Wie man den Familienwahnsinn überlebt
Autor Luka Goldwasser über die Hintergründe der chaotischen Familie in „Das Haar in der Sippe“
In diesem Blogbeitrag erzählt der Autor von „Das Haar in der Sippe“ aus dem Leben mit seiner chaotischen Großfamilie und gibt Tipps, wie man die unvermeidbaren Treffen am besten überlebt:
In jeder Familie steckt eine gute Portion Wahnsinn. Das ist unbestritten. Trotzdem behaupte ich, dass meine Sippe bei der Vergabe von Spleens und Verrücktheiten eine besonders große Portion abbekommen hat.
Denn spätestens, als ich Weihnachten auf einer Kindermatratze vor dem Ehebett meiner Eltern auf dem Boden schlief, weil sämtliche Zimmer im Haus durch die Mischpoke besetzt waren, wusste ich, es ist Zeit, einen Familienroman zu schreiben, der noch irrer ist als dieses Haus. Vier Generationen unter einem Dach können sehr anstrengend sein. Ich spreche aus Erfahrung.
Nachfolgend gibt es daher einige Tipps, wie Sie ihren anstehenden Familienaufenthalt überstehen, ohne im Irrenhaus oder Knast zu landen.
Gilt eigentlich für sämtliche Reisen. Wenn Sie allerdings für Ihren anstehenden Ballermann-Urlaub schon mal dezibeltechnisch vorglühen wollen, können Sie alternativ auch einfach bei uns Goldwassers vorbeikommen: Denn hier dröhnen die schlimmsten Andrew-Lloyd-Webber-Hits durch die Wände, in einer Lautstärke kurz vorm Hirnschaden. Und glauben Sie mir, Mallorca-Hits wie „Du bist zu blöd, um aus dem Busch zu winken“ oder „Saufen, morgens, mittags, abends“ sind sehr berührende, tiefschürfende Songs, verglichen mit dem kompositorischen Steinbruch, den uns good old Andrew in Form von Musicals hinterlassen hat.
„Ne Menge Power, das wär doch fein!
Denn wer mich abschleppt, muss kräftig sein!“
Diese syntaktische Glanzleistung ist nicht etwa das frivole Motto des stadtbekannten Swingerclubs, nein, es stammt aus dem überflüssigen Musical Starlight Express, das im Übrigen mit einem erschreckenden Frauenbild aufwartet, das älter ist als ein Nokia 3120.
Das Tolle ist, dass meine Familie Sekunden nach der Nahrungsaufnahme kollektiv ins Fress-Koma fällt und wir alle erstmal einen ausgedehnten Mittagsschlaf brauchen. Denn nur durch ein Schläfchen gestärkt, fühlen wir uns imstande, Kaffee und Kuchen aufzunehmen und später am Abend hemmungslos Kitsch im Fernsehen zu gucken.Diese furchtbaren Rosamunde-Pilcher-Filme sind mir (und vermutlich jedem anderen Bundesbürger) ein absoluter Gräuel, insbesondere, wenn sich dadurch der Beginn vom „Heute Journal“ verschiebt.
Aber zu Hause auf der Couch bei meinen Eltern kann ich diese hanebüchenen Schmonzetten völlig ironiefrei gucken und beim Beziehungsschwachsinn sogar regelrecht mitfiebern, wenn die verschollene Cousine dritten Grades vom angeheirateten Onkel der toten Schwester aus Loch Ness auftaucht, um den eigensinniges Earl Grey inklusive Millionenerbe klarzumachen.
Auch so was wie „Traumschiff“ oder die groteske Weihnachtsshow mit der singenden Sagrotan-Flasche Helene Fischer ist nur auf dem elterlichen Sofa zu ertragen, zwischen Alibi-Gemüse und gesalzenen Erdnüssen.
Als Kind durften meine Schwester und ich im Übrigen kaum fernsehen, weil wir uns sinnvoller beschäftigen sollten, als bäuchlings vor dem Apparat zu liegen. So ergriffen wir eines Abends die Chance, als wir mit unserer Oma alleine waren, die Abendsendungen für Kinder zu gucken. Das hatte allerdings zur Folge, dass meine Schwester dank „Sesamstraße“ fiese Albträume bekam und ich mich nach den ersten zwei Minuten „Hallo Spencer“ aus Angst vor den Monstern hinter der Gardine versteckte - und von dort nicht mal mit Keksen wieder hervorgelockt werden konnte.
Trotzdem wollten wir Kinder am aufregenden Fernsehleben partizipieren und so blieb uns nichts anderes übrig, als die Serien unserer Mutter mitzugucken - dramaturgisch war das für uns um einiges besser zu verdauen als „Sesamstraße“. Wie ein Rudel Erdmännchen lümmelten wir dann vor der Glotze und haben so essenzielle Serien wie „Schwarzwaldklinik“, „Ich heirate eine Familie“ oder „Die Wicherts von nebenan“ geguckt. Ich schiebe es auch auf diesen Serien-Konsum, dass ich mit meinem schwachen Nervenkostüm bis heute nicht fähig bin, mir gruselige Filme, brutale Action-Streifen oder irgendwas im Fernsehen anzugucken, das komplexer ist als ein Disneyfilm. Selbst den „Tatort“ gucke ich die meiste Zeit durch die aufgestellten Knie, die ich in besonders spannenden Szenen wie einen Vorhang ins Sichtfeld rückte, kombiniert mit dem permanenten Drücken der „Stumm“-Taste. „Tatort“ gucken meine Eltern oder meine Großmutter im Übrigen bis heute nicht: „Viel zu aufregend, danach kann ja keiner mehr schlafen.“
Und guter Schlaf ist uns besonders wichtig.
Wir sind die größten Familienmenschen, aber beim Essen hört der Spaß auf - und beim Alkohol. Glücklicherweise trinken meine Eltern nur Sekt, eine Gepflogenheit, die ich seit dem Jugendalter übernommen habe. Irgendwie hat jeder von uns beim Essen das latente Gefühl, zu kurz zu kommen ... und so herrscht beim trauten Familienessen ein Wettbewerb wie bei den Bundesjugendspielen.
Alles ist erlaubt. Tricksen, Täuschen, Foulen. Selbst meiner Großmutter sind Fair Play-Regeln egal, wenn sie mit beherztem Stich noch vor dem Anpfiff die Bratkartoffeln aus der Pfanne gabelt. Auch Neffe und Nichte sind keinen Deut besser, verstecken frech das Besteck der anderen Familienmitglieder, um nach Freigabe der Töpfe mit einigem Vorlauf sogleich die größten Portionen wegzuschlingen.
Meine Schwester geht das Ganze taktisch an. Tut zu Anfang so, als habe sie keinen Hunger, um dann auf der Zielgeraden, wenn alle schon mit schweren Bäuchen dem Mittagsschlaf entgegenfiebern, essenstechnisch loszuspurten. Die Hoffnung, einige Reste am nächsten Tag mit in den Zug zu nehmen, lösen sich damit in Luft auf.
Als es neulich Kartoffelpuffer gab und ich mir kurz vorm Essen ein Glas Wasser holen wollte, war plötzlich die Küche abgeschlossen. Das ist deshalb merkwürdig, weil bei uns nie irgendwer abschließt, noch nicht mal, wenn man auf dem Klo sitzt. Als nach stürmischem Klopfen schließlich die Küchentür aufging und meiner Mutter ein halber Kartoffelpuffer im Mundwinkel hing und mein Vater genüsslich kaute, wusste ich, dass die beiden auch kein Stück besser sind als alle anderen. „Wir haben schon mal probiert“, versuchten sie ihre Blutgrätsche im Strafraum herunterzuspielen - komisch, dass die beiden dann beim gemeinsamen Essen hinterher keinen Bissen mehr herunterbekamen. Sie waren schon pappsatt.
Als sich nach der Zeugung meine DNA sortierte, gab es darin ein entscheidendes Programm: Egal was du isst, du wirst nicht dick. Das mag beneidenswert klingen, ist aber kacke, wenn man als Knirps fortan im Bio-Unterricht mit dem Skelett verwechselt wird oder im Freibad vor Kälte bereits blaue Lippen bekommt, obwohl man in der Umkleidekabine noch seinen Winterpulli anhat. Überhaupt schwimmen: Wer hat sich eigentlich diese Sportart ausgedacht?
Ich hatte immer das Gefühl, wenn ich mich einfach auf der Wasseroberfläche treiben lasse, komme ich schneller ans andere Ende der Bahn, als wenn ich mit meinen Spargelbeinen und Zahnstocherärmchen Schwimmbewegungen unternehme.
Immerhin hatte ich nach dem Schwimmunterricht nie Durst, weil ich beim Brustschwimmen durch falsche Atmung bereits einige Liter Chlor-Urin-Gemisch in mich aufnahm - und in ruhiger Minute, wenn der Bademeister oder der Sportlehrer nicht guckte, auch direkt im Becken zurückließ.
Dass ich das Sportabzeichen nicht schaffte, geschenkt. Dass ich keine Urkunde bei den Bundesjugendspielen gewann, ebenfalls geschenkt. Dass ich beim Sprung vom Dreimeterbrett immer Schiss hatte, bei ungünstigen Windverhältnissen statt im Wasserbecken unschön auf dem Beton zu landen - auch noch geschenkt. Aber als mich mal eine renitente Oma mit Schwimmhaube eines Tages in der Bahn überholte und mich zurechtwies, dass Nichtschwimmer ins Planschbecken gehörten, habe ich meine Schwimmkarriere für beendet erklärt. Dünn sein kann hart sein - trotz Seepferdchen.
Das Schöne an Untergewicht ist allerdings, dass man überall augenzwinkernd einen Schlag mehr Essen auf den Teller bekommt. Was in der Kantine gilt („Junge, hast du mit nem Storch gepokert und die Beine gewonnen? Iss ma watt. Hier, noch'n Nachtisch“), gilt erst recht zu Hause. Dort darf ich mir bei Besuchen immer meine Lieblingsgerichte wünschen. Mal abgesehen davon, dass mich spätestens bei der Bestellung von Bratkartoffeln und Rote Beete sofort harte Flashbacks ereilen, die mein mühsam aufgebautes, mondänes Image als Teilzeit-Yuppie in Sekunden auf Kind-Niveau schrumpfen lassen.
Wenn ich Glück habe und beim Essen tatsächlich etwas übrig bleibt (außer vom Nachtisch, da ist das ausgeschlossen), halten meine Eltern Berge von Plastikschüsseln parat, um die Nahrung für die Bahnfahrt transportfähig zu machen. Und meines Erachtens gibt es nichts Schöneres, als mitten im Frankfurter Baustellenchaos auf dem Balkon zu sitzen, Labskaus, Kartoffel-Gratin oder Möhrchen aus der niedersächsischen Heimat zu essen und zu überlegen, wann das nächste freie Wochenende ist, um den Irren zu Hause mal wieder einen Besuch abzustatten.
Denn ein bisschen Wahnsinn braucht einfach jeder!
Luka Goldwasser (1979) wurde in einem kleinen Städtchen bei Hannover geboren. Seine Familie wohnt noch immer dort und zwar mit vier Generationen unter einem Dach. Für ihn gibt es nichts Schöneres, als diese Chaostruppe in seiner Heimat zu besuchen – obwohl, doch: abreisen, um das ramponierte Nervenkostüm wieder auf Vordermann zu bringen. Nach seinem Studium in New York, Paris und Hildesheim lebt und arbeitet Luka Goldwasser in Frankfurt am Main. Er ist leidenschaftlicher Improtheater-Spieler, hasst Andrew Lloyd Webber, liebt Fischbrötchen und seine ganz persönliche Familienbande, mit Hund.
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Unverhofft und begeistert lasen meine Töchter und ich "Das Haar in der Sippe" unterm Weihnachtsbaum, nachdem wir das Buch eigentlich der Oma schenken wollten. Wir hatten selten soviel Spaß gemeinsam ein Buch zu lesen und fragen uns nun, wird es wohl eine Fortsetzung geben? ;)