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Die Romane von Tobias Schlegl

„Das hat jemand geschrieben, der weiß, was er schreibt« rbb über „Schockraum“

Helden im Einsatz

In seinen Romanen erzählt Moderator Tobias Schlegl über die Situation im Gesundheitswesen. Das Besondere daran: Sie sind inspiriert von eigenen Erfahrungen, die der Autor als Notfallsanitäter gemacht hat.

„Echte Helden tragen keine Capes, sondern Crocs. ... Ein berührender Roman, ein Zeitzeugnis." Ronja von Rönne

Blick ins Buch
StromStromStrom

Roman

„Ich musste zwischendurch aufhören zu lesen, weil es mich emotional so gepackt hat.“ Franziska Böhler

Nora ist wie vom Blitz getroffen. Sie steckt mitten in der Ausbildung zur Notfallsanitäterin, als sie bemerkt: Sie ist schwanger. All ihre Pläne lösen sich plötzlich in Luft auf. Um einer Entscheidung zu entkommen, wirft sie sich in das Praktikum auf der Demenzstation. Dort trifft sie Diddy, der alles gibt für seine eigenwilligen Patienten. Und sie begegnet Frank, einem verschlossenen Typen, der selbst mal Sanitäter war und im Notfall über sich hinauswächst. Notfälle hat es hier zuletzt auffällig viele gegeben. Bald erkennen Nora und Diddy, dass Frank für den Rausch des Rettens Leben aufs Spiel setzt …

„Echte Helden tragen keine Capes, sondern Crocs. Ein berührender Roman, ein Zeitzeugnis.“ Ronja von Rönne

„Ich habe lange kein Buch gelesen, das so ein Thema setzt. Die Frage nach dem Wert des Lebens sollte man viel öfter stellen.“ Peter Lohmeyer

„Tobias Schlegl erzählt mit unverstelltem Blick und zuneigendem Ton von Menschen, die am Abgrund stehen. Beeindruckend.“ Thilo Mischke

„Tobias Schlegl hat überhaupt kein Problem damit, dahin zu gehen, wo es weh tut. Und: Man will ihm folgen.“ Sarah Bosetti


1

Nora schwankt nach rechts, ihre Schulter rummst gegen die Tür. Sie greift nach einem Mantel an der Garderobe und zieht sich wieder hoch.

Nichts rührt sich. Nur nicht Sonja wecken, das hat sie ganz und gar nicht gern, gesunder Schlaf muss sein. Nora schleicht durch den Flur zum Bad, erleichtert, dass keine Diele knarzt. Sie will bloß raus aus den verschwitzten Klamotten, sich die Haare bürsten und mit einer Paracetamol dem Kater vorbeugen.

Sie tastet nach dem Schalter unter dem Spiegel, da ist er – und da ist sie. Nora blinzelt sich an. Ein paar Strähnen haben sich aus dem Pferdeschwanz gelöst, die Wimperntusche ist ein wenig verschmiert. Sie lässt kaltes Wasser über ihre Hände laufen, taucht das Gesicht ein und trinkt, viele kräftige Schlucke, um den Wodka zu verdünnen, den Schwindel zu vertreiben. Damit der eine freie Tag morgen nicht komplett fürn Arsch ist. Gut, dass sie sich nicht dazu hinreißen lassen hat, mit Tino rumzumachen. Keiner aus dem Jahrgang, lautet die Regel. Außerdem wäre es unfair gegenüber Stefan. Was auch immer das mit Stefan ist. Nora grinst in ihr Handtuch. Wäre er dabei gewesen, wäre sie sicherlich nicht nach Hause gekommen.

Nora wühlt in ihrer Schublade. Fenistil, Nasenspray, Vomex. Keine Kopfschmerztabletten. Egal, Sonja hat bestimmt welche. Sonja hat alles. In welcher ihrer Kisten und Kästchen sind die Medis? In der großen weißen. Yes. Desinfektionsspray, Allergiepillen, Halsschmerztabletten, Hustenlöser, Jodsalbe, Wundheilsalbe, Arnikasalbe, Paracetamol, Ibuprofen, Aspirin. Sogar ein Schwangerschaftstest. Auf Vorrat, man weiß ja nie. Sonja ist echt unglaublich.

Nora lässt sich auf den Klodeckel sinken, in ihrem Bauch gluckert es, die Welt wankt noch immer. Ein Schwangerschaftstest. Seit einer Woche sind ihre Tage überfällig. Aber eine Woche, was heißt das schon? Der Schichtdienst bringt alles durcheinander. Und sowieso, Stefan und sie haben aufgepasst. Da kann überhaupt rein gar nichts passiert sein.

Nora zieht sich den Hoodie samt T-Shirt über den Kopf und stopft ihn in den Wäschesack neben der Dusche. Ab wann kann man so einen Test durchführen? Sie öffnet noch einmal Sonjas weiße Kiste und zieht die hellblaue Packung heraus. Sicherheit ab dem ersten Tag der ausgefallenen Periode. Dann kann sie es doch sofort machen. Dann ist die Sache erledigt. Dann halten sie mit dem RTW am Montag an der Apotheke, und sie besorgt Sonja Ersatz. Also, was sagt der Beipackzettel?

Das Ding sieht aus wie ein Coronatest, eine schmale Plastikkassette mit Sichtfenster, an dessen Rand ein C und ein T. Am unteren Ende der Teststreifen, da muss sie zehn Sekunden draufpinkeln. Sie hält den Test in den Strahl und zählt. Es kann auch Vorteile haben, mal ordentlich einen zu bechern. Mit der freien Hand faltet sie etwas umständlich ein paar Blätter Klopapier und drapiert sie unter dem Test auf dem Spülkasten. Jetzt genau fünf Minuten warten.

Sie löst ihren BH und schlüpft in den Pyjama von Papa. Viel zu groß, aber gemütlich. Papa. Sie will gar nicht dran denken. Während sie die Zahnbürste kreisen lässt, zwingt sie sich, nicht hinzugucken. Was soll schon sein? Wäre doch absurd. Jetzt schwanger, mit dreiundzwanzig, mitten in der Ausbildung.

Gerade als sie die Kappe mit der Mundspülung ansetzt, vibriert das Handy. Sie schielt zum Klo. Zwei Striche. Sie kippt die Spülung in den Mund, stellt die Kappe ab und beugt sich nach vorn. Ja – zwei Striche. Nora schnappt nach Luft, die scharfe Flüssigkeit gelangt in ihren Rachen, sie würgt und prustet, die Mundspülung sprenkelt die Klobrille grünlich. Zwei Striche, einer bei C und einer bei T. Das muss ein Irrtum sein.

Es klopft.

„Nora, alles in Ordnung?“ Sonja. Verschlafen und not amused.

„Ja, alles okay!“

„Bist du grad erst gekommen?“

„Ja, war wild heute.“

Sonja stöhnt auf. „Musst du dich übergeben?“

„Nein, ich hab mich nur verschluckt.“

„Brauchst du Hilfe?“

„Nein, nein – alles gut!“ Warum gibt die nicht auf?

„Kann ich bitte auf die Toilette?“

Hektisch wischt Nora die Klobrille trocken und versteckt die Bestandteile des Tests unter dem Pulli im Wäschekorb. Dann hält sie inne, zieht die Gebrauchsanweisung wieder raus und klemmt sie unter dem Bündchen ihrer Schlafanzughose fest.

Im Bett knipst sie die Nachttischlampe an und liest. Es ist zu berücksichtigen, dass unter bestimmten Umständen der Test einen falsch-positiven Befund ergeben kann. Genau so muss es sein. Wie bei Corona, falsch-positiv. Hier liegt schlicht und einfach ein Fehler vor.


2

„Guten Abend, General Kampa. Hier kommt die Nachtschicht. Haben Sie Ihre Tabletten genommen?“

Frank schließt die Tür und geht auf den alten Mann zu. Seine Crocs knartschen auf dem Linoleum.

Herr Kampa stöhnt leise. Frank greift nach der Tablettenbox und schüttelt. Die blauen Pillen für den Abend klappern in der dritten Kammer.

„Wo bleibt die Disziplin, Herr General? Denken Sie an Ihren Druck!“

Frank prüft die Vitalwerte. Kampa ist verkabelt, bei ihm wird dauerhaft der Blutdruck gemessen. 172/90. Bei einem systolischen Wert von 180 schlägt das Gerät Alarm.

Herr Kampa starrt Frank an. Sein Blick ist schwer zu lesen. Er hat etwas Finsteres, Strafendes und ist doch ausdruckslos. Frank ist sich unsicher, ob der General ihn überhaupt wahrnimmt. Vielleicht betrachtet er schon seit Stunden die Wand, und Frank ist ihm lediglich ins Sichtfeld getreten.

„Hallo? Jemand zu Hause?“ Frank legt den Kopf schief. Vielleicht ahnt der General, dass ihm Großes bevorsteht, und bereitet sich innerlich vor.

Herr Kampa blinzelt, seine trockenen Lippen bewegen sich.

Frank lächelt aufmunternd.

„Docha“, haucht Herr Kampa.

„Wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen!“ Als er sich hinunterbeugt, bemerkt Frank den unangenehmen Geruch, unverkennbar ekelerregend. Er beginnt, durch den Mund zu atmen, und lupft die Bettdecke. Ausgerechnet heute.

„War ja klar! Warum gehen Sie nicht zur Toilette, wenn Sie müssen?“ Frank lächelt in sich hinein.

Er schlägt die Decke zurück. Kaum erträglich wallt ihm der Gestank entgegen. Die Schutzhose des Generals ist verrutscht. Braune Masse quillt auf die Auflage. Am Schenkel ein dunkler Fleck. Oberhalb des Knies endet Kampas Bein, vor einiger Zeit wurde es amputiert. Die Gefäße waren verschlossen, eine Folge der Diabetes.

„Da haben mir die lieben Kollegen aber eine schöne Überraschung hinterlassen. So liegen Sie schon eine ganze Weile, was?“

Frank hat keine Wahl, heute kommt Besuch. Kampa war einmal ein hohes Tier bei der Bundeswehr, jetzt liegt er da. Von draußen holt Frank Tücher und eine frische Auflage. Er packt den General an Hüfte und Schulter, drückt ihn hoch und auf die Seite.

Herr Kampa stöhnt auf. „Tochder!“, krächzt er.

„Ach, Tochter! Was ist mit Ihrer Tochter?“

Frank stützt Herrn Kampas Rücken mit dem Unterarm.

„Tochter! Ich … muss … Tochter!“

Mit einer Hand löst er den Klebestreifen der Schutzhose.

Der General räuspert sich. „Ich muss … meine Tochter abholen, vom Kindergarten.“

Frank wischt über den Hintern. Um die Einfärbung am Schenkel bemüht er sich gar nicht erst.

„Ihre Tochter geht nicht mehr in den Kindergarten. Die ist erwachsen.“

Herr Kampa grunzt. „Doch.“

Frank lässt ihn wieder auf den Rücken rollen. Die Auflage ist gewechselt, die neue Schutzhose sitzt. „Und jetzt nimm endlich deine Pillen.“

Er packt die dünnen Haare und drückt den Kopf nach vorn. Herr Kampa verzieht das Gesicht.

„Komm schon. Nicht so wehleidig!“ Frank steckt ihm eine nach der anderen in den Mund und lässt ihn an der Schnabeltasse saugen.

„Na bitte. Das hätten wir. Nun bist du fein für deinen großen Auftritt.“ Frank lächelt. „Ich lüfte mal, wenn’s recht ist. Nicht, dass sich die hohen Kollegen aus der Intensiv noch ekeln!“

Heute Nacht ist Frank ganz allein auf Station. Mal wieder. Alle krank. Trotzdem wird es gleich voll werden. Gleich kommen sie alle angerannt. Und dann werden sie sehen und staunen.

„Sagen Sie“, flüstert der General, „sagen Sie meiner Tochter, dass ich bald da bin.“

„Ich ruf sie nachher an, versprochen!“, antwortet Frank. Er zieht die Tür hinter sich zu und erstarrt.

*

Happy ist Diddy nicht, als er in den dunkelblauen Kasack schlüpft. Er ist spät dran und hat die Übergabe verpasst, aber das ist nicht das Thema. Eigentlich säße er jetzt mit Olli auf der Couch, bei Netflix, Pinot noir und Zartbitterschoki. Doch gerade, als sie den Tisch abgeräumt hatten, rief Paula an. „Ein absoluter Notfall“, „eine Riesen-Ausnahme“, „richtig was gut“ habe Diddy bei ihr. Ob ihr bewusst ist, dass sie jedes Mal das Gleiche sagt? Wäre er Pflegedienstleiter – aber er ist nicht Pflegedienstleiter, und er will es auch gar nicht sein. Nur noch Orga am Hacken, Mangelverwaltung mit Chef im Nacken. Dabei ist er der Dienstälteste auf Station, fast dreißig Jahre im Beruf, zehn davon hauptsächlich hier in der Geriatrie. Er könnte den Laden mit links leiten. Aber dann hätte er kaum noch Zeit für die Patienten.

Diddy atmet tief durch und schlüpft in die Birkenstocks. Alle Betten sind belegt. Optimalerweise ist die Nachtschicht zu dritt. Tatsächlich arbeiten sie meist zu zweit. Heute hat sich kurz vor Dienstbeginn Anastasia krankgemeldet. Übrig blieb Frank. Keine Frage, Frank ist fit, der kann den Job. Aber ganz allein mit achtzehn Patienten – das ist gemein. Das möchte er selbst Frank nicht zumuten, obwohl der ihm nicht sonderlich sympathisch ist.

Diddy schließt den Spind. An der Tür hängt eine Klappkarte mit der Diddl-Maus, vor einer rosa-lila Wolke reckt sie ihm einen Blumenstrauß entgegen. Ganz liebe Geburtstagsgrüße! Jedes Jahr machen sich die Kollegen einen Scherz draus und schenken ihm eine Diddl-Karte. Er tauscht die alte gegen die neue und trägt es mit Fassung.

Auf der Station ist es still. Nur ein mattes Husten dringt aus dem ersten Isolationszimmer links vom Eingang, rechter Hand hört Diddy Hans und Doris schnarchen. Er mag den Trubel am Tag lieber als die Ruhe der Nacht, die so trügerisch sein kann. Diddy genießt es, wenn Leben in der Bude ist, wenn aus dem Fernseher in der Guten Stube die Kastelruther Spatzen schmettern und die dementen Patienten den Flur entlangmarschieren, immer im Kreis, bis sie müde sind.

„Dann mal los“, murmelt Diddy, greift sich zwei benutzte Tassen von einem Teewagen und eilt den Gang im Osten hinunter zum Cockpit. Vor dem Zimmer von Herrn Kampa bleibt er wie angewurzelt stehen.

„Nicht so wehleidig!“, hört er eine Stimme durch die Tür. Bei allem Respekt, Frank vergreift sich manchmal befremdlich im Ton. Vielleicht sollte er das bei Gelegenheit mit Paula besprechen. Vor knapp einem Jahr ist Frank ins Team gekommen – und seither eine echte Stütze, robust und belastbar. Gerade in brenzligen Situationen funktioniert er wie ein Uhrwerk. Und sein Wissen ist beachtlich – über Medikamente kann er regelrecht Vorträge halten: Dosierung, Kontraindikationen, Wirkweise, die physiologischen Abläufe. Er wäre ein guter Arzt geworden. Außerdem kann Frank reanimieren wie kein Zweiter, von ihm werden sich im Kollegium Heldengeschichten erzählt. Er war wohl mal Rettungssani, da sammelt man natürlich Erfahrung. Diddys letzte Reanimation ist ewig her. Irgendwie kommt er immer drumrum.

Die Tür schwingt auf.

„Ich ruf sie nachher an, versprochen!“, sagt Frank. Als er Diddy sieht, entgleist ihm sein spöttisches Grinsen.

„Hast du mich erschreckt, Diddy! Was machst du denn hier?“

„Ich bin für Anastasia eingesprungen. Hat dich das nicht erreicht?“ Mal wieder typisch, denkt sich Diddy. „Ist alles ruhig so weit?“

Er wendet sich in Richtung Cockpit, Frank folgt ihm.

„Ja, so weit sind alle versorgt. Frau Kurz macht ihr übliches Theater – ›Hilfe, Hilfe!‹. Du weißt schon. Geht man rein, ist nichts.“

„Schmerzmittel hat sie?“

„Der Tropf ist komplett durchgelaufen, aber ich mache mir etwas Sorgen um den General“, sagt Frank und fängt an, in seinem Rucksack zu kramen, der neben einer Tastatur im Besprechungsraum liegt. „Er wirkt völlig weggetreten. Der macht’s nicht mehr lange, glaub ich“, sagt Frank abwesend.

„Hm. Sobald er Besuch hat, ist er das blühende Leben. Frank?“

Frank reagiert nicht, sein Kopf versinkt im Rucksack. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, ärgert sich Diddy.

„Übrigens, die Dokumentation hat noch viele Lücken“, murmelt Frank. „Mit herzlichen Grüßen der Spätschicht. Danke für nichts. Na endlich!“ Er scheint gefunden zu haben, was er gesucht hat.

„Ach, mir reicht schon, dass alle im Bett sind. Wenn du willst, kann ich mich an die Doku setzen.“

„Von mir aus gern. Ich dreh gleich eine große Runde. Und schau auch noch mal bei Frau Kurz rein.“ Frank strahlt. „Aber erst mal das!“ Er hält einen Schokoriegel in die Höhe. „Nie den Blutzucker vergessen. Nicht, dass ich noch eine Hypoglykämie bekomme.“ Er sieht Diddy herausfordernd an.

Du solltest dir besser um deine HYPERglykämie Sorgen machen, denkt Diddy, erbarmt sich aber und grinst zurück.

"In meiner Ausbildung zum Notfallsanitäter habe ich viele Stunden im Krankenhaus gearbeitet, auch auf der Geriatrie mit Schwerpunkt Demenz – eine eindrückliche Zeit. Unberechenbare Patient:innen, die meisten liebenswürdig, einige aggressiv.

 

Ein herausfordernder Bereich, der häufig übersehen wird. Deshalb wollte ich ein Schlaglicht darauf werfen. Auf verschiedenen Ebenen ging es mir auch um die Frage, wann ein Leben lebenswert ist – und ob man sich von außen anmaßen darf, das zu bewerten."


Tobias Schlegl

Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Job als Moderator aufzugeben und Notfallsanitäter zu werden?

Meine innere Stimme. Ich wollte nicht mehr über interessante Menschen nur berichten. Ich wollte selbst etwas machen, etwas Relevantes und Sinnvolles. Die Sehnsucht danach wurde immer größer. So groß, dass ich sie nicht mehr ignorieren konnte. Und als Notfallsanitäter kann man ganz konkret helfen und manchmal sogar Menschen retten. Für mich gibt es nichts Sinnvolleres.

 

Welches Erlebnis als Sanitäter hat Sie besonders bewegt / erschüttert?

In meiner dreijährigen Ausbildung gab es viele Momente, die sich eingebrannt haben. Zum Beispiel, als ich eine ältere Dame mit Bauchspeicheldrüsenkrebs ins Hospiz gefahren habe. Medizinisch war das gar nicht so anspruchsvoll, aber ich wusste, dass diese Patientin jetzt nur noch zwei Wochen zu leben hat. Die Fahrt in meinem Rettungswagen war sozusagen ihr letzter Road-Trip. Als sie dann meine Hand griff und zudrückte, hat mich das tief bewegt. Es müssen nicht immer die blutigen Fälle sein, deren Bilder man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.

 

Was muss sich in unserem Gesundheitssystem ändern?

Leider so einiges. Die Arbeitsbedingungen im Rettungsdienst müssen - ähnlich wie in der Pflege - dringend verbessert werden, denn ansonsten wird die Personalnot immer größer. Nur wenige halten diesen Job eine lange Zeit durch. Und meine Romane zeigen: Gerade die psychischen Belastungen werden allzu häufig vergessen und vernachlässigt.

 

Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben? Wer soll es lesen?

Jede*r, der/die in die Blaulicht-Welt eintauchen will, ist herzlich eingeladen. Das ist ja das Großartige an Literatur: Dass sie einem die Chance bietet, in völlig fremde Welten einzutauchen. 

SchockraumSchockraum

Roman

Irgendetwas stimmt nicht im Leben von Notfallsanitäter Kim. Zwischen Nachtschichten und Zwölf-Stunden-Diensten fühlt er sich wie betäubt, ist ängstlich und macht Fehler. Seine Beziehung zu Marie geht in die Brüche. Erst mit der Zeit wird Kim klar, dass all die Probleme mit einem traumatischen Einsatz zu tun haben. Als sein bester Freund Benny ihn auf einen Roadtrip ans Meer mitnimmt, bietet sich Kim ein unverhoffter Ausweg. Und er spürt, dass er sich endlich seinen Ängsten stellen muss …

Mitreißend und temporeich erzählt Tobias Schlegl von einem, der in einem überlebenswichtigen Beruf plötzlich selbst ums Überleben kämpft. Dabei entsteht eine Geschichte von großer Tiefe und Empathie und zugleich ein aufrüttelndes Bild von den schwierigen Arbeitsbedingungen in unserem Gesundheitssystem.

„Dieses Buch hat mehr Adrenalin und Geschwindigkeit als alle Teile von ›The Fast and the Furious‹ zusammen. Nach dem Lesen wird sich das Singen der Sirenen auf den Rettungswagen für immer verändern. Endlich haben diese Helden des Alltags ihr eigenes Buch.“ – Thees Uhlmann

„Sowas will ich lesen.“ – Bela B Felsenheimer

„Dieses Buch aus dem Hamburger Blaulichtmilieu nimmt einen mit: in den Rettungswagen und in die Gedankenwelt der Hilfskräfte. Fundiert, empathisch, systemrelevant.“ – Eckart von Hirschhausen

Prolog


Einhundertsieben Jahre. Neuer Rekord. So alt war noch keine meiner Patientinnen.

„Als junge Frau war ich Schauspielerin. Stellen Sie sich vor, ich habe noch in einem Stummfilm mitgespielt!“

„Tatsächlich?“, staune ich, nehme den leeren Infusionsbeutel vom Haken und hänge einen neuen an.

„War alles noch in Schwarz-Weiß damals. Ich hatte langes schwarzes Haar. Das sah gut aus auf der Leinwand! Dazu meine großen dunklen Augen …“ Der Wagen bremst, ich halte mich an der Rückenlehne der Trage fest. Sie ist hochgestellt, damit Frau Jakobi es bequemer hat. Ihre Haare sind inzwischen schlohweiß, die Augen eingerahmt von etlichen Lachfältchen.

Die Frau blitzt mich schelmisch an und drückt meinen Unterarm: „Sie sind aber auch noch ganz schön knackig!“

Ich lache. „Sind Sie auf der Suche?“ Ich muss laut sprechen, um den Motor zu übertönen.

„Ach, wo denken Sie hin, ich nicht mehr! Aber meine Tochter.“

„Ja?“ Die Blutdruckmanschette pumpt sich auf. Auf dem Monitor beobachte ich die Messwerte.

„Ich stell sie Ihnen gleich mal vor. Sie wartet an der Klinik auf mich.“

Ihr Blutdruck ist in Ordnung.

Sie beobachtet mich.

„Und, mögen Sie Ihre Arbeit?“

„Ja, schon. Ich bin noch mitten in der Ausbildung. Aber es gefällt mir. Ich kann Menschen helfen, das ist toll. Und am Ende des Tages weiß ich, was ich getan hab. Ehrlich gesagt auch körperlich. Ist schon viel Geschleppe. Und die Schichten sind lang.“

„Na, das ist doch kein Problem für Sie! Sie sind doch noch jung!“, schäkert sie.

Frau Jakobi bekommt allmählich wieder eine rosige Gesichtsfarbe. Sie hatte den Notruf gewählt, weil ihr schwindelig geworden war. Vielleicht die Hitze draußen oder einfach nur Flüssigkeitsmangel. Weil wir aber nicht ausschließen konnten, dass sie einen Schlaganfall hatte, haben wir sie mitgenommen, zur Kontrolle.

Ein Rumpeln. Der Rettungswagen schwankt. Der lästige Bordstein an der Krankenhausauffahrt. Meine Kollegin Laura hat nicht rechtzeitig abgebremst.

„Verzeihen Sie die kleine Achterbahnfahrt“, sage ich.

„Alles gut, Schätzchen. Mich haut so schnell nichts um.“ Sie grinst mich an.

„Das merke ich!“ Ich grinse zurück. Der Wagen hält an, der Motor geht aus.

„Wir müssen uns jetzt leider schon verabschieden“, sage ich, öffne die Hintertüren und springe nach draußen. Schwüle schlägt mir entgegen.

„Na, warten Sie mal! Sie wollten doch noch meine Tochter kennenlernen!“

Ach ja. Bin gespannt. Wie die Mutter, so die Tochter, sagt man doch. Sicherlich eine schöne, witzige Frau.

Laura hilft mir, die Trage aus dem Wagen zu ziehen. „Ich hab gleich ein Blind Date“, sage ich, und sie rollt mit den Augen.

Die alte Dame reckt den Kopf. „Da ist sie ja!“ Sie hebt ihren Arm samt Infusionsschlauch und winkt. „Hallöchen, Liebes! Hier bin ich!“

Ich drehe mich um und kann es nicht fassen. Auf uns schlurft eine alte Oma zu, über einen Rollator gebeugt, das silbergraue Haar zu einem festen Dutt gebunden. Fast so alt wie Frau Jakobi, nein, eigentlich sieht sie sogar älter aus. Was hatte ich denn anderes erwartet? Wenn die Mutter einhundertsieben ist, dann muss die Tochter so um die achtzig sein!

„Darf ich vorstellen?“, fragt unsere Patientin und kann sich das Lachen kaum verkneifen. „Elisabeth, meine Tochter. Und das ist Kim, mein Retter!“

 

Später sitze ich mit Marie auf unserem Balkon. Eine der seltenen lauen Sommernächte in Hamburg. Es ist schon spät, aber wir wollen beide nicht, dass der Abend endet. Vor uns zeichnen sich schwarz die Giebel und Schornsteine der Nachbarhäuser ab, über uns der Nachthimmel, der niemals ganz dunkel ist in dieser Stadt.

„Und dann kam raus: Mein Blind Date Elisabeth war siebenundachtzig!“ Wir kichern. Marie boxt mir liebevoll in die Seite.

„Damit das klar ist. Du sollst nicht mit anderen Frauen flirten. Du hast mich!“

Ich halte mir theatralisch die Rippen und blicke sie an. Sie ist perfekt. Hübsch. Schlau. Lustig. Physiotherapeutin. Sie kümmert sich um andere, wie ich, hilft Menschen und liebt die Foo Fighters, wie ich. Und sie lacht viel. Laut lachen mit Marie, mehr brauche ich nicht.

„Ich meine das ernst! Wenn du dir noch einmal von einer Siebenundachtzigjährigen den Kopf verdrehen lässt, mach ich dich fertig!“ Sie holt aus und boxt mich noch einmal. O fuck, das hat gesessen. Der Schmerz lässt meinen Oberkörper reflexartig nach vorn schnellen. Ich nehme ihre Faust und küsse sie.


WARUM?


Ich am Steuer. Versuche, mich auf die Straße zu konzentrieren. Mein Herz pocht. Laut. Lauter als das Martinshorn. Jeder Schlag durchfährt meine Brust, meine Arme bis in die Fingerspitzen, die schweißig am Lenkrad kleben. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen. Schwierig. Unmöglich.

Ich bin im Tunnel. Mein Sichtfeld ist verengt auf den Ausschnitt genau vor mir. Rechts und links ist es dunkel. Ich biege in eine dreispurige Straße ein, der Wagen legt sich in die Kurve. Keiner im Weg hier.

Ich bemühe mich, an nichts zu denken, zu fokussieren. Es ist hoffnungslos. Ich höre den Beat meines Herzens und ein einziges Wort, eine Frage, im Rhythmus des Beats. Ein kleiner H. P. Baxxter brüllt sie wieder und wieder in sein Mikro. Der Boxenturm steht mitten in meinem Kopf. Ich mag die Band Scooter nicht. Sie verkörpert alles, was den Menschen so hässlich macht. Stumpfe Plastikscheiße. Schnapskoma und Grölen. Und montags wieder schön einreihen in die lebenslange Arbeitsschlange bis zum Tod. Aber solange am Wochenende mal ordentlich die Sau rausgelassen wird, lässt sich das Dasein ertragen. Irgendwie. Muss ja.

Es gelingt mir ganz und gar nicht, an nichts zu denken. Der Song läuft in Dauerschleife. Der kleine H. P. Baxxter fängt wieder an zu schreien: WARUM? Immer dieses eine Wort, diese eine Frage. WARUM? WARUM? WARUM???

Ja, warum eigentlich? Das frage ich mich in solchen Momenten oft. Warum zur Hölle tu ich mir das an? Warum dränge ich gerade mit siebzig Sachen die Autos in der Innenstadt zur Seite, nur Zentimeter zwischen Crash und der Weiterfahrt? Warum rieche ich schon wieder meinen eigenen sauren Schweiß? Das ist doch nicht normal, was ich hier mache.

Ich sehe Menschen, die sich die Ohren zuhalten, die hoffen, dass ich schnell wieder aus ihrem Leben verschwinde. Ich nerve, ich irritiere. Ich reiße sie für einen kurzen Moment aus ihrem Alltag. Jederzeit kann alles vorbei sein. Ich erinnere sie daran, dass sie sterben werden. Sie alle. Und dann ist all das, was sie sich mühsam erarbeitet haben, auf einen Schlag bedeutungslos. Ich sehe nur Tote. Ich bin der kleine Junge aus The Sixth Sense. Aber über mich wird man nie einen Film drehen. Und wenn, dann würde niemals Bruce Willis mitspielen. Vielleicht Ralf Bauer, aber nicht fucking Bruce Willis.

Blick nach rechts zum Beifahrersitz. Da sitzt Dennis. Kann ich mich auf ihn verlassen? Schläfrig sitzt er da. Wieso ist Dennis so tiefenentspannt und ich nicht? Ihm ist einfach alles egal. Sogar er selbst, so wie er aussieht. Wird immer fetter und zynischer. Immer diese fiesen Sprüche. Das macht mich wütend. Aber es darf heute nicht eskalieren. Bitte nicht. Ich fühle mich nicht gut. Möchte nur ins Bett. Oder zu Hause den Kühlschrank öffnen und überlegen, was ich mir koche. In aller Ruhe.

WARUM? Warum sitze ich hier? Welche Wendung hat mein Leben genommen, dass ich mir das antun muss?

  1. VU. Verkehrsunfall. So viel weiß ich. Steht auf der Einsatzdepesche. Über Funk hieß es: eine schwer verletzte Person. Die Laienreanimation sei bereits auf der Straße eingeleitet worden. Das war der Moment, der den Sound meines Herzschlags auf „MAX“ gedreht hat. In diesem Moment dachte ich fest daran, an nichts zu denken. Eine Sekunde später bekam der kleine H. P. Baxxter seinen Einsatz.

 

Ich lenke den Rettungswagen durch die wartenden Autos.

„Siehst du was?“, fragt Dennis.

Ich recke den Hals. „Jepp. Wir haben es gleich geschafft. Da stehen Leute. Und da liegt einer. Und einer drückt.“ Drei Autofahrer sind ausgestiegen, haben sich näher gewagt und gaffen. Mein Blick fällt auf den verformten Wagen, der zusammen mit dem Baum eine seltsame Einheit bildet. Eine hässliche Skulptur, Thema: „Verschmelzung von Natur und Technik“.

Ich halte den RTW an, schaue rüber zu dem Verletzten.

„Scheiße, der ist ja noch richtig jung“, murmele ich.

„Was stimmt nicht mit dir? Aussteigen!“, faucht Dennis. Ich zucke, schnappe unseren Rucksack, hole tief Luft. Jetzt müssen wir öffentlich arbeiten. Vor aller Augen. Alle, die hier rumstehen, sind unsere Zuschauer, beobachten jeden Handgriff. Aber das hier ist keine Show. Das ist der intimste Moment im Leben eines Menschen, der Moment, in dem der Schritt zwischen Leben und Tod gemacht wird. Der Übergang. Der Zustand zwischen Tag und Nacht. Das letzte Glühen, bevor die Sonne endgültig im Meer abtaucht und den Himmel ein letztes verzweifeltes Mal blutrot färbt. Dieser Moment gehört einem Menschen ganz allein. Zuschauer, Gaffer, die nichts, aber auch gar nichts mit ihm verbindet, sind vollkommen fehl am Platz. Das ist würdelos.

Ich bin mir sicher, dass der Mann da vor mir auf dem Boden den Schritt zwischen Leben und Tod noch nicht machen will. Es ist zu früh für ihn. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig, jünger als ich. Viel Bart, etwas dicklich, Metallica-Shirt. Dieser Mann will sich auch nächstes Jahr noch in Wacken im Moshpit blaue Flecken holen. Und dafür sind wir da. Dennis und ich. Wir müssen diesen Menschen jetzt zurückholen, den Übergang verhindern.

Der Ersthelfer drückt den Brustkorb in der richtigen Frequenz und Tiefe. Erleichtert lächelt er uns an.

„Sie machen das gar nicht so schlecht“, sagt Dennis. „Noch einen Augenblick, wir übernehmen gleich.“

Was hat der Metalhead nur für ein Glück. Ohne den beherzten Helfer wäre ihm ein Hirnschaden garantiert. Würde er zu einem Deckengucker im Pflegeheim. Wäre das eine würdevolle Alternative zum Tod?

Warum hören diese nervigen Gedanken nicht auf?

Ich muss jetzt funktionieren! Drücken und pusten. Dafür bin ich da. Retten und reanimieren. Warum verliere ich mich in Gedanken? Warum zögere ich? Das ist doch nicht meine erste Rea. Ich sehe, wie Dennis sich zu dem Verletzten kniet, dessen T-Shirt aufschneidet, die Patches des C3 klebt. Das EKG zeigt: PEA, pulslose elektrische Aktivität. Der Herzmuskel arbeitet nicht mehr. Kreislaufstillstand. Der Metalhead hat den Übergang eigentlich schon hinter sich.

Ich kämpfe mit meinen Gummihandschuhen, sie wollen nicht über die Schweißhände rüber, verdammt, wie ein Praktikant. Dennis löst den Ersthelfer beim Drücken ab und raunzt: „Kim, die Beatmung!“ Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Ich weiß nicht, ob wir den Sauerstoff überhaupt aus dem Wagen mitgenommen haben. Ich sehe die Flasche nirgends. Fuck. Fuckfuckfuck! Ich renne hektisch zurück zum RTW. Aber da ist keine Sauerstoffflasche. Ich könnte schreien vor Wut. Warum funktioniert hier nichts? Haben wir sie etwa an der Wache vergessen? Was für ein Anfängerfehler. Die Kollegen dürfen das nie erfahren. Ich renne zu Dennis zurück, der drückt dem Metalhead konzentriert und rhythmisch auf den Brustkorb. Und da sehe ich sie: die Sauerstoffflasche, rechts neben dem Kopf des Patienten. Stand sie die ganze Zeit dort? Was hat Dennis gedacht, als ich noch mal zum Wagen gerannt bin? Hat er das überhaupt mitbekommen? Ich krame im Rucksack und suche die Beatmungsmaske. Ich nehme das größte Modell, stülpe sie dem Mann über Nase und Mund. Aber das Beatmen funktioniert nicht richtig. Wegen des Barts zischt die Luft an der Seite heraus. Sekunden vergehen. Ich bin wie gelähmt.

„Kleinere Maske, C-Griff. Warum nicht gleich den Larynxtubus?“, ruft Dennis. Natürlich. Ich wühle wieder, finde den Tubus. Ich öffne den Mund und schiebe den Tubus tief in den Rachen.

Warum habe ich nicht selbst reagiert? Warum musste ich mir das jetzt von Dennis sagen lassen? Er ist doch nur Rettungsassistent. Ich bin Notfallsanitäter. Meine Ausbildung war länger, mein Wissen ist auf dem neuesten Stand. Es ist einfach nur peinlich.

Ein neuer Zyklus. Rhythmusanalyse. Kein Schock per Defibrillator.

„Kim, drückst du jetzt?“ Dennis greift nach dem Rucksack. „Ich lege den Zugang, dann spritzen wir Adrenalin.“

Das ist gut. Da muss ich nicht mitdenken. Nur drücken. Das hat etwas Meditatives. Ich vergesse, dass ich hier auf einem Lebewesen herumdrücke. Ich vergesse die Blicke der Schaulustigen. Ich vergesse mich. Ich werde eins mit der Bewegung. Der Shouter in meinem Kopf macht Mittagspause. Ich drücke und drücke. Dennis hat die Beatmung übernommen. Und ich drücke.

 

Die Notärztin ist da. Ihr Kollege hockt sich neben mich.

„Komm, ich lös dich mal aus“, sagt er.

Ich will nicht. Ich sollte aber, sonst werde ich zu langsam. Scheiß drauf. Ich mache das gut. Ich bin noch nicht müde. Doch der Kollege drängt mich sanft, aber unmissverständlich zur Seite.

Vier Minuten später darf ich wieder ran. Im fahrenden Rettungswagen stehe ich neben der Trage und drücke. Ich drücke auch noch, als wir am Krankenhaus ankommen. Sobald der Wagen anhält, steige ich auf die Trage, knie mich über den Metalhead. Meine Unterschenkel sind rechts und links an seine Hüfte gepresst, sie passen gerade noch so daneben. Dennis zieht die Trage aus dem RTW, obendrauf der intubierte Patient und ich. So schiebt er uns in die Notaufnahme. Schwestern, Pfleger und Ärzte warten schon, umringen und folgen uns. Wir werden quer durch den Empfangsbereich gerollt, und ich muss aufpassen, dass ich mir nicht den Kopf an der Decke stoße.

„Patient Jonas Liebold, männlich, achtundzwanzig Jahre, Verkehrsunfall, Herz-Kreislauf-Stillstand, Laienreanimation vor Ort …“ Ich höre kaum, was die Notärztin runterrattert. Ich drücke. Wie befreiend. Ich bin hier, ich bin jetzt. Für diesen Moment, genau für diesen Moment bin ich Notfallsanitäter geworden. Ich kann etwas verändern, ich mache den Unterschied.

„Kim, aufhören. Es ist gut. AUFHÖREN!“, befiehlt der Klinikarzt im Gang kurz vor dem Schockraum. „Wir schließen jetzt den LUCAS an. Der Patient kommt sofort in den OP.“

Ich lasse ab. Für mich übernimmt die Maschine. Fühle ich mich heldenhaft? Nein. Fühle ich mich gebraucht? Ja.

Stille.

 

Gegen dreiundzwanzig Uhr komme ich nach Hause. Marie schläft bereits. Ich setze mich an den Küchentisch und sacke völlig ausgebrannt zusammen. Schon wieder Überstunden. Und nach meiner Schicht wollte ich noch unbedingt bei der Klinik vorbeifahren. Wollte wissen, was aus meinem Metalhead geworden ist.

„Der Typ hatte tatsächlich einen dauerhaften ROSC, ist also erst mal wieder da. Ist nicht klar, ob er es schafft. Ursache war wohl ein Infarkt. Er war im Katheterlabor und an der ECMO-Anlage, jetzt liegt er auf der Intensiv“, hat mir Schwester Kerstin gesagt.

Kerstin. Sie ist bei vielen für ihre schlechte Laune gefürchtet, aber ich mag sie. Wenigstens eine ehrliche Haut. Mich wundert ihre miese Stimmung überhaupt nicht. Als ich bei ihr vorbeischaue, liegen die Leute in Zweierreihen auf dem Flur, die Zimmer sind heillos überfüllt. Ich bin froh, dass ich nach jeder Patientenübergabe wieder in meinen leeren RTW flüchten kann. Weg von den Menschen, die die Notaufnahme mit einem medizinischen Discounter verwechseln. Mal schnell zwischendurch zum Facharzt. Ganz ohne Termin. Pech für sie, dass Schwester Kerstin dazwischengeschaltet ist.

„Hallo? Hallo!“, ruft einer vom Gang. Kerstin lehnt sich aus dem Schwesternzimmer.

„Ich warte hier schon seit acht Stunden!“, klagt der Mann. „Mein Rücken bringt mich um!“

„Ich sagte Ihnen doch, wir kümmern uns drum. Alles zu seiner Zeit!“, schnauzt Kerstin, dreht sich zu mir zurück und verschränkt die Arme.

Der Metalhead war das genaue Gegenteil. Bei ihm zählte jede Sekunde. Er bekam sofort die volle Aufmerksamkeit. Pfleger, Schwestern und Ärzte kümmern sich jetzt rund um die Uhr um ihn. Für genau solche Fälle gibt es den Rettungsdienst, die Notaufnahme und den Bereitschaftsdienst des Operationsteams, der den OP-Saal zu jeder Tageszeit hochfahren kann.

 

Ich gehe den gesamten Fall noch einmal durch. Der junge Mann hatte einen Herzinfarkt und ist deshalb gegen den Baum gefahren. Wir haben die Wiederbelebung bis zum Krankenhaus durchgeführt, aber letzten Endes hat das Herzkatheterlabor dafür gesorgt, dass sein Herz wieder mit Sauerstoff versorgt werden konnte. Eine verstopfte Herzkranzarterie als Ursache. Mit Ende zwanzig.

Der Fall lässt mich nicht los. Der Patient tut mir leid. Gerettet ist er noch lange nicht. Viele sterben wenige Tage nach einer erfolgreichen Reanimation. Wacken liegt in weiter Ferne.

Und dann diese Anfahrt heute, die Probleme mit der Sauerstoffflasche, die Schwierigkeiten beim Beatmen. Ich bin unzufrieden. Wieso war ich so unaufmerksam? Warum diese handwerklichen Fehler? Dennis hat zwar in der Nachbesprechung nichts dazu gesagt, aber er muss es mitbekommen haben. Da konnte die Notärztin das gesamte Team am Ende noch so sehr für die Reanimation loben, das zählt nicht. Schließlich war sie in der Chaosphase nicht dabei. Aber ist es wichtig, dass ich in Gedanken war? Der Metalhead wurde doch ins Leben zurückkatapultiert, und nur das zählt. Außerdem haben wir tatsächlich keinen groben Fehler gemacht. Es waren nur Kleinigkeiten.

„Was stimmt nicht mit dir?“ Dennis hat die Frage des Tages gestellt. Er selbst hat funktioniert wie ein Uhrwerk. Aus dem Zen- in den Vollspeed-Modus. Aber, ehrlich gesagt, der hat auch nie was anderes gemacht in seinem Leben. Nur Rettungsdienst.

Einer der wenigen, die das durchgehalten haben. Fünfundzwanzig Jahre diese Arbeitsbedingungen, die Bezahlung, die Nachtschichten. Das hat Folgen. Gesundheitlich und bei manchen auch charakterlich. Einige der Alten werden komisch. Man sollte Dennis eine Sitcom oder Realityshow geben. Der beschwert sich lautstark, wenn die Geräte im Auto nicht den neuesten medizinischen Standards entsprechen. Seinen eigenen Körper behandelt er allerdings wie Abfall. Schokoriegel. Käsebrötchen. Currywurst. Was ein Körper am Tag halt so braucht. Für Dennis ist klar, Grünzeug und Vitamine sind etwas für verweichlichte Indie-Rock-Fans.

Ich verstehe das nicht. „Wer rettet, fettet“ ist auch bei Dennis ein beliebter Spruch, und zwar während er gerade Industrieprodukte in sich reinstopft. Du bist der Nächste, den ich mit meinem RTW einsammele, denke ich mir. Er sorgt dafür, dass mein Arbeitsplatz auch in Zukunft sicher ist. Schön. Warum bin ich nicht dankbar dafür?

Da ist noch etwas anderes. Der Job hat Dennis abgestumpft. Er scheint nichts mehr zu fühlen. Hat immer einen ironischen, zynischen Spruch auf den Lippen. Meistens lache ich mit, aber innerlich fühle ich mich schmutzig. Oder ich werde wütend und muss mir auf die Zunge beißen. Denn es braucht vor allem eines im Rettungsdienst: Empathie. Im Umgang mit Patienten und Kollegen. Sonst kann eine fragile Notfallsituation jederzeit eskalieren. Heute war Dennis Vollprofi. Und ich nicht.

Ich lasse den Kopf hängen, mein Rücken ein Buckel. Bin so müde. Nichts geht mehr. Ich kenne das, das ist jobbedingt. Es wird aber seit einigen Monaten immer schlimmer. Ich stopfe mir den letzten Bissen meines Nutella-Toasts in den Mund.

Im Schlafzimmer versuche ich, so leise und vorsichtig wie möglich neben Marie unter die Bettdecke zu schlüpfen. Sie stöhnt kurz auf und dreht sich weg. Ich umarme sie, spüre meinen Atem gegen ihren Nacken. Es dauert, bis der Schlaf kommt. Aber er kommt, und ich falle in die Dunkelheit.


AUFWACHEN


Ich stapfe durch den Garten. Hinter mir höre ich Dennis schnaufen. Plötzlich legt er seinen Arm um meine Schultern, stützt sich auf mich. Ich wanke unter seinem Gewicht, ziehe ihn mit über die Terrasse des heruntergekommenen Hauses, drücke ihn durch die Hintertür. Er steckt fest, ich stemme mich gegen diesen Riesen, muss drücken, quetschen, dann löst er sich, und wir stolpern nach drinnen.

Es stinkt fürchterlich. Eine Fifty-fifty-Mische aus Kotze und Kot. Mein Magen zieht sich zusammen. Speichel sammelt sich. Ist das ekelhaft. Gleich flute ich das gesamte Wohnzimmer mit meiner Kotze.

Eine Frau sitzt mit einer halb leeren Wodkaflasche auf dem Sofa und singt. Ich kenne das Lied, aber ich erkenne es nicht. Sie verschluckt einzelne Silben. Sie wirkt ungepflegt. Hat eine Frisur wie der Clown Pennywise aus ES. Sie ist völlig betrunken.

Lose bunte Pillen auf dem Beistelltisch. Ich bin mir nicht sicher, aber liegt da nicht auch eine Spritze? Die Frau hat verwaschene Tattoos auf ihren Oberarmen. Ist das die Patientin?

Der Nachbar ruft: „Nach oben, nach oben!“

„Was soll denn da noch sein?“, frage ich.

„Nach oben“, wiederholt er nur.

Der Boden ist dreckig, vollgeschmiert mit Kot. Mich umschwirren Schwärme winziger Fliegen. Ich wedele vergeblich mit den Armen, sie setzen sich auf meinen feuchten Nacken und krabbeln in der Spur der Schweißtropfen meinen Rücken hinab.

Ich muss gehen, ich kann hier niemandem helfen. Aber ich komme nicht vom Fleck. Stehe mitten in der Scheiße. Klebe fest.

Die Frau singt laut. Ich halte mir die Ohren zu, aber es hilft nichts. Die Töne werden höher, schriller. Ich drücke fester auf die Ohren. Keine Wirkung. Die Ohren schmerzen. Die Frequenz ist kaum noch auszuhalten.

Ich schreie. Ich schreie dagegen an. Frequenz gegen Frequenz. Es quillt warm zwischen meinen Fingern hindurch, am Handgelenk und Hals entlang. Blut. Mein Blut.

 

„Es ist wieder da. Jetzt bin ich sogar deswegen aufgewacht“, flüstere ich. Marie hat sich eh schon unruhig hin und her bewegt. Draußen ist es hell.

„Der Tinnitus? War der denn je weg?“, fragt Marie schläfrig, ohne die Augen zu öffnen. Stimmt eigentlich. Hat das Piepen jemals gestoppt? Keine Ahnung. Gestern, beim Einsatz, habe ich den Ton nicht gehört. Oder habe ich ihn einfach überhört? Wirklich ruhig war es da ja nicht. Ist es nie bei Einsätzen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das angefangen hat. Mal ist der Ton lauter, mal leiser. Nachts, kurz vor dem Einschlafen, nervt er besonders. Es sei denn, ich bin komplett müde. Und dieser Zustand kommt immer öfter vor. So einen Tinnitus hatte ich ja schon immer mal, nach Partynächten und Festivalbesuchen. Nicht drum kümmern, geht wieder weg. Dieses Mal aber nicht. Das Piepen bleibt. So laut, dass ich jetzt sogar davon aufwache.

Marie blickt mich an. „Jetzt geh doch mal zum Arzt. Kannst du doch heute machen.“

„An meinem freien Tag? Da setz ich mich doch nicht ins Wartezimmer. Ich krieg so spontan eh keinen Termin. Und ich geh auf keinen Fall in die Notaufnahme.“ Ich denke an Schwester Kerstin, wie sehr sie sich über meinen „Notfall“ freuen würde und mich bis zum Abend auf dem Gang schmoren lassen würde. Wäre zwar ein guter Gag, allerdings wäre ich der Leidtragende. Darauf habe ich jetzt keinen Bock. Aber ich will auch nicht, dass dieser Ton mich mein Leben lang schikaniert. Wie bei diesem Schauspieler. Ich hab mal ein Interview gelesen. Darin hat er über seinen Tinnitus erzählt und dass er in Hotels immer das Zimmer zur Straße nehmen müsse. Nur mit geöffnetem Fenster zur Straße sei es ihm überhaupt möglich, mit dem Tinnitus einzuschlafen. Arme Sau, habe ich mir damals gedacht und mich gefreut, dass ich so was nicht hab. Fuck.

„Okay. Ich such mir wenigstens mal einen HNO-Arzt raus“, sage ich und beende den Flugmodus meines Smartphones. Eine Sprachnachricht. Von Benny.

„Hey Kim, Teampartner, äh … lass mal treffen. Gibt Neuigkeiten. Also, isch küss dein Auge.“

Isch küss dein Auge. Bennys Satz klingt nach, leicht verstellte Stimme, Prollstraßenslang. Das mag ich an Benny: Er hält sich kurz. Reduziert Sprachnachrichten aufs Wesentliche. Im Gegensatz zu vielen anderen.

Überhaupt Benny. Den habe ich viel zu lange nicht gesehen.

Wir haben uns gleich am ersten Tag in der Berufsschule kennengelernt. Vor gut vier Jahren. Und wenn ich jemanden interessant finde, dann ist meine erste Frage immer diese eine – ich wollte wissen, was für einen Musikgeschmack Benny hat. Was für Bands er hört.

„Guns n’ Roses und Ozzy Osbourne. Zu den Konzerten geh ich jetzt auch bald“, hat Benny geantwortet. Wie absurd! Zwei alternde Acts, die ihren Zenit längst überschritten haben, aber trotzdem einen Anfangzwanzigjährigen dazu bringen, für siebzig Euro ein Konzertticket zu kaufen. Ich habe beide Bands früher auch gehört. Wobei, früher? Wann war das eigentlich genau? Ich bin zehn Jahre älter als Benny, aber mit Anfang zwanzig war ich schon längst mit Guns n’ Roses und Ozzy durch.

Im Lauf der Ausbildung habe ich ihn dazu gebracht, deutschen Rap zu hören. Politischen Rap. Antilopen Gang. Sookee. Neonschwarz. Benny hat sich darauf eingelassen. Er ist sogar noch weiter gegangen. Hat sich selbst was rausgesucht, prolligen deutschen Hip-Hop, ohne tiefe Botschaften. Gzuz. Apache 207. Nur zum Scherz sogar Money Boy. Und irgendwann konnte ich nicht mehr sagen, ob er das jetzt wirklich noch ironisch meint oder ob er einfach Fan geworden ist. Das Hip-Hop-Projekt mit Benny war außer Kontrolle geraten. Dieses Rapperimitieren, ist das nicht schon seit gefühlt Jahrzehnten überholt? Seit jeher eher peinlich? Nicht für Benny. „Was geht, Bro!?“ war noch harmlos. „Bitte, gib mir die Shisha. Shishasheesh!“ war schon schwieriger zu handhaben. Ich hab immer gehofft, dass keiner mithört. Aber morgens waren immer schon genügend andere Auszubildende im Raum.

Einmal kam ich in die Klasse, da hat Benny sich vor mir aufgebaut, eine pseudolässige Rap-Körperhaltung eingenommen und mit ernster Miene und seinem Straßenslang gesagt: „Abrakadabra, dreimal schwarzer Kater!“

Ich hab mich nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Ich hab sogar noch gelacht, als Benny den Gag nach der vierten Stunde zum bestimmt zwanzigsten Mal wiederholt hat. Es kommt mir so vor, als hätte ich damals eine ganze Woche lang durchgelacht.

 

Die Flüssigkeit verschwindet in meiner Vene. Tropfen für Tropfen. Cortison. Hoch dosiert. Die einzige Chance, einen Tinnitus medikamentös zu bekämpfen.

Ich darf mich nicht auf das Piepen konzentrieren, sonst wird es lauter. Ich kann mir gut vorstellen, wie manche Menschen wegen dieses Dauerlärms durchdrehen und versuchen, diesen Ton irgendwie zum Schweigen zu bringen. Fenster auf, Autolärm rein. Wie sie sich als letzten Ausweg einen spitzen Bleistift ins Trommelfell rammen.

Die Hals-Nasen-Ohren-Praxis hatte einen Termin frei, ein anderer Patient hatte abgesagt. „Sie können sofort vorbeikommen.“ Jetzt habe ich es Schwarz auf Weiß. Beziehungsweise Blau auf Hellrosa. Das Ergebnis des Hörtests. Eine Kurve, ausgedruckt, auf meinen Knien.

„Sehen Sie“, hat der Arzt erläutert, „bei der zweithöchsten Frequenz fällt die Zacke steil nach unten. Bei beiden Ohren. Hier sorgt Ihr Tinnitus dafür, dass Sie den eingespielten Ton verzögert wahrnehmen. Die Frequenz ist besetzt. Durch den Tinnitus. Stellen Sie sich das vor wie mit Ihren lieben Mitmenschen im letzten Urlaub. Der Tinnitus hat sich die Liege am Pool bereits morgens mit einem Handtuch reserviert. Befestigt mit einer Klammer. Kennen Sie die, diese überdimensionierten Wäscheklammern? Damit bloß keiner wagt, das Handtuch beiseitezuschieben.“

Mein Tinnitus hat reserviert, mit Klammer. Ist gekommen, um zu bleiben. Jeden Tag muss ich nun eine einstündige Infusion bekommen. Eine ganze Woche lang.

„Jetzt gucken Sie nicht so unglücklich!“, fuhr der Arzt fort. „Keiner will Cortison. Und, ja, hoch dosiert kann es Stimmungsschwankungen hervorrufen. Vielleicht auch Bluthochdruck. Und: ein Mondgesicht. Kein Scherz. Manche schwemmen auf. Besonders im Gesicht. Aber das soll Sie jetzt nicht beunruhigen. Sie sind ja noch jung. Und es ist Ihre einzige Chance. Gut, dass Sie das jetzt in Angriff genommen haben.“

Was für ein Glück, dass das mit dem Termin so schnell geklappt hat. Wahrscheinlich bin ich der einzige Kassenpatient auf dem Planeten, dem es je gelungen ist, einen Facharzttermin noch am selben Tag zu bekommen.

„Aber soll ich Ihnen mal was sagen?“, hat der Arzt nachgesetzt und keine Antwort abgewartet. „Eigentlich kommen Sie zu spät. Am besten fängt man mit der Therapie ganz früh an. Warum kommen Sie erst jetzt, Monate später?“

Ich hätte mit meinen Arbeitszeiten argumentieren können. Dass Zwölf-Stunden-Schichten einfach einiges unmöglich machen. Dass ich in letzter Zeit so müde bin und mich kaum noch freiwillig aus dem Haus schleppe. Aber ich hab einfach nichts gesagt. Zu anstrengend.

„Na ja, wir versuchen unser Glück“, hat der Arzt gemeint und mir auf die Schulter geklopft. Dann hat er mich zurück zur Anmeldung geschickt, ich habe meine EC-Karte über den Tresen gereicht und meine PIN ins Gerät getippt. Tschüss zweihundertfünfzig Euro. Erst dann hat die Arzthelferin meine Vene punktiert. Und jetzt lieg ich hier.

Wie soll ich das jetzt eigentlich schaffen, eine Woche lang jeden Tag für eine Stunde diese Prozedur über mich ergehen zu lassen? In der Arztpraxis. Ich kann mich deswegen doch nicht krankschreiben lassen. Nicht nach dem heftigen Einsatz gestern. Das würde viel zu viele Fragen aufwerfen. Das würde ja so aussehen, als hätte ich den nicht verkraftet. Abrakadabra, dreimal schwarzer Kater. Benny. Scheiße, Benny. Den habe ich ganz vergessen anzurufen.

Tobias Schlegl zur Entstehung seines Buches Schockraum

Dieses Buch war nicht geplant. Als ich vor vier Jahren die Moderation des ZDF-Kulturmagazins aspekte aufgegeben habe, um die dreijährige Ausbildung und das Staatsexamen zum Notfallsanitäter zu machen, wies ich alle Verlagsangebote weit von mir.

Doch im Laufe der Zeit habe ich gemerkt: Es ist viel passiert. Zu viel. Ich habe zu viel gesehen und erlebt als Sanitäter. Das musste ich verarbeiten und ich wollte davon erzählen. Meine Kolleg*innen wollten, dass ich davon erzähle, von ihnen erzähle.

Dass ich die Chance ergreife und ihr Sprachrohr bin. Dass ich berichte, wie es ist im Rettungsdienst, was wir daran lieben und womit wir kämpfen – fernab aller Anekdotensammlungen und Vorabendserien-Klischees.

So ist mein Roman entstanden. „Schockraum“ gewährt Einblicke in diesen wichtigen Beruf, die sonst uns Mitarbeitern vorbehalten sind. Es geht um den Wachenalltag und um Einsätze, klar, aber auch um Ängste und Schwierigkeiten. Was bedeutet es, täglich Schwerverletzten und Schwerkranken zu helfen?

Was macht das mit einem? Es kann enden wie bei meinem Protagonisten Kim.

Er leidet an einer unbehandelten posttraumatischen Belastungsstörung, die ihn innerlich auffrisst, sein Leben auf den Kopf stellt und wegen der er sogar das Wohl seiner Patienten gefährdet. Kims Geschichte ist nicht meine Geschichte. Aber es gibt diese Kollegen, die mit ihren Eindrücken allein gelassen werden.

Für mich ist „Schockraum“ außerdem ein politisches Buch. Es wirft ein Schlaglicht auf Missstände im Rettungsdienst. Dabei geht es nicht um die medialen Diskussionen über Rettungsgassen und Pöbeleien gegen Rettungskräfte. Es sind die Arbeitsbedingungen, die den Menschen in diesem Bereich zu schaffen machen. Bedingungen, die die Politik ändern könnte und muss, damit die Notfallversorgung auch in Zukunft flächendeckend funktioniert und nicht – man muss es befürchten – komplett gegen die Wand fährt.

Ich hege die Hoffnung, dass der Roman etwas verändern, etwas verbessern kann. Dass er zumindest ein Bewusstsein schafft und damit eine Debatte anstößt.

Nicht zuletzt erzählt „Schockraum“ aber einfach eine packende Geschichte. Eine Geschichte über Freundschaft und Liebe, im Schatten der Einsätze zwischen Leben und Tod.

„Dieses Buch aus dem Hamburger Blaulichtmilieu nimmt einen mit: in den Rettungswagen und in die Gedankenwelt der Hilfskräfte. Fundiert, empathisch, systemrelevant.“ 


Eckart von Hirschhausen

Tobias  Schlegl

Über Tobias Schlegl

Biografie

Tobias Schlegl, Jahrgang 1977, moderierte lange beim Musiksender Viva, später die Satiresendung Extra 3 und das Kulturmagazin aspekte. Den Großteil seiner Fernsehjobs gab er 2016 auf und absolvierte eine Ausbildung zum Notfallsanitäter. Von diesem Beruf erzählte er in seinem Roman „Schockraum“ (2020), der auf Anhieb zum Spiegel-Bestseller wurde. Tobias Schlegl lebt und arbeitet in Hamburg.

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