.

Das Haus hat er bereits von anderen Engländern übernommen, er hatte es eigentlich für seine Frau gekauft, die jedoch kurz danach starb. Sie war es, die gesagt hatte: „We didn’t buy a house, but a view.“ Eines schönen Tages kam Mike in die Buchhandlung, setzte sich hinten im Garten in einen der himmelblauen Adirondack-Stühle und fing an, Jedermann von Philip Roth zu lesen. Er zog das Buch aus seinem Rucksack, zusammen mit einem Aperitifglas, in das er aus einer Thermosflasche seinen Aperol Spritz mit viel Schweppes goss. Eine Art Mary-Poppins-Rucksack mit allem, was man braucht.

Bestellungen heute: Die Früchte der Gelassenheit: Was ein Garten lehren kann von Pia Pera, Miss Austen von Gill Hornby, alle Holt-Romane von Kent Haruf und Diario delle solitudini von Fausta Garavini.

 

23. Januar

Die Vorhersage des Zivilschutzes hat sich bestätigt, es hat den ganzen Tag geregnet und gestürmt. Soll heißen, der Regen ist nicht senkrecht vom Himmel auf die Erde gefallen, sondern kübelweise gegen die Fenster geplatscht und häufig auch eingedrungen. Zuerst hatte ich Giovanni die Schuld gegeben, dem Schreiner, der die Fensterläden und -rahmen erneuert hat, aber wie es scheint, kann man gegen Starkregen mit Sturm nichts machen. Ich muss pausenlos an mein kleines Cottage voller Bücher denken. Ich weiß, dass sie unter Kälte und Feuchtigkeit leiden, sie frösteln, und manchmal wellen sich die Umschläge, ein deutliches Zeichen ihres Unwohlseins, ihrer Angst, verlassen zu werden. An sonnigen Tagen dagegen, wenn wir sogar die Tür offen lassen können, sehe ich sie lächeln und mir danken.

Mich um sie zu kümmern ist mein neuer Job. Ich habe rund fünfundzwanzig Jahre in der Buchbranche gearbeitet und mich um viele Autorinnen und Autoren gekümmert, aber das war etwas anderes, sie wurden mir vom Verlag anvertraut, ich suchte sie mir nicht selbst aus. Ich las sozusagen im Auftrag. Tatsächlich hatte ich eine gewisse Karriere gemacht, gekrönt von dem Angebot, die Presseabteilung eines großen Verlagshauses in Mailand zu leiten. Doch das Angebot kam zu spät. Meine Tochter Laura war noch klein, und mir graute davor, in Mailand zu leben. Ich lehnte ab. Der helle Wahnsinn. Dann wurde das Angebot dahingehend geändert, dass ich außerhalb des Verlagshauses arbeiten konnte, und das gefiel mir. Stempeluhren und feste Arbeitszeiten waren nichts für mich, die Anarchistin in mir wollte unregelmäßig leben. Von da an betreute ich die verschiedensten Schriftsteller und fühlte mich vom Glück verwöhnt, unter anderen lernte ich Daša Drndić, Edward Carey und Michael Cunningham kennen.

Michael ist ein unheimlich gut aussehender Mann. Einmal übernachtete er während des Literaturfestivals von Mantua in einem fürstlichen Zimmer direkt an der Piazza delle Erbe. Ich sollte mich mit ihm an einem Morgen für ein längeres Fernsehinterview treffen, doch er erschien nicht. Mithilfe der Putzfrauen gelang es mir, in den Palazzo hineinzukommen. Wir versammelten uns vor seinem Zimmer, doch es war nichts zu hören, vollkommene Stille dort drin. Nach einigem Beratschlagen klingelten wir. Wir warteten, klingelten noch mal, es regte sich noch immer nichts. Selbst ich, die ich immer positiv denke, befürchtete langsam das Schlimmste. Nach weiteren Beratungen beschlossen wir hineinzugehen. Was ich sah, werde ich nie vergessen. Durch das halb offene Fenster fiel ein Sonnenstrahl herein, der Michaels Körper streichelte. Er schlief selig und nackt unter einem weißen Laken in einem, gelinde gesagt, prunkvollen Bett. Ich musste an Giovan Battista Marino denken, an seine Venus, die zum ersten Mal den schlafenden Adonis sieht und sich in ihn verliebt.

 

Rosa, riso d’amor, del ciel fattura

Rose, Liebeslächeln, Geschöpf des Himmels

 

Einmal, es muss im Juni 2014 gewesen sein, war Cunningham im Valdarno bei Baronessa Beatrice zu Gast, der Witwe des österreichischen Schriftstellers Gregor von Rezzori. Wir feierten die aktuelle Vergabe des nach von Rezzori benannten Literaturpreises in ihrem schönen Garten mit den weißen Rosenbäumen. Auch meine Tochter Laura und ihre Freundin Matilde waren dabei.

„Komm mit, ich zeig dir den schönsten Schriftsteller der Welt“, sagte Laura.

„Okay, aber macht euch keine Illusionen, ich sag euch gleich, dass er schwul ist!“, rief ich ihnen nach.

Wenn zwei dreizehnjährige Mädchen unbedingt dem schönsten Schriftsteller der Welt begegnen wollen, obwohl der ungefähr vierzig Jahre älter ist als sie, gehört das meiner Meinung nach zu den gelungensten Wundern der Literatur.

In der Buchhandlung habe ich immer eine Ausgabe von Die Stunden, Ein Zuhause am Ende der Welt, Helle Tage und Fleisch und Blut vorrätig. Und in diesem Moment, bei diesem Regen, hoffe ich, dass auch diese Bücher wie Adonis und wie Michael in Mantua selig schlafen, in Erwartung der Sonne, des Frühlings und der Rosen.

Heute wurden bestellt: Tagebuch eines Buchhändlers von Shaun Bythell und Die Weisheit meines Gartens: Wie die Natur mich lehrte, worauf es am Ende ankommt im Leben von Pia Pera.

Balzac und die kleine chinesische SchneiderinBalzac und die kleine chinesische Schneiderin

Roman

Zwei pfiffige chinesische Studenten, die zur „kulturellen Umerziehung“ in ein abgelegenes Bergdorf ans Ende der Welt verschickt wurden, merken bald, dass sie nur eine einzige Möglichkeit haben zu überleben: Sie müssen in den Besitz jenes wunderbaren Lederkoffers gelangen, der die – verbotenen – Meisterwerke der westlichen Weltliteratur enthält. Denn nur mit ihnen können sie den Widrigkeiten ihres Daseins entkommen – und vielleicht am Ende das Herz der Kleinen Schneiderin gewinnen.

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Gebrauchsanweisung fürs LesenGebrauchsanweisung fürs Lesen

Lesen kann klüger oder auch entspannter machen, es regt die Fantasie an, stärkt das Selbstbewusstsein und fördert die soziale Kompetenz. Felicitas von Lovenberg, preisgekrönte Publizistin und ehemalige FAZ-Literaturchefin, Moderatorin, Autorin und Verlegerin, bricht eine Lanze für das Kulturgut Buch. Sie schildert, wie seine Rolle sich immer wieder gewandelt hat und welch ungewöhnliche Lesegewohnheiten es gibt. Bietet einen Überblick, wie und warum wir heute lesen. Geht auf Lieblingsbücher und Entdeckungen ein. Erzählt, wie Romane sich in Freunde und Reisegefährten verwandeln und aus dem Zeitvertreib Lesen eine beglückende, lebenslange Sucht werden kann. Und zeigt, was es mit Trends und Moden wie Deep Reading auf sich hat. Ob zum Verschenken oder Selbstbehalten: Dieser Wegweiser ist der ideale Band für jeden Buchliebhaber.

„Ich kenne das Vergnügen des Nichtstuns absolut nicht. Sobald ich kein Buch mehr in der Hand halte oder nicht davon träume, eines zu schreiben, überkommt mich eine solche Langeweile, dass ich laut schreien möchte.“

 

Gustave Flaubert

Ganz gleich, ob man es als die schönste Haupt- oder Nebensache der Welt betrachtet, ob man lebt, um zu lesen, oder liest, um zu leben, ob man ein Bücherregal hat oder viele, eine ganze Bibliothek sein Eigen nennt oder lediglich einen Reader, ob man ein selbst erklärter Bücherwurm ist oder eher ein Ich-wünschte-ich-hätte-mehr-Zeit-zum-Lesen-Leser: Wenn dieses Büchlein Sie angelacht hat und Sie danach gegriffen haben, muss man Sie wahrscheinlich nicht erst von der Notwendigkeit und dem Glück der Lektüre überzeugen. Ein Buch übers Lesen, das wäre auch mir bis vor Kurzem ähnlich überflüssig erschienen wie ein Sandkasten in der Sahara.

Doch während das Lesen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts seinen historisch gesehen gewaltigsten Boom erlebte, weil immer mehr Menschen immer mehr Zeit im Alltag hatten, die sie bevorzugt mit einem Buch in der Hand verbrachten, weil Bücher unter und in den Leitmedien eine Vorrangstellung einnahmen und das Gespräch über wichtige neue Titel ein nahezu gesamtgesellschaftliches war, weil die Auswahl an passenden Büchern für jede Art von Leser stetig zunahm und weil sogar das Fernsehen Büchern und dem ernsthaften Gespräch über Literatur Raum und zuschauerfreundliche Sendezeiten einräumte, erscheinen Gegenwart und erst recht Zukunft des Lesens deutlich unsicherer. Statt zum Buch greifen Menschen zum Smartphone, von wo sie immer weniger Schrift- und immer mehr Sprach- und Videonachrichten verschicken, ihre freie Zeit verbringen sie bevorzugt mit dem Anschauen aufwendiger Fernsehserien, und wenn sie sich Büchern und Autoren widmen, tun sie das zunehmend lieber im Pulk als allein. Während Literaturfestivals und Literaturhäuser sich immer größeren Zulaufs erfreuen, Lese-Communitys im Netz und privat organisierte Lesezirkel wachsen und immer mehr Menschen in Blogs und Posts andere an ihren Lektüren teilhaben lassen, scheint das Buch isoliert von dieser Betriebsamkeit und allein mit seinem Leser in der Defensive zu sein. Weil immer weniger Menschen immer weniger Bücher kaufen, gehen Auflagen zurück, Buchhandlungen tun sich vielerorts schwer, und in den Medien werden Buchbesprechungen zunehmend von aufmerksamkeitsstärkeren Disziplinen verdrängt. Schon wird öffentlich die Frage gestellt, ob das Buch womöglich am Ende sei, nachdem es sich über Jahrzehnte der größten Beliebtheit in seiner langen Geschichte erfreut hat. Sicher ist: Wir werden das Bücherlesen nur retten, indem wir es groß machen und essenziell, und nicht, indem wir Grabgesänge darauf anstimmen. Insofern ist das Nachdenken übers Lesen, darüber, was es bewirkt und auslöst, wo und wie wir es tun und mit welchen Büchern wir das Zwiegespräch suchen, kein beschaulicher Selbstzweck, sondern lustvolle Notwendigkeit. Betrachten Sie dieses Büchlein also als eine Art Beipackzettel einer äußerst gesunden Tätigkeit mit Risiken und Nebenwirkungen.

Die Vorzüge des Lesens liegen auf der Hand. Wer liest, ist nicht allein. Lesen bildet, unterhält und informiert. Es macht uns einfühlsamer, trägt zur seelischen Stabilität bei, vergrößert den Sprachschatz und fördert das kritische Denken. Es verankert uns in uns selbst wie in der Welt. Man kann es immer und überall tun, es ist für jedermann erschwinglich und für alle Lebensalter geeignet. Es hilft vielen beim Einschlafen und verbessert die Qualität des Schlafs ebenso wie die Wahrnehmungsfähigkeit im Wachzustand. Aber obwohl das Internet bewirkt, dass rein quantitativ mehr gelesen wird als je zuvor, ist die Kulturtechnik des Lesens, des Sichversenkens in Bücher, in Gefahr. Denn während man beim Bügeln, Kochen, Fernsehen oder Laufen nebenher immer noch anderes erledigen kann, verlangen Lektüren nach Ausschließlichkeit und erlauben kein Multitasking. Das macht die Entscheidung fürs Buch und das Verweilen darin für viele schwerer als früher. Auch darum führen in den Vereinigten Staaten immer mehr Schulen das Fach Deep Reading ein, eine Lernmethode, die Jugendliche dazu befähigen soll, längere Texte ohne größere Unterbrechungen und Ablenkung zu lesen und ihren Inhalt im Kern zu erfassen. Wer da einen Zeitungstext, eine Kurzgeschichte oder Erzählung gemeistert hat, kann sich als Fortgeschrittener an einem ganzen Buch versuchen.

Diese Gebrauchsanweisung hat indes nicht die Lektüre von Gebrauchstexten im Sinn, nicht das rasche Erfassen von E-Mails, Artikeln, Blogs oder Nachrichten, sondern das eigentliche, das gute, wahre, schöne vertiefte Lesen. Das Lesen, das jeder kennt, der schon einmal wegen einer Lektüre das Licht nicht ausschalten konnte oder eine Verabredung unter fadenscheinigem Vorwand abgesagt hat, um nur ja weiterzulesen. Gemeint sind jene intensiven Lektüren, über denen man Zeit und Ort vergisst, die Hunger und Durst unwichtig machen und die einem beim Aufblicken von den Seiten die eigene Welt einen Moment lang fremd und wunderlich erscheinen lassen. Es ist die Art Lesen, die jene praktizieren, die man gern „Buchmenschen“ nennt, also solche, „die im Stehen, Sitzen, Liegen lesen, ihre Brut vernachlässigen, ihre Haltestelle verpassen, die innerlich überbevölkert leben“, wie es Roger Willemsen einmal beschrieb. Es sind Menschen, denen ohne ein gutes Buch in ihrer Nähe etwas fehlt, die unruhig und gereizt reagieren, wenn sie allzu lange nicht zum Lesen kommen, die andere Leute bevorzugt nach ihren Lieblingslektüren befragen und denen ein Leben ohne Literatur weder sinnvoll noch lebenswert erscheint.

„Lesen? Das geht ein, zwei Jahre gut, dann bist du süchtig“, resümiert ein Abhängiger in einer Karikatur von Greser & Lenz. Als jemand, der noch beim Zähneputzen liest, im Stau und an roten Ampeln, der ohne Lektüre schlecht einschlafen kann und morgens extra früh aufsteht, um vor dem Erwachen der Familie etwas Lesezeit zu haben, glaube ich, zu wissen, was er meint. Die Gesellschaft eines guten Buches kann mir fast jede Gesellschaft ersetzen, sorgt für inneres Gleichgewicht, lindert Ratlosigkeit, Angst und Frustration, spendet Trost und Sinn. Lieblingslektüren sind für mich wie ein Zuhause, wo im Kamin das Feuer knistert, die Suppe auf dem Herd steht und der Hund einen freudig begrüßt. Und die großen, wichtigen Werke lösen ein demütig machendes Glücksgefühl aus, ein Entzücken und Staunen über das, wozu ihre Schöpfer imstande sind. Das sind jene Sternschnuppen-Momente, in denen ein Buch mir zuzuflüstern scheint: Schau, so ist es gemeint. Und doch ist es nicht allein dieses Einverständnis und diese Komplizenschaft, die das Lesen so verlockend macht. Wie der Schriftsteller John Green es einmal ausdrückte: „Großartige Bücher helfen uns zu verstehen, und sie helfen uns, uns verstanden zu fühlen.“ Indem uns die Literatur uns selbst vergessen lässt und uns zugleich in Berührung bringt mit anderen Lebensweisen, Eigenschaften, Gefühlen, Überzeugungen und Schicksalen als unseren eigenen, lädt sie uns unwillkürlich zum Abgleich ein. Über den Kontakt mit anderen bringt sie uns so in Verbindung mit uns selbst. Diese Selbsterforschung und Vergewisserung der eigenen inneren Mitte erscheint in Zeiten des „Dataismus“ (so der israelische Historiker Yuval Noah Harari), in denen zunehmend nur noch die Informationen und Erfahrungen zählen, die geteilt und in den globalen Datenfluss eingespeist werden, zentraler denn je. Lesen heißt teilnehmen, aber es ist eine innere Teilnahme. Darum bedeutet Lesen nicht einfach Rückzug und Einsamkeit, sondern es hilft uns, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, kurz: unser Leben zu gestalten.

Werke übers das Wesen des Lesens und Schreibens, über das Leben mit Büchern, über Literatur und die Freuden, Chancen, Gefahren und ungeschriebenen Gebote der Lektüren zählen zu den Schätzen nicht nur meiner Bibliothek. Jeder Schriftsteller beginnt als Leser, und während es für Autoren so naheliegend wie aufschlussreich erscheint, sich über das, was sie tun, übergeordnete Gedanken zu machen, genügt es den meisten Lesern, sich in ihrer Leidenschaft im Bunde mit anderen zu wissen. Doch warum sollten nicht auch Leser ihre Passion einmal genauer unter die Lupe nehmen?

Das Lesen von Literatur ist keine solche Selbstverständlichkeit mehr, wie man gern annehmen würde. Sich in einen Text voller Komplexitäten zu versenken, sich auf oftmals widersprüchliche Charaktere und sprachliche Finesse einzulassen, kostet Zeit und fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Diese Art von Konzentration fällt vielen zusehends schwerer, auch weil Zeit zur medial meistumkämpften Ressource des Individuums in westlichen Gesellschaften geworden ist. So finden es immer mehr Menschen schwieriger denn je, Muße fürs Lesen zu finden – oder die dafür nötige innere Ruhe und Konzentration. Jedenfalls nimmt die Zahl gewohnheitsmäßiger Buchleser ab. Das Leitmedium Buch verliert an Reichweite. Noch 2012 kaufte der Gesellschaft für Konsumforschung zufolge fast jeder Deutsche mindestens einmal im Jahr ein Buch; vier Jahre später war es kaum noch jeder Zweite. Sei es, weil die Statistik, dass jeder Mensch sein Smartphone durchschnittlich alle elf Minuten zur Hand nimmt, auch von denen gefüttert wird, die es deutlich seltener tun, wir uns also insgesamt immer leichter, öfter und lieber ablenken lassen; oder weil immer mehr Menschen immer weniger gern in Geschäfte gehen, um einzukaufen; oder weil die schiere Masse an Neuerscheinungen die Entscheidung für ein bestimmtes Buch und die schiere Masse der immer neuen Zeiterfüllungsbedürfnisse die Entscheidung fürs Buch insgesamt schwieriger macht; oder weil wir von einem sehr langen, oral geprägten Zeitalter in eine visuell ausgerichtete Ära, die stärker auf Bilder als auf Worte setzt, übertreten – Bücher könnten die Dinosaurier der Zukunft sein. Wie es Die Zeit unlängst ausdrückte: „Das Lesen ist von zwei Seiten gefährdet, von neuer Technologie und alter Ignoranz.“

Es gibt indes neben dem schieren Vergnügen der Lektüre, von dem noch ausführlich die Rede sein wird, viele rationale Gründe, warum wir das lang anhaltende und das vertiefte Lesen nicht verlernen sollten. Zunächst einmal handelt es sich dabei um eine Errungenschaft, für die wir als Spezies in der Evolution weit vorankommen mussten. Das Aufkommen des Lesens und des Erzählens sind für die Geschichte der Menschheit so wichtig wie die Entdeckung des Feuers oder die Erfindung des Rades. Denn Lesen stellt für den Menschen keineswegs ein Grundbedürfnis oder gar eine Grundfähigkeit dar, ja unser genetisches Inventar hat uns nicht einmal zu Lesern bestimmt.

Seit Hunderttausenden von Jahren haben Menschen sich in irgendeiner Form mündlich miteinander verständigt; die Fähigkeit zur Sprache ist uns genetisch ebenso mitgegeben wie Sehen und Hören. Lesen hingegen ist keine solche Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: Der Akt des Lesens, also die individuelle Auflösung von etwas Abstraktem in einen konkreten Sinn, vollzieht sich in unserer neuronalen Entwicklungsgeschichte nicht von Natur aus. Das lässt sich schon daran erkennen, dass es sehr lange dauerte, bis aus Sprache Schrift wurde und so jene Technik in die Welt kam, die „es erlaubt zu kommunizieren, ohne da zu sein, zu erinnern, obwohl man vergessen hatte, und Unabänderliches zu behaupten, nur weil es geschrieben steht“, wie der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube es in seinem Buch „Die Anfänge von allem“ beschreibt. Die früheste Schrift ist erst etwa fünftausend Jahre alt und wurde von den Sumerern erfunden, also in der heutigen Region Iraks und Kuwaits – angeblich, weil die Boten, die von einer Ecke des Reiches zur anderen hetzen mussten, oft so lange brauchten, um bei Ankunft wieder zu Atem zu kommen und die Nachricht verständlich zu übermitteln, sodass ein beschriebener Papyrus sicherer erschien. Je schneller geschrieben werden musste und je rascher verstanden werden sollte, desto näher kamen sich Laut und Schrift, desto abstrakter und weniger bildhaft wurden die Zeichen, die zusehends nicht mehr in Stein- oder Tontafeln gemeißelt oder mit Schilfrohr oder Holzgriffel geritzt, sondern mit dem Pinsel auf Papyrus gebracht wurden. In Ägypten entstand aus Hieroglyphen ein so komplexes wie erfolgreiches Schriftsystem, das fast dreitausend Jahre lang bestehen blieb. Dabei konnte eine Hieroglyphe ebenso ein ganzes Wort ausdrücken wie auch nur einen einzelnen Laut. Der Vorläufer unseres Alphabets hingegen entstand im heutigen Syrien aus der Verschmelzung verschiedener regionaler Schriften und wurde ab 1500 v. Chr. von den Phöniziern verbreitet.

Die frühesten Schriften dienten indes nicht dem Erzählen, sondern der Verwaltung von Macht und Besitz. Sie kommunizierten die Erhebung von Steuern, Ernteabgaben oder waren Tempelquittungen. Sie entstanden vor allem in den Städten und halfen bei der Organisation etwa von Viehzucht und Getreideanbau, dienten also der wirtschaftlichen Buchhaltung. Bis die Schrift nicht mehr nur als Gedächtnis von Handlungen diente, sondern tatsächlich Erzählungen aufkamen, vergingen noch mal gut achthundert Jahre. Es war die Verehrung der Verstorbenen, deren Namen notiert und mit Gebetsformeln versehen wurden, die erst Schrift und Sprache zusammenbrachte und dann den Menschen und seine Taten. Das erste literarische Werk der Menschheitsgeschichte ist nach heutigem Stand das Gilgamesch-Epos, gefolgt von Homers Ilias und Odyssee sowie dem indischen Mahabharata. All diese Dichtungen erzählen von Heldenschicksalen und zürnenden Göttern, handeln von Königtümern, Krieg, Zwist und Niedertracht. Und es sind Entwicklungsgeschichten, die von Wandlungen und Einsichten berichten, von Läuterung und Erkenntnis. Das Erzählen diente jedoch nicht von allem Anfang an der Katharsis, sondern war zugleich ein Weg, das Absolute, also das Göttliche, auf Lebensgröße herunterzubrechen – und bot den Menschen damit selbst eine gewisse Kontrolle über das Geschehen an. Da niemand über Epen und Mythen gebietet, dürfen sich diese „etwas gegenüber den Göttern herausnehmen“ (Kaube). Schließlich muss es „seine Zuhörer und später seine Leser in einer Aufmerksamkeitsspannung halten, was voraussetzt, dass im Verlauf der Erzählung Unerwartetes geschieht“. Schon das Epos setzt außerdem auf jenen Effekt, auf den sich Literatur besser versteht als jede andere Kunstform: die Einladung an das Publikum, sich in seine Protagonisten hineinzuversetzen, deren Ängste, Trübsale, Leiden und Zorn zu durchleben, als wären es die eigenen. Und bereits die frühesten Erzählungen wandten sich an das große Publikum und nicht bloß an die gebildete Schicht. Literatur war von Anfang an für alle da – erst recht seit dem Jahr 1450, nachdem Gutenbergs Erfindung beweglicher Lettern gängige Handschriften ablöste, die Produktion von Büchern revolutionierte und ihre massenhafte Verbreitung in Gang setzte.

Während unsere Spezies rund zweitausend Jahre bis zu jenem kognitiven Durchbruch brauchte, den das Lesen mit einem Alphabet erfordert, müssen unsere Kinder heute in rund zweitausend Tagen zu den gleichen Erkenntnissen gelangen. Das ist nur eine der vielen bemerkenswerten Tatsachen, über die die amerikanische Leseforscherin Maryanne Wolf in ihrem Buch „Das lesende Gehirn“ nachdenkt.

Von unseren Köpfen, genauer: unseren Gehirnen aus betrachtet, sind Texte Landschaften, ist jeder Buchstabe und jedes Wort ein Objekt, das unser Gehirn erfassen muss. Die neuronale Struktur, die sie miteinander in Verbindung setzt und ihren Sinn entschlüsselt, muss jedes Gehirn erst herausbilden. Wer lesen lernt, ganz gleich in welchem Alter, bewirkt daher eine Umstrukturierung seines Gehirns, da sich für diese Fähigkeit bisher unverbundene Gehirnareale auf völlig neue Art und Weise verknüpfen müssen. Diese neue Architektur eröffnet wiederum ihrerseits neue Denkweisen, sodass der Leser nicht nur auf physiologischer, sondern auch auf intellektueller Ebene Fortschritte macht und hinausgeht über das Gewohnte und Bekannte. Betrachtet man das Lesen also einmal fundamental als Ergebnis des Umstands, dass unser Gehirn durch Erfahrungen formbar ist, erscheint Marie von Ebner-Eschenbachs Ausruf „Lesen ist ein großes Wunder“ nicht als emphatische Übertreibung, sondern als adäquate (und im Jahr 1912 überdies prophetische) Beschreibung der Offenbarung des Alphabets: „Was können sie nicht, die kleinen schwarzen Zeichen, derer nur so geringe Anzahl ist, dass jedes einzelne von ihnen alle Augenblicke wieder erscheinen muss, wenn ein Ganzes gebildet werden soll, die sich selbst nie, sondern nur ihre Stellung zu der ihrer Kameraden verändern!“

Zunächst noch unabhängig vom Inhalt, ist Lesen auf jeden Fall gut für den Geist – und für seine Wahrnehmung all dessen, was wir ihm durch die Augen zuführen (weshalb die Sehrinde von Lesern denn auch zahlreiche Zellnetzwerke aufweist, die bei Nichtlesern nicht nachweisbar sind). Die Wirkung zwischen lesendem Gehirn und Lektüre ist wechselseitig: Der Akt des Lesens verändert das Gehirn, indem er immer neue Verbindungen zwischen Strukturen und Schaltkreisen herstellt, und die Art der Lektüre bestimmt, welche neuronalen Nervenbahnen aktiviert werden. Insofern sind wir tatsächlich, was wir lesen.

Die Fähigkeit unserer Gehirne zum semantischen Lesen, also dazu, über die Bedeutung des einzelnen Wortes und Satzes hinausgehendes Wissen und Assoziationen ebenfalls blitzschnell hervorzurufen – beim Wort „Band“ etwa nicht nur die Schleife oder das Haargummi, sondern ebenso das Aufnahmemedium, die Musikgruppe oder das Druckerzeugnis –, führt allerdings auch dazu, dass verschiedene Leser ein und dieselbe Lektüre sehr unterschiedlich erleben. Denn in jede Lektüre bringen wir unseren gesammelten Schatz an Bedeutungen und Metawissen ein – oder eben nicht. Dementsprechend nehmen Menschen, die mit einem großen Repertoire an Wörtern und ihren Assoziationen aufgewachsen sind, Texte und Gespräche intensiver und bewusster wahr als jene, die nicht über einen solchen Fundus verfügen. Dazu muss man sich nur in Erinnerung rufen, dass Kinder zwischen zwei bis sechs Jahren durchschnittlich zwei bis vier neue Wörter pro Tag lernen und Tausende in dem gesamten Zeitraum. Je mehr man mit Kindern spricht und ihnen vorliest, desto ausgefeilter wird ihr Wortschatz – und desto besser werden sie später imstande sein, Texte zu verstehen, selbst zu verfassen und sich auszudrücken. Wer nicht liest, dem fehlen später buchstäblich die Worte. Auch deswegen sind die Ergebnisse der jüngsten IGLU-Studie, nach der jeder fünfte Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen kann, so alamierend. Hier sind nicht nur die Schulen gefordert, sondern vor allem die Eltern, für ihre Kinder eine lesefreundliche Umgebung zu schaffen, in der Texte nicht in erster Linie durchs Starren auf Handy-Bildschirme wahrgenommen werden.

Und noch etwas: Sollten Sie beim Lesen dieses Textes mitunter gedanklich abgeschweift sein, lesen Sie richtig. Das Innehalten und Abzweigen auf eigene gedankliche Pfade ist eine zentrale schöpferische Funktion, die dem Lesen eignet. Denn die vielfältigen Assoziationen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die unser Gehirn beim Lesen aufruft, laden regelrecht dazu ein, bei der Lektüre neue Gedanken zu formen, das Gelesene gewissermaßen individuell zu komplettieren. Für viele Leser ist dieses einzigartige Zwiegespräch das eigentliche Wunder der Literatur. „Lesen heißt doppelt leben“ betitelte der Verleger Klaus Piper in diesem Sinn seine Erinnerungen, und Marcel Proust schreibt in „Tage des Lesens“, seiner Hommage an die Lektüren der Kindheit: „Wir spüren genau, dass unsere Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet, und wir möchten, dass er uns Antworten gibt, während er uns doch nur Wünsche geben kann.“

Unseren Lektüren verdanken wir nicht allein einen Großteil dessen, was wir sind, sondern vor allem auch die Erkenntnis, was wir zu sein vermögen. Dafür bedarf es zwingend unserer Mitwirkung. Jede Lektüre beruht darauf, dass wir das, was aus Buchstaben und Zeichen Wörter formt, im Gehirn dechiffrieren und daraus etwas anderes machen, nämlich Sinn. „Wenn ein Musikstück uns noch immer die Wahl erlaubt zwischen der passiven Rolle des Zuhörers und der aktiven des Ausführenden, so macht die Literatur – eine hoffnungslos semantische Kunst, mit den Worten Montales – jeden zum Mitspieler“, sagte der große Dichter Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisvorlesung. Und auch Margaret Atwood hob in ihrer Dankrede zum Friedenspreis 2017 hervor, dass es den Leser braucht, um das Buch zu vervollständigen, ja zu vollenden: „Ein Buch zu lesen ist die denkbar intimste Erfahrung der Gedankenwelt eines anderen Menschen. Schriftsteller, Buch und Leser – in diesem Dreieck stellt das Buch den Boten dar. Und alle drei sind Teil eines Schöpfungsaktes.“

Wenn wir lesen, nehmen wir nicht nur Informationen auf, sondern wir bilden unsere gedankliche Welt aus: Das ist die Überzeugung, für die die Leseforscherin Maryanne Wolf eintritt. Die Notwendigkeit dazu haben zahlreiche Studien belegt, doch am eindringlichsten bleibt die eigene Empirie. So schildert Proust das Lesen ein ums andere Mal als „Initiator, dessen Zauberschlüssel uns in der Tiefe unseres Selbst das Tor zu Räumen öffnet, in die wir sonst nicht einzudringen vermocht hätten“. Lesen macht uns wach und aufmerksam, verleiht Stabilität und Ausgeglichenheit in der großen Erkenntniskrise, in der der Mensch unserer Tage immer wieder glaubt, wählen zu müssen, wer er sein soll unter multiplen Identitäten, Masken und Erwartungen. Womöglich haben viele Leser ihr wahres Selbst oder zumindest ihre innere Mitte schon gefunden – und sind umso besser dafür gerüstet, sich immer mal wieder in den Schuhen eines anderen durchs Leben zu bewegen. Allerdings sollte man aufpassen, dass die Identifikation nicht zu weit geht; man denke nur an die Selbstmordwelle, die Goethes „Werther“ (1774) auslöste.

 

Nicht nur das Buch der Bücher hat einen Ewigkeitsanspruch. Dieser übersetzt sich zum einen in die Unsterblichkeit von Autoren wie Goethe, Dickens, Stendhal, Tolstoi oder Kafka; die Langlebigkeit des Mediums färbt aber auch auf den Leser ab. Tatsächlich hat eine weitreichende Studie der Yale University 2016 gezeigt, dass Menschen, die mindestens dreieinhalb Stunden in der Woche mit dem Lesen von Büchern verbringen, im Durchschnitt zwei Jahre länger leben als Nichtleser. Schon wer nur eine halbe Stunde am Tag liest – Zeitungslektüre nicht eingerechnet –, hat einen signifikanten Überlebensvorsprung. Das Training von kognitiven Fähigkeiten beim Bücherlesen trägt ebenso zum längeren Leben bei wie die nachweislich stressreduzierende Wirkung eingehender Lektüre (verbunden mit dem Umstand, dass Lesen meist an ungefährlichen Orten stattfindet). Als Nebenwirkung stetiger Lektüre wachsen Vokabular, Konzentrationsfähigkeit und kritisches Denken sowie emotionale Intelligenz. Dass sich in der Gruppe der regelmäßigen Bücherleser überproportional viele Frauen fanden und es sich häufig um Menschen mit höherem Bildungsgrad handelte, überrascht niemanden, der viel mit Büchern zu tun hat.

Romane bewirken aber nicht nur, dass Leser länger leben, sondern sie sind auch gesünder und stabiler. Schon Aristoteles beschrieb die geradezu kneippsche Wirkung der griechischen Tragödie: Durch das Erleben von Mitleid und Furcht in der Handlung erfahre auch der Zuschauer Heilung. In der frühen Neuzeit setzten Ärzte bei seelischen und körperlichen Leiden mitunter auf die Kraft des Humors und verordneten ihren Patienten Narrengeschichten wie die von „Till Eulenspiegel“. Und im 18. Jahrhundert stellte der Psychiater Benjamin Rush (1746 bis 1813), einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, eine Bücherliste gegen diverse Leiden zusammen. Melancholikern legte er Novellen nahe, Hypochondern eher Gedichte. Heute gibt es die „Romantherapie“ in Buchform (und mittlerweile auch eine charmante „Romantherapie für Kinder“), wo man je nach Selbstdiagnose mögliche Therapielektüren empfohlen bekommt. Die Züricher Autorin und Bibliotherapeutin Karin Schneuwly hat festgestellt, dass gemeinsames Lesen und Schreiben Patienten hilft, ihren eigenen Schmerz zu vergessen und anderen zuzuhören. Eine erfreulich klare Haltung zur Selbstmedikation vertritt Philippe Dijan: „Wenn ich mich schlecht fühle, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“ Ich kann mich ihm nur anschließen. Meine Notfallapotheke ist das Gedichtregal, wo nicht nur Kästners „Lyrische Hausapotheke“ steht, die genau für solche Situationen geschrieben wurde. Gedichte sind für mich so etwas wie Heftpflaster, die bei Schmerz und Ratlosigkeit rasch Linderung schaffen können. Wenn die Seele eine Lederhaut braucht, greife ich zu Wisława Szymborska („Deshalb leben wir“), zu Mascha Kaléko, Rose Ausländer, zu William Carlos Williams oder, am häufigsten, zu Emily Dickinson. Überreich sind diese Bände an Momenten, in denen Welt, Worte und Leser ganz beieinander sind und eine sinnvolle Mischung ergeben. Diese Erfahrung des Wunderbaren, da die Welt in wenigen Versen so dornig schön erblüht, sprengt allen Kummer und Schmerz. Letztlich beruht jegliche Lesetherapie auf der Erkenntnis, dass Bücher eine anregende, beruhigende oder angstabbauende Wirkung haben können. Probieren Sie es doch einfach einmal aus!

Doch nicht nur Leser profitieren von den mannigfaltigen Nebenwirkungen der Literatur, sondern auch unsere Mitmenschen. Denn Romanleser – hier sticht Belletristik eindeutig Sachbuch – sind überaus versiert im Zwischenmenschlichen und nachweislich freundlicher und einfühlsamer. Da Leser darin geübt sind, sich in andere hineinzuversetzen und die Welt von deren Warte aus zu betrachten, sind Vielleser besonders empathiefähig. Und da sie dank ihrer Lektüren außerdem über einen Wortschatz verfügen, der es ihnen ermöglicht, ihre Gefühle auch auszudrücken, sind sie in der Regel gute Gesprächspartner. Von all diesen erfreulichen Nebenwirkungen profitiert nicht nur die unmittelbare Umgebung. Erst 2015 hat eine Studie des National Endowment for the Arts ergeben, dass Leser dreimal häufiger für gute Zwecke spenden oder gemeinnützige Arbeit leisten als Nichtleser.

Dass Schreiben nicht unbedingt zu größeren Reichtümern führt, weiß man nicht erst seit Carl Spitzwegs berühmtem Gemälde „Der arme Poet“ aus dem Jahr 1839, der in seiner kargen Dachkammer einen Schirm gegen die Lecks im Dach aufgespannt und sich wegen der Kälte die Bettdecke bis zur Brust hochgezogen hat. Lesen hingegen zahlt sich aus. Eine Studie, die das jugendliche Leseverhalten von gut fünftausend Europäern in Bezug zu ihrem späteren Einkommen setzte, kam zu dem Befund, dass all jene Probanden, die in ihrer Jugend freiwillig Bücher gelesen hatten, später über ein um durchschnittlich 21 Prozent höheres Einkommen verfügten als jene, die dem Lesen nichts abgewinnen konnten. Allerdings reichen bereits zehn im Jugendalter freiwillig genossene Bücher, um sich aller Wahrscheinlichkeit nach für den Klub der späteren Besserverdiener zu qualifizieren – was bei allein sieben Bänden „Harry Potter“ ein deutlich steigendes Durchschnittseinkommen der heranwachsenden Generationen geradezu unvermeidlich erscheinen lässt.

Man kann keine Romane lesen, ohne die Welt zu betrachten und ohne sich dabei zu fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Lesen, wie Schreiben, ist Margaret Atwood zufolge „zu einem Großteil der Versuch, zu ergründen, warum Menschen tun, was sie tun“. Und je unverständlicher und fremder das Verhalten, desto faszinierender oft die Lektüre.

Ganz im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten sind es heute vor allem Frauen, die lesen. Insbesondere die schöne Literatur würde ohne Leserinnen wahrscheinlich aussterben. Längst haben wir entdeckt, dass Liebe, Freundschaft, Zweifel, der kleine und der große Kummer im wahren Leben oft weniger intensiv sind als im Roman – und dass sie sich durch den Umweg über die Kunst besser bewältigen lassen. „Wir würden nicht lieben, wenn wir nicht von der Liebe gelesen hätten“, schrieb der große französische Moralist François de La Rochefoucauld und brachte damit bereits im 17. Jahrhundert auf den Punkt, was uns bis heute im Netz der Bücher und Geschichten hält. Bücher bereichern uns um Erfahrungen, Gefühle und Erkenntnisse, die wir ohne sie nicht hätten – und statten uns damit auch mit Vergleichsmöglichkeiten aus. Wie viele Ehen sind geschlossen worden wie die von Emma und Charles Bovary, weil sich einer der beiden – meistens die Frau – in einer Romanze wähnte, die eines großen Romans würdig wäre (und im Falle der Emma Bovary auch war), während der Mann den Sehnsüchten seiner Frau hilflos gegenüber stand? Und wie viele Frauen haben ein unzugängliches männliches Gegenüber als einen Mr. Fitzwilliam Darcy interpretiert, hinter dessen arroganter Fassade nicht nur ein Vermögen, sondern auch ein durch und durch anständiger Charakter steckt, ganz wie in Jane Austens „Stolz und Vorurteil“? Und wem wäre das Ende der wunderbaren „Anna Karenina“ nicht eine Lehre, was die Belastbarkeit einer verbotenen Liebe durch gesellschaftliche Konventionen angeht? Romane machen die Gefühle groß, mitunter überlebensgroß: Liebe und Angst, Sehnsucht und Verzweiflung. Wer hätte, von einer identifikatorischen Lektüre beflügelt, noch keine Übersprunghandlung begangen, über die er später insgeheim den Kopf geschüttelt hat? Durch Romane können wir uns aber auch in verschiedenen Rollen spiegeln, ohne sie realiter einnehmen zu müssen, und sind dadurch vielleicht mitunter gewarnt.

„Lesen heißt, mit einem fremden Kopfe statt des eigenen denken“, sagte Schopenhauer, der indes keinerlei Sinn darin gesehen hätte, diese Beschäftigung Frauen, die er als das „unästhetische Geschlecht“ abtat, zu empfehlen. Lektüre weckt den kritischen Geist, denn sie drängt uns dazu, Dinge zu hinterfragen. Mit dem Infragestellen wächst die Selbstreflexion und damit das Selbstvertrauen. So kommt die gewöhnliche Ordnung ins Rutschen, ebenso wie der unumstößliche Glaube an Instanzen wie Gott, Gatte, Gesetze, Gewöhnung. Darum ist die Liebe von Frauen zur erzählenden Literatur so oft belächelt und herabwürdigend beschrieben worden, gern auch von Romanciers, während es sich bei lesenden Männern vermeintlich stets um Gelehrte handelt, den Kopf randvoll mit wichtigen Gedanken. Da freut man sich bis heute an Erich Kästners „Marktanalyse“: „Der Kunde zur Gemüsefrau: ›Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger?‹ Die Gemüsefrau zum Kunden: ›Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.‹“

Für Frauen bedeutete der Zugang zu Büchern und Bildung stets einen wesentlichen Schritt zu Selbstbestimmung und Emanzipation. Eine der erfolgreichsten Emanzipationsgeschichten der jüngeren Zeit, „Unorthodox“ von Deborah Feldman, handelt ebenfalls von verbotenen Lektüren und der Weigerung, diese anzuerkennen. Feldman schildert, wie sie sich in einem kleinen Judaika-Geschäft in Borough Park abseits ihres Williamsburger Wohnviertels unter fadenscheinigen Vorwänden eine Übersetzung des Talmud besorgt. Sie will endlich die Wahrheit wissen, Antworten finden, die ihr in der Schule vorenthalten werden. Und schon auf Seite 56, wo die Rabbiner über David und seine Frau Batseba streiten und die junge Leserin ahnt, dass es mit der Heiligkeit und Vorbildlichkeit des jüdischen Königs nicht ganz so einfach ist wie gedacht, dämmert ihr, warum es Mädchen nicht erlaubt ist, den Talmud zu lesen: „Eines Tages werde ich zurückblicken und verstehen, dass genau dieser Moment, da mir bewusst wurde, wo meine Macht lag, zugleich einen Schlüsselmoment in meinem Leben barg, an dem ich aufhörte, an Autoritäten um ihrer selbst willen zu glauben, und damit begann, meine eigenen Schlüsse über die Welt zu ziehen, in der ich lebte.“

Solche eigenen Schlüsse bereichern und verkomplizieren das Zusammenleben der Geschlechter ungemein. Die leidenschaftliche Leserin Elke Heidenreich stellt im Vorwort zu dem beliebten und schönen Bildband „Frauen, die lesen, sind gefährlich“ die interessante Frage, ob Männer und Frauen sich besser verstehen würden, wenn Männer so viel läsen wie Frauen. „Wüssten sie mehr von unserem Leben, Denken, Fühlen, wenn sie Sylvia Plath, Virginia Woolf, Carson McCullers, Jane Bowles, Annemarie Schwarzenbach oder Dorothy Parker läsen, so wie wir ja auch Hemingway, Faulkner, Updike, Roth, Flaubert und Balzac lesen?“ Lesend fällt der Rollen- und damit auch Geschlechtswechsel leicht. Und Heidenreich bekennt, sie könne überhaupt nur Männer lieben, die läsen, „die plötzlich mit diesem Blick hochschauen, von weit her kommend, weich, mit einem Wissen nicht nur über sich, sondern auch über mich“.

Leider ist diese Liebe nicht unbedingt wechselseitig. Frauen lieben Männer, die lesen, aber Männer lieben in der Regel keine lesenden Frauen. Das erfährt auch Lenù, die Icherzählerin von Elena Ferrante, die mit ihrer Neapolitanischen Saga eine temperamentvolle Emanzipationsgeschichte durch Bildung geschrieben hat, als ihr Freund Antonio ihr auf Lilas Hochzeit entgegenschleudert: „Wie einen Scheißidioten hast du mich aussehen lassen. Weil ich für dich eine Null bin. Weil du ja so gebildet bist und ich nicht. Weil ich nicht kapiere, worüber du sprichst. Und es stimmt ja auch, na und ob, ich kapier’s wirklich nicht.“ Und wie so oft soll auch hier der Zorn und die Anerkennung der physischen Machtverhältnisse den geistigen Unterschied kompensieren, denn Antonio fährt fort: „Aber verdammt noch mal, Lenù, sieh mich an, sieh mir in die Augen. […] Du weißt alles. Aber du weißt nicht, dass ich, wenn du jetzt mit mir durch diese Tür gehst, wenn ich ›jetzt ist gut‹ zu dir sage und wir zusammen weggehen, ich dann aber merke, dass du dich in der Schule oder sonst wo mit diesem Pisser Nino Sarratore triffst – dass ich dich dann umbringe, Lenù. Ich bringe dich um.“

Lesend lässt sich aber auch lernen, dass Klugheit nur denen abgeht, die ohne auskommen müssen – und man sich anderen zuliebe nie dumm stellen sollte, weil man dann die Falschen anzieht. Man nehme nur Jane Austens Heldin Emma, die Mr. Knightley selbstbewusst belehrt: „Kein Mann, der etwas im Kopf hat, wünscht sich eine einfältige Ehefrau, da können Sie sagen, was Sie wollen.“ Austen schuf durchweg Heldinnen, die ihren Kopf nicht nur zur Dekorationszwecken spazieren führen. So heißt es in „Mansfield Park“ über Fanny Price, dass sie „klug war, über eine schnelle Auffassungsgabe ebenso wie über gesunden Menschenverstand verfügte und eine Vorliebe fürs Lesen besaß, die für sich genommen bereits eine Art von Erziehung ausmachte“. Es sind solche Heldinnen, die für Leserinnen Freundin und Vorbild zugleich werden können. Sie zeichnet aus, dass sie nicht leicht zu fassen sind – weder physisch noch geistig. Und wie Proust-Leserinnen wissen: Beginnt ein Mann erst mal über eine Frau nachzudenken, gehört er ihr schon halb.

Das Lesen von Romanen macht uns zwar einfühlsamer und kritischer, hebt aber auch Standards und Erwartungen. So mancher begeisterte Leser wird über seinen Büchern misanthrophisch. „Je mehr sich unsere Bekanntschaft mit guten Büchern vergrößert, desto geringer wird der Kreis von Menschen, an deren Umgang wir Geschmack finden“, bemerkte Ludwig Feuerbach. Ich weiß nicht, bei wie viel Small-Talk-Empfängen ich mich insgeheim nur zurück zu meiner jeweiligen Lektüre gesehnt habe. Ein verflosserer Liebhaber prophezeite mir einmal, ich würde eines Tages unter den Büchern aus einem meiner übervollen Billy-Regale begraben und dann ewig nicht gefunden werden, da ich mich bekanntlich lieber mit Büchern als mit Menschen beschäftigte und mich daher niemand vermissen würde. Papierne Gefährten haben eben enorme Vorteile: Sie schnarchen nicht, ziehen einem nicht die Bettdecke weg und sind immer für einen da, wenn man sie braucht. Kein Wunder, dass sogar Madonna einmal bekannte: „Alle Welt denkt, ich sei verrückt nach Sex. In Wahrheit lese ich lieber ein gutes Buch.“

 

Und schließlich sorgt Lesen auch noch dafür, dass wir uns gut fühlen. Der „Flow“, den der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi in seinem gleichnamigen Bestseller als Geheimnis des Glücks ausmacht, schafft das Gefühl einer Entdeckung, „ein kreatives Gefühl, das das Individuum in eine andere Realität versetzt“. Wenn hohe Konzentration, eine Balance von Herausforderung und Leistung sowie ein Gefühl von Kontrolle und Befriedigung zusammenkommen, spricht man von Flow – ein Zustand der Freude und der geistigen Präsenz, den jeder Leser kennt, der sich indes bei passiven Aktivitäten wie Fernsehen schwer erreichen lässt, auch wenn man dort heute mehr Qualität und Auswahl denn je erleben kann. Studien belegen, dass hoher Fernsehkonsum Menschen unzufrieden macht, ja sogar ein Gefühl von Reumütigkeit weckt, wenn man vor allem einschaltet, um selbst abzuschalten. Dass das Lesen zunehmend vom Schauen verdrängt wird, dass selbst eingefleischte Leser abends immer häufiger zur Fernbedienung greifen statt zum Buch, hat aber womöglich nicht nur etwas mit der Mühelosigkeit und der Geselligkeit zu tun. Die Literaturwissenschaftlerin Marie Stadler ist ihrem eigenen schlechten Gewissen in der Barbara auf den Grund gegangen. Unter der Überschrift „Warum Lesen glücklicher macht als Netflixen“ bricht sie eine Lanze fürs Lesen als Selbstvergewisserung: „Erzählt mir sonst jemand ungefiltert seine Gedanken? Das macht nicht mal meine beste Freundin. Mein Mann erst recht nicht. Nicht mal die Protagonistin meiner Lieblingsserie, denn die sehe ich nur von außen.“ Und sie weist darauf hin, dass das Schauen von Serien nur vermeintlich weniger Arbeit ist: „Geräusche, Kamerabewegungen, schnelle Schnitte, all das flutet unser Gehirn mit einer Menge Daten und ist gerade nach einem Tag vor dem Computer genau das Falsche für unsere geplagten Augen und Ohren. Lesen ist sehr reizarm und dabei letzten Endes viel entspannender.“

Außerdem verarbeiten wir die Informationen, die wir lesend aufnehmen, anders. Wer die Bände der Fantasy-Saga „Das Lied von Eis und Feuer“ von George R. R. Martin liest, wird sich ein ganz anderes Bild von den sieben Königreichen machen als jenes, das die gefeierte opulente Serienverfilmung „Game of Thrones“ entwirft. Vor allem wird er sich viel detaillierter und länger an die Charaktere und die Wendungen der Handlung erinnern, denn Erinnerungen und Eindrücke, die man nicht allein visuell, sondern interaktiv aufgenommen hat, lassen sich später nachweislich besser wieder abrufen – am besten, wenn man das Buch erneut zur Hand nimmt.

Um das eigene Kopfkino anzukurbeln, gilt in unserer Familie die Devise, dass möglichst erst das Buch gelesen und dann der Film geschaut wird, ganz gleich, ob „Pettersson und Findus“, „Asterix und Obelix“, „Tschick“ oder „Harry Potter“. So kommt jeder auf seine Kosten, und es führt hinterher zu spannenden Diskussionen. Andererseits würden viele Bücher kaum mehr gelesen, wenn sie nicht so kongenial verfilmt wären – und gelegentlich sind Filme sogar besser als die Literaturvorlage. Auf Kino- und Literaturportalen finden sich dazu zahlreiche Abstimmungslisten, vom „Herrn der Ringe“ bis „Psycho“, von „James Bond“ bis „Miss Marple“. Insgesamt aber gilt in den meisten Fällen der beliebte Spruch, der auf Instagram Karriere gemacht hat: „Bücher erreichen Stellen, da kommt der Fernseher gar nicht hin!“

Lesend erfahren wir aber nicht nur die Welt und uns selbst auf einzigartige Weise, sondern wir bilden mit Zeit und Übung dabei Eigenschaften und Tugenden aus, die uns im Leben weiterhelfen. So belegt der australische Philosoph Damon Young in seinem Buch „The Art of Reading“, dass versierte Buchleser sich zwangsläufig in Hartnäckigkeit, Neugier, Geduld, Ausdauer, Mut, Stolz, Mäßigung und Gerechtigkeit üben. In seinem mitreißenden Plädoyer für die hohe Kunst des Lesens im Zeitalter des Schreibens erhebt Young das Lesen zu einer eigenen Disziplin, in der es sich keineswegs nur dilettieren, sondern in hohem Maße brillieren lässt. Mit Ausflügen in Philosophie, Psychologie, Literaturwissenschaft, Soziologie und Geschichte ist dies ein Weckruf, der daran erinnert, dass unsere Lektüren auch ein ehrgeiziges Unterfangen sein dürfen, ja sollten.

Wo wir gerade bei Büchern sind, in denen man blättert und nicht scrollt, deren Gewicht man in der Hand wiegt und die im Regal stehen und nicht in einer Cloud, kommen wir zu einem der vielleicht wichtigsten Argumente fürs Bücherlesen. Was die Lektüre von physischen Büchern der auf E-Readern voraus hat, erfahren Sie im zweiten Kapitel (Wie lesen?). Zunächst geht es um die Unüberwachbarkeit von Büchern, um ihre einzigartige, geniale Subversivität, die im Lauf der Geschichte immer wieder dafür gesorgt hat, dass Schriften verboten und ihre Autoren verfolgt wurden. Bücher sprechen Wahrheiten aus, die Autoritäten wie Diktatoren, Parteien, Religionen, Ideologien und zunehmend auch Konzernen unbequem sind, es sind Kassiber, die, über Grenzen geschmuggelt, sich der Kontrolle der Mächtigen entziehen und zu jenen sprechen, die zu lesen bereit sind. Auch heute beeinträchtigen Diktaturen, Kriege, Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen an vielen Orten unserer Welt das Recht auf freie Meinungsäußerung, den Zugang zu und das Entstehen von Literatur. Wer liest, sollte sich darum ab und an in Erinnerung rufen, welch hohes Privileg es ist, Lektüren in Frieden und Freiheit genießen zu können.

Das ist das eine. In unserer Zeit, da der Wert des Individuums zunehmend auf Daten reduziert wird, die es generiert und mit denen das ewig hungrige globale Datenverarbeitungssystem gefüttert wird, ist es eine bewusste Entscheidung, sich beim Lesen nicht dauernd über die Schulter und in den Kopf schauen zu lassen. Wähle ich hingegen ein Lesegerät wie den Kindle, sollte ich mir zumindest darüber im Klaren sein, dass dieses während der Lektüre Daten über seine Nutzer sammelt. Wenn eine Zahnbürste „intelligent“ ist und Daten über ihre Nutzung, Dauer des Putzens und Wirksamkeit sammelt, mag das vielen von uns noch sinnvoll erscheinen, aber wenn mittels eines Readers gescannt wird, welche Passagen eines Buches ich schnell und welche ich langsam lese, was ich überspringe und wo ich zu lesen aufhöre, ist das mehr als Marktforschung. Evgeny Morozov schrieb 2013 in einem viel beachteten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Amazons ultimativer Teufelspakt dürfte so aussehen: Der Kunde bekommt einen kostenlosen E-Reader mit kostenfreiem, sofortigem Zugang zu allen Büchern der Welt, unter einer Bedingung – er stimmt zu, dass alle seine Lektüren analysiert und ihm entsprechende Werbeanzeigen zugeschickt werden.“ Der Umstand, dass alles, sogar unser Körper, mit einem Sensor plus Internetanschluss ausgestattet werden könne, führe letztlich dazu, dass alles kommerzialisiert werde und die beim Gebrauch generierten Daten verkauft werden könnten. In naher Zukunft, wenn Lesegeräte auch über Gesichtserkennung und biometrische Sensoren verfügen, werden sie wissen, wie sich einzelne Sätze auf unseren Kreislauf auswirken. Sie werden wissen, was uns amüsiert, was irritiert und was zum Weinen gebracht hat. Wie Yuval Noah Harari in seinem visionären Werk „Homo Deus“ schreibt: „Schon bald werden Bücher Sie lesen, während Sie diese Bücher lesen.“ Wer will, dass seine Gedanken frei bleiben und nicht von einem Algorithmus aufgesogen werden, wird dem gedruckten, physischen Buch treu bleiben. Möglicherweise wird das Lesen von gedruckten Büchern auf absehbare Zeit ein geradezu subversiver Akt sein, ein Zeichen des Widerstands gegen die Überwachung durch Maschinen, die uns bald besser kennen werden als wir uns selbst. Solange wir ein gedrucktes Buch lesen, ist und bleibt das eine private, intime Angelegenheit – und ein Vorgang, bei dem wir uns daran erinnern mögen, dass es ein Grundrecht auf diese Privatheit gibt.

Literatur fördert in jedem Menschen das Bewusstsein seiner Einzigartigkeit und seiner Individualität und erinnert ihn so daran, dass es neben dem sozialen Lebewesen noch ein empfindsames Ich gibt. „Viele Dinge können geteilt werden“, schreibt Brodsky. „Ein Bett, ein Stück Brot, Überzeugungen, eine Geliebte, aber nicht ein Gedicht von‚ sagen wir, Rainer Maria Rilke. Ein Werk der Kunst, speziell der Literatur, und ganz besonders ein Gedicht springt den Leser frontal an, sozusagen tête-à-tête‚ und tritt ohne Mittelsmänner direkt mit ihm in Kontakt.“ Diese Art des privaten, direkten Kontakts ist zwar keine Garantie, aber doch eine wirksame Verteidigung gegen jede Form von Versklavung. Eine weitere Nobelpreisträgerin, Doris Lessing, war der Überzeugung, dass Menschen, die Literatur lieben, zumindest in einem Teil ihres Geistes gegen Indoktrinierung immun seien. Ein Mensch mit geübtem ästhetischen Empfinden wird stets weniger anfällig sein für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformen, die jeder Art von Demagogie eigen sind.

Es gibt aber auch sehr triftige und dabei ganz unpolitische Gründe dafür, die Privatheit von Büchern zu schätzen. Denn ihr Äußeres verrät nicht, welche Stellen in ihrem Inneren uns gerade faszinieren. Der Schriftsteller Alberto Manguel erzählt, wie er einmal als Heranwachsender gerade völlig vertieft war in einen Lexikoneintrag zu den Ursachen und Auswirkungen der Gonorrhö, als sein Vater ins Zimmer kam: Einen Moment war er gelähmt vor Schreck, weil er dachte, sein Vater würde merken, was er da las. Dann aber erkannte er, „dass niemand, nicht einmal der nur wenige Schritte entfernte Vater, in meine Lesewelt eindringen und mir ansehen konnte, welche Schweinereien mir das Buch gerade beibrachte, und dass es einzig von meinem eigenen Willen abhing, ob es überhaupt jemand erfuhr“.

Unter uns: All diese rationalen, objektivierbaren, ehrbaren und guten Gründe, die Wissenschaft, Erfahrung und gesunder Menschenverstand für das Lesen anführen, spielen für den gewohnheitsmäßigen Leser keine Rolle. Seine Motivation sind ganz andere Wünsche und, ja, auch Laster. Der gewöhnliche Leser, wie ihn Virginia Woolf in ihrem gleichnamigen Essay schildert, unterscheidet sich von professionellen wie Kritikern, Gelehrten oder Verlagsmenschen zunächst vor allem dadurch, dass er zu seinem eigenen Vergnügen liest und nicht unbedingt, um Wissen zu vermitteln oder die Meinung anderer zu korrigieren. „Vor allem aber leitet ihn das instinktive Bestreben, eigenhändig aus allem, was ihm zufällig in die Finger gerät, etwas Ganzes zu gestalten.“

Dies ist einer der Gründe für die schöne Notwendigkeit, Bücher nicht bloß zu lesen, sondern auch zu besitzen – und zwar am liebsten möglichst viele von ihnen. „Die Bibliothek schützt vor Feindseligkeiten von außen. Sie dämpft den Lärm der Welt, mildert die Kälte, die ›draußen‹ herrscht, aber sie verleiht auch ein Gefühl der Allmacht“, schwärmt Jacques Bonnet in seinem Bibliomanie-Führer „Meine vielseitigen Geliebten“. Er schildert die ideale Bibliothek als „ein Konzentrat aus Raum und Zeit“, in dem wir „über die bloße Anwesenheit des Buches hinaus mit all dem leben, was es uns zum Menschsein im Allgemeinen zu sagen hat“. Geradezu göttlich findet er die Möglichkeit, binnen Sekunden innerhalb seiner Bibliothek von wahren zu erfundenen Orten und vice versa zu springen. Und Doris Lessing erinnert daran, dass eine öffentliche Bibliothek die „demokratischste Einrichtung der Welt“ ist. „Was man darin findet, hat Diktatoren und Tyrannen besiegt: Demagogen können Schriftsteller zwar verfolgen und ihnen tausendmal befehlen, was sie schreiben sollen, aber was früher geschrieben wurde, können sie nicht verschwinden lassen, auch wenn sie es oft genug versuchen.“

Die Bibliothek als Zusammenfassung der Wirklichkeit, als ein „Mahlstrom“, der „alles verschlingt, was uns widerfährt“, ist eine zunehmend in Vergessenheit geratene Lust, die Sammler wie Jacques Bonnet anspornt. Umberto Eco, einer der profiliertesten und passioniertesten Büchernarren unserer Zeit, der eine riesige, unschätzbare Bibliothek sein Eigen nannte, betrachtete den Besitz von Büchern als Lebensversicherung, als eine kleine Vorwegnahme der Unsterblichkeit. „Wir wissen, dass wir heute Lebenden uns an die Erfahrungen derer erinnern, die vor uns gelebt haben, und dass andere, die uns folgen werden, sich an unsere Erfahrungen erinnern werden.“

Winston Churchill schätzte an Bibliotheken, dass sie uns manche Flause austreiben. Denn dem Besitz von Büchern wohnt, wie allem Besitz, auch eine Eitelkeit, ja Selbstgefälligkeit inne. Ein einziger Tag darin jedoch ist imstande, jede Zufriedenheit oder Selbstgefälligkeit zu vertreiben: „Wenn man dort herumstöbert, ein Buch nach dem anderen aus dem Regal nimmt und den unerschöpflichen, grenzenlos vielfältigen Schatz an Wissen und Weisheit betrachtet, den die Menschheit gesammelt und bewahrt hat, weicht jeder Stolz, auch in seiner unschuldigsten Form, sogleich einem Gefühl von Ehrfurcht, in dem ein Anflug von Bedauern mitschwingt.“

Doch am schönsten schwelgt es sich in – und von – den eigenen vier Bücherwänden, auch wenn diese von den rasant steigenden Mieten in den Städten zunehmend ausgerottet werden. So schreibt Alberto Manguel in seiner „Geschichte des Lesens“: „Jedes Mal, wenn ich mich von einem Buch trenne, stelle ich Tage später fest, dass ich gerade dieses Buch dringend benötige. Oder: Ich kenne kein Buch (oder nur sehr, sehr wenige), in dem nicht wenigstens ein interessanter Satz gestanden hätte. Oder: Ich habe es mir aus einem bestimmten Grund angeschafft, und dieser Grund könnte sich auch in Zukunft als stichhaltig erweisen. Und dennoch weiß ich: Der Hauptgrund dafür, dass ich nicht auf diese ständig wachsende Büchermasse verzichten kann, ist eine Art maßlose Gier. Ich genieße den Anblick meiner vollgestopften Regale, den Anblick der Bücher, die ich alle mehr oder weniger gut kenne. Ich genieße den Gedanken, dass ich von einer Art Inventarverzeichnis meines Lebens umgeben bin, von Vorgriffen auf meine Zukunft.“

Bücher sind alterslos. Die allermeisten von ihnen wurden vor unserer Geburt geschrieben, und viele werden noch nach unserem Tod gelesen werden. Zugleich sind die Bücher, die wir in unsere Köpfe, unsere Herzen und unsere Leben lassen, eine Art ausgelagertes Gedächtnis, eine Bibliobiografie unseres Lebens. Bücher stehen für Zeit, die Zeit ihrer Entstehung und unserer Lektüre, und weil sie uns in ihrer Erscheinung an die Gelegenheiten erinnern, bei denen sie gekauft oder geschenkt, gelesen und wiedergelesen wurden, die Male, die wir sie bei einem Umzug oder neuen Lebensabschnitt in die Hand genommen haben, spiegeln sie auch das Vergehen unserer eigenen Zeit wider.

Wenn Borges heute noch lebte, würden seine fantastischen Erzählungen wahrscheinlich in einer Datenwolke und nicht in einer Bibliothek spielen. Dass wir indes Bibliotheken auch im Internetzeitalter brauchen, beweist nicht nur die vielfach ausgezeichnete Bibliothek im dänischen Aarhus, die sich als Gemeinschaftszentrum etabliert hat und in der das Lesen von Büchern nur eine Möglichkeit von vielen ist, dort Zeit zu verbringen. Doch ganz gleich, ob man im dort untergebrachten Bürgeramt seinen Pass verlängern lässt, in der Cafeteria etwas trinkt oder die Kinder zum Spielen bringt: Die Bücher geben dem Ort seine positive Ausstrahlung und machen ihn vertrauenerweckend. Schon Cicero fand, ein Raum ohne Bücher sei wie ein Körper ohne Seele. Das können Innendesigner ebenso bestätigen wie der Amerikaner Kinsey Marable, der aus dem Einrichten von Privatbibliotheken für seine wohlhabende Kundschaft ein einträgliches Geschäft gemacht hat: „Die Menschen haben keine Zeit, 500 oder 1000 ausgewählte Bücher für eine Sammlung zu finden. Wenn sie genug verdient haben, um sich eine solche Kollektion leisten zu können, haben sie nicht mehr die Muße, sie selbst zusammenzustellen.“

Nun mag man fragen, wozu man sich heute noch eine Bibliothek zulegen soll, da doch längst alle Informationen über die Welt im Internet gespeichert und dort überdies ständig aktualisiert werden. Doch diese nahezu grenzenlose Informationsquelle übt auf Büchermenschen einfach nicht denselben magischen Reiz aus wie eine Bibliothek. Jacques Bonnet bekennt: „Ich sitze vor meinem Computer, der mir Zugang zu allen nur möglichen Informationen verschafft. Mehr noch als vorher werde ich zum Meister der Zeit und des Raumes, doch dem Ganzen fehlt der göttliche Funke. Vielleicht ist dies einfach ein rein sinnliches Problem: Nur die Fingerspitzen sind beteiligt.“

Blick ins Buch
Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause istHappy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist

Roman

Ein Roman für Bücherwürmer: die besondere Liebesgeschichte einer Bibliothekarin, die sich mit einem Bücherbus selbstständig macht  

Auf in die Highlands: Leseratte Nina bringt in dieser romantischen Road-Novel mit dem Bücherbus Glück in jedes Dorf und sucht selbst nach der großen Liebe. Für Fans von Manuela Inusa und Mary Simses.  

 Nina ist am Boden zerstört, als sie ihren Job als Bibliothekarin verliert. Ein reiner Brotjob macht sie nicht glücklich. Also macht sie sich mit einem Bücherbus selbstständig und will Leseglück in die Dörfer der schottischen Highlands bringen. Dabei stößt sie auf ungeahnte Hindernisse. Wird sie die Liebe ihres Lebens finden? Oder sucht sie am falschen Ort?  

Jenny Colgan hat mit „Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist“ eine Hommage an das Lesen verfasst. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin ist bekannt für romantische  Frauenromane wie „Die kleine Bäckerei am Strandweg“ und „Die kleine Sommerküche am Meer“ und hat allein in Deutschland Millionen von treuen Leserinnen. Ihre Romane verzaubern mit charmanten Charakteren, die nach Glück und Liebe streben und diese oft woanders finden, als sie vermutet haben.  

Eine Liebesgeschichte über das Lesen  

„Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist“ ist nicht einfach nur eine Liebesgeschichte und ein Roman über einen Neuanfang. Zuallererst ist dieses Werk von Jenny Colgan ein Buch über Bücher, über das Lesen und den Effekt, den es auf Menschen hat. Denn mit Romanen kann Nina helfen: Sie weiß, welches Buch zu welcher Stimmung passt und wie sie ihre Kunden glücklicher macht.  

Die Bestsellerautorin von „Die kleine Bäckerei am Strandweg“  

Nur wenigen Autoren gelingt es so wie Jenny Colgan, mit ihren Büchern eine kleine Flucht aus dem Alltag zu ermöglichen. Mit „Happy Ever After – Wo das Glück zu Hause ist“ startet die Bestsellerautorin eine herzerwärmende Trilogie. Die perfekte Sommerlektüre für alle, die romantische Bücher schätzen und sich dabei in die schottischen Highlands entführen lassen wollen.  

An meine Leser

In diesem Buch findet sich keine Widmung, weil der ganze Roman euch gewidmet ist – den Lesern. Allen Lesern.

Hier geht es nämlich ums Lesen und um Bücher sowie darum, auf welche Art diese Dinge das Leben verändern. Ich finde, das tun sie stets zum Guten hin. Mein Roman handelt auch davon, wie es sich anfühlt, umzuziehen und einen Neuanfang zu wagen (wie ich es im Leben schon oft getan habe), und vom Einfluss unseres gewählten Wohnortes auf unsere Gemütslage. Ebenfalls erörtert er die Frage, ob man im echten Leben eigentlich so eine Liebesgeschichte wie in Büchern erleben kann, und es geht auch um Käse. Ich bin nämlich gerade an einen Ort gezogen, an dem viel Käse hergestellt wird, und kriege einfach nicht genug davon. Es kommt auch ein Hund namens Parsley vor.

Vor allem aber viele Bücher, weil unsere Heldin, Nina Redmond, davon träumt, eine Buchhandlung zu eröffnen.

Deshalb folgen jetzt ein paar nützliche Tipps dazu, wo man am besten liest, man sollte es dabei nämlich so bequem wie möglich haben. Falls ich einen wirklich offensichtlichen Ort vergessen haben sollte oder ihr das alles ganz anders macht, dann schreibt mir doch auf Facebook oder unter @jennycolgan bei Twitter. Ich bin nämlich der altmodischen Überzeugung, dass Lesen ein schützenswertes Gut ist. Und ich hoffe wirklich, dass ihr bei der Lektüre dieses Buches so viel Freude habt wie ich beim Verfassen, wo auch immer ihr es lesen mögt.

Badewanne
Ich entspanne mich gern abends um Viertel vor zehn in der Wanne, was meinen Ehemann in den Wahnsinn treibt. Er ist nämlich für die Temperatur zuständig (die nur etwas unter der der Sonne liegen sollte) und muss ständig Wasser nachlaufen lassen. Für mich ist die Wanne ein wahrer Luxus, nur Badeöle mag ich gar nicht. Die machen alles klebrig, deshalb finde ich sie eher eklig. Egal, darum geht es auch gar nicht, sondern ums Schmökern in der Wanne. Natürlich sind Taschenbücher dafür ideal, und im schlimmsten Fall kann man sie nachher auf der Heizung wieder trocknen (wie bei den von Leser zu Leser weitergegebenen Harry Potter-Büchern meiner Kinder, die alle verzogen und gewellt sind). Aber ich lese im Bad auch viel auf meinem E-Reader und verrate euch jetzt ein Geheimnis: Dabei blättere ich mit der Nase um. Vielleicht seid ihr ja nicht mit so einer prächtigen schottisch-italienischen Peter-Capaldi-Nase gesegnet wie ich. Aber mit ein bisschen Übung werdet ihr schnell feststellen, dass man so problemlos eine Hand im Wasser liegen lassen und trotzdem leicht umblättern kann. Falls bei euch zu Hause gern Leute unangemeldet ins Badezimmer platzen, solltet ihr aber vielleicht die Tür abschließen. Meiner Erfahrung nach sorgt dieser Anblick nämlich für große Heiterkeit.

Meine Freundin Sez benutzt beide Hände, steckt ihren E-Reader vorher aber in eine Plastiktüte. Sehr vernünftig.

Bett
Das einzige Problem beim Lesen im Bett besteht darin, dass es ein viel zu kurzes Vergnügen ist – nur zwei, drei Seiten, und der Schlaf gewinnt die Überhand. Falls es ein besonders langer Tag war, nickst du vielleicht ein paarmal kurz ein und reißt dich wieder zusammen, bevor du endgültig einschläfst. Und wenn du beim nächsten Mal wieder zu diesem Buch greifst, fragst du dich vielleicht, ob es darin wirklich um ein rosafarbenes Einhorn ging, das du im Schlafanzug durch einen Prüfungsraum verfolgt hast. Nein, lautet dann die Antwort, das alles wirst du in diesem Buch nicht finden. Du bist einfach nur eingeschlummert und musst deshalb wohl ein paar Seiten zurückblättern.

Ich habe aber vorsorglich allen Figuren in meinem Roman ganz unterschiedliche Namen gegeben. Es gibt nichts Schlimmeres, als spätabends irgendetwas über eine Cathy und eine Katie zu lesen, und man muss den Leuten das Leben ja nicht unnötig schwer machen.

Sonnenliege
In den Ferien ist so eine Liege einfach perfekt zum Schmökern, und ich konnte im Laufe meines Lebens oft am abends vorhandenen Sonnenbrand die Qualität der jeweiligen Lektüre ablesen.

Allerdings stellt man sich da schon die Frage, wie man das Buch am besten hält. Wenn man es in die Luft reckt, werden die Arme irgendwann schwer. Mal abgesehen davon, wird die Urlaubsbräune dann von einem großen buchförmigen Fleck gestört (der in manchen Kreisen allerdings als cool gilt, glaube ich). Da man mit Blick in die Sonne liest, kneift man dabei auch sehr unansehnlich die Augen zusammen.

Mit dem Buch im Schneidersitz auf einem Handtuch zu hocken ist auch nicht sehr elegant (zumindest nicht bei mir, weil ich einen leichten Buckel habe).

Positioniert man sich bäuchlings, schwitzt man auf das Buch, außerdem bohrt sich einem das Plastik der Liege in den Körper. Am besten besorgt man sich eine von diesen fantastischen Liegen für alte Damen, die einen eigenen kleinen Sonnenschirm haben. Ja, natürlich sehen die albern aus. Aber hey, man ist trotzdem allen anderen überlegen, finde ich, weil man auf diese Weise bequem lesen kann.

Auf der Straße
Früher war es einmal völlig akzeptabel, mit einem Buch vor der Nase die Straße entlangzulaufen. Die Leute sind dann mit nachsichtigem Lächeln beiseitegetreten, weil sie sich nur zu gut an Situationen erinnert haben, in denen sie selbst eine Lektüre einfach nicht aus der Hand legen konnten. (Ich habe mal in der Londoner U-Bahn beobachtet, wie eine junge Frau sich das Handgelenk in einem Halteriemen verrenkt hat, weil sie in Bank umsteigen und gleichzeitig Eine gute Partie zu Ende lesen wollte.)

Heutzutage starren jedoch alle unentwegt auf ihr blödes Handy, um es bloß nicht zwei Sekunden zu spät mitzubekommen, falls irgendjemand ein Hundefoto auf Facebook liken sollte. Einfach nur die Straße entlangzugehen ist daher auch ohne Taschenbuch vor der Nase zum reinsten Hindernislauf geworden. Lasst deshalb die gebotene Vorsicht walten!

Lesekreis
Wenn du meinen Roman für einen Lesekreis liest, dann kann ich mich nur entschuldigen, weil du vermutlich gerade um 2.15 Uhr in der Nacht vor dem Treffen damit anfängst. Ich fühle mich ja immer ein bisschen in die Schulzeit zurückversetzt, wenn mich jemand zur Lektüre eines bestimmten Buches zwingt. Und hey, wenn ich Lust auf Hausaufgaben hätte, würde ich mich doch für diesen Abendkurs einschreiben, den ich schon ewig machen will, für den ich aber irgendwie nie die Zeit finde.

Wenn man ein Buch in Eile lesen muss, dann meistens für den Fall, dass jemand fragt: „Und, wie fandest du das Ende?“ Sonst muss man nämlich mit wissender Miene nicken und dabei verzweifelt hoffen, dass der Autor nicht auf der Zielgeraden getrickst und die ganze Geschichte noch einmal auf den Kopf gestellt hat. (Ist mir das schon einmal passiert? Na, und ob!) Lasst mich euch daher versichern: Dieser Roman nimmt keine überraschende Wendung. Obwohl ich natürlich genau das behaupten würde, wenn ich mit dem Schluss überraschen wollte …

Hängematte
Als ich jünger war, habe ich einen wunderbaren Mann kennengelernt, der mir eine Hängematte gekauft und sie für mich auf meiner winzigen und äußerst gefährlichen Dachterrasse aufgehängt hat. Dort habe ich viele schöne Stunden damit verbracht, einfach nur hin und her zu schaukeln und zu lesen, Käsechips zu knabbern und an meinen tollen, gut aussehenden Freund zu denken.

Dann, mein teurer Leser, habe ich ihn geheiratet, und wir haben uns einen Haufen Kinder sowie einen Hund zugelegt und sind an einen Ort gezogen, an dem es immer regnet. Die Hängematte muss in irgendeinem Lagerraum gelandet sein. Und das, meine Freunde, ist wohl das viel beschworene Happy End.

Gemopste Lesezeit
Ah, meine liebste Gelegenheit zum Lesen! Ich komme oft absichtlich zehn Minuten zu früh, wenn ich die Kinder vom Schwimmen abholen muss, oder bleibe nach dem Einkaufen noch eine Viertelstunde im Auto sitzen, um der Welt ein bisschen Zeit für mich und mein Buch abzutrotzen. Die haben wir beide uns verdient, und ich genieße sie ganz besonders.
Pendeln

Pendeln ist einfach perfekt, wenn man den Dreh erst raushat. Guckt euch doch mal den glasigen Blick der Menschen an, die diesen komplizierten, zauberhaften Tanz durch öffentliche Verkehrsmittel jeden Tag auf sich nehmen. Aber gerade deshalb, weil Pendeln so ein straff organisierter Vorgang ist, kann uns das Gehirn für exakt die wenige zur Verfügung stehende Zeit in ferne Welten entführen. Packt euer Handy weg – dieser ganze Mist kann auch noch warten, bis ihr bei der Arbeit seid. Das hier ist eure Belohnung dafür, dass ihr pendeln müsst.

Auf Reisen
Reisen ist nicht dasselbe wie Pendeln. Wie ihr euch vorstellen könnt, bin ich absolut dagegen, dass man bald auch in Autos und Flugzeugen Zugang zum WLAN hat, obwohl es natürlich so kommen muss. Reservier im Flieger immer im Voraus einen Fensterplatz, stöpsel Kopfhörer ein, und such im Bordradio nach irgendetwas Entspannendem. Dann darfst du dich für ein paar Stunden in dein Buch vertiefen.

Gut, vermutlich wirst du kurz abgelenkt sein, wenn sich der Getränkewagen nähert. Aus Angst, übersehen zu werden, wird man dann ganz kribbelig und kann sich nicht mehr konzentrieren. Leg das Buch in diesem Moment besser beiseite, und wirf einen Blick in eine Zeitschrift. Tu so, als wärst du ganz relaxed und würdest dir keine Gedanken darüber machen, ob du gleich bedient wirst oder nicht.

Ich hab auch schon mal versucht, auf einem Billigflug gleichzeitig zu essen, zu trinken, Musik zu hören und zu lesen. Probier das lieber nicht, falls du nicht ein ordentliches Budget für die Reinigungskosten deiner Mitreisenden hast.

Züge hingegen sind geradezu fürs Lesen gemacht. Meiner Ansicht nach ist es besser, gute Kopfhörer mitzubringen, als sich in den Ruhebereich zu setzen und sich dort mit lauten Idioten herumzustreiten. Ich will ja gar nicht sagen, dass die eine Gefängnisstrafe verdient hätten, aber das Gegenteil würde ich jetzt auch nicht behaupten.

Am Feuer
Falls du kein offenes Feuer hast, tut es auch eine Kerze. Wenn die Tage kürzer werden, freue ich mich wirklich auf ein großes gemütliches Feuer und ein gutes Buch – je dicker, desto besser. Ich liebe richtig, richtig lange Romane, und je nachdem, wie nah das Wochenende ist (oder was ich momentan als Wochenende definiere), entweder eine große Tasse Tee oder ein Glas Wein, dazu ein wenig Ruhe und Frieden.

Ein Hund ist dabei auch sehr hilfreich. Hunde können uns nämlich wunderbar vormachen, dass man für ein glückliches Leben nicht alle zwei Sekunden aufs Handy schauen muss.

Im Krankenhaus
Aus dem ein oder anderen Grund habe ich im Laufe meines Lebens viel Zeit in Kliniken verbracht: In einer habe ich gearbeitet und in einer anderen mehrere Kinder zur Welt gebracht. Diese Kinder sind dann von Bäumen gefallen und haben sich Gliedmaßen gebrochen, etc., etc.

Im Krankenhaus scheint die Zeit ganz eigenen Regeln zu folgen. Sie verstreicht dort viel langsamer, und das ist auch nachts der Fall. Außerdem schwingt dort in allem eine gewisse Ehrfurcht vor den Geschehnissen um uns herum mit, vor Grenzerfahrungen, die jeden irgendwann betreffen: Verluste und neues Leben, Glück und tiefste Trauer. All dies bündelt sich hier auf den Stockwerken des sterilen, überhitzten Gebäudes, in dem rasche, professionelle Schritte auf dem glänzend polierten Linoleum Angst, Schmerz oder Freude mit sich bringen.

Ich finde es nicht so einfach, in Kliniken zu lesen. Dieser Prozess kommt mir vor, als würde sich ein großes Schiff durch schwieriges Gewässer vorankämpfen. Derweil führen die Menschen draußen an Land ihr normales Leben weiter und ahnen nichts von der schweren See, die ganz in ihrer Nähe durchpflügt wird.

Meiner Meinung nach sind Gedichte fürs Krankenhaus gut geeignet. Das sind kurze Texte, von denen man problemlos aufschauen kann, und man fühlt sich durch sie nicht so verletzlich, nicht ganz so von der Welt abgeschnitten. In solchen Situationen haben wir uns doch alle schon einmal wiedergefunden oder werden es eines Tages tun.

Ein Krankenhaus ist außerdem ein guter Ort, um sich zu jemandem zu setzen und ihm leise vorzulesen. Aus diesem Grund kann ich die Empörung nicht nachempfinden, wenn andere Leute darüber klagen, dass die Klinikcafeteria Kuchen und Eis anbietet. In Krankenhäusern sollte es auf jeden Fall Kuchen geben, das ist doch das Mindeste.

Im Schatten eines Baumes in einem sonnigen Park

Aber natürlich, und dazu bitte ein Eis von Mr Whippy, nicht dieses feste Zeug.

Sonstiges
Zu meinen wichtigsten Errungenschaften gehört es, dass ich herausgefunden habe, wie man am besten in folgenden Situationen liest: beim Stillen (indem man ein Kissen UNTER den Kopf des Babys legt), beim Haareföhnen (ich habe schreckliche Haare), beim Zähneputzen (hingegen habe ich gute Zähne, vermutlich, weil ich viel länger putze als empfohlen), beim Warten an der roten Baustellenampel, auf einer Toilette eingeschlossen bei einer furchtbar langweiligen Hochzeit (nicht meiner eigenen), auf dem Indoor-Spielplatz (am vermutlich besten Tag unseres Lebens habe ich dort mal einen kompletten Roman verschlungen, während sich meine Kinder im Bällebad vergnügt haben), bei der Pediküre (zur Maniküre gehe ich nie, weil ich dabei nicht lesen kann), beim Schlangestehen, in einem Cabrio (knifflig), in der Kirche (was eine Sünde war, für die ich auch angemessen bestraft wurde), auf Geschäftsreisen, bei denen ich allein in Restaurants essen musste (mit einem Buch ist man nie einsam), und ganz früher, als alles angefangen hat, auf dem rechten Rücksitz im alten grünen Saab 99 meines Vaters, genüsslich an einem Fab-Eis lutschend und mit dem Lockenkopf meines schlafenden jüngsten Bruders auf dem Schoß.

Also, erzählt ihr mir doch mal, wo ihr lest. Jeder Tag mit einem Buch ist nämlich besser als einer ohne, und ich wünsche euch nur allerglücklichste Tage.

So, und jetzt kommt mal mit und lernt Nina kennen …

Jenny XXX



Kapitel 1

Das Problem an tollen Sachen ist, dass sie sich oft als schreckliche Ereignisse verkleiden. Es wäre doch schön, wenn uns bei jeder üblen Erfahrung jemand auf die Schulter tippen und erklären würde: „Keine Sorge, das ist es wirklich wert. Im Moment kommt es dir zwar furchtbar vor, aber ich verspreche dir, dass am Ende alles gut wird.“

Dann könntest du sagen: „Danke, gute Fee!“ Oder du könntest auch fragen: „Werde ich denn irgendwann diese drei Kilo wieder los?“, und dann würde die Antwort lauten: „Natürlich, mein Kind!“

Das wäre echt nützlich, leider läuft das so aber nicht, und deshalb quälen wir uns oft viel zu lange mit Dingen herum, die uns gar nicht glücklich machen. Oder wir geben viel zu schnell bei einer Sache auf, die am Ende vielleicht doch gelingen würde. Meistens kann man nur schwer unterscheiden, um welche der beiden Möglichkeiten es sich denn nun handelt.

Das Leben vorwärts zu leben ist manchmal wirklich nervig. Das ging zumindest Nina durch den Kopf.

 

Nina Redmond, neunundzwanzig, mahnte sich selbst, bloß nicht in der Öffentlichkeit zu weinen. Falls du dir je gut zuzureden versucht hast, weißt du ja sicher, dass das meistens nicht gut klappt. Aber sie war hier schließlich bei der Arbeit, verdammt. An seinem Arbeitsplatz sollte man nicht heulen.

Sie fragte sich, ob andere es vielleicht trotzdem taten. Dann überlegte sie, ob es womöglich sogar alle taten, selbst Cathy Neeson mit ihren unbeweglichen, zu blonden Haaren, dem dünnen Mund und ihren Tabellenkalkulationen.

Die stand in diesem Moment mit verschränkten Armen in einer Ecke und betrachtete mit finsterem Blick den Raum. Cathy hatte dem kleinen Team, dem Nina angehörte, gerade eine mit Fachjargon gespickte Rede über die allgemeinen Kürzungen gehalten. An Sparpolitik müsse man sich eben gewöhnen, und Birmingham könne sich einfach nicht mehr all seine Büchereien leisten.

Nein, dachte Nina jetzt, vermutlich weinte Cathy eher nicht. In manchen Menschen steckte eben nicht eine einzige Träne.

(Nina wusste natürlich nicht, dass Cathy Neeson sowohl auf dem Weg zur Arbeit als auch später auf dem Heimweg weinte – den sie meistens erst nach acht Uhr abends antrat –, und zwar jedes Mal, wenn sie jemanden wegrationalisieren musste. Sie vergoss jedes Mal Tränen, wenn sie bei einem ohnehin schon winzigen Budget noch ein paar Prozent abknapsen musste, jedes Mal, wenn sie neue qualitätsbezogene Unterlagen liefern sollte, und jedes Mal, wenn ihr Chef ihr am Freitagnachmittag um vier noch jede Menge Verwaltungsarbeit aufs Auge drückte, während er selbst sich mal wieder – wie so oft – auf den Weg in den Skiurlaub machte.

Irgendwann würde Cathy es aufgeben und sich einen Job in einem Souvenirladen des National Trust suchen. Der würde zwar bloß ein Fünftel ihres bisherigen Gehalts, dafür aber auch nur die Hälfte an Arbeitsstunden und überhaupt keine Tränen mit sich bringen. Allerdings geht es in dieser Geschichte nicht um Cathy Neeson.)

Nina dachte mit einem Kloß im Hals daran, dass sie doch bloß eine ganz kleine Bücherei waren.

Am Dienstag und Donnerstag gab es dort vormittags eine Vorlesestunde für Kinder, am Mittwochnachmittag machten sie früh zu. Die Bücherei befand sich in einem etwas heruntergekommenen, altmodischen Gebäude mit schäbigem Linoleum-Fußboden, in dem es manchmal leicht muffig roch, das stimmte wohl. Und die große, tropfende Heizung brauchte morgens eine Weile, um in die Gänge zu kommen, woraufhin sie augenblicklich zu warm wurde. Das brachte Gerüche in Wallung, vor allem den ganz eigenen Mief vom alten Charlie Evans, der immer kam, um im Warmen ganz langsam den Morning Star von vorne bis hinten zu lesen.

Nina fragte sich, wo die Charlie Evans dieser Welt denn nun hinsollten.

Cathy Neeson erklärte, dass man das Büchereiangebot im Zentrum der Stadt bündeln wollte. Dort würde ein „Hub intersensorischer Erfahrungen“ entstehen, was auch immer das sein mochte, mit „multimedialem Erlebnisbereich“ und einem Café. Aber leider lag die Innenstadt für ihre Kunden mit Kinderwagen oder im fortgeschrittenen Alter mindestens zwei Busreisen zu weit entfernt.

Das Grundstück des freundlichen, schäbigen kleinen Büchereigebäudes mit Giebeldach würde verkauft werden, und es würden darauf Managerwohnungen entstehen, die für jemanden mit dem Gehalt eines Bibliothekars unerschwinglich wären.

Nina Redmond, neunundzwanzig, war ein Bücherwurm mit langem, wirrem Haar in Kastanienbraun und heller Haut mit ein paar Sommersprossen hier und da. Ihre Schüchternheit war derart ausgeprägt, dass sie oft in den unpassendsten Momenten rot wurde oder am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Und nun hatte sie das Gefühl, dass man sie in eine Welt hinausschickte, in der ein rauer Wind wehte und wo sich auf einmal viele erwerbslose Bibliothekare zugleich auf dem Arbeitsmarkt tummelten.

„Also“, beendete Cathy Neeson ihre Ansprache, „Sie können quasi sofort damit anfangen, die ›Bücher‹ zusammenzupacken.“

„Bücher“ sprach sie aus, als fände sie das Wort angesichts ihrer glänzenden Vision des neuen Multimedia-Angebots irgendwie geschmacklos. All diese schmuddeligen, sperrigen Dinger.

 

Mit bangem Herzen und geröteten Augen schleppte sich Nina ins Hinterzimmer, wo die anderen zum Glück ähnlich mitgenommen aussahen. Ihre Kollegin Rita O’Leary hätte eigentlich schon vor gut zehn Jahren in den Ruhestand gehen sollen. In ihrem Alter konnte sie die Zahlen der Dewey-Dezimalklassifikation nicht mehr so gut lesen und sortierte die Bücher mehr oder weniger nach Gutdünken ein. Darüber hatten aber immer alle gern hinweggesehen, weil sie den Kunden gegenüber so herzlich war.

Nun brach Rita in Tränen aus, und Nina konnte einen Moment ihre eigene Traurigkeit vergessen, als sie die ältere Kollegin tröstete.

 

Viel zu schnell wurde ein Ausverkauf organisiert, bei dem die meisten der Leser ihre alten Lieblingsbücher aus der 10-Pence-Kiste durchblätterten und die schicken Neuanschaffungen links liegen ließen.

Im Laufe der nächsten Tage sollten die Angestellten eigentlich die restlichen Bücher zusammenpacken und zur Zentralbibliothek schicken.

Griffins normalerweise schon so mürrische Miene war dabei noch finsterer als sonst. Ninas Kollege trug einen langen, unangenehm dünnen Bart und zeigte sich den Menschen gegenüber herablassend, die seine literarischen Vorlieben nicht teilten. Da er nur wenig bekannte, längst vergriffene Romane aus den 1950ern über frustrierte junge Trinker in Fitzrovia mochte, hatte er häufig Gelegenheit, seine Attitüde zu perfektionieren.

„Na ja, wenigstens finden all die Bücher in der neuen großen Einrichtung in der Innenstadt ein schönes Zuhause“, sagte Nina zu ihm. Sie brachte es nicht einmal über sich, „Medienzentrum“ zu sagen.

Griffin schnaubte. „Hast du die Pläne denn nicht gesehen? Kaffee, Computer, DVDs, Pflanzen, Verwaltungsbüros … Und dann die Mitarbeiter, die Kosten-Nutzen-Analysen anfertigen und Arbeitslose schikanieren – ach, entschuldige, ›Achtsamkeitsworkshops‹ anbieten. Im ganzen verdammten Gebäude ist kein einziger Bereich für Bücher vorgesehen.“ Er deutete auf die Dutzende von Kisten. „Die sind nur noch Müll. Wahrscheinlich werden die zu Straßenbelag verarbeitet.“

„Werden sie nicht!“

„Und ob! Das macht man nämlich mit toten Büchern, wusstest du das nicht? Die werden beim Straßenbau als unterste Schicht benutzt, damit große dicke Autos über Jahrhunderte von Gedankengut und Ideen und Gelehrsamkeit rollen können. So stampfen sie mit ihren dämlichen fetten Reifen metaphorisch die Liebe zum Lernen in Grund und Boden, während polternde Top-Gear-Idioten unseren Planeten zugrunde richten.“

„Du hast heute Morgen aber keine besonders gute Laune, oder, Griffin?“

„Könnten Sie beide hier vielleicht ein bisschen Gas geben?“, drängte nun eine hektisch hereinstürmende Cathy Neeson. Durch das winzige Budget hatten sie die Lieferwagen nur für einen einzigen Tag mieten können und würden ernsthafte Probleme bekommen, wenn sie nicht rechtzeitig alles einluden.

„Jawoll!“, zischte Griffin mit leiser Stimme militärisch, während Cathy mit ihrem stets unbeweglichen blonden Bob wieder nach draußen eilte. „Gott, ich kann nicht fassen, wie bösartig diese Frau ist.“

Aber Nina hörte schon gar nicht mehr hin. Stattdessen betrachtete sie verzweifelt die Tausende von Büchern um sie herum, die mit ihren wunderschönen Covern und den optimistischen Klappentexten so hoffnungsfroh wirkten. Der Gedanke, dass auch nur ein einziges davon auf der Müllkippe landen könnte, brach ihr das Herz. Das waren doch schließlich Bücher! Für Nina war das so, als würde man ein Tierheim schließen. Und sie würden heute auf keinen Fall alles wegschaffen können, egal, wie Cathy Neeson sich das vorstellte.

Aus diesem Grund war Ninas Auto, ein Mini Metro, bis obenhin mit Büchern vollgeladen, als sie sechs Stunden später vor der Haustür des kleinen Häuschens parkte, in dem sie mit ihrer Mitbewohnerin lebte.

 

„Auf keinen Fall!“, versetzte Surinder, als sie an die Tür kam und die Arme vor ihrem ziemlich beeindruckenden Busen verschränkte. Sie hatte eine grimmige Miene aufgesetzt, die sie von ihrer Mutter, einer Polizeikommissarin, geerbt hatte. Bei Nina wendete sie diesen Gesichtsausdruck oft an.

„Die kommen mir nicht ins Haus. Ausgeschlossen!“

„Es ist ja nur … Ich meine, die sind schließlich in makellosem Zustand!“

„Darum geht es doch gar nicht“, wandte Surinder ein. „Und schau mich jetzt nicht so an, als würde ich hier gerade Waisenkinder verstoßen.“

„Na ja, in gewisser Hinsicht …“, sagte Nina und versuchte, nicht allzu flehentlich zu gucken.

„Ich hab’s dir schon mal gesagt, Nina, das halten die Balken im Haus nicht aus.“

Nina wohnte seit ihrem Umzug von Chester nach Edgbaston vor vier Jahren zusammen mit Surinder in einem winzigen Reihenhaus. Sie hatten einander vorher nicht gekannt und deshalb die wunderbare Gelegenheit gehabt, befreundete Mitbewohnerinnen zu werden, statt Freundinnen zu sein, die sich durchs Zusammenleben zerstreiten würden.

Nina machte sich ständig Sorgen, dass Surinder irgendwann einen festen Freund finden würde, der dann zu ihr ziehen wollte, oder dass sie sich gemeinsam etwas Neues suchen würden. Doch trotz ihrer vielen Verehrer war dies bislang nicht geschehen, was wirklich ein Segen war.

Surinder wies Nina gern darauf hin, dass sie ja nicht die Einzige war, der so etwas passieren könnte. Aber wegen Ninas lähmender Schüchternheit und ihres ziemlich einsamen Hobbys – des Lesens – waren sie sich ziemlich sicher, dass es wohl bei Surinder als Erstes so weit sein würde.

Nina war immer die Stille gewesen, die im Hintergrund blieb und die Dinge durch die Linse ihrer geliebten Romane betrachtete.

Nach einem weiteren unbehaglichen Abend im Kreise der unbeholfenen Freunde von Surinders neuester Männerbekanntschaft dachte Nina, dass sie einfach noch nie jemandem wie den Helden aus ihren geliebten Büchern begegnet war. Einem Mr Darcy oder Heathcliff oder vielleicht sogar einem Christian Grey, wenn ihr gerade der Sinn danach stand …

Die aufgeregten jungen Männer mit feuchten Händen, bei denen ihr nie irgendetwas Witziges oder Geistreiches einfiel, konnten da einfach nicht mithalten. Sie marschierten nicht finster und wutentbrannt über Moore in Yorkshire. Sie schlugen keinen Tanz in der Brunnenhalle aus, obwohl sie doch in Wirklichkeit schon ihr Leben lang für die verschmähte Tanzpartnerin schwärmten. Sie betranken sich einfach nur wie Griffin bei der Weihnachtsfeier und versuchten dann, mit einem Zungenkuss bei ihr durchzukommen, während sie die Beziehung zu ihrer Freundin als gar nicht so verbindlich hinstellten.

Egal. Jetzt schäumte Surinder jedenfalls vor Wut, und das Schlimmste an der Sache war, dass sie recht hatte. Für mehr Bücher war im Haus einfach kein Platz, weil schon überall welche standen und lagen: im Eingangsbereich, auf der Treppe und in Ninas Zimmer, das bis in den letzten Winkel vollgestopft war. Auch im Wohnzimmer waren etliche säuberlich aufgereiht, ebenso auf der Toilette, nur für alle Fälle. Nina hatte in einer Krise immer gern Betty und ihre Schwestern in Reichweite.

„Ich kann die doch nicht draußen in der Kälte lassen“, bettelte sie nun.

„Nina, das ist bloß ein Haufen TOTES HOLZ! Und zum Teil mieft es ganz schön!“

„Aber …“

Surinders Gesichtsausdruck blieb hart, als sie ihrer Mitbewohnerin streng in die Augen sah. „Nina, das reicht jetzt, die Sache gerät gerade langsam außer Kontrolle. Und wenn ihr in der Bücherei noch die ganze Woche mit Zusammenräumen beschäftigt seid, wird es nur noch schlimmer!“

Surinder trat aus dem Haus und nahm das oberste Buch von dem Stapel, den Nina vor sich hertrug. Es war ein dicker Liebesroman.

„Jetzt guck mal, den hast du doch schon!“

„Ja, ich weiß, aber das ist eine Hardcover-Erstausgabe. Sieh mal, wie schön! Dieses Buch hat noch nie zuvor jemand gelesen!“

„Und dazu wird es wohl auch nie kommen, weil dein Stapel mit noch zu lesenden Büchern größer ist als ich!“

Zornentbrannt baute sich Surinder im Vorgarten vor Nina auf. „Nein!“, sagte sie wieder und wurde jetzt laut. „Dieses Mal lasse ich mich nicht erweichen!“

Nina spürte, wie sie zu zittern begann. Sie standen kurz vor einer ernsthaften Auseinandersetzung, und sie konnte Streit und jegliche Art von Konfrontation einfach nicht ertragen. Was Surinder natürlich wusste.

„Bitte“, sagte Nina wieder.

Surinder reckte die Hände in die Luft. „Gott, ich komme mir vor, als würde ich einen Welpen treten. Sag mal, um eine neue Arbeit hast du dich auch noch nicht bemüht, oder? Nein, du rollst dich einfach auf die Seite und stellst dich tot.“

„Außerdem“, flüsterte Nina und fixierte die Gehwegplatten, als die Tür zufiel, „habe ich heute Morgen meinen Hausschlüssel vergessen. Ich glaube, wir haben uns ausgesperrt.“

 

Surinder starrte Nina wütend an. Nachdem ihr Kommissarinnengesicht seine Schuldigkeit getan hatte, brach sie aber in Gelächter aus.

Dann schlenderten sie zu einem netten kleinen Pub an der nächsten Straßenecke, in dem es heute ausnahmsweise mal nicht proppenvoll war, und suchten sich einen gemütlichen Tisch.

Surinder bestellte eine Flasche Wein, die Nina misstrauisch beäugte. Wein war normalerweise kein gutes Zeichen und der Auslöser für ein „Was mit Nina nicht stimmt“-Gespräch, das meistens nach dem zweiten Glas losging.

Aber so ein Dasein wie ihres war doch in Ordnung, oder nicht? Es war schließlich okay, Bücher zu lieben und seine Arbeit zu mögen und sein Leben so zu führen. Ein nettes, gemütliches kleines Leben mit einer Routine, das bislang niemanden gestört hatte.

„Nein“, sagte Surinder nach dem zweiten Glas und stellte es seufzend auf den Tisch.

Nina richtete sich aufs Zuhören ein und setzte eine leidgeprüfte Miene auf.

Surinder arbeitete bei einer Importfirma für Schmuck im Büro, wo sie die Buchhaltung machte und die Diamantenhändler an der kurzen Leine hielt. Sie war großartig in ihrem Job, und alle hatten Angst vor ihr. Sowohl ihr Händchen fürs Administrative als auch ihr geschickt eingefädeltes häufiges Fehlen waren legendär.

„Es reicht einfach nicht, oder, Niens?“

Nina konzentrierte sich auf ihr Glas und wünschte wirklich, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.

„Was hat denn der Berufsberater gesagt?“

„Er hat gesagt … dass es nach den Kürzungen eben nicht mehr viele Stellen für Bibliothekare gibt. Man wird vor allem Ehrenamtliche einsetzen.“

Surinder gab ein schnaubendes Geräusch von sich. „So nette alte Damen?“

Nina nickte.

„Aber die können den Leuten doch gar nicht die richtigen Romane empfehlen! Und sie wissen auch nicht, was ein Neunjähriger nach Harry Potter als Nächstes lesen sollte.“

„New World – Die Flucht“, sagte Nina automatisch.

„Genau das meine ich. Solches Fachwissen! Und kommen die überhaupt mit dem Klassifikationssystem klar? Mit der Ablage? Dem ganzen Verwaltungskram?“

Nina schüttelte den Kopf. „Eher nicht.“

„Und wo sollst du hin?“

Nina zuckte mit den Achseln. „Im neuen Medienhub gibt es wahrscheinlich Stellen für Informationsvermittler, aber dafür müsste ich an einem Kurs für Teambuilding teilnehmen und mich dann neu bewerben.“

„An einem Kurs für Teambuilding?“

„Ja.“

„Du?“ Surinder lachte. „Und, hast du dich dafür angemeldet?“

Nina schüttelte den Kopf. „Aber Griffin macht da mit.“

„Und dir wird wohl auch nichts anderes übrig bleiben.“

Nina seufzte schwer. „Vermutlich nicht.“

„Du verlierst deine Stelle, Nina! Du wirst arbeitslos! Den ganzen Nachmittag herumzugammeln und Georgette Heyer zu lesen wird daran auch nichts ändern, oder?“

Nina schüttelte den Kopf.

„Also reiß dich jetzt mal zusammen!“

„Wenn ich das mache, dürfen die Bücher dann ins Haus?“

„Nein!“


Kapitel 2

Am Tag des Teambuilding-Kurses war Nina aufgeregt, weil sie keine Ahnung hatte, was sie dort erwartete. Außerdem war ihr Auto ja immer noch bis unters Dach voll mit Büchern.

Auch Griffin nahm an dem Kurs teil und hatte ganz lässig die Beine übergeschlagen, so als wollte er sich als der entspannteste Typ aller Zeiten präsentieren. Das klappte allerdings nicht besonders gut. Sein Pferdeschwanz baumelte schlapp über sein leicht ergrautes T-Shirt, und seine Brille war schmierig.

„Diese Kursteilnehmer-Pappnasen“, flüsterte er Nina zu, um sie aufzuheitern.

Das half aber nicht, danach fühlte sie sich nur noch übler und zupfte nervös an ihrer Blümchenbluse herum.

Draußen war der Frühling so bewegt wie ein auf den Wellen hüpfendes Boot, Regenschauer und Sonnenschein wechselten einander ab.

Surinder hatte recht: Es war wirklich an der Zeit, dass sich Nina am Riemen riss. Aber manchmal kam es ihr eben so vor, als sei die Welt einfach nicht für Leute wie sie gemacht.

Selbstbewusste, charismatische Menschen wie Surinder konnten das nicht verstehen. Wer nicht extrovertiert war, sich nicht dauernd in den Mittelpunkt drängte, keine Selfies postete, nicht ständig redete und nach Aufmerksamkeit verlangte, wurde schlicht übersehen. Und normalerweise war es Nina ja ganz recht, wenn andere geradewegs durch sie hindurchguckten.

Doch jetzt wurde ihr klar, dass sie Gefahr lief, sich selbst zu übersehen. Was auch immer sie versuchte, wie viele Romane sie auch rettete, ihre Bücherei würde schließen. Ihren Arbeitsplatz würde es nicht mehr geben, und es ging ja nicht einfach nur darum, irgendwo einen neuen zu finden. Da überall Bibliothekare arbeitslos wurden, würden sich auf jede neue Stelle dreißig Kandidaten bewerben. Das war so wie bei Schreibmaschinenreparateuren oder Herstellern von Faxgeräten. Mit nur neunundzwanzig fühlte sich Nina fast schon überflüssig, den Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen.

Sie hatte sich für den Kurs mit ihren Kollegen und den Mitarbeitern der beiden anderen schließenden Büchereien der Region im hinteren Saal des Gebäudes zusammengefunden.

Es wurde viel gemurmelt und geklagt, über die verdammte Regierung und darüber, wie ätzend alles war. Begriffen die Menschen denn nicht, war ihnen gar nicht bewusst, was Büchereien alles für die Allgemeinheit taten?

Nina glaubte eher, dass sie es sehr wohl wussten, sich aber einfach nicht darum scherten.

Nun sprang ein junger Mann auf das kleine Podium vorne und rief zur Begrüßung: „Hey!“ Er trug Jeans und ein rosafarbenes Hemd mit offenem Kragen.

„Ich frage mich, was sie dem für diesen Kurs eigentlich bezahlen“, flüsterte Griffin. „Mehr als uns, würd ich mal wetten.“

Nina kniff die Augen zusammen. Des Geldes wegen hatte sie sich ihren Beruf jedenfalls nicht ausgesucht.

„Hallo, alle zusammen!“, rief der junge Mann. Er gehörte zu diesen Leuten, bei denen der Tonfall am Ende immer hochging. Deshalb klang bei ihm jeder Satz wie eine Frage. „Also, ich weiß, dass die Situation hier nicht ideal ist?“

„Ach, was!“, schnaubte Griffin.

„Aber ich bin mir sicher, dass wir uns am Ende des Tages alle super verstehen werden … wenn wir unseren Teamgeist und unser Selbstbewusstsein gestärkt haben, ja?“

Griffin schnaubte wieder, Nina lehnte sich jedoch ein wenig vor. Ihr Selbstbewusstsein stärken? Das könnte wirklich nicht schaden.

 

Inzwischen war etwa eine Stunde verstrichen, und sie waren mit Spielen zur Vertrauensbildung beschäftigt. Damit sollten sie den Glauben an irgendetwas zurückerlangen, obwohl sie doch später alle im Kampf um die verbleibenden Stellen gegeneinander antreten würden.

Nina war mit verbundenen Augen durch den Raum gelaufen und hatte sich dabei nur von den Stimmen der anderen leiten lassen.

Der junge Kursleiter, der sich ihnen als Mungo vorgestellt hatte, war wirklich sehr motivierend. „Sie müssen die Vorstellung aufgeben, dass Sie manche Dinge einfach nicht können!“, rief er.

„Ach?“, seufzte Griffin.

Nina hingegen schaute Mungo an. War an der Sache vielleicht doch was dran?

„Man kann alles schaffen, man muss es nur versuchen.“

„Oh, gut, dann stoße ich am besten zum olympischen Tauchteam dazu“, lautete Griffins Antwort darauf.

Mungo lächelte unbeirrbar. Dann zog er eins seiner Hosenbeine hoch, und der ganze Raum keuchte hörbar auf, als darunter eine Kunststoffprothese zum Vorschein kam.

„Ich würde es zumindest versuchen“, sagte er. „Na los, was würden Sie wirklich gern tun?“

„Eine Abteilung für Medientechnik leiten“, antwortete Griffin rasch.

Nina wusste, dass er Mungo für einen Spitzel der Büchereileute hielt.

Mungo nickte bloß. „Machen wir es doch einfach so, dass jeder etwas dazu sagt“, schlug er vor. „Seien Sie ehrlich. Hier gibt es keine Spione.“

Nina sank auf ihrem Stuhl in sich zusammen. In der Öffentlichkeit zu sprechen war für sie eine Qual.

Ein grantiger Mann, den sie nicht kannte, meldete sich ganz hinten im Raum. „Ich wollte eigentlich immer gern mit Tieren arbeiten“, erklärte er. „Draußen in der freien Wildbahn. Sie beobachten und katalogisieren … Wissen Sie, was ich meine?“

„Das klingt ja super“, sagte Mungo, und es hörte sich an, als meine er es auch so. „Toll! Kommen Sie doch mal nach vorne!“

In Nina zog sich alles zusammen, als sie sich rund um einen Tisch aufstellen mussten, den der Mann nun erklomm, um sich fallen zu lassen und von der Gruppe aufgefangen zu werden.

„Ich träume schon lange davon, Maskenbildnerin beim Film zu werden“, verriet nun eine junge Rezeptionistin aus der Zentrale. „Die großen Stars zu schminken und so.“

Mungo nickte, sie trat vor und ließ sich ebenfalls fallen. Nina konnte nicht fassen, wie problemlos sich alle darauf einließen.

„Ich will einfach nur mit Büchern arbeiten“, sagte Rita. „Das ist alles, was ich mir im Leben wünsche.“

Fallen lassen musste sie sich allerdings nicht, wegen ihrer Hüfte.

Es wurden noch weitere Ideen vorgebracht, die mit viel Nicken und dem ein oder anderen Applaus vom Rest der Gruppe bedacht wurden.

Selbst Griffin nahm seine erste Antwort zurück und murmelte, dass er eigentlich gern Comics zeichnen würde.

Nina hingegen sagte nichts, obwohl es hinter ihrer Stirn fieberhaft arbeitete. Schließlich wurde ihr klar, dass Mungo sie anstarrte.

„Ja?“

„Na los, Sie sind die Letzte. Verraten Sie uns bitte, was Sie gern tun würden. Und seien Sie ehrlich.“

Widerwillig schob sich Nina in Richtung Tisch. „Darüber habe ich eigentlich noch nie nachgedacht.“

„Und ob Sie das haben“, widersprach Mungo. „Wie jeder andere auch.“

„Es klingt aber ganz schön albern. Vor allem unter den gegebenen Umständen.“

„Wir lassen uns gerade rückwärts vom Tisch fallen“, wandte er ein. „Albern ist hier gar nichts.“

Als Nina auf den Tisch kletterte, sah der Rest der Gruppe sie erwartungsvoll an. Ihr Mund war ganz trocken, und plötzlich hatte sie einen Blackout.

„Na ja“, sagte sie und spürte, wie ihre Wangen zu brennen begannen. Sie schluckte schmerzhaft. „Also … ich meine. Tja. Ich hab immer schon … immer schon davon geträumt, eines Tages meine eigene Buchhandlung zu führen. Nur eine ganz kleine.“

Er herrschte kurz Schweigen, und dann erklangen von überall her Stimmen.

„Ich auch!“

„O ja!“

„Das klingt einfach WUNDERBAR!“

„Schließen Sie die Augen“, bat Mungo behutsam.

In diesem Moment kniff Nina die Augen ganz fest zu, lehnte sich zurück und fiel in wartende Arme, die sie auffingen und dann vorsichtig auf dem Boden absetzten.

Und als Nina die Augen wieder aufschlug, fragte sie sich …

 

In der Pause nahm Mungo Nina beiseite, um mit ihr über ihren Traum zu sprechen.

Nina erklärte ihm, dass sie sich Dingen wie Betriebskosten oder Lagerbeständen oder Angestellten oder all den anderen großen Verpflichtungen, die ein Geschäft eben mit sich brachte, nicht gewachsen fühle.

Er nickte sanft. Als sie ihm gestand, dass sie genug Bücher für einen ganzen Laden in ihrem Auto zwischenlagerte, lachte er und hob eine Hand. „Wissen Sie“, sagte er, „man braucht für so etwas nicht unbedingt einen festen Standort.“

„Wie meinen Sie das?“

„Na ja, statt ein Ladenlokal zu mieten, das ja entsprechende Kosten mit sich bringt, könnten Sie doch etwas anderes probieren.“

Er zeigte ihr Fotos auf der Website einer Frau, die eine Buchhandlung auf einem Frachtkahn führte. Davon hatte Nina schon gehört und seufzte neidisch.

„Es muss auch nicht unbedingt ein Schiff sein“, fügte er hinzu. „Ich kannte mal eine Frau, die in Cornwall eine Bäckerei in einem Lieferwagen eröffnet hat.“

„Eine ganze Bäckerei?“

„Eine ganze Bäckerei! Die Leute sind meilenweit dafür gefahren.“

Nina sah ihn skeptisch an. „Ein Lieferwagen?“

„Warum nicht? Haben Sie denn den Führerschein?“

„Ja.“

„So einen Wagen könnte man doch hübsch herrichten, meinen Sie nicht?“

Nina erwähnte an dieser Stelle nicht, dass sie ewig gebraucht hatte, um zu lernen, wie man im Rückwärtsgang wendete. Mungos überschwänglicher Enthusiasmus war so allumfassend, dass es leichter schien, dem jungen Mann einfach zuzustimmen.

 

„EIN LADEN?“ Griffin musste natürlich wieder stänkern. „EINE BUCHHANDLUNG? Ja, bist du denn VERRÜCKT?“

Nina zuckte mit den Achseln. „Ich weiß auch nicht“, sagte sie. „Ich könnte doch deine Comics bei mir verkaufen.“

Sie fühlte sich immer noch seltsam inspiriert. Nun zeigte sie Griffin eine Anzeige, die sie während der Pause mithilfe des begeisterten Mungo gefunden hatte. „Schau dir das mal an.“

„Was ist das?“

„Ein Lieferwagen.“

„Ein stinkender alter Imbisswagen?“

„Ein stinkender alter Imbisswagen“, musste Nina widerwillig zugeben. „Gut, der wäre wahrscheinlich nicht ideal. Aber was ist denn mit diesem hier?“

„Du scheinst Lieferwagen ja für die Lösung aller Probleme zu halten“, knurrte Griffin. „Dabei sind die bestimmt voller Ungeziefer.“

„Ich hab doch gerade gesagt, dass ich Imbisswagen ausschließe!“ Ninas leicht gereizte Stimme ließ Griffin überrascht von seinem Pint Bier aufschauen. Es kam ihm wohl vor, als hätte da eine Maus gebrüllt.

„Jetzt bleib bitte mal ernst, und schau dir den hier an.“

„Oh, ein Lieferwagen!“, rief Griffin übertrieben sarkastisch aus. „Ich weiß wirklich nicht, was du von mir hören willst.“

„Na, zum Beispiel: ›Wow, Nina, das ist ja toll! Wer hätte gedacht, dass du dein Leben in die Hand nehmen und dir so was einfallen lassen würdest?‹“

„Hat dir dieser Mungo etwa den Kopf verdreht?“

„Nein, Griffin, der ist doch nur ein Kind. Aber mir gefällt seine Einstellung.“

„Das verstehe ich nicht“, murmelte Griffin. „Ein Lieferwagen. Ich dachte, du wolltest eine Buchhandlung eröffnen?“

„Das will ich auch!“, fuhr Nina fort. „Aber ein Ladenlokal kann ich mir ja wohl nicht leisten, oder?“

„Nein“, sagte Griffin. „Du wärst als Kreditnehmer ein viel zu großes Risiko für jede Bank. Schließlich hast du überhaupt keine Erfahrung darin, ein Geschäft zu leiten.“

„Stimmt“, nickte Nina. „Aber dafür weiß ich alles über Bücher, oder?“

Griffin sah sie an. „Ja“, musste er widerwillig zugeben, „was Bücher angeht, bist du ziemlich gut.“

„Und ich kriege doch eine Abfindung“, sagte Nina. „Außerdem könnte ich den Mini Metro verkaufen. Ich meine, ich könnte … Ich könnte mir einen Lieferwagen leisten … so gerade eben. Und Ware hab ich schließlich genug, hier aus der Bücherei und … na ja, eben aus meinem Leben. Bei mir stehen ja überall Bücher rum, mit denen könnte ich den Wagen erst einmal vollmachen und dann gucken, wie es weitergeht.“

„Du hast wirklich zu viele Bücher“, seufzte Griffin. „Ich hätte ja nie gedacht, dass ich das mal über jemanden sagen würde.“

„Also“, murmelte Nina. „Wenn ich den Warenbestand schon habe … und dazu noch einen Lieferwagen …“

„Ja?“

„Ich meine, warum sollte ich damit dann nicht durch die Gegend fahren und die Bücher verkaufen?“

So langsam steigerte sie sich da richtig hinein und spürte ein aufgeregtes Kribbeln in der Brust. Warum denn nicht? Wieso sollten alle anderen ihre Träume verwirklichen dürfen, nur sie nicht?

„Wo denn, etwa in Edgbaston?“

„Nein, es müsste irgendwo sein, wo das Parken nicht so streng geregelt ist“, überlegte Nina

„Also nirgendwo.“

„Irgendwo, wo ich nicht störe. Wo ich einfach meine Bücher verkaufen darf.“

„Ich glaube nicht, dass das so funktioniert“, wandte Griffin ein.

„Das wäre wie bei Bauernmärkten, wo die Händler einmal die Woche ihre Ware anbieten.“

„Du willst also nur einmal die Woche arbeiten und dich den Rest der Zeit um deine Bücherplantage kümmern?“, fragte Griffin.

„Jetzt hör schon auf, mir die Sache schlechtzureden!“, schimpfte Nina.

„Ich bin doch nur realistisch. Soll ich jetzt etwa sagen: ›Klar, Nina, pfeif auf die Möglichkeit einer neuen Anstellung und lass mit fast dreißig alles stehen und liegen, um einem Traum hinterherzujagen!‹? Dann wäre ich dir wohl kein guter Freund.“

„Hm“, machte Nina, der er damit ziemlich den Wind aus den Segeln genommen hatte.

„Ich meine“, fuhr Griffin fort, „du bist nicht gerade ein risikofreudiger Mensch. In den vier Jahren, die ich dich nun kenne, bist du kein einziges Mal zu spät aus der Mittagspause zurückgekommen. Du hast nie irgendeinen Änderungsvorschlag für die Mitarbeiter eingebracht oder dich über irgendetwas beschwert, bist niemals während eines Feueralarms einen Kaffee trinken gegangen – nichts. Du bist die Kleine Miss Perfekte Angestellte, die Kleine Miss Ideale Bibliothekarin … Und jetzt willst du dir einen Lieferwagen kaufen und damit draußen in der freien Wildbahn Bücher verkaufen? Um damit dein Geld zu verdienen?“

„Klingt das denn so verrückt?“, fragte Nina.

„Ja“, sagte Griffin.

„Hm“, kam es wieder von Nina. „Und was hast du vor? Dich bei Illustratoren und in Comicläden und so vorstellen?“

Einen Moment wirkte Griffin verlegen. „Oh“, hauchte er. „Du liebe Güte, nein, natürlich nicht. Ich werde mich vermutlich einfach um eine der neuen Stellen bewerben. Du weißt schon … der Sicherheit wegen. Als Wissensvermittler.“

Nina nickte traurig. „Ja, ich wohl auch.“

„Mit dir als Konkurrentin werde ich die Stelle sicher nicht kriegen.“

„Jetzt sei nicht albern, natürlich wirst du das“, wandte Nina ein und konzentrierte sich peinlich berührt auf die Anzeige. „Dieser Wagen steht bestimmt sonst wo.“

Griffin beugte sich über die Annonce und brach dann in schallendes Gelächter aus. „Nina, den kriegst du sowieso nicht.“

„Warum denn nicht? Das ist der, den ich will!“ Sie verbesserte sich: „Das ist der, den ich gewollt hätte.“

Er war blau, geräumig und altmodisch, mit großen Scheinwerfern. Er konnte nicht nur hinten geöffnet werden, sondern hatte auch noch eine seitliche Tür mit einer kleinen Metalltreppe, die man ausklappen konnte. Der Wagen war wirklich schön und strahlte ein gewisses Retroflair aus. Und vor allem war im Inneren jede Menge Platz für Regale, da es sich um einen ehemaligen Brotwagen handelte. Das Ding war einfach umwerfend.

„Na, dann viel Glück“, schnaubte Griffin und deutete aufs Kleingedruckte. „Guck, der steht nämlich in Schottland!“

Blick ins Buch
Weihnachten in der kleinen BuchhandlungWeihnachten in der kleinen Buchhandlung

Roman

Alle Jahre wieder … ein atmosphärischer Weihnachtsromanoman von der „Queen of Christmas“, Jenny Colgan!

„Weihnachten in der kleinen Buchhandlung“, der 4. Band der „Happy Ever After-Reihe“, entführt seine Leserinnen und Leser in das festlich geschmückte Edinburgh. In ihrem stimmungsvollen Roman erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan eine gefühlvolle Geschichte um das schönste aller Feste, die Magie von Büchern und das Glück der Freundschaft.

Als das Kaufhaus, in dem Carmen gearbeitet hat, kurz vor Weihnachten seine Pforten schließt, zieht sie widerstrebend zu ihrer Schwester nach Edinburgh. Sie soll dort eine kleine Buchhandlung übernehmen. Der Laden hat jedoch schon bessere Tage gesehen, es droht der Verkauf – wenn nicht ein Wunder geschieht.  Carmen will schon alles hinwerfen, doch dann lässt sie sich bezaubern: von den verschneiten Straßen der Stadt, vom Charme der altmodischen Buchhandlung – und von dem attraktiven Star-Autor, der dort plötzlich auftaucht. Ob die Magie der Weihnacht ein Wunder wahr werden lässt?

 Jenny Colgans gefühlvolle und atmosphärische SPIEGEL-Bestseller sind wie eine Tasse heiße Schokolade – sie wärmen von innen und machen glücklich.

Wie schon „Weihnachten in der kleinen Bäckerei am Strandweg“ oder „Weihnachten im kleinen Inselhotel“ stimmt auch „Weihnachten in der kleinen Buchhandlung“ auf die festliche Jahreszeit ein: mit einer Geschichte voller Heiterkeit, Gefühl, Schneeflocken und weihnachtlichem Glanz.

  „Wieder eine großartige Lektüre von Jenny Colgan, die Sie in Weihnachtsstimmung versetzen wird“ Bella

Für Impfstoffentwickler.
Mann, ihr habt uns gerettet,
ihr großartigen, klugen Forscher.
Und auch für die,
die uns geimpft haben.
Danke.


Oh, wie süß und erfreulich ist es doch
für das wahrhaft geistige Auge,
alle Arten von Gläubigen zu sehen …
Isaac Penington
(1616–1679, Quäker)


Prolog

Aber es ist doch August«, sagte Carmen ins Telefon, während sie ihr Buch zur Seite legte. „August und beinahe sonnig draußen. Eiswagen ziehen durchs Land, ich trage Sandalen und hab letzte Woche Sonnencreme aufgetragen, die ich auch fast gebraucht hätte! Da habe ich doch dafür jetzt keinen Kopf.“

„Ich meine ja nur“, ertönte wieder die sanfte Stimme ihrer Mutter, Irene, „dass es ganz gut wäre, wenn ich es schon früh wüsste.“

Carmen seufzte. Jedes Jahr das gleiche Theater.

„Und natürlich hat Sofia …“

Carmen verzog das Gesicht. „Jaja, sie bekommt wieder ein Baby und trägt damit zur Überbevölkerung der Erde bei, blablabla, ich weiß.“

„Carmen June Hogan, nicht in diesem Ton!“

„Also wirklich, Mum, Sofia kriegt einfach den Hals nicht voll. Sie hat doch schon drei Kinder! Egal, ich weiß jedenfalls noch nicht, was ich an Weihnachten mache. Vielleicht fahre ich auch weg.“

„Mit wem denn?“ Ihre Mutter klang skeptisch.

„Womöglich lerne ich ja bis Weihnachten jemanden kennen und entfliehe dann mit ihm nach Barbados! Oder L. A.!“

Sie konnte beinahe spüren, wie ihre Mutter am anderen Ende lächelte.

„Mit dir ist also an Weihnachten nicht zu rechnen, weil du in L. A. sein wirst?“

„Weil ich vielleicht in L. A. sein könnte!“

Carmen fragte sich, ob sie eigentlich als Einzige auf der Welt mit Mitte zwanzig bei Unterhaltungen mit ihrer Mutter immer noch zum patzigen Teenager wurde.

Aber es war doch erst August. Sie wollte noch nicht daran denken, dass der Sommer irgendwann vorbei sein würde, und erst recht nicht an ein weiteres Weihnachtsfest. Während der Feiertage würde sie in ihrem Elternhaus in ihrem früheren Kinderzimmer schlafen, das mittlerweile voll war mit lächerlichem Kram, der nicht ihr gehörte: mit Nähmaschinen und allen möglichen anderen Sachen. Dann würde sie wieder die alten Taschenbücher lesen, die noch bei ihr im Regal standen: die Follyfoot-Reihe, C. S. Lewis und, passend zu Weihnachten, Wintersonnenwende.

Alle würden einen Riesenwirbel um Sofias laute, freche Kinder machen und ihnen so unglaublich viel Zeug schenken (das immer aus Holz und furchtbar teuer sein musste), dass sie kaum das Papier eines Päckchens aufgerissen hatten, bevor sie sich schon auf das nächste stürzten.

Auch Sofias Geschenke für alle wurden von Jahr zu Jahr größer und wertvoller, womit offensichtlich war, wer in dieser Familie es zu etwas gebracht hatte – und wer immer noch Spice-Girls-Bettwäsche benutzte und reduzierte Ware von der Arbeit als Geschenke verteilte.

Irene ließ nicht locker. „Ich meine, Sofia wird zu dem Zeitpunkt sicher ungern reisen wollen und ist ja auch superstolz auf ihr neues Haus … Da dachte ich, dass wir alle zu ihr fahren und ich dann koche …“

Sofia arbeitete als Anwältin in Edinburgh, gut hundertfünfzig Kilometer entfernt von der dahinsiechenden Industriestadt an der Westküste Schottlands, aus der sie stammte. Sie hatte es wirklich zu etwas gebracht – danke der Nachfrage –, mit einem attraktiven, international tätigen Anwalt als Ehemann und all ihren Kindern und den Range Rovern, blablabla.

Carmen hingegen war weiterhin dort angestellt, wo sie schon als Schülerin samstags gejobbt hatte: in einem alten Kaufhaus, das immer schäbiger und heruntergekommener wirkte. Diese Tatsache erwähnte die Familie aber nie, was es irgendwie noch schlimmer machte.

Als könnte sie die Gedanken ihrer Tochter lesen, senkte Irene nun die Stimme und fragte: „Und, wie läuft es bei Dounston’s?“

Carmen verstand genau, was ihre Mum damit sagen wollte, obwohl sie den Tonfall hasste.

„Na ja … mit dem Weihnachtsgeschäft wird es sicher besser“, antwortete sie, was beide so gern glauben wollten.

Am Ende des Telefonats war die Sache mit den Feiertagen immer noch nicht eindeutig geklärt. Zumindest weigerte sich Carmen strikt, sich jetzt bereits festzulegen, obwohl ihre Mutter selbstverständlich mit ihr rechnete.

Denn es würde sich natürlich nichts anderes ergeben, und Carmen würde tatsächlich mit von der Partie sein – in Sofias neuem Haus, wie auch immer das aussehen mochte. Wahrscheinlich würde man ihr das übelste Bett von allen zuweisen. Die Alternative war, dass sie sich am vierundzwanzigsten wieder in ihre Spice-Girls-Bettwäsche kuschelte, und dieser Gedanke deprimierte sie nur noch mehr.

Carmen schaute sich im Personalraum um.

Ihre beste Freundin hier im Laden, Idra, war gerade hereingekommen und beäugte nun die Blümchentasse ihrer Vorgesetzten, Mrs Marsh, die unter Androhung der Todesstrafe nicht von anderen benutzt werden durfte.

„Denk nicht einmal daran!“, warnte Carmen sie.

„Ich werd da reinpinkeln“, antwortete Idra zornbebend. „Die hat mich zurück in die Hutabteilung versetzt!“

Carmen stöhnte mitfühlend. Die Hutabteilung lag direkt neben der Eingangstür. Der Gedanke dahinter war, dass sicher viele dringend eine Kopfbedeckung brauchten, wenn sie aus der Kälte der Einkaufsstraße hereinkamen, in der mittlerweile ein rapider Schwund an Geschäften stattfand.

Wer dort an der Kasse stand, war allerdings dauerhaft eisigen Windstößen ausgesetzt, während gleichzeitig der Lufterwärmer auch noch bei strategischem Lagenlook zu Schweißausbrüchen führte. Immerhin öffnete sich die Tür zunehmend seltener.

Carmen zählte die Tage in Büchern. Man konnte pro Tag schließlich nur eine gewisse Anzahl von Schaufenstern neu gestalten, daher hatte sie für die ruhigen Momente nach dem Überprüfen, Abstauben und Zurechtrücken ausgelegter Ware immer ein Taschenbuch unter dem Tisch.

Als sie damals bei Dounston’s angefangen hatte, war immer viel zu tun gewesen, und Carmen hatte nur während der Busfahrt zur Arbeit und in der Mittagspause lesen können. Mittlerweile schaffte sie einen Roman in drei Tagen und wurde immer schneller, was ihr wirklich große Sorgen bereitete.

„Mich hasst sie am meisten“, kommentierte Carmen zum Thema Mrs Marsh, als sie sich den Dienstplan für die nächsten Wochen anschaute.

Carmen hatte die ungünstigste Kombination von Schichten, die man sich nur vorstellen konnte – eine Frühschicht gefolgt von einer Spätschicht am nächsten Tag und danach sogar eine Früh- und Spätschicht am selben Tag. Trotzdem summierte sich ihre Arbeitszeit nicht auf eine volle Stelle, sodass sie nur über die Runden kam, indem sie auf jegliche Unternehmungen verzichtete, an allen Ecken und Enden knapste und am Sonntagabend zig Tupperdosen von ihrer Mutter mit nach Hause nahm.

„Sie hat gesagt, dass ich wie eine Herumtreiberin aussehe“, murmelte Idra.

„Was hattest du denn an?“

„Ich hab einfach nur meine Strickjacke ausgezogen. Für etwa zehn Sekunden.“

Carmen lachte, verstummte aber, als die Person, über die sie gerade sprachen, lautlos in den Raum glitt.

Obwohl sie untersetzt war, hatte Mrs Marsh über Jahrzehnte das geräuschlose Gleiten durchs Warenhaus perfektioniert – immer auf der Suche nach Übeltätern, Langfingern, Zeitverschwendern und Drückebergern, im Prinzip nach jedem, der so wirkte, als hätte er hier womöglich Spaß.

Ja, ihre Chefin bewegte sich lautlos auf ihren winzigen Füßchen, die immer in schicken schwarzen Pumps steckten. Dabei drückten die doch sicher und trugen wohl auch zu den Jahr für Jahr beharrlich wie Efeu wuchernden Besenreisern bei, die durch ihre Feinstrumpfhosen in einem dunklen Nude-Ton gerade eben zu erkennen waren.

Mrs Marshs Körpermitte war voluminös, und ihr üppiger Busen sah durch das Wäscheteil aus der Übergrößenabteilung so aus, als hätte sie nur eine einzige, durchgehende Brust, die im Laden notfalls als Ablage dienen könnte.

Carmen und Idra waren sich seit langem darüber einig, dass Mrs Marshs Idee von Perfektion in einem absolut sauberen und ordentlichen sowie völlig leeren Geschäft bestand. Kunden, die alles durcheinanderbrachten, deren Kinder Gläser herunterwarfen, die mit ihren matschigen Schuhen den Fußboden beschmutzten oder die die Fahrstuhletikette nicht befolgten, störten da eher.

(Mrs Marsh erinnerte sich nur zu gut an die Zeit, als sie noch einen Fahrstuhlführer gehabt hatten, und erwähnte das oft und gern.)

Die gähnende Leere, die ihre Chefin als Idealzustand erachtete, herrschte in den Abteilungen des Warenhauses leider immer öfter.

Nach und nach waren aus dieser unwichtigen, regionalen Satellitenstadt etliche Läden weggezogen – wie Kegel waren BHS, Next, Marks and Spencer und WH Smith einer nach dem anderen gefallen.

Bei Dounston’s hatten Generationen von Bräuten aus der Gegend ihre Hochzeitsliste hinterlegt und den Stoff für ihr Brautkleid ausgesucht, werdende Mütter hatten Kinderwagen gekauft, Familien Porzellan und ihr Sofa, ihre Wohnungsausstattung und Haushaltswaren.

Seit jeher gab es bei Dounston’s im August Schuluniformen und im Dezember neue Ware in der schicken Parfüm- und der wunderbaren Spielzeugabteilung. Dort leuchteten die Augen der Kinder jedes Jahr vor Begeisterung, wenn sie kamen, um für ein kleines Geschenk und ein Foto mit dem Weihnachtsmann vor einer Winterkulisse anzustehen.

Ja, das war Dounston’s, und alle gingen davon aus, dass es als Nächstes zur Reihe der Ladenleichen an der Einkaufsstraße hinzukommen würde.

Aber Carmen konnte sich eine Pleite des Warenhauses einfach nicht vorstellen – schließlich war es eine zuverlässige Anlaufstelle und so eng mit der Stadt und dem Leben ihrer Einwohner verknüpft.

Seine Buntglasfenster zeigten Szenen aus den Schiffswerften am nahen Clyde, und man würde in seiner hauseigenen Konditorei nicht einmal im Traum daran denken, zum französischen Gebäck und den Scones so etwas Neumodisches wie einen Caffè Latte anzubieten.

Nein, Dounston’s konnte einfach nicht dichtmachen, es war doch das Herz der Stadt.

Aber die Stadt selbst schien ja am Ende, tot. An der Einkaufsstraße blieb wenig außer Secondhandshops und Läden, in denen man Elektromobile mieten konnte. Gelegentlich wurde von der Stadtverwaltung in Geschäften, die aber von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, lokales Kunsthandwerk oder Bilder von Malern aus der Gegend angeboten.

Natürlich wollten die Leute gern eine florierende Innenstadt. Aber sie wollten dort nicht fürs Parken bezahlen, wenn es im glitzernden Einkaufszentrum vor den Toren der Stadt umsonst war, wo es auch Wagamama gab.

Ja, sie wollten gern eine florierende Innenstadt, wollten dort aber nicht 17,99 Pfund für eine Porzellantasse mit dem Bild einer Schäferin bezahlen, wenn es für unter fünf Pfund etwas völlig Brauchbares auf Amazon gab.

Und sie wollten auch nicht den ganzen langen Weg ins Stadtzentrum für drei Meter rosafarbenes Dekoband auf sich nehmen, nur um dann festzustellen, dass gerade kein rosafarbenes Dekoband vorrätig war und sie deshalb Weinrot nehmen mussten, obwohl sie doch Rosa wollten.

Schließlich würde es nur zwei Minuten dauern, in einem Onlineshop auf das Band im gewünschten Farbton zu klicken, das schon am nächsten Tag geliefert werden würde.

Das alles konnte Carmen ja nachvollziehen. Obwohl sie jeden Tag ins Zentrum kam, hatte sie es beim Einkaufen auch gern bequem und war damit genauso mitschuldig wie alle anderen.

Und wer benutzte heutzutage schon Serviettenringe? Wie viele Dekokissen konnte ein Mensch, der halbwegs bei Verstand war, in seinem Leben kaufen? Außerdem ließen Brautjungfern ihre Kleider nicht mehr wie früher aus riesigen Lagen rosa- und lilafarbenem Satin anfertigen (oder aus Baumwollsatin, wenn das Geld knapp war).

Stattdessen wurden fertige Kleider im Ausland bestellt. Wenn sie auf den letzten Drücker ankamen, saßen die allerdings so schlecht, dass die Brautjungfern mit roten Wangen bei Dounston’s erschienen, um Rat für Anpassungen und das Kürzen des Saums zu erbitten und vielleicht einen Reißverschluss zu kaufen.

Nur drei Tage nach dem Telefonat war es so weit – man berief die Belegschaft ein, vor der sich nun Mrs Marsh aufbaute, die selbst längst reif für die Rente zu sein schien.

Idra hätte ihr Alter ungefähr auf neunzig geschätzt und zischte jetzt, dass sie am besten Gift in die verdammte Tasse gegeben hätte.

Die Ankündigung, dass man die komplette Belegschaft rauswarf, schien Mrs Marsh mit einer gewissen Genugtuung zu erfüllen. So formulierte sie es natürlich nicht, sondern sprach mit ihrer gewählt vornehmen Vortragsstimme davon, dass man „leider die Arbeitskräfte des Warenhauses freisetzen“ müsse.

Sie blickte durch ihre breite Brille mit dem pastellfarbenen Gestell und tätschelte sich die spraygefestigte Kurzhaarfrisur.

„Ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen ausgezeichnete Referenzen bekommen und keinerlei Schwierigkeiten haben werden, eine neue Anstellung zu finden“, sagte sie und schaute vielsagend zu ihrem Liebling hinüber, der verdammten Schleimerin Lavinia McGraw.

Genau in diesem Moment begegnete Idras Blick dem von Carmen, die das schreckliche Gefühl beschlich, dass sie gleich an völlig unpassender Stelle in Gelächter ausbrechen würde.

Denn diese Nachricht war natürlich furchtbar, ganz grauenhaft, eine Katastrophe. Aber Carmen hatte so etwas schon kommen sehen, genau wie alle anderen, und hatte trotzdem nichts unternommen. Da brachte es ja auch nichts, dafür jetzt Mrs Marsh die Schuld zu geben.


Kapitel 1

Sofia d’Angelo, geborene Hogan, musterte den Weihnachtskranz, der draußen an ihrer glänzenden schwarzen Haustür hing, kniff die Augen zusammen und rückte ihn noch einmal zurecht. Dann trat sie einen Schritt zurück und bewunderte die perfekte Symmetrie des Arrangements.

Diesem Haus hatte sie nicht widerstehen können, das hatte Sofia schon bei der ersten Besichtigung gewusst. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Okay, der Keller war ein wenig feucht, schließlich handelte es sich um ein altes Gebäude. Aber Liebe war Liebe, und es war doch niemand perfekt. Heute kam Haus Nummer 10 an der Walgrave Street allerdings nahe an absolute Perfektion heran.

In der Reihe von Gebäuden unterschiedlicher Größe, die an dieser Straße standen, war es das kleinste: Neben Keller und Erdgeschoss verfügte es über zwei weitere Stockwerke.

Das Haus war in der georgianischen Zeit am Rand von New Town gebaut worden (einem Stadtteil, der inzwischen so gar nicht mehr neu war). Die fünf perfekten Fenster mit jeweils zwölf kleinen Scheiben erinnerten an eine Kinderzeichnung, im obersten Stockwerk verlief ein filigraner Balkon vor den Fenstern, und zur Haustür hinauf führten elegante steinerne Stufen mit einem schmiedeeisernen schwarzen Geländer. Im Moment waren um dieses Geländer dicke Stechpalmenranken geschlungen, dekoriert mit Schleifen aus rotem Schottenkarostoff und geschmackvollen gelben Lämpchen.

Das alles erinnerte an ein Haus auf einer Weihnachtspostkarte, aus dem warmes Licht auf den eisigen Gehsteig fiel. Sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock stand ein Weihnachtbaum.

Zwei Christbäume! Hochzufrieden schlang sich Sofia die Arme um den Körper. Es war ein langer Weg von der kleinen Sozialwohnung auf der anderen Seite von Schottland bis hierher gewesen, aber sie hatte es geschafft.

Die Bestellung der Lebensmittel für Weihnachten hatte sie bereits im September bei Ocado aufgegeben, und auch das sorgfältig ausgesuchte Holzspielzeug für die Kinder war längst eingepackt, natürlich für jeden mit anderem Geschenkpapier, weil der Weihnachtsmann um die Bedeutung solcher Details wusste.

Die Termine für sämtliche Krippenspiele und Weihnachtskonzerte waren im Kalender vermerkt, genau wie der Ausflug zum überteuerten Weihnachtsmarkt und die Weihnachtsshow im Lyceum.

Und es war ja erst Anfang November. Sie hatten doch kaum die geschmackvollen Halloweenkränze und die orange-schwarze Dekoration rund um die Haustür weggeräumt, die Kürbisse und den großen Korb mit zuckerfreien Süßigkeiten.

In Sofias Welt war also alles in Ordnung – wenn man mal von ihrer Schwester absah.

Ihre Mutter hatte angerufen, weil Carmen jetzt schon seit drei Monaten wieder zu Hause wohnte und keine Aussicht auf eine neue Arbeit hatte.

Deshalb meldete sich ihre Mum jede Woche, bettelte Sofia an, etwas für Carmen zu organisieren, und klang dabei immer verzweifelter.

Dort, wo sie wohnten, gab es einfach keine Arbeit, und erst recht nicht im Handel. Allerdings unternahm Carmen auch nichts, um selbst Abhilfe zu schaffen.

Als ganz kleines Mädchen hatte Sofia gern ihre Puppen nebeneinander aufgereiht und ihnen Vorträge darüber gehalten, wie man sich beim Teetrinken zu benehmen hatte. Alles in ihrer Welt war sauber und ordentlich gewesen.

Sofia war vier gewesen, als ihre Mutter wieder schwanger geworden war, und in jener Zeit hatten so viele Leute zu ihr gesagt, was für eine fantastische große Schwester sie werden würde. Die kleine Sofia war darüber äußerst erfreut gewesen, unter anderem auch, weil sie tolle Geschenke bekommen hatte und die Leute für das Baby nur langweilige blöde Klamotten gekauft hatten. Was für wundervolle Monate sie damals durchlebt hatte! Selbst für so ein kleines Persönchen war Sofia ziemlich schlau gewesen, deshalb hatte sie sich gedanklich darauf vorbereitet, Carmen als Freundin, Vertraute und treue Weggefährtin in allen Lebenslagen willkommen zu heißen.

Leider sah das kreischende Monster mit dem verzerrten roten Gesicht dann gar nicht so aus wie die kleinen Schwestern in Sofias Kinderbüchern.

Und als sie älter wurde, hatte Carmen überhaupt keinen Spaß daran, mit Puppen zu spielen oder neue Kleidchen zu tragen. Tatsächlich mochte sie Kleider überhaupt nicht, und sie hasste die Schule, die Sofia so sehr liebte.

Vom Tag ihrer Geburt an gab es mit Carmen nur Ärger. Sie machte Theater, wenn sie nach drinnen oder draußen oder oben gehen sollte, wollte nicht baden oder sich die Haare waschen oder zum Schwimmunterricht oder Leute besuchen, nicht in den Kinderwagen oder aus dem Kinderwagen raus.

Sofia konnte Carmen nie begreiflich machen, dass braves Mitmachen doch viel einfacher war, selbst wenn man keine große Lust dazu hatte. Oft bekam man von den Erwachsenen, die einem lächelnd den Kopf tätschelten, dann sogar ein Plätzchen zur Belohnung. Das alles war für Sofia immer ganz unkompliziert. Carmen hingegen … war wie ein Dorn in ihrer Selbstzufriedenheit.

Jetzt runzelte Sofia die Stirn. Offenbar waren die Dinge wieder … schwierig, hatte ihre Mutter gesagt. Was erklärte, warum Carmen nicht zur Kommunion ihrer Ältesten gekommen war und nicht einmal eine Karte geschickt oder angerufen hatte.

Generell ließ sie Sofia in keiner Weise wissen, wie es in ihrem Leben aussah.

Na ja, es brachte ja nichts, sich jetzt darüber aufzuregen. Sofia strich sich die Stirn glatt – kein Botox bis nach der Geburt! Und über Carmen würde sie sich erst den Kopf zerbrechen, wenn es nicht mehr zu vermeiden war.

Sie warf einen letzten glücklichen Blick auf ihr hübsches Häuschen, dann machte sie sich mit klappernden Absätzen an gefrorenen Pfützen vorbei auf den Weg zur Arbeit.


Kapitel 2

Sofia will gar nicht, dass ich komme.«

„Unsinn“, log ihre Mutter. „Ihr befindet euch einfach in unterschiedlichen Lebensphasen, das ist alles. Und die Sache mit Pippas Feier hat eben ihre Gefühle verletzt.“

„Ihre Gefühle?“, echote Carmen. „Ich hocke hier in meinem Kinderzimmer, habe meine Arbeit verloren und nichts zu tun. Aber irgendwie sind die Gefühle unserer hochgeschätzten Sofia trotzdem das Einzige, was zählt.“

„Mein Schatz, also bitte. Du hast nicht einmal eine Karte geschickt!“

„Sofia will mich nicht bei sich haben. Ich bin doch bloß ihre merkwürdige kleine Schwester, die allen leidtut. Weil sie immer noch in einem Geschäft arbeitet, was ich ja nicht mal mehr tue, weil sie Single ist und nicht schwanger und selbstgefällig wie Sofias arrogante Freundinnen aus der großen Stadt.“ Zu Carmens Verärgerung begannen ihre Wangen zu brennen.

„Es ist okay, eifersüchtig zu sein“, antwortete ihre Mutter. Dann verzog sie gequält das Gesicht, als ihr klar wurde, dass sie genau das Falsche gesagt hatte.

„Ich bin nicht eifersüchtig!“, protestierte Carmen. „Wer will denn schon einen Haufen Blagen am Hals haben? Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass Sofia wegen der Angelegenheit so einen Aufstand macht. Hat sie keine anderen Sorgen als die Frage, ob ich zu so einer blöden Feier komme oder nicht?“

„Wichtiger als die Frage, ob die eigene Schwester für ihre Familie da ist oder nicht?“

„Aber das ist doch gar nicht meine Familie! Außerdem gibt es bei denen ja alle zehn Minuten was zu feiern. Eine Hochzeit. Eine Taufe. Eine Geburtstagsfeier. Eine Babyparty. ›Liebe Carmen, gib bitte deine komplette Freizeit auf, um herzukommen und mir zu versichern, wie toll ich bin und wie toll mein Leben ist und wie toll meine Kinder sind! Ach, übrigens, könntest du wirklich teure Geschenke mitbringen, für die du eigentlich das Geld nicht hast? Und dann in Restaurants mitkommen, die du dir auch nicht leisten kannst? Da kann ich nämlich vor aller Augen demonstrativ für meine arme Schwester zahlen. Ach, und guck dir nur mein riesiges Haus an!‹“

Wütend verschränkte Carmen die Arme vor der Brust. Sie trauerte ihrem Zimmer in der WG hinterher, aber sie war eben pleite. Hier und da hatte sie eine Schicht in einem Café oder einer Kneipe übernehmen können, aber es suchte ja die ganze Stadt nach Arbeit.

Dass ihre Eltern ihr so freundlich unter die Arme griffen, machte es auch nicht besser. Carmen wusste genau, was sie dachten und ihr am liebsten ins Gesicht gesagt hätten – dass sie doch so ein schlaues Mädchen gewesen war. Sie hätte gut aufs College gehen und eine Berufsausbildung machen können, oder ein Handwerk lernen. Aber sie war stur geblieben und hatte auf niemanden gehört.

Und jetzt musste sie ihren Frust eben an irgendetwas auslassen.

„Außerdem seid ihr doch alle fünf Minuten da, um vor dem Altar der Enkelkinder Lobpreis zu singen, lasst dafür alles stehen und liegen. Mir kommt es so vor, als wäre diese ganze Familie vor allem Sofias Fanclub. Und seit ich da nicht mehr Mitglied sein will, bin ich die böse Carmen.“

Dazu sagte ihre Mutter erst mal nichts. Denn einerseits war durchaus etwas dran an dem, was Carmen gesagt hatte: Drei Kinder bedeuteten jede Menge Feiern und Geschenke und Trubel. Andererseits waren doch viele Frauen hingebungsvolle Tanten. Bei Carmen war sie nicht einmal sicher, ob sie das genaue Alter von Sofias Sprösslingen kannte.

Irene wünschte sich so sehr, dass ihre Töchter einander näherstehen würden. Sie wollte, dass sich alle gut verstanden, wie es in einer Familie sein sollte.

„Ich glaube, dass sie dich jetzt wirklich braucht“, behauptete Irene, die das so gar nicht dachte.

„Tut sie nicht“, erwiderte Carmen. „Sie hat doch ihr ›supertolles Kindermädchen‹.“

So wie über dieses Kindermädchen hatte Sofia über Carmen bestimmt noch nie geschwärmt.

„Und Federico.“

„Aber der ist wegen der Arbeit ständig unterwegs“, gab ihre Mutter zu bedenken. „Deine Schwester geht ja trotz der Schwangerschaft weiter ins Büro, und drei Kinder sind selbst mit Nanny ganz schön viel. Platz gibt es bei ihr genug, und sie hat mir versprochen, dass sie dir helfen wird.“

„Soll das ein Witz sein, Mum?“, hatte Sofia in Wirklichkeit gesagt, als ihre Mutter es wieder einmal versuchte. „Mir drückst du die alte Nörglerin nicht aufs Auge! Ich habe drei Kinder plus Federico, ein weiteres ist unterwegs, und zusätzlich arbeite ich an einem riesigen Fall, den ich nicht abgeben kann. Und jetzt soll ich mich auch noch um Carmen kümmern?“

„Wenn etwas erledigt werden soll, bitte jemanden darum, der viel beschäftigt ist …“, sagte ihre Mutter hoffnungsvoll. „Hier bleibt uns nichts mehr, Sofia, einfach gar nichts. Diese Stadt ist am Ende.“

„Ich weiß“, sagte Sofia. „Das hat sich durchaus bis zu uns herumgesprochen.“

„Und deine Schwester … Ich finde es einfach furchtbar, sie so traurig zu sehen.“

Jetzt meldete sich bei Sofia das schlechte Gewissen. „Sie wird gar nicht herkommen wollen. In ihren Augen ist Edinburgh doch voll von langweiligen, selbstgefälligen, arroganten Schickimickitanten in roten Hosen.“

„Sie …“

Ja, genau das dachte Carmen über Edinburgh und hatte es des Öfteren lautstark zum Ausdruck gebracht.

„So, wie ich das sehe“, begann Irene wieder, „tut sie einfach nur so, als wäre alles in Ordnung. Aber das ist es nicht, und die Sache macht uns wirklich fertig. Carmen hat keine Arbeit, trifft sich mit niemandem mehr … Ich mache mir solche Sorgen.“

„Und wieso ist Carmen mein Problem?“

„Ist sie ja nicht“, antwortete ihre Mutter. „Sie ist unser aller Problem. Nein, so meinte ich das nicht. Aber ich hab eben gedacht … dass sie so vielleicht eine engere Beziehung zu deinen Kindern entwickeln würde.“

Sofia schnaubte. „Sie weiß ja noch nicht einmal, wie sie heißen!“

„Weiß sie doch!“

„Und sie hat sich nicht dazu herabgelassen, zu Pippas Erstkommunion zu kommen. Beim Empfang ist ein Platz am Tisch leer geblieben.“

„Ich weiß“, sagte ihre Mutter. Das war übel gewesen.

„Vierundzwanzig Stunden später hat sie mir dann ›Sorry!‹ geschrieben. Sorry!“

„Sie weiß einfach nicht, wie das ist“, wandte Irene ein, „wenn man für seine Kinder immer nur das Beste im Sinn hat. Dass die im Leben einer Mutter so eine zentrale Rolle spielen, kann sie eben nicht nachvollziehen.“

„Ich weiß“, seufzte Sofia.

„Aber als Mutter macht man sich nun mal Sorgen. Und wenn eins von diesen Kindern unglücklich ist, würde man einfach alles tun, damit es ihm besser geht …“

„Du trägst ein bisschen zu dick auf, Mum!“

Aber die allzeit geschäftige Sofia hatte sich längst erweichen lassen.

„So, mal ganz im Ernst: Hat sie in ihrem Job denn was getaugt? Oder hat sie da auch nur rumgehangen und sich über alles lustig gemacht, wie in der Schule?“

„Nein, sie war gut“, versicherte ihre Mutter. „Als Bräute ihre Ausstattung noch nicht im Internet bestellt haben, wollten sich alle nur von ihr beraten lassen.“

„Bringt sie eigentlich weiterhin so gruselige Männer mit nach Hause?“

Irene sog Luft durch die Zähne. „Sie hat es eben nicht leicht.“

„Erinnerst du dich noch an den Dichter?“

„Und ob“, murmelte ihre Mutter. „Das sonntägliche Mittagessen, bei dem er vor eurem Vater ein komplettes Sonett über Sex zum Vortrag gebracht hat, ist mir unvergesslich geblieben.“

Beide begannen zu prusten, hörten aber schnell damit auf, weil es fies war, über Carmen zu lachen. Manchmal hatte sie es sich allerdings selbst zuzuschreiben.

„Hm“, kam nun von Sofia.

„Oooh“, machte ihre Mutter. „Das bedeutet, dass du eine Idee hast …“

Sofia überlegte fieberhaft und sagte schließlich: „Aber wenn sie es verbockt …“

„Sie wird das toll meistern!“, versicherte Irene und drückte insgeheim beide Daumen.

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Der BuchspaziererDer Buchspazierer

Roman

Warmherzig und anrührend erzählt Carsten Henn in „Der Buchspazierer“ vom Wert der Freundschaft, der Magie des Lesens und der verbindenden Kraft von Büchern. Jetzt in neuer, hochwertiger Ausstattung als perfektes Geschenk!

 Der Wohlfühlroman für alle Buchliebhaber “ (Spiegel online) feiert das geschriebene Wort und erzählt davon, was Menschen verbindet und Bücher so wunderbar macht.

 In Carsten Henns „Der Buchspazierer“ bringt Carl Christian Kollhoff, seines Zeichens Buchhändler, einigen besonderen Kunden ihre bestellten Bücher nach Hause, abends nach Geschäftsschluss, auf seinem Spaziergang durch die pittoresken Gassen der Stadt. Denn diese Menschen sind für ihn fast wie Freunde, und er ist ihre wichtigste Verbindung zur Welt. Als Kollhoff überraschend seine Anstellung verliert, bedarf es der Macht der Bücher und eines neunjährigen Mädchens, damit sie alle, auch Kollhoff selbst, den Mut finden, aufeinander zuzugehen …  

 „Ein echtes Herzensbuch, das nicht nur eine Hommage an Bücher ist, sondern tiefer geht.“ Freundin

 Lieblingslektüre, SPIEGEL-Bestseller und ab Oktober neu im Kino: Die warmherzige Geschichte von Carl Christian Kollhoff, der neunjährigen Schascha und einer Gruppe besonderer Leserinnen und Leser, die zu Freunden werden, bietet genau den richtigen Stoff für eine zauberhafte Verfilmung. Christoph Maria Herbst brilliert im gleichnamigen Film als „Buchspazierer“ Carl Kollhoff. Im Buch wie im Film: Sie werden lachen, sie werden weinen – und manchmal beides gleichzeitig!

 „Ein Buch zum Einkuscheln, ein Buch das wärmt und Zuversicht spendet.“ BRIGITTE

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Schneewittchen und die sieben SärgeSchneewittchen und die sieben Särge

Kriminalroman

Der witzige Auftakt zur Cosy-Crime-Reihe: Ein Buchhändler jagt den Märchenmörder!   
Was macht ein Geheimagent, der keine Lust mehr aufs Spionieren hat? Er kauft eine Buchhandlung und zieht in ein Örtchen in Süddeutschland. Logisch. Dumm nur, wenn plötzlich die Traumfrau eines Mordes beschuldigt wird, der verdächtig nach einer Realauflage von „Schneewittchen“ aussieht. Was tun? Buchhandlung zusperren, ein paar verpeilte Gehilfen anheuern und den wahren Mörder finden. Was soll schon schiefgehen?   

  Mit Robert Mondrian, seinem Star-Ermittler wider Willen, hat Krimiautor Jürgen Seibold einen unkonventionellen Meisterdetektiv geschaffen, der eher in seine Fälle stolpert, anstatt methodisch ans Werk zu gehen.    

Genau das macht „Schneewittchen und die sieben Särge“ zu einem unterhaltsamen Krimi  für alle, die in Geschichten über Mord und Totschlag auch etwas zu lachen haben wollen. Und das kommt im Auftakt zur „Lesen auf eigene Gefahr“-Reihe nun wirklich nicht zu kurz!   

 „Ein wahrhaft märchenhafter Krimi, der spannend und humorvoll zugleich ist.“ – Ruhr Nachrichten   

Die Jagd nach dem Märchenmörder ist gleichzeitig eine charmante Hymne auf die Literatur und das Lesen. Seibolds schräges Ensemble liebenswerter Figuren liefert Ihnen schon in der ersten Ermittlung des Buchhändlers zahllose gute Gründe, warum Sie immer wieder zu Robert Mondrian zurückkehren wollen.   

Prolog

Die Straße führte schnurgerade durch die Nacht. Nur ein kurzes Stück war von starken Scheinwerfern in grelles Licht getaucht, das auch die Handvoll Baracken und Garagen auf beiden Seiten der Fahrbahn aus der Dunkelheit schälte. Der Wind wirbelte ab und zu leichte Staubfahnen auf und drückte die struppigen Grasbüschel nieder, die hier und da aus dem löchrigen Asphalt zwischen den Gebäuden ragten.

Auf den ersten Blick schien alles friedlich, aber wer genauer hinsah, konnte hinter mancher Ecke ein kurzes Aufblitzen erkennen, wenn sich das Licht der Scheinwerfer auf dem Lauf eines automatischen Gewehrs spiegelte. Ab und zu war ein leises Kratzen zu hören, wenn ein Stiefel bewegt wurde, unter dem sich Sandkörner oder kleine Kiesel befanden. Vier Männer und eine Frau hatten sich auf dem Gelände verteilt, alle in dunkle Kampfanzüge gekleidet, die Gesichter von Sturmhauben bedeckt und bis an die Zähne bewaffnet. Alle hatten Nachtsichtgeräte, alle waren ausgebildet im Nahkampf und erfahren als Scharfschützen, und alle warteten, dass ihr Gegenüber einen Fehler beging. Ein Fehler nur, das sollte reichen, und der andere würde nie wieder Gelegenheit zu einem Fehler bekommen.

Niemand sagte ein Wort, die fünf Kämpfer verharrten reglos und stumm, nur manchmal verständigten sich zwei von ihnen mit knappen Handbewegungen und machten sich anschließend sofort daran, bessere Deckung zu suchen oder eine Position, aus der sie mehr von dem beleuchteten Gelände und der stockdunklen Landschaft drum herum überblicken konnten.

Der erste der vier Männer war tot, bevor er sich auch nur darüber wundern konnte, wie es sein Gegner geschafft hatte, so schnell von hinten an ihn heranzukommen. Er sank langsam zu Boden, vom anderen sorgfältig gehalten und so abgelegt, dass kaum ein Geräusch entstand. Der zweite spürte zwar noch eine Klinge im Genick, aber dann waren Wirbelsäule, Luftröhre und Stimmbänder auch schon durchtrennt, bevor er einen Laut von sich hätte geben können. Der dritte wartete auf ein Zeichen seines Kameraden, und als das nicht kam, arbeitete er sich zügig und leise zur Position des anderen hin – um Sekunden später neben seinem toten Mitstreiter niedergelegt zu werden.

Ein Mann und eine Frau waren noch übrig, und beide hatten den dritten Kämpfer seinen Platz verlassen sehen. Sie brauchten kein Zeichen, um zu wissen, was das bedeutete. Sofort wandten sie sich um und tauchten in verschiedene Richtungen in die nachtschwarzen Schatten hinter den Baracken ein. Ihre Schritte setzten sie mit Bedacht, ständig musterten sie ihre direkte Umgebung und lauschten, ob wirklich nur der Wind zu hören war oder doch vielleicht ein Schritt, ein Knirschen, ein Atemzug. Der Frau fiel auf, dass es rechts hinter ihr zischte wie von einer heftigen Windbö, doch bevor sie sich noch umdrehen konnte, hatte die Machete ihren Hals durchtrennt.

Der Mann, der die andere Richtung eingeschlagen hatte, hörte einen Körper auf einige lose Bretter fallen, der Lärm wirkte in der angespannten Stille unnatürlich laut. Er wusste, hinter welcher Baracke diese Bretter lagen, und er wusste, dass seine Kameradin inzwischen ziemlich genau dort angekommen sein musste. Er machte sich aber nicht direkt dorthin auf den Weg. Denn er wusste auch: Der andere hatte einen, wenn nicht sogar mehrere von ihnen getötet, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Hätte er das diesmal nicht auch lautlos zuwege gebracht, wenn er seinen nächsten Widersacher nicht in eine Falle locken wollte? Schritt für Schritt brachte er einen weiten Bogen hinter sich und achtete darauf, dass er im Schatten blieb. Sein Gewehr hatte er abgelegt, die Klinge seines Messers war geschwärzt und würde kein Licht reflektieren. Nun hatte er die Stelle vor sich, an der sich die losen Bretter befanden, und im Nachtsichtgerät zeichnete sich die Silhouette eines Menschen im Kampfanzug ab, der darauflag, das Gesicht von einer Sturmmaske bedeckt. Er sah sich um, ließ den Blick schweifen – außer ihm und dem reglosen Körper, der gut zwei Meter vom einen Ende der Baracke entfernt lag, war niemand zu sehen. Bis zum anderen Ende waren es acht oder neun Meter. Er machte einige Schritte zur Seite: Am entfernteren Ende der Baracke war niemand, kein Gegner lauerte dort, das Gewehr im Anschlag, um ihn zu erschießen, sobald er sich über die liegende Kameradin beugte. Nach weiteren Schritten in der Dunkelheit hatte er sich vergewissert, dass sich auch hinter dem anderen Ende der Baracke niemand befand. Vorsichtig näherte er sich dem Körper auf den Brettern, scannte zwischendurch immer wieder die Umgebung und hatte sich schließlich bis an ihn herangearbeitet. Er beugte sich ein wenig vor und streckte die Hand aus, um der Kameradin den Puls zu fühlen, da schnellte die eine Hand der liegenden Gestalt nach oben, und erstaunt blickte er auf seinen Bauch, durch den sich eine lange Klinge den Weg bahnte. Der andere erhob sich, während er selbst auf die Knie sackte und sein Messer fallen ließ, nahm die Sturmhaube ab und zückte ein Handy. Im Licht des Displays konnte er das Gesicht des Mannes erkennen, den sie bis hierher gejagt hatten. Eine seltsame Mischung aus Entschlossenheit und Wehmut lag auf dem markanten Gesicht. Dann kippte der Verwundete langsam nach vorn, blieb blutend liegen und hörte, wie der andere in knappen Worten Vollzug meldete. Dann wurde es still und dunkel um ihn.

 

Robert Mondrian erwachte, schwer atmend und mit rasendem Puls. Die Erinnerungen verfolgten ihn nicht mehr jede Nacht bis in seine Träume, aber oft genug, um seine Augenringe schwarzgrau wirken zu lassen. Er stand auf, trank in der Küche ein Glas Wasser, wendete die Bettdecke und das Kopfkissen und versuchte, wieder einzuschlafen. Hatte er gerade einen Wagen heranfahren hören? War gerade eine Autotür geöffnet worden, hatte er Schritte auf dem Pflaster gehört? War da eine Männerstimme gewesen, ein erstickter Schrei, ein dumpfer Aufprall wie von einem menschlichen Körper?

Verdammte Träumerei, brummte Robert und kämpfte sich zurück in einen unruhigen Schlaf.

1

Remslingen lag still in der Morgendämmerung.

Nun ja, so still es eben einer Kreisstadt im Speckgürtel von Stuttgart gegeben ist. Auf den Ausfallstraßen standen die ersten Pendler, allein im Kombi oder in der Limousine, an roten Ampeln, und auf den Gehwegen hinauf zum Bahnhof schlurften Männer und Frauen mit vollen Taschen und leerem Blick. Doch wer die Michaelskirche, deren Geläut gerade halb fünf schlug, hinter sich ließ und die Remsauen betrat, tauchte in relative Ruhe ein. Der Verkehr der Bundesstraße, die einen großen Bogen um Remslingen beschrieb, war hier nur noch ein stetes Rauschen, an manchen Stellen leiser als das Gurgeln des Flusses. Hier gab es keine müden Fußgänger, die einen anrempelten, weil sie nichts als die Abfahrtszeit der S-Bahn vor Augen hatten. Nur ab und zu einen einzelnen Hund, der an einem der Spielgeräte das Bein oder mitten auf der Wiese den Schwanz hob, und einen mürrischen Mann, der ihm nur kurz zupfiff und dann im Wegschlendern so tat, als ginge ihn das Tier und seine Hinterlassenschaft nichts an.

So still also lag Remslingen, und es war, als würde die Stadt noch einmal tief durchatmen, bevor die Hektik des beginnenden Dienstags einsetzte. Am Rand des Biergartens auf der Storcheninsel rauchte ein Obdachloser seine Kippe zu Ende und rollte den Schlafsack zusammen. Richie lümmelte in der Winnender Straße hundemüde auf dem Fensterbrett oberhalb der Eingangstür seines Scottish Pub herum und schimpfte vor sich hin, weil er seit ein paar Wochen nicht mehr vernünftig schlafen konnte. In der Langen Straße am Westrand des Marktplatzes schwang ein alter Holzklappladen auf, und der Puppenspieler beugte sich verschlafen aus dem Fenster, schlürfte geräuschvoll an seiner Bechertasse und ließ den Blick prüfend hinüber zum Marktplatz gleiten. Er sah Horst Schwarzfuß, der gerade damit begann, in seiner Metzgerei die Auslage zu ordnen. Hinter den Glasfronten rundherum war dagegen noch nirgendwo eine Bewegung auszumachen, obwohl auch der Buchladen, das Café Journal und Sonjas Vitaminoase um acht Uhr öffneten. Nur aus der Oberen Sackgasse war leise der Dieselmotor eines Transporters zu hören. Dort luden Sonjas Lieferanten frühmorgens ihre Waren ab und stapelten Obst und Gemüse in Kisten neben der Hintertür ihres Ladens. Und ließen eben manchmal den Motor laufen.

Der Motor des Transporters lief noch eine gute halbe Stunde, bis eine der Nachbarinnen auf die Gasse trat, um sich zu beschweren. Wütend griff sie durch die offene Fahrertür und stoppte den Motor. Dann baute sie sich breitbeinig vor dem Fahrer des Wagens auf, der vor der Hintertür von Sonjas Vitaminoase auf dem Pflaster lag, als ginge ihn das alles gar nichts an. Doch der Mann reagierte nicht auf ihre Schimpftirade. Er reagierte auch nicht auf das vorsichtige Anstoßen mit der Schuhspitze, mit der die Nachbarin den vermeintlich Schlafenden wecken wollte. Dann erst fiel der Frau auf, dass der Mann seltsam verkrümmt auf dem Boden lag und mit weit aufgerissenen Augen zur Hintertür von Sonjas Vitaminoase starrte. Und dass er nicht mehr atmete.

Erschrocken holte die Nachbarin Luft. Dann beendete ihr gellender Schrei die morgendliche Stille in Remslingen.

 

Was für eine Nacht! Selbst nach seinem Albtraum war es Robert Mondrian vorgekommen, als höre er Geräusche und Stimmen. Einmal glaubte er sogar, durch das geschlossene Schlafzimmerfenster den Schrei einer Frau zu vernehmen, und zog sich daraufhin die Decke über den Kopf – weshalb er das Summen des Weckers verschlief. Erst kurz nach neun schlüpfte er aus dem Bett und in die Klamotten. Er ließ nur schnell einen Kaffee aus der Maschine und schlurfte mit der Tasse in der Hand ins Treppenhaus hinaus. In der Gasse hinter dem Gebäude schien irgendetwas vor sich zu gehen, aber um nachzusehen, fehlten ihm im Moment das Interesse und die Zeit. Seinen schusseligen Mitarbeiter wollte er nicht länger als unbedingt nötig allein im Laden lassen, und falls es etwas Spannendes aus der Umgebung zu erzählen gab, würde Alfons ihm ohnehin gleich alles brühwarm berichten.

Er betrat den Buchladen durch die Hintertür, und kaum hatten die beiden Kakadus sein Eintreffen wie immer lärmend gemeldet, da kam Alfons um das Regal mit den Liebesromanen in englischer Originalausgabe geflitzt.

„Sherlock! Watson!“, rief Roberts Gehilfe. „Werdet ihr wohl den Schnabel halten!“

Die Vögel dachten natürlich nicht daran, ihm zu gehorchen, und so führte Alfons seinen Chef schnell ans andere Ende des Ladens, um ihm mit aufgeregter Stimme die Neuigkeit zu überbringen.

„Stellen Sie sich vor, Chef: Neben der Hintertür von Sonjas Vitaminoase wurde heute früh ein Toter gefunden. Die Kripo ist da und sichert Spuren. Mich haben sie auch schon gefragt, ob ich etwas beobachtet habe, aber leider …“

Roberts Mitarbeiter wirkte tatsächlich untröstlich, kein Wunder: Er liebte alles, was mit der Polizei zu tun hatte. Krimis waren die eine Leidenschaft von Alfons, die andere, noch größere, waren Superheldencomics, und während Robert inzwischen nachgegeben hatte und zumindest einige Klassiker der Kriminalliteratur führte, blieb er in seiner Ablehnung von Batman und Konsorten hart. Im Gegenzug änderte sich nichts in der gegenseitigen Anrede der beiden: Robert duzte seinen Mitarbeiter, der ihm das gleich am ersten Arbeitstag angeboten hatte – und im Gegenzug hatte auch er ihm das Du angeboten. Doch Alfons stellte sofort klar, dass er seinen Chef auf gar keinen Fall duzen könne, und Robert, obwohl er das anders sah, gab nach mehreren erfolglosen Anläufen nach.

„Meinetwegen kannst du gern raus und dir das mal aus der Nähe anschauen“, sagte Robert. „Außer deinen Kakadus ist ja noch niemand da.“

„Aber, Chef, Sie wissen doch, dass ich diese Kakadus nur in Pflege …“

Robert brachte ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen und deutete grinsend zur Tür. Die altmodische Ladenglocke bimmelte noch, da war Alfons bereits am Schaufenster vorbeigehuscht und um die Hausecke verschwunden. Robert schlürfte von seinem Kaffee und schaute nachdenklich auf den Marktplatz hinaus. Ein Toter in der Gasse hinter seinem Haus. Die Kriminalpolizei, die in ihren Ermittlungen womöglich mehr Staub aufwirbelte, als ihm lieb war. Seine Kiefer mahlten, die Miene war ernst.

Dann wurde sein Blick weicher: Sonja, die natürlich weit mehr als er von der Sache betroffen war – und anders als er mit solchen Situationen keinerlei Erfahrung hatte. Einen Moment lang dachte er darüber nach, zu ihr zu gehen und ihr seine Hilfe anzubieten. Doch schon im nächsten Augenblick fiel ihm ein, warum er genau das nicht tun würde. Nein, nicht, weil er seinen Laden sonst unbesetzt zurückgelassen hätte. Robert lachte bitter. Er mochte früher auf die meisten sehr mutig gewirkt haben – aber mit einem klaren Ziel vor Augen, einem kampfbereiten Gegner als Widersacher hatte er einfach seinen Job gemacht. Aber eine Frau, für die man mehr empfand als die übliche Sympathie für eine nette Nachbarin … das war noch einmal eine ganz andere Sache.

 

Etwa zwanzig Minuten dauerte es, bis Alfons in die Buchhandlung zurückkehrte. Auf seinem blassen Gesicht hatten sich vor Aufregung rote Flecken gebildet, und statt einer vernünftigen Schilderung brachte er nur kurze oder abgebrochene Sätze zustande, die er mit überschnappender Stimme durcheinanderpurzeln ließ. Robert musste sich konzentrieren, um daraus halbwegs schlau zu werden. Scheinbar war vor der Hintertür von Sonjas Obstgeschäft einer ihrer Lieferanten tot aufgefunden worden. Alfons erging sich in Kleinigkeiten, vom laufenden Motor eines Transporters über die Nachbarin, die den Toten entdeckt hatte, bis hin zum Puppenspieler, der nach ihrem gellenden Schrei erst den Notruf gewählt hatte und dann auf die Straße gestürmt war, um nach der Frau zu sehen. Die Kriminaltechnik sicherte Spuren, eine Rechtsmedizinerin war vor Ort, und Polizeibeamte befragten die Nachbarn, wo sie heute zwischen drei und fünf Uhr morgens gewesen waren und ob sie etwas beobachtet oder gehört hatten, das der Polizei weiterhelfen konnte. Offenbar war der Tote nicht an einem Herzinfarkt gestorben. So weit hatte er das meiste verstanden, nur ein Detail verwirrte, und deshalb unterbrach er Alfons nach einer Weile.

„Was meinst du mit ›Schneewittchen‹?“, fragte Robert.

„Was?“

„Du hast gerade von ›Schneewittchen‹ gesprochen – was hat das mit dem Toten zu tun?“

„Ach so … na, weil er doch von dem Apfel gegessen hat.“

Robert hob die Augenbrauen, und Alfons machte ein Gesicht, als habe er einen besonders begriffsstutzigen Kunden vor sich.

„Von dem vergifteten Apfel“, wiederholte er. „Eben wie Schneewittchen.“

„Der Mann wurde vergiftet?“

„Ja, natürlich!“

„Mit einem präparierten Apfel?“

„Genau!“, rief Alfons aus, nickte beifällig und trug eine Miene zur Schau wie einst Roberts Mathelehrer, wenn bei einem schlechten Schüler endlich der Groschen gefallen war.

„Und woher weißt du das? Die Kripo wird’s dir ja nicht erzählt haben.“

Die roten Flecken wurden kräftiger, nun glühte Alfons fast vor Stolz. Er beugte sich ein wenig zu seinem Chef vor und senkte seine Stimme, obwohl sie allein im Laden waren.

„Die Rechtsmedizinerin hat’s mir verraten, versehentlich“, raunte er. „Ich stand direkt neben ihr, und sie hat mich wohl für einen von der Kripo gehalten. Erst, als sie aufsah, hat sie ihren Irrtum bemerkt und mich fortgescheucht.“

Die altertümliche Ladenglocke bimmelte, als die Tür aufschwang und zwei Männer in Jeans und Hemd hereinkamen. Sie schauten sich kurz beiläufig um und nahmen im Näherkommen Alfons und Robert ins Visier. Robert erkannte sofort, dass sie von der Kripo waren, noch bevor der Ältere sich ihm als Hauptkommissar Klaus Neher von der Kriminalpolizei Remslingen und seinen Kollegen als Oberkommissar Hannes Lachenmaier vorgestellt hatte.

„Sie haben einen sehr neugierigen Mitarbeiter“, sagte Neher und bedachte Alfons mit einem strengen Blick. „Ich hoffe, es ist Ihnen klar, dass Sie niemandem erzählen dürfen, was Sie vorhin aufgeschnappt haben!“

Alfons sank ein wenig in sich zusammen, was Neher mit einem leichten Grinsen quittierte, bevor er sich wieder an Robert wandte.

„Ihnen, Herr Mondrian, hat er vermutlich inzwischen schon alles anvertraut.“

Robert hatte den Polizisten noch nie gesehen, aber Neher hatte anscheinend aus dem Namen des Buchladens und der Tatsache, dass er und Alfons die einzigen Anwesenden waren, gefolgert, wer er war. Er schätzte ihn auf fünfzig Jahre oder etwas älter, und sein Hochdeutsch war badisch gefärbt.

„Ja, das hat er“, gab Robert zu. „Aber wir werden es beide nicht weitersagen.“

„Das wäre gut.“ Neher machte eine Geste, die den ganzen Raum umfasste. „Eine schöne Buchhandlung haben Sie.“

„Danke.“

Robert nickte höflich, obwohl er lieber mit den Augen gerollt hätte: Small Talk, um für die anstehende Befragung eine lockere Atmosphäre zu schaffen – plumper hätte es der Kommissar nicht anstellen können. Aber solange Neher ihn für jemanden hielt, der seine Spielchen nicht durchschaute und keine Erfahrung im Umgang mit Ermittlern hatte, so lange würde er hoffentlich nicht übertrieben gründlich in seinem Vorleben herumstöbern. Und Robert setzte noch einen drauf, indem er ein weiteres Thema anschnitt, über das sich gut plaudern ließ.

„Sie sind nicht von hier, Herr Kommissar, richtig?“

„Oh, hört man mir das noch immer an?“

„Ja, aber das stört mich nicht. Ich stamme selbst auch aus dem Badischen, auch wenn ich mir den Akzent nach vielen Jahren im Ausland abtrainiert habe.“

„Im Ausland?“

„Na ja, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen.“

Er lachte, und Neher stimmte mit ein.

„Aber glauben Sie mir“, merkte der Kommissar an. „Das ist alles nichts gegen das Schwabenland! Als ich hier anfing, von Karlsruhe in die damalige Direktion Waiblingen wechselte und ein Stück weiter oben im Remstal eine Kripoaußenstelle übernahm … Das war am Anfang kein Zuckerschlecken. Seien Sie also froh, wenn Sie reines Hochdeutsch sprechen. Ihre schwäbischen Kunden werden es Ihnen danken.“

„Wir führen übrigens auch Kriminalromane“, sagte er.

Ein gequälter Zug legte sich auf Nehers Gesicht, und Robert lachte erneut.

„Nur die Klassiker“, schob er nach. „Und keine der Geschichten spielt hier in der Gegend, soweit ich weiß.“

Alfons setzte zu einer Ergänzung an, aber ein kurzer Seitenblick von Robert sorgte dafür, dass er den Mund ohne ein Wort wieder schloss.

„Freut mich zu hören“, versetzte Neher und tat, als habe er nichts bemerkt. „Wo man als Kommissar heute ja jederzeit darauf gefasst sein muss, selbst zur Romanfigur zu werden … Aber Sie werden vielleicht verstehen, dass ich privat kein großer Freund von Krimis bin – mir reicht das, was mir durch meinen Beruf begegnet.“

„Das kann ich mir vorstellen. Es war auch nicht meine Idee, Krimis mit ins Angebot aufzunehmen, aber mein Mitarbeiter hat mich überredet. Ich schätze eher klassische Romane, vor allem anspruchsvolle Liebesgeschichten – falls Sie da mal etwas suchen, berate ich Sie gern.“

„Gut zu wissen, Herr Mondrian. Im Moment würde mich jedoch vor allem interessieren, ob Ihnen heute am frühen Morgen irgendetwas aufgefallen ist, das uns weiterhilft.“

„Leider nicht“, antwortete er, und weil Nehers Augenbrauen hochgingen, als er so schnell verneint hatte, fügte er hinzu: „Alfons hat mir schon gesagt, dass Sie und Ihre Kollegen die Nachbarn befragen und dass es Ihnen um die Zeit zwischen drei und fünf Uhr heute früh geht. Und um diese Zeit habe ich noch geschlafen, leider nicht gut heute Nacht.“

„Macht Ihnen irgendetwas Sorgen?“

Neher beobachtete ihn genau.

„Nein“, versicherte Robert und schwindelte so beiläufig, wie er konnte: „Ich vertrage nur warme Nächte nicht so gut. Mein Haus ist schön, und ich genieße die Lage mitten in der Stadt, aber das Gebäude ist halt nicht das jüngste und entsprechend schlecht gedämmt. In einem Sommer wie diesem habe ich deshalb manchmal Albträume – mit der Folge, dass ich heute verschlafen habe und später als sonst in die Buchhandlung kam.“

„Das kann ich bezeugen, Herr Kommissar!“, meldete sich Alfons zu Wort, aber Neher beachtete ihn gar nicht.

„Wenn ich Albträume habe, wache ich nachts ab und zu auf“, hakte er ein. „Und Sie?“

„Manchmal, und heute Nacht auch – aber in den paar Minuten, in denen ich wach war, habe ich nichts gesehen oder gehört, was mit einem Mord zu tun haben könnte.“

„Na ja, ob es Mord war, muss sich erst noch herausstellen.“

Robert ließ ein kurzes Lächeln zu, und Neher erwiderte es und zuckte mit den Schultern.

„Gegen Morgen“, fuhr Robert fort, „war es mir zwar, als hätte ich den Schrei einer Frau gehört. Ich dachte, dass ich das geträumt habe, aber vielleicht war es auch die Nachbarin, die den Toten entdeckt hat. Jedenfalls hat mir mein Mitarbeiter erzählt, dass das eine Frau aus der Nachbarschaft war. Mehr habe ich leider nicht für Sie.“

Neher musterte ihn noch einen Moment, dann nickte er und reichte ihm seine Visitenkarte.

„Falls Ihnen noch was einfällt …“

 

Robert stellte seine Kaffeetasse neben der Kasse ab und sah den beiden Kommissaren nach. Sie steuerten das Café Journal an, um dort die Bedienungen zu befragen. Zwei uniformierte Polizisten klingelten an einem der benachbarten Häuser, wurden eingelassen und verschwanden im Gebäude. Kleinere Gruppen von älteren Leuten oder Müttern mit Kindern standen auf dem Marktplatz beisammen und tauschten sich über den frühmorgendlichen Vorfall aus. Und auch Robert dachte darüber nach, welche Folgen der Mord in unmittelbarer Nachbarschaft für ihn haben konnte.

Fast zwei Jahre lang hatte er nun in dieser Stadt eine fast idyllische Ruhe genießen dürfen, hatte sich ganz auf den Handel mit Büchern konzentrieren und sonst in den Tag hineinleben können. Geld musste er mit seinem Laden keines verdienen: Er hatte eine ansehnliche Abfindung bekommen, als er aus dem Dienst ausgeschieden war – und fast zur selben Zeit hatte obendrein eine Erbschaft seine Finanzen so deutlich aufgebessert, dass er sich bis auf Weiteres um seinen Lebensunterhalt keine Sorgen machen musste. Er hatte ein ordentliches Sümmchen in die Übernahme der Buchhandlung und in den Umbau investiert, seither machte er in manchen Monaten leichte Verluste, in den meisten aber schaffte er eine schwarze Null oder einen bescheidenen Gewinn. Das führte dazu, dass seine finanziellen Reserven nicht abnahmen – einem befreundeten Banker in Berlin gelang es sogar immer wieder, einen Teilbetrag seines Geldes so vorteilhaft anzulegen, dass Roberts Vermögen unter dem Strich in bescheidenem Umfang anwuchs. Er selbst brauchte nicht viel. Einen guten Rotwein natürlich, etwas Vernünftiges zu essen und ab und zu eine Zigarre – mehr Luxus war nicht seine Sache. Er hatte erste Freundschaften geschlossen in Remslingen und Umgebung, hatte einige Lieblingslokale gefunden und schöne Plätze im Remstal und im Schwäbischen Wald – und er hatte sich verliebt, in seine Nachbarin Sonja, auch wenn sie davon nichts ahnte. Kurzum: Alles war so, wie er es sich vor zwei Jahren erträumt hatte – und wenn er eines Tages den Mut finden würde, sich mit Sonja zu einem Rendezvous zu verabreden, würde ihm sein neues Leben mehr bieten, als er je zu hoffen gewagt hatte. Ein Leben in Frieden. In einer festen Beziehung. In einem Beruf, der einem keine Geheimnisse selbst vor den engsten Freunden aufzwang. Und in dem alles, was man totschlagen musste, ab und zu ein langweiliger Tag war.

„Sonja ist übrigens völlig durch den Wind!“

Robert fuhr blitzschnell herum und baute sich für einen Moment mit leicht angewinkelten Knien und abwehrbereit vor Alfons auf, der ihn daraufhin ganz erschrocken ansah. Dass sein Mitarbeiter hinter ihm stand, hatte er ganz vergessen, und um die alten Reflexe ein wenig zu überspielen, räusperte er sich und tätschelte die Schultern des hageren Wuschelkopfs.

„Was hast du gerade gesagt?“, fragte er dann, ging langsam zur Kasse und hob die Tasse zum Mund.

„Ich … äh … Sie haben mich erschreckt, Chef!“

„Na, hör mal, Alfons, du magst doch Krimis, da wollte ich dir mal ein bisschen Action bieten – da es doch sonst bei uns so langweilig zugeht.“

„Ja, aber …“

„Nichts aber. Was hast du gerade gesagt? Es ging um Sonja, oder?“

„Ja, Sonja ist …“

Alfons blinzelte und schaute ihn prüfend an. Sein Chef wirkte nun wieder ganz lässig, geradezu gemütlich. Ein Lächeln lag auf seinem markanten Gesicht, und das weit fallende Shirt ließ nicht erkennen, ob Robert Mondrian durchtrainiert war oder einfach nur schlank. Er hatte breite Schultern, und die Armmuskeln, die jetzt ganz locker wirkten, hatten sich während der überraschend schnellen Drehung für kurze Zeit sehr eindrucksvoll unter der leicht gebräunten Haut abgezeichnet. Alfons war verwirrt.

„Jetzt red schon!“, forderte sein Chef ihn auf.

„Sonja ist ganz durch den Wind, habe ich gesagt.“

„Kein Wunder! Es liegt ja nicht jeden Morgen eine Leiche vor dem Hintereingang ihres Ladens.“

„Das auch, aber …“ Alfons senkte seine Stimme wieder zu dem verschwörerischen Tonfall, mit dem er gern Informationen weitergab, die er selbst für aufregend hielt. „Diese Kommissare haben Sonja nicht wirklich als Zeugin oder als jemanden befragt, der ohne eigenes Zutun mit einem Mordopfer konfrontiert wurde.“

„Wie meinst du das?“

„Für mich hat sich das so angehört, als würde die Kripo Sonja zu den Tatverdächtigen zählen.“

„Echt?“

Alfons nickte eifrig, schon wieder glühend vor Aufregung.

„Ach, das bildest du dir sicher nur ein“, besänftigte ihn Robert. „Wie sollte die Kripo denn auf so was kommen?“

„Sie haben Sonja nach einem Alibi gefragt.“

„Na, danach haben sie doch alle gefragt – auch von mir wollten sie wissen, wo ich heute früh zwischen drei und fünf Uhr war und was ich gemacht habe. Von dir nicht?“

„Doch, das schon, aber …“

„Aber?“

„Sonja hat daraufhin nur rumgestammelt. Es hat ein bisschen gedauert, bis sie schließlich sagte, dass sie daheim im Bett gelegen und geschlafen habe.“

„Okay, sie wird nach der Aufregung um den Toten halt durcheinander gewesen sein, da braucht man schon mal länger für eine Antwort.“

„Ich hatte den Eindruck, dass die Kommissare ihr nicht glaubten.“

„Aber wieso sollte sie den Mann denn umbringen?“

„Er war einer ihrer Lieferanten.“

„Ja, und? Dann muss sie ihn doch nicht töten, sondern nur bezahlen.“

Robert klatschte Alfons mit seiner Hand auf die rechte Schulter und lachte. Sein Mitarbeiter blieb ernst.

„Vielleicht hat sie ihn schon länger nicht mehr bezahlt?“

Nun stutzte Robert doch.

„Wie kommst du darauf?“

„Eine Nachbarin hat das Gerücht gestreut, dass Sonja schon seit einiger Zeit ein bisschen knapp bei Kasse sei – keine Ahnung, ob das stimmt. Vielleicht musste gerade der Lieferant, der jetzt tot im Hof liegt, besonders lang auf sein Geld warten.“

„Jetzt hör aber auf, Alfons! Vielleicht solltest du weniger Krimis lesen.“

„Ich zähle nur eins und eins zusammen, und das macht die Kripo auch. Denen kommen solche Gerüchte natürlich ebenfalls zu Ohren. Und wissen Sie, Chef, was das für eine Sorte Apfel war, mit der der Lieferant vergiftet wurde?“

„Keine Ahnung.“

„Die Sorte heißt ›Schöner von Winsley‹ …“

Alfons setzte dazu eine sehr geheimnisvolle Miene auf.

„Das klingt für mich eher wie der Name eines Rassehundes oder eines Rennpferdes“, brummte Robert.

„Aber, Chef, das ist eine ganz seltene Apfelsorte! Ich hab das gleich gegoogelt, nachdem die Kripo Sonja den angebissenen Apfel gezeigt und sie daraufhin sofort den Namen der Sorte genannt hatte.“ Alfons schloss die Augen und referierte aus dem Gedächtnis, was er im Internet dazu gefunden hatte: „Erntereif ab Mitte Juli, eine englische Züchtung, eng verwandt mit dem ›Schönen aus Bath‹. Wird selten im Handel angeboten, weil er sehr frisch verkauft werden muss.“

„Wieder was gelernt, danke. Und?“

„Sonja hat der Kripo erzählt, dass sie die einzige Händlerin im ganzen Rems-Murr-Kreis ist, die diese Sorte führt. Natürlich nur, wenn sie frisch geerntet wird – also von Mitte Juli bis Anfang August –, weil sich der Apfel ja nicht lange hält, wie ich schon …“

„Bitte, Alfons, komm endlich auf den Punkt!“

„Und Sonjas Lieferant wiederum ist der einzige Großhändler, der den Apfel im Angebot …“

„Alfons!“

Robert war nun etwas lauter geworden, und sein Mitarbeiter sah ihn fragend an.

„Aber, Chef, ich muss Ihnen doch erklären, warum die Kripo meiner Meinung nach glaubt, dass Sonja als Mörderin infrage kommt.“

„Musst du mir dazu wirklich einen pomologischen Vortrag halten?“

Alfons lächelte.

„Pomologisch, genau, Chef, so heißt das … Aber jetzt mal im Ernst, nur Sonja führt hier in der Gegend diese Apfelsorte, nur dieser eine Lieferant bietet die Sorte an, und jetzt ist er tot – gestorben an einem vergifteten Apfel von genau jener Sorte –, da würde ich als Kripokommissar auch stutzig werden!“

„Mich dagegen würde eher stutzig machen, dass Sonja ausgerechnet einen Apfel als Tatwaffe präpariert haben soll, der eine Spur zu ihr legt.“

Alfons runzelte die Stirn, man konnte fast sehen, wie es dahinter arbeitete.

„Hm“, machte er nach kurzem Sinnieren. „Hm … stimmt eigentlich, Chef.“

„Na, siehst du? Also wird die Kripo einfach ihrer Arbeit nachgehen, sie wird den Mörder dingfest machen, und Sonja kann in aller Ruhe weiter ihr Obst und Gemüse verkaufen.“

Erst wirkte Alfons erleichtert, dann verzog sich sein Gesicht zu einer betrübten Miene.

„Was ist denn noch?“, fragte Robert deshalb.

„Dieser Kommissar Neher bat Sonja am Ende der Befragung, vorerst nicht wegzufahren – oder, falls es sich gar nicht vermeiden ließe, ihm vorher Bescheid zu geben.“

Robert hob eine Augenbraue.

„Das klingt nicht gut, Chef, oder?“

„Nein.“

 

Robert zögerte lange, zu seiner Nachbarin zu gehen. Und dass er nach fast einer Stunde doch noch all seinen Mut zusammennahm, hatte auch mit einer Frau zu tun, die in diesem Moment mühsam über das Kopfsteinpflaster auf seine Buchhandlung zustöckelte. Selina Brand war eine nette und attraktive Frau, aber mit dem Nippes, den sie ihm als vermeintliche Umsatzbringer für seinen Laden aufschwatzen wollte, trieb sie ihn jedes Mal fast in den Wahnsinn. Also huschte er aus der Tür, als sie gerade einige besonders tückische Pflastersteine direkt vor sich musterte, und verschwand mit einigen schnellen Schritten aus ihrem Blickfeld. Er lehnte sich hinter der Hausecke gegen die Wand und lauschte, ob sie ihn entdeckt und seine Verfolgung aufgenommen hatte, aber stattdessen hörte er, wie sich ihre Schritte in ungleichmäßigem Rhythmus entfernten, und schließlich die altmodische Türglocke seines Ladens. Leise atmete Robert auf, dann erst bemerkte er, dass direkt neben ihm seine Nachbarin Sonja an der Hauswand lehnte.

„Na, liegt vor Ihrer Buchhandlung auch eine Leiche?“

Sonjas rauchige Stimme ging ihm immer unter die Haut, aber jetzt brachte sie ihn obendrein aus dem Tritt, weil er sich erst noch kurz hatte sammeln wollen, bevor er das Gespräch mit ihr eröffnete. Das hatte sich nun erledigt.

„Nein, ich … äh …“

Langsam wandte er vollends den Blick zu ihr und lächelte scheu. Sonja erwiderte sein Lächeln wie gewohnt mit einem halb spöttischen, halb neckischen Grinsen. Sie hielt eine brennende Zigarette in der linken Hand und deutete damit nun auf die Kriminaltechniker in ihren weißen Ganzkörperanzügen, die im Hof nach wie vor Spuren sicherten, Nummerntäfelchen aufstellten und Fotos schossen. Die Leiche war weg, Kreidestriche markierten die Umrisse vor der Hintertür von Sonjas Laden, und als Robert zur Oberen Sackgasse blickte, konnte er gerade noch sehen, wie das Heck eines Leichenwagens hinter dem nächsten Gebäude verschwand.

„Heute werde ich nicht mehr viel Obst verkaufen. Das zieht sich ganz schön hin mit der Untersuchung“, knurrte sie und führte die Zigarette wieder zum Mund.

Robert hatte kein Auge für die Kriminaltechniker. Er sah nur die schlanken Finger der Frau neben sich, die vollen Lippen, die sich ein wenig öffneten, und den Zigarettenfilter, der teilweise dazwischen verschwand. Ihre Wangen und ihr Hals spannten sich ein wenig an, als sie an der Zigarette zog, gleich darauf stieß sie eine kleine Rauchwolke aus. Robert schluckte trocken, und als daraufhin erneut ein leichtes Grinsen um Sonjas Mund spielte, beeilte er sich, nun doch zu den Spurensicherern hinüberzuschauen. Aus den Augenwinkeln konnte er beobachten, dass sie ihn einen Moment lang nachdenklich musterte, bevor auch sie wieder nach vorne sah.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie rauchen, Sonja“, brachte er nach einer kurzen Pause hervor.

„Nur, wenn eine Leiche hinter meinem Laden liegt“, versetzte sie trocken und ließ ein heiseres Lachen hören, das schnell in einen Hustenanfall überging. Schließlich schnippte sie die Kippe auf den Boden und trat die Glut aus. „Und auch dann sollte ich es wohl lieber lassen.“

Sie sah ihn an.

„Sie rauchen nicht, Robert?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Eigentlich?“

Er grinste.

„Na ja, ab und zu mal eine Siegerzigarre, sonst nichts.“

„Eine Siegerzigarre?“

„Kennen Sie das nicht? Ich weiß gar nicht mehr, aus welcher Sportart ich mir das geborgt habe. Ich glaube, amerikanische Baseball- oder Basketballprofis haben das früher zelebriert. Wer Meister wurde oder sonst was Tolles zuwege brachte, steckte sich eine dicke Zigarre an.“

„Und zu welchen Anlässen stecken Sie sich eine an?“

Er ging das letzte Dutzend Zigarren durch – die ersten zehn hatten mit erfolgreich abgeschlossenen Aufträgen zu tun, über die er nicht reden wollte. Die jüngste hatte er sich gegönnt, nachdem er die ersten Worte mit Sonja gewechselt hatte – auch nicht das passende Beispiel für diese Unterhaltung. Also hielt er sich an Nummer elf.

„Eine habe ich geraucht, als die Einweihungsparty meines Buchladens so gut gelaufen war.“

Sie lächelte.

„Ja, das war ein schöner Abend, da haben Sie recht. Volle Bude, leckere Häppchen, kühles Bier und kräftiger Rotwein, Sie hatten keinen schlechten Einstand in Remslingen.“

„Finde ich auch.“

„Und wie läuft’s seither? Sind Sie zufrieden?“

„Ja, durchaus.“

Ihr kehliges Lachen ließ ihn den Kopf drehen.

„Na ja, als Kaufmann müssen Sie aber noch dazulernen“, sagte sie.

„Wieso das?“

„Kennen Sie nicht die erste Regel für einen erfolgreichen Kaufmann? ›Lerne klagen, ohne zu leiden.‹ …“

„Ich werd’s mir merken, aber ganz ehrlich, ich komme zurecht.“

„Freut mich. Eine Freundin von mir hatte eine Buchhandlung ein Stück das Remstal hinauf – vor drei Jahren hat sie aufgegeben.“

„Tut mir leid. Aber es stimmt natürlich, große Sprünge sind nicht drin, das Gehalt von Alfons kann ich mir gerade so leisten, und ich persönlich brauche nicht viel.“

Sonja zwinkerte ihm zu.

„Na, geht doch!“

„Was?“

„Das mit der Kaufmannsregel.“

Sie grinsten, dann wurden beide wieder ernst. Robert überlegte, wie er am besten auf das Thema zu sprechen kommen konnte, das ihn hierhergetrieben hatte. Ihm kam nichts Originelles in den Sinn, deswegen fiel er einfach mit der Tür ins Haus.

„Alfons hat mir erzählt, dass die Kripo Sie nach einem Alibi gefragt hat und dass der Kommissar seiner Meinung nach Sie für eine der Tatverdächtigen hält.“

Sonja nickte und blickte nun sehr betrübt drein.

„Aber da müssen Sie sich keine Sorgen machen, Sonja“, versuchte er, sie zu beruhigen. „Die Kripo hält anfangs doch erst einmal alle für verdächtig. Dem Kommissar muss eigentlich klar sein, dass er da auf dem Holzweg ist.“

„Eigentlich … so, wie Sie eigentlich nicht rauchen, Robert?“

Er räusperte sich, und sie fuhr nach einem tiefen Seufzer fort:

„Dem Kommissar habe ich wohl zu lange für meine Antwort gebraucht. Und dann kann halt auch niemand bezeugen, dass ich tatsächlich im Bett lag und schlief, als Helmut vor der Hintertür meines Ladens starb.“

„Helmut?“, platzte Robert heraus, und er bereute seine unbedachte Frage sofort.

Aber Sonja lächelte nur nachsichtig.

„Helmut Sichler, mein Lieferant, das Mordopfer. Wir kannten uns schon länger und früher mal auch etwas näher, wenn ich es mal so ausdrücken darf.“

„Entschuldigen Sie bitte“, fügte er schnell hinzu. „Das geht mich natürlich auch gar nichts an.“

„Kein Problem, Robert. Wir nennen uns ja auch beim Vornamen. Ich mach das mit allen so, mit denen ich regelmäßig zu tun habe.“

Wie sie das so leichthin aussprach, versetzte es ihm doch einen kleinen Stich, obwohl er als bloßer Nachbar, mit dem sie offenbar nichts weiter im Sinn hatte, natürlich keinerlei Rechte anmelden durfte.

„Und als er tot aufgefunden wurde, war ich auch noch nicht im Laden gewesen. Von meiner Wohnung in der Winnender Straße sind es mit dem Rad nur ein paar Minuten, da gehe ich selten früher als halb acht los. Als mich die Polizei verständigte, war ich noch gar nicht richtig wach. Ich bin sofort aus dem Bett gesprungen, bin ungeduscht in die Kleider geschlüpft, nicht mal für einen Kaffee hat es gereicht.“

Sie warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.

„Ich hoffe, man merkt mir die fehlende Dusche nicht allzu sehr an …“

Robert schnupperte. Der blumige Duft, der sie sonst umwehte, fehlte – das war sonst wohl auf ihr Shampoo oder Duschgel zurückzuführen. Aber sie roch auch heute so unglaublich gut, dass Robert Mühe hatte, die Bilder vor seinem inneren Auge zu verscheuchen … die aus dem Bett schlüpfende nackte Frau, ihre anmutigen Bewegungen, ihr von der warmen Julinacht aufgeheizter Körper. Er räusperte sich erneut und rief sich in Gedanken zur Ordnung. Dann bemerkte er, dass Sonja ihn ansah, ein bisschen verwundert, ein bisschen amüsiert.

„Äh … nein, keine Sorge“, presste er hervor und hoffte inständig, dass er nicht so rot wurde, wie es sich in diesem Moment anfühlte.

Sie lächelte ihn an, und seine Wangen brannten noch eine Spur heißer.

„Aber was den Kaffee angeht, da kann ich helfen“, kam ihm schließlich die rettende Idee, und schon sprudelte er los: „Mit Milch? Etwas Zucker? Cappuccino, Latte macchiato, Espresso? Meine Maschine in der Buchhandlung kann alles. Ich kann Ihnen den Kaffee bringen, oder Sie kommen mit und machen es sich eine Zeit lang in unserer Leseecke bequem und …“

Sonjas belustigter Blick blieb noch kurz auf ihn gerichtet, dann stieß sie sich von der Hauswand ab.

„Wissen Sie, was, Robert? Ich nehme Ihr Angebot einfach an. Hier braucht mich einstweilen eh keiner.“

Sie ging die paar Schritte bis zu dem Kriminaltechniker, der ihr am nächsten war, und sagte ihm, wohin sie jetzt zu gehen gedenke. Der Mann sah sie irritiert an.

„Kollege Neher hat Ihre Handynummer?“, fragte er sie.

„Ja.“

„Dachte ich mir. Sie müssen sich nicht bei uns abmelden. Es wäre nur gut, wenn Sie für ihn erreichbar bleiben könnten.“

„Und Sie ziehen einfach die Haustür hinter sich zu, wenn Sie im Treppenhaus fertig sind, ja?“

„Ich fürchte, das wird noch ein Weilchen dauern.“

 

Claas Michelsen zitterte ein wenig, als er das Telefonat beendete. Ein vergifteter Apfel. Eine Leiche mitten in der Altstadt von Remslingen. Sofort reihten sich erste Assoziationen aneinander, vor seinem geistigen Auge nahmen Schlagzeilen Form an, und die ersten Sätze hatte er in Gedanken schon formuliert, noch bevor er überhaupt wusste, was genau geschehen war. Zwei Telefonate und eine halbstündige Internetrecherche später hatte er genug Details beisammen, um den Chefredakteur der Stuttgarter Ausgabe des Boulevardblatts anzurufen. Der hörte in seinem Büro mit Blick aufs Esslinger Neckarufer erst ruhig zu, bevor es ihm dann doch zu bunt wurde.

„Schneewittchen?“, donnerte Horst Günther in den Hörer, und Michelsen konnte fast vor sich sehen, wie Günthers Wampe vor Empörung zitterte. Wegen seiner stark untersetzten Figur wurde er hinter vorgehaltener Hand meist nur „Napoleon“ genannt – aber auch sein harscher Umgangston und seine rücksichtslose Art wurden dem Spitznamen gerecht. „Sind Sie jetzt vollends durchgeknallt, Michelsen? Schreiben Sie das meinetwegen in Ihrem schrägen Newsblog, aber so etwas kommt mir nicht in mein Blatt! Verstanden?“

Das Gespräch war schneller weggedrückt, als Michelsen zu einer Erwiderung ansetzen konnte. Nun war guter Rat teuer. Er arbeitete seit vielen Jahren als freier Journalist, aber in einer seriösen Tageszeitung hatte er seit einigen Konzertberichten während seiner Schulzeit nichts mehr untergebracht. Zu Radio und Fernsehen hatte er keine Kontakte, und für seinen Blog, der bisher keinen einzigen Euro an Werbeeinnahmen eingespielt hatte, war ihm diese Geschichte zu schade. Also beschloss er, einstweilen weiterzurecherchieren. Vielleicht würde sich noch etwas ergeben, das ihm doch noch einen zahlenden Kunden bescherte.

 

„Napoleon“ ging unterdessen dem Hinweis des windigen freien Mitarbeiters nach. Der Kripobeamte, mit dem er sich gut verstand, fragte zwar erstaunt, woher Günther denn schon von der Geschichte wisse, aber letztlich bestätigte er ihm, dass heute am frühen Morgen unweit des Remslinger Marktplatzes eine männliche Leiche aufgefunden worden war. Mehr Details gab er nicht preis, wies aber darauf hin, dass Journalisten demnächst für vier Uhr zu einer Pressekonferenz im Gebäude der Kripodirektion am Alten Postplatz eingeladen würden. Er überprüfte, wer Zeit hatte, für sein Blatt dorthin zu gehen, aber bis auf zwei eher nicht so rührige Kollegen schien niemand verfügbar. Günther seufzte, dann brüllte er: „Sissi!“

Seine Sekretärin hatte ihn natürlich selbst durch die geschlossene Tür gehört, und an der Tatsache, dass er ihr denselben Rufnamen verpasst hatte wie all ihren Vorgängerinnen, störte sie sich längst nicht mehr.

„Rufen Sie diesen depperten Michelsen an“, befahl er, als sie in der halb geöffneten Tür stand. „Quetschen Sie ihn ein bisschen aus, und wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass er diesmal wirklich Ahnung von der Story hat, die er mir andrehen will, dann geben Sie ihm in Gottes Namen den Auftrag. Er soll um vier Uhr zur Pressekonferenz, Remslingen, Kripodirektion. Und zwei Stunden später will ich eine Geschichte im System haben, die knallt, verstanden?“

 

Pünktlich zum Ladenschluss trug Alfons den Käfig mit den beiden nervigen Kakadus Sherlock und Watson hinaus und setzte ihn auf den kleinen Bollerwagen, auf dem tagsüber ein Werbeaufsteller für das Buchthema des Monats montiert war – im Moment für Walter Scotts Ivanhoe, der vor zweihundert Jahren erschienen war. Den Bollerwagen hatte Alfons angeschafft, nachdem er seinen Chef überredet hatte, die Vögel während seiner Arbeitszeit in der Buchhandlung halten zu dürfen. Der Wagen hatte Gummireifen, aber selbst das Rumpeln metallbeschlagener Holzräder auf dem Marktplatzpflaster hätte niemand gehört: Die Kakadus krächzten und kreischten putzmunter in alle Richtungen, und der eine oder andere Passant, der die werktägliche Prozession des hageren Wuschelkopfs und seiner zwei Vögel schon kannte, machte sich einen Spaß daraus, den Vögeln Geräusche vorzumachen, die sie auch prompt mit großer Begeisterung (und noch größerer Lautstärke) nachahmten. Es dauerte jedes Mal fast zehn Minuten, bis die beiden von der Buchhandlung aus nicht mehr zu hören waren. Und wenn Robert sich ausmalte, wie Alfons seine zweischnäblige Geräuschmaschine die schmale Gasse zum Bädertörle auf die Remsauen hinunterzog und unterwegs die Gäste des spanischen Lokals und die Flaneure im Park beschallte, musste er schmunzeln.

Eines Morgens vor etwa einem Jahr hatte der Käfig mit den Kakadus vor der Wohnungstür von Alfons gestanden. Niemand hatte gesehen, wer die Viecher dort abgestellt hatte, und angeblich wusste niemand, wem sie gehörten. Ebenso angeblich suchte Alfons händeringend nach dem Besitzer oder wenigstens nach einem Platz in einem geeigneten Tierheim – doch Robert wusste längst, dass Alfons sich an die beiden Vögel gewöhnt hatte und sie so schnell nicht wieder hergeben würde. Nicht ohne Grund hatte er den beiden Namen gegeben, die nur ein Krimifreak wie er für zwei Kakadus auswählen konnte. Ab und zu ermahnte Robert seinen Mitarbeiter, dass die lauten Vögel nicht für immer tagsüber im Buchladen bleiben konnten. Aber wann immer Alfons versprach, sich eine Lösung für das Problem zu überlegen, war es eine glatte Lüge.

Robert winkte noch zwei Bekannten zu, die gerade die Obere Sackgasse heraufschlenderten und offenbar wie gewohnt zu einem der drei italienischen Restaurants unterwegs waren, die an der nordöstlichen Ecke des Marktplatzes direkt nebeneinander um Gäste warben. Dann schloss er die Ladentür und räumte noch ein paar Bücher zurück in die Regale.

Schließlich ging er in die Wohnung hinauf, öffnete die Fenster, um vor der kommenden Nacht wenigstens einen Teil der Tageshitze aus den Räumen zu vertreiben. Anschließend duschte er, zog sich eine Jeans und ein ausgeleiertes Shirt an und verließ das Haus durch die Hintertür. Die meisten Kriminaltechniker waren gegangen, nur eine Frau und ein Mann sicherten noch immer unverdrossen Spuren. Sie schauten kurz auf, als er in einigen Metern Entfernung an ihnen vorbeiging. Er grüßte, doch die beiden hatten für ihn nur ein kurzes Nicken als stumme Erwiderung übrig und konzentrierten sich gleich wieder auf ihre Arbeit.

Die Luft war noch recht warm, und mehr als eine behäbige Brise strich nicht über den Marktplatz. Im Thai-Imbiss in der Kurzen Straße musste er gar nicht erst bestellen. Als die Wirtin ihn hereinkommen sah, verschwand sie sofort in ihrer engen Küchenecke, und bald darauf ließ er sich die große Schüssel Tom Yam Gung schmecken: Garnelen, Pilze, Galgant, Zitronengras in scharfer Brühe, dazu eiskalte Cola. Kühler war ihm danach nicht, als er wieder auf die Straße trat, aber nun hatte er die richtige Grundlage für seine nächste Station.

Richie McCafferty, der Wirt des Scottish Pub nahe des Beinsteiner Tors, blickte mürrisch drein, als sein neuer Gast die Tür hinter sich schloss. Doch Robert wusste ihn zu nehmen, und weil sich im Sommer der ganze Trubel auf die Terrasse konzentrierte, die Richie neben sein Haus gebaut hatte, waren sie an warmen Tagen wie diesem im schummrigen Gastraum meist unter sich. Nachdem die Bestellung für draußen erledigt war, füllte Richie zwei Glaskrüge mit schwarzem Bier. Robert sah ihm dabei gern zu. Richie stammte aus Dunfermline, und mehr noch als dem übrigen Schottland fühlte er sich dem „Kingdom of Fife“ verbunden, wie er die oberhalb von Edinburgh gelegene Region an der schottischen Westküste am liebsten nannte. Das hieß: Aus den Boxen krachte immer zur vollen Stunde ein Klassiker der Hardrockband Nazareth, die ebenfalls aus Dunfermline stammte – wobei Richie immer Unverständliches in seinen struppigen grauen Bart murmelte, wenn er danach gefragt wurde, ob er mit dem Nazareth-Sänger Dan McCafferty verwandt sei. Und das Bier, das er offen ausschenkte, stammte von einer dortigen Brauerei. Die hatte ihm sogar eine echte schottische Zapfanlage vermittelt, mit der er das Bier von Hand aus dem Fass ins Glas pumpte, was dem Getränk etwas weniger Kohlensäure mitgab als in Deutschland üblich.

„Was ist mit dir, Richie?“, fragte Robert, als sie beieinandersaßen und ihre Glaskrüge zur Hälfte geleert hatten.

„Was soll sein?“

„Du scheinst nicht besonders gut drauf zu sein.“

Der Wirt zuckte mit den Schultern.

„Ich bin müde. Seit ein paar Wochen schlafe ich schlecht, und dann stromere ich in der Wohnung rum, lehne stundenlang an der Fensterbank oder drehe auch mal eine Runde durch die Stadt. Ist echt Mist, wenn du todmüde bist und trotzdem nicht schlafen kannst!“

Er prostete Robert zu und leerte seinen Bierkrug.

„Warst du heute Nacht auch in der Stadt unterwegs?“, fragte Robert möglichst beiläufig und hob ebenfalls sein Glas, ließ Richie dabei aber nicht aus den Augen.

„Nein, heute Nacht nicht. Du fragst wegen der Sache gleich bei dir ums Eck, wegen der Leiche hinterm Obstladen, oder?“

„Ja. Schade, hätte ja sein können, dass du zufällig was beobachtet hast.“

„Hab ich auch, aber nichts Spannendes, leider.“

„Und was?“

„Ich stand eine Weile am Fenster und hab rausgeschaut. Ein Penner ist rübergeschlurft zur Storcheninsel. Zwei Besoffene haben sich eingesaut, als sie versucht haben, ans Beinsteiner Tor zu pinkeln. Und ein Lieferwagen ist durchs Tor gefahren und die Lange Straße hinaufgerumpelt.“

„Was für ein Lieferwagen?“

„So ein alter Göppel, den sehe ich immer wieder hier durchfahren. Überall verbeult, zieht eine ziemliche Abgaswolke hinter sich her, und rundum sind verblasste Zeichnungen von Obst und Gemüse auflackiert.“

„Könnte das der Wagen von Sonjas Lieferanten gewesen sein?“

„Von Sonja Fischer? Ach so … stimmt, ja“, brummte Richie und stutzte. „Der Tote im Hof war einer ihrer Lieferanten, oder?“

Robert nickte und trank sein Glas leer.

„Mann! Dann war ich womöglich der Letzte, der diesen Typen lebend gesehen hat!“

„Na ja, von seinem Mörder abgesehen – oder von seiner Mörderin …“

„Natürlich, klar. Aber … was meinst du mit ›Mörderin‹? Du hast das gerade so seltsam betont.“

„Die Kripo verdächtigt unter anderem auch Sonja.“

Richie riss die Augen auf, er starrte Robert an, und dann legte sich langsam ein breites Grinsen auf sein verwittertes Gesicht.

„Und das macht dir zu schaffen, weil du ein Auge auf die gut aussehende Obstverkäuferin geworfen hast, stimmt’s?“

Robert schwieg.

„Natürlich stimmt’s“, gab Richie sich die Antwort gleich selbst. „Glaubst du, ich habe vergessen, wie du mir hier vor ein paar Monaten am Ende eines durstigen Abends von dieser Frau vorgeschwärmt hast? Und auch wenn sie nicht ganz nach meinem Geschmack ist, weil ich es gern etwas fülliger mag, gebe ich zu, dass sie sehr gut aussieht, und nett ist sie obendrein. Das Einzige, was ich an der ganzen Sache nicht verstehe, ist, dass du es ihr noch nicht gesagt hast. Du siehst doch auch nicht schlecht aus, Mann, ihr wärt auf jeden Fall ein schönes Paar.“

Richie lachte heiser, ging mit den beiden leeren Gläsern zum Tresen und kehrte mit zwei gefüllten Krügen zurück.

„Trink, mein Freund. Vielleicht traust du dich dann sogar heute Abend noch, der schönen Sonja reinen Wein einzuschenken.“

Aus den Lautsprechern krähte Dan McCafferty Love hurts; es war punkt zehn.

„Oder vielleicht lieber morgen“, fügte Richie hinzu.

Sie stießen an und tranken. Richie wischte sich den Mund mit dem Ärmel seines fleckigen Shirts trocken. Danach musterte er seinen Gast eine kleine Weile.

„Du siehst aus, als würdest du dir eher überlegen, wie du deiner Sonja helfen kannst. Als würdest du nach Infos suchen, die sie entlasten. Warst du früher mal Bulle oder so was?“

Robert blinzelte und sah ihn forschend an.

Richie winkte ab und lachte.

„Keine Angst, du hast mir hier im Pub niemals etwas in dieser Richtung erzählt, auch nicht an Abenden, an denen du mit ordentlicher Schlagseite hier raus bist.“

Der Wirt zwinkerte ihm zu.

„Muss ja ganz was Spannendes gewesen sein, wenn du so ein Geheimnis draus machst, Mann. Aber keine Sorge, ich bohre nicht nach, ich lass dich in Ruhe, und jetzt habe ich nur noch eine Frage. Magst du was essen? Ich habe heute ganz frisch Haggis gemacht. Und wenn du nur einen Snack magst, Schottische Eier habe ich auch.“

Robert lehnte mit gespieltem Bedauern ab. Er hatte vor Jahren einmal in einer kleinen Kneipe ein paar Kilometer von Richies Heimatstadt Dunfermline entfernt Haggis gegessen und das etwas seltsame Gericht durchaus gemocht. Aber Richie war ein so lausiger Koch, dass ihm sogar die Schottischen Eier jedes Mal missrieten. Dabei war es eigentlich keine große Kunst, hart gekochte Eier mit Wurstbrät zu umgeben, die so entstandene Kugel mit Brotkrümeln zu panieren und sie in der Fritteuse kurz auszubacken.

Durchs offene Fenster waren Rufe zu hören. Richie ging zum Tresen, zapfte ein paar Bier und trug sie auf die Terrasse hinaus. Den Rest des Abends saß Robert stumm und allein an seinem Tisch. Richie hatte zu tun, holte sich irgendwann zwischendurch einen gut gefüllten Teller zum Tresen – der Geruch, den das Essen darauf verströmte, bestätigte den schlechten Ruf des Wirtes als Koch sehr eindringlich. Um elf Uhr rockten Nazareth Hard Living, und als um Mitternacht Steamroller folgte, winkte Robert dem Wirt zu, dass er nun zahlen wolle.

„Wirklich schade, dass du heute Nacht weiter nichts gesehen hast“, sagte er.

„Andererseits bedeutet das für deine Sonja ja eher etwas Gutes“, versetzte Richie und steckte sein gut gefülltes Portemonnaie wieder weg. „Wann immer ich sie morgens zu ihrem Laden oder abends nach Hause radeln sehe, kommt sie hier an meinem Pub vorbei. Manchmal schneit sie auf ein, zwei Pint herein, manchmal winkt sie mir nur zu. Und wenn hier eine Band spielt, fehlt sie selten.“

„Sie wohnt in der Winnender Straße, da führt der direkte Weg mit dem Rad natürlich bei dir vorbei. Und heute früh hast du sie nicht gesehen?“

„Nein, heute nicht. Ich bin allerdings gegen halb sieben wieder ins Bett und hab tatsächlich noch zwei, drei Stunden schlafen können. Ob sie zu ihrer üblichen Zeit am Pub vorbeikam, kurz nach halb acht, weiß ich daher nicht.“

Robert wirkte enttäuscht, deshalb musste Richie deutlicher werden.

„Hast du mich denn nicht verstanden? Wenn ich gesehen habe, wie der Lieferant die Lange Straße entlanggefahren ist, aber Sonja weder in der Stunde davor noch in der danach hier vorbeikam, ist es doch eher unwahrscheinlich, dass sie dort war, wo schließlich der tote Lieferant aufgefunden wurde, richtig?“

Robert dachte nach.

„Wann genau soll der Lieferant denn gestorben sein?“, hakte Richie nach.

„Das weiß ich nicht. Und weil Gift im Spiel war, ich aber keine Ahnung habe, um welches es sich handelt, weiß ich auch nicht, ob der Lieferant im Hof zwischen Sonjas Laden und meinem Haus vergiftet wurde oder ob das schon vorher passiert ist. Die Polizei fragt die Leute jedenfalls immer nach dem Zeitraum von drei bis fünf Uhr heute früh.“

„Leider habe ich nicht auf die Uhr geschaut, als der Lieferwagen vor meinem Haus vorbeigefahren ist, aber das müsste schon so ungefähr in dieser Zeit gewesen sein. Und wie gesagt, da war in der Langen Straße keine Sonja weit und breit zu sehen.“

„Sie könnte heute früh einen anderen Weg genommen haben.“

„Und warum sollte sie das tun? Jede andere Strecke wäre doch ein Umweg!“

„Vielleicht wollte sie nicht, dass du sie bemerkst. Sie weiß doch sicher, dass du sie oft vorbeifahren siehst.“

„Ja, natürlich weiß sie das. Ich stalke sie ja nicht, sondern sehe sie eben zufällig, wenn ich mal am Fenster stehe oder vor dem Haus zu tun habe oder den Pub lüfte.“

„Wenn sie unbemerkt zu ihrem Laden gelangen wollte, hätte sie durchaus einen Grund gehabt, einen Umweg in Kauf zu nehmen.“

„Sag mal, Robert, was bist du denn für ein schräger Verehrer? Du stehst auf die Frau, und jetzt suchst du Gründe, die sie noch verdächtiger machen würden?“

„Das sind nur Gedankenspiele, Richie. Ich halte sie für unschuldig, aber das kann ich nicht mit Vermutungen belegen, die mir jeder Kommissar ohne große Mühe um die Ohren hauen würde.“