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Bücher über das Sterben, Tod und Trauer

Bücher über Tod und Trauer

Sterben, Tod und Trauer sind unumgänglich, für jeden von uns. Und doch wissen wir kaum etwas darüber. Was passiert mit unserem Körper, wenn du stirbst? Was geschieht mit unserem Leichnam, bis man bestattet wird? Wie gehen andere Kulturen mit Verstorbenen um? Wie können wir uns spirituell und emotional auf den Tod und auf Trauer vorbereiten? Unsere Autoren beantworten die wichtigsten Fragen zum Umgang mit dem Tod und zeigen Wege zur Trauerbewältigung auf.

Wie ein gutes Sterben gelingen kann

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Wie ein gutes Sterben gelingen kann

Ein Palliativmediziner erzählt

„Halte es für möglich, dass dein Arzt beim Thema Tod noch mehr Angst hat als du.“

Wir müssen über den Tod reden. Es nicht zu tun, bedeutet, die Entscheidung darüber, wie wir sterben wollen, anderen zu überlassen. Der Palliativmediziner Matthias Gockel erlebt täglich, wie sehr Verdrängen und Verschweigen einen bewussten Umgang mit dem Sterben blockieren - nicht nur bei Patienten und Angehörigen, sondern auch bei ihren Ärzten. Er fordert deshalb eine neue Art der Gesprächskultur. Indem er aus seinem Berufsalltag erzählt, macht er nicht nur Mut, sich mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen. Er gibt zudem wichtige Orientierungshilfen, wie sich in einem zunehmend auf Kostenersparnis ausgerichteten Medizinsystem Entscheidungen treffen lassen, die für ein Sterben in Selbstbestimmung und Würde unabdingbar sind.

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Die Begegnung mit einem trauernden Menschen – Was du auf keinen Fall sagen solltest und was hilfreich ist!

Die Trauerbegleiterin Karin Biber erklärt wie es gelingt, nach einem Schicksalsschlag wieder positiv durchs Leben zu gehen.

Darunter litt ich am meisten. Menschen, die mir auf der Straße begegneten und Worte an den Kopf warfen, die mich verletzten. Wir Menschen haben Angst vor den eigenen Gefühlen und genau deshalb fällt es uns schwer in der Nähe eines Trauernden die richtigen Worte zu finden. Wir wollen eine Lösung, die Tränen wegmachen und loswerden. Schnell greifen wir auf vorgefertigte Floskeln zurück, und wissen nicht, was wir dem Trauernden damit antun. Hier meine Top 5 Sätze, die absolute No Gos sind und Vorschläge, wie du besser reagierst.

Die Zeit heilt alle Wunden

Nein, Zeit heilt keine Wunden. Das aktive Durchleben und Durchgehen aller Gefühle heilt das Herz. Aber kein Trauernder möchte vor allem in den ersten Wochen genau diese Satz hören. Er suggeriert nur, dass die Trauer der Person nicht sein darf und weg sein „muss“.

Du musst nun stark sein

Gar nix muss der Trauernde jetzt nach seinem Verlust. Er darf schwach sein, und alles darf zu viel sein. Das ist Trauer und wahre Stärke ist, diese zuzulassen und sich ihrer anzunehmen.

Das Leben geht weiter

Jedem Trauernden ist das bewusst. Und er macht weiter, jeden verdammten Tag aufs Neue. Nicht mehr wie vorher, nicht mehr im gleichen Tempo und nicht mehr mit nur einem Lächeln im Gesicht und genau das darf so sein.

Trauerst du etwa immer noch?

Einer der meist ausgesprochenen Sätze, die den Trauernden meistens nach wenigen Wochen oder Monaten erreicht. Trauer hat niemals ein Ende, denn der verstorbene Mensch bleibt schließlich tot. Und die Trauer ist nur Ausdruck der Liebe, die niemals vergehen wird. Trauer wandelt sich nur mit der Zeit und auch Freude findet daneben wieder ihren Platz. Das eine schließt das andere nie aus. Beides steht nebeneinander und darf gleichzeitig sein.

Er/Sie ist nun an einem besseren Ort

Falsch. Der beste Ort war nämlich hier, neben mir. Vor allem gläubige Menschen versuchen damit häufig zu trösten. Leider kommt das nicht an, weil man die Person einfach vermisst und hier haben mag.

Besser:

Ehrlichkeit: Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich habe selbst Angst vor diesen Gefühlen und bin überfordert mit der Situation.

Fragen nach dem Verstorbenen: Hast du ihn/sie selbst gekannt? Teile schöne Erinnerungen mit dem Trauernden. War dir die Person fremd, frag nach ihrem Wesen, nach gemeinsamen Erlebnissen.

Zuhören und Bestätigen: Lass die trauernde Person sprechen und erzählen und bestätige, wenn Worte kommen wie etwa „Ich vermisse ihn/sie so“ „Ich bin so traurig“ „Ich habe keine Kraft mehr“ mit Worten wie „Ich verstehe dich sehr gut“ „Du darfst traurig sein“ „Es darf sich grad schwer anfühlen“.

Aushalten: Kann die trauernde Person nicht viel reden und weint ausschließlich, halte es mit ihr aus, weine mit, teile die Traurigkeit und sei einfach nur da und schenke Halt.

Aktive Hilfe: Bring Essen vorbei, gehe einkaufen, putze oder mach den Haushalt, übernehme Aufgaben. Helfe aktiv, gehe hin und tue etwas, anstatt nur zu sagen, dass sich die trauernde Person melden kann. Sie wird es nämlich nicht tun.

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Larissas VermächtnisLarissas Vermächtnis
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Der schreckliche Mord an meiner Schwester und mein Weg zurück ins Leben

2013 verschwindet Katrin Bibers Schwester Larissa spurlos auf dem Heimweg von einer Party. Kurz darauf wird klar, dass ihr damaliger Freund sie ermordet hat. Es folgt eine lange schmerzvolle Zeit für Katrin und ihre Familie. Auch viele Angehörige und Freunde sind mit der Situation vollkommen überfordert. Irgendwann fragt sich Katrin, was ihre lebenslustige Schwester in ihrer Situation wohl getan hätte. Also zieht sie ihre Sportschuhe an und beginnt, ihrer Trauer mit Bewegung zu begegnen – es wirkt! Katrin Biber erzählt, wie sie es geschafft hat, das erste Jahr nach dem Schicksalsschlag zu überstehen und wieder positiv durchs Leben zu gehen. Geleitet hat sie dabei stets das Lebensmotto ihrer Schwester: „Lebe. Lache. Liebe.“

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SeelenSportSeelenSport

Bewege deinen Körper und stärke deine Seele - Trauer, Wut und Angst im Training bewältigen

Bewegung und Trauerarbeit – ein innovatives Therapie- und Trainingskonzept

Überwältigende Emotionen wie Angst, Trauer und Wut können über unser Leben bestimmen und uns Schachmatt setzen. „SeelenSport“ hilft Ihnen mit diversen Übungen gestärkt in den Alltag zurückzufinden.

Wie kann man einen überwältigenden Verlust eines geliebten Menschen verwinden, der gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde? Diese Frage musste sich Trauerbegleiterin und Gründerin des SeelenSport-Projekts Katrin Biber zwangsläufig stellen, als ihre 21-jährige Schwester von ihrem Freund ermordet wurde. Anschließend kämpfte sie nicht nur mit der Trauer, sondern auch gegen psychosomatische Störungen wie Schlafprobleme, Herzrasen und Angstattacken, die sie in ein tiefes Loch rissen.

Es waren schließlich Sport und Bewegung, die sie retteten. Anstatt sich aber in einem stickigen, lauten und überfüllten Fitnesscenter anzumelden, fand sie erste hilfreiche Übungen im Internet und spürte schon nach wenigen Wochen die ersten Fortschritte. Hieraus entwickelte Katrin Biber das Projekt und das Buch „SeelenSport“, mit dem sie ihre Erfahrungen mit anderen Menschen teilt, die mit scheinbar unüberwindbaren emotionalen Schmerzen zurechtkommen müssen.

Bewegte Gefühle statt plumper Muskelaufbau

„SeelenSport“ setzt nicht auf teure Trainingsgeräte oder Zusatzgewichte, damit Sie den nächsten Bodybuilder-Wettbewerb gewinnen. Die Trainingsmethoden unterstützen Sie dabei, Muskulatur aufzubauen, fitter und agiler zu werden. Gleichzeitig lernen Sie, Ihre Gefühle zu konfrontieren und durch Bewegung auszu- statt zu unterdrücken.

Wohltuender Gegenentwurf zum schnelllebigen Fitnesswahn

Sie haben keine Willenskraft, um sich ins nächste Fitnessstudio zu schleppen? Wenn die negativen Denkmuster zusätzlich jeden Tag zur Qual machen, stellt „SeelenSport“ eine beruhigte Alternative dar, um die emotionalen Herausforderungen des Alltags durch gesunde Bewegungsabläufe zu meistern. Katrin Biber lädt Sie in ihr Sportstudio für die Psyche ein.

Vorwort

Gefühle – sie begegnen dir jeden Tag, bei deinen Mitmenschen und bei dir selbst. Die meisten von ihnen nimmst du nicht bewusst wahr, und doch sind sie immer da. Angst, Freude, Wut, Scham, Traurigkeit, Liebe, Mut, Stolz, Verachtung und viele mehr bestimmen unser Verhalten, unsere Reaktionen und Handlungen, lenken unsere Beziehungen. Sie steuern so ziemlich alles in deinem Alltag. Manchmal sind sie fast nicht zu bemerken, an anderen Tagen spürst du sie ganz deutlich.
Im Normalfall brodeln sie nur kurz in dir auf, du reagierst, und die Gefühlslage beruhigt sich wieder. Aber dann gibt es diese außergewöhnlichen Zeiten im Leben – Verluste, Krisen, Schicksale, aber auch Errungenschaften und positive Veränderungen. Die Gefühle beginnen dich einzunehmen, zu kontrollieren. Da ist nicht mehr nur ein kurzer Moment des Ärgers, ein Aufflackern von Furcht, ein Tränchen aus Traurigkeit oder ein Luftsprung vor Freude. Stattdessen bist du rasend und kaum zu bremsen, verfällst bei alltäglichen Handlungen in Angst, fühlst dich verunsichert und eingeschüchtert und glaubst, ein Tennisball stecke in deinem Hals, der Wasserfälle aus deinen Augen drücken könnte. Oder du möchtest den ganzen Tag tanzen und schwebst wie auf Wolken. Bitte mehr von diesen glücklichen Dauerzuständen, denn sie schenken uns Kraft und fühlen sich gut an! Das Leben ist jedoch kein Wunschkonzert. In Wahrheit beschäftigen uns die belastenden Gefühle viel mehr, wenn sie zu einem Dauerzustand werden und die Freude Urlaub macht auf einem weit entfernten Planeten. Wohin also mit den schweren Gefühlen, die dich erdrücken und nicht von dir weichen wollen? Runterschlucken, wegessen, wegtrinken, ignorieren und verdrängen, dich davon ablenken? Das tun die meisten, vielleicht auch du. Und auch ich habe es viel zu lange so gemacht. Bis ich eines Tages einen Weg entdeckt habe, anders damit umzugehen.
Stell dir vor, du lernst deine Gefühle kennen wie bei einem Date, du erforschst sie und verstehst sie nach und nach. Du näherst dich ihnen an, magst sie langsam sogar irgendwie, auch die unangenehmeren, weil du erkennst, dass sie im Grunde wie ein geliebter Partner sind, der dich durch dein Leben begleitet. Manchmal streitest du mit ihnen, willst auf Abstand gehen, ein anderes Mal hörst du ihnen zu und gehst auf sie ein. Und wie bei einer guten Beziehung gilt auch im Umgang mit deinen Gefühlen: Hauptsache ist, du bleibst im Austausch, im Gespräch mit ihnen und ignorierst sie nicht zu lange. Das haben sie nicht gerne.
Stell dir vor, du könntest all diese Gefühle in Bewegung bringen, deinen Körper dafür nutzen, um ihnen Ausdruck zu verleihen, und ihn gleichzeitig kräftigen. Bist du bereit, die Kraft deiner Gefühle kennenzulernen, sie in dein Leben zu integrieren, statt sie zu ignorieren?
Trainieren nach Gefühlen klingt komisch, ergibt aber viel Sinn. Denn deine Gefühle sind das wundervollste Geschenk, das du jemals bekommen hast. Sie machen dich lebendig, dein Leben bunt und, wenn du sie gut kennst, auch stark und unabhängig. Wenn du sie zulässt und willkommen heißt, zeigen sie dir, was du gerade brauchst und was dir guttut.
Die Geschichten, Erfahrungen und Hilfestellungen in diesem Buch gehen zurück auf meine eigene Schicksalsgeschichte und meine vielen Begegnungen mit anderen Menschen und deren Gefühlswelten. Menschen, die Verluste erlebt haben und mit denen ich trainiert habe. Menschen wie du und ich, die im Alltag von ihren Gefühlen überfordert waren und deren Körper dadurch stark beansprucht wurde. Wenn ich von diesen Menschen spreche, meine ich fast ausschließlich Frauen. In 95 Prozent der Fälle sind sie es, die den SeelenSport in Anspruch nehmen. Deshalb spreche ich immer von „meinen SeelenSportlerinnen“. Obwohl Männern mein Konzept genauso helfen kann, weiß ich, dass sie sich eher Hilfe von anderen Männern holen. Warum das so ist, kannst du in dem Buch Männer trauern anders von Thomas Achenbach nachlesen. Deshalb freut es mich besonders, dass es auch männliche SeelenSport-Trainer gibt! Alle Trainer*innen findest du auf meiner Webseite seelensport.at/trainerinnen.
Ich bin also keine Gefühlsforscherin, ich bin auch keine Ärztin oder Psychologin. Ich bin eine stinknormale Frau, die sich nach einem heftigen Schicksalsschlag der menschlichen Gefühlswelt gewidmet hat und diese in ein körperliches Training integriert hat. Ich bin hingefallen und wieder aufgestanden, und das nicht nur ein Mal. Und jedes Mal wieder hat mich die Auseinandersetzung mit meinen Gefühlen motiviert und bestärkt.
Du wirst hier also nicht nur Wissenschaftliches finden, sondern auch Geschichten aus dem Alltag, in denen du dich sicher selbst wiedererkennen kannst. Dieses Buch soll dich nicht verwirrt zurücklassen, mit Tausenden von Begriffen, deren Namen man kaum aussprechen kann. Stattdessen soll es dir eine Orientierung geben, wie dich deine Gefühlswelt beeinflusst und wie du die Zügel wieder in die Hand nehmen kannst. Im hinteren Teil dieses Buches erwartet dich deshalb ein Training voller Gefühle. Für weiterführende Informationen findest du ganz am Ende Fachliteratur zu jedem Kapitel.
Zuletzt noch ein wichtiger Hinweis: Das von mir entwickelte Konzept des SeelenSports ist auf gesunde Menschen ausgerichtet. Das bedeutet wohlgemerkt nicht „glückliche, zufriedene, vor Freude sprühende Menschen“ – denn auch wenn du nach einem schweren Verlust in ein tiefes Loch gefallen bist, bist du nicht zwangsläufig krank. Aber wenn du dir unsicher bist, ob deine Trauer und dein Schmerz die Grenzen des „normalen“ Leids nicht vielleicht überschreiten, solltest du dir professionelle Hilfe suchen. Am Ende des Buches findest du einen Überblick über entsprechende Hilfsangebote. Denn SeelenSport ersetzt keine Psychotherapie – auch wenn sie in Verbindung damit sehr gute Erfolge erzielen kann.


Warum es SeelenSport gibt

Eine Katastrophe nach der anderen

Ich habe als Kind und Jugendliche, wie jeder und jede andere, die ganze Palette der Gefühle kennengelernt. Wie ich damit umgehen sollte, lernte ich nicht explizit. Niemand von uns tut das, denn im Grunde können wir instinktiv auf unsere Gefühle reagieren und sie handhaben. Nur verlernen wir das mit zunehmendem Alter durch Anpassung an unsere Gesellschaft.
Als ich zu studieren begann, wurde mein Leben – wie das so vieler Menschen – spannungsgeladener. Beziehungskonflikte, Streitigkeiten und Ärger mit meinen Eltern, Stress in der Universität. Alles zusammen brachte neue Gefühle hervor. Da waren Ängste vor dem Versagen und viel Traurigkeit und Überforderung, Mutlosigkeit und Einsamkeit, aber auch Wut und Zorn. Ich verdrängte und ignorierte sie, beschäftigte mich nicht weiter mit ihnen. Sie waren wie ein lästiger Kaugummi, der an meinen Schuhen klebte und nicht abgehen wollte. Immer wieder rüttelte ich dran, manches fiel ab, doch Reste blieben weiter kleben.
Dann wurde bei meiner Mutter 2011 ein Augentumor diagnostiziert. Ich spürte erstmals, dass es schwieriger wurde, meine Emotionen weiter zu ignorieren. Am Kaugummi blieb viel anderer Müll vom Boden kleben, und der Klumpen an meinem Fuß wurde größer. Trotzdem schüttelte und streifte ich weiter ab, nur mit etwas mehr Kraftaufwand. Ein Jahr später hatte ich eine Myokarditis, eine Herzmuskelentzündung, an der ich beinahe gestorben wäre. Ich war damals auf Interrail-Tour durch Frankreich, Spanien und Portugal, als ich plötzlich Magen-Darm-Probleme bekam, die mit jedem Tag schlimmer wurden. Offenbar ein Virus, durch Essen oder Getränke verursacht. Tage später in Lissabon spürte ich vermehrt Druck auf meiner Brust und hatte Atemprobleme. Ich kam in die Notaufnahme. Kurze Zeit später erhielt ich die Diagnose. Ich war zehn Tage in der portugiesischen Klinik, bis ich wieder mit dem Flieger nach Hause durfte. Es dauerte Monate, bis ich mich vollständig davon erholt hatte.
Woher kam diese Krankheit so plötzlich? Ja, von einem Virus. Aber ich hatte ein schlimmes Jahr hinter mir, mit vielen Gefühlen, die ich unterdrückt hatte. Der kleine Kaugummi war ein Klotz am Bein geworden, der sich kaum mehr ignorieren ließ. Ich funktionierte und arbeitete in dieser Zeit, um mich abzulenken. Mein Körper war jedoch geschwächt und besonders anfällig. Das wusste ich und ignorierte es gekonnt weiter. Vielleicht sollte ich endlich besser auf mich schauen, hinschauen, was meine Gefühle mir sagen möchten, kam es mir immer öfter in den Sinn. Doch wieder wusste ich nicht, wie – also ignorieren, weitermachen, funktionieren.
Monate später, Anfang 2013, hatte ich einen schweren Skiunfall. Die Folge: Kreuzbandriss. Ich wurde operiert und bekam eine Beinvenenthrombose. Wieder in großer Gefahr, war ich gezwungen, nach Hause zu meiner Mutter zu ziehen und nichts zu tun. Erstmals hatte ich Zeit, um über mein Leben und die Schicksalsschläge darin nachzudenken. In mir keimte der Gedanke auf, dass ich Hilfe im Umgang mit Krisen brauchen könnte.
Während einer dreiwöchigen orthopädischen Reha in diesem Sommer beschloss ich, meine Gefühle und Probleme anzugehen, sobald ich wieder zu Hause wäre. Ich kann mich noch erinnern, wie motiviert ich bei der Heimreise war und meiner Schwester Larissa davon erzählte. Doch es sollte anders kommen.
In der Nacht vom 13. auf den 14. September verschwand Larissa ganz plötzlich. Mit meinen Eltern und meinen beiden anderen jüngeren Schwestern zusammen begann eine zwei Wochen andauernde Suche. Am 27. September erreichte uns schließlich die Nachricht, dass Larissa von ihrem Freund ermordet und anschließend im Inn, dem Stadtfluss in Innsbruck, „entsorgt“ worden war.
Alle früheren Krisen erschienen mir plötzlich so klein und unwichtig. Eine Explosion der schmerzvollsten Gefühle überrollte mich. Die Monate danach beherrschten diese Gefühle jede Faser meines Körpers. Ich wusste nicht, wohin damit. Im Alltag waren sie in dieser extremen Form nicht erlaubt und stießen auf Gegenwind und Unverständnis. Es ging nur noch darum zu überleben. Jedes einzelne Gefühl schluckte ich hinunter, versuchte, es mit Alkohol zu betäuben. Doch sie fanden alle ihren Weg. In meinen Magen, in mein Herz, in meine Haarwurzeln, meine Haut und meinen Hormonhaushalt. Meine psychosomatischen Beschwerden waren der Ausdruck dieser alles durchdringenden Gefühle. Damit war klar: Wenn ich jetzt nicht etwas änderte und daran arbeitete, würde ich das nicht überleben!

Ein sportlicher Anfang

Ziemlich schnell nach Larissas Tod ging ich regelmäßig zur Psychotherapie, wo ich lernte, meinen Gefühlen mithilfe von Worten Ausdruck zu verleihen. Sie half mir, mich zu sortieren und vieles aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dennoch spürte ich, wie die schmerzlichen Emotionen in meinem Körper festsaßen. Nach jeder Sitzung fühlte ich mich noch zerschlagener als zuvor. Mein Körper schrie nach Beachtung und vor allem nach Bewegung. Jedes Mal, wenn ich weinend die Praxis verließ, von oben bis unten zitternd, spürte ich einen Drang in meinen Beinen und Armen. Ich wollte losrennen, um mich schlagen, laut schreien. Besonders schlimm war es, wenn die Wut mich im Griff hatte. Doch ich schluckte sie runter, drängte die Gefühle zurück, verdrängte, ging nach Hause und trank stattdessen ein paar Schlucke Alkohol oder aß Ungesundes, um den emotionalen Hunger zu stillen.
Bis zum Frühjahr 2014, als sich mein Leben noch einmal grundlegend veränderte.
Es war März, als ich aufgrund meines Kreuzbandrisses eine Nachuntersuchung bei meinem Operateur hatte. Noch heute kann ich seine Worte hören: „Katrin, ich weiß, dass es derzeit mehr als schwer für dich ist, aber du musst langsam wirklich deine Muskulatur aufbauen. Sonst wird sich dein Zustand nie verbessern, und es könnten vielleicht noch weitere Probleme dazukommen. Schlimmstenfalls kannst du dann nicht mehr wirklich wandern oder joggen gehen. Sport und Bewegung tun gut, probiere es doch einfach mal aus.“
Meine Schwester Larissa war in unserer Familie immer die Sportliche gewesen. Ich war eher diejenige, die nur etwas tat, um das schlechte Gewissen zu beruhigen. Der Satz meines Arztes wirkte in mir nach. Dennoch fragte ich mich, wie ich denn damit anfangen sollte, wenn ich kaum fähig war, meinen Alltag zu bestreiten. Doch der Gedanke an meine sportliche Schwester ließ mich nicht los, und ich beschloss, für sie einen Versuch zu wagen.
Ich begann, ein Fitnessstudio zu besuchen – mit wenig Erfolg. Alles war hier auf Oberflächlichkeiten, auf pralle Muskeln, auf die perfekte Figur hin ausgerichtet. Ich fühlte mich hilflos und weinte viel. Nach dem gescheiterten Versuch fehlte mir die Kraft, um es woanders noch einmal zu probieren. Ich gab auf und fühlte mich nun auch noch wie eine Versagerin.
Eines Nachmittags kam mein Mitbewohner auf mich zu. „Du musst in kein Studio gehen, um Sport zu machen, Katrin. Hier hast du ein paar Übungen, die du ganz einfach daheim machen kannst. Versuch es einfach!“, ermutigte er mich und drückte mir einen Trainingsplan in die Hand, der unterschiedliche Workouts mit dem eigenen Körpergewicht beinhaltete, das sogenannte Bodyweight-Training. Ein Hype, der 2014 auch bei uns in Österreich angelangt war und kräftig boomte. Angebote – vor allem, aber nicht nur in App-Form – wie Mark Lauren, 7 Minuten, Runtastic, Freeletics oder Madbarz erreichten jeden Tag mehr Menschen und wurden zum Trend.
Ich nahm den Plan dankbar an und fühlte mich sofort motiviert. Dass ich keine Ahnung von Ausführung und Intensität, von Fitness allgemein hatte, ignorierte ich gekonnt und versuchte, selbstständig an die Sache heranzugehen. Ich startete mit dem ersten Training in meinem Zimmer, das mit seinen 25 Quadratmetern genug Platz bot.
Ohne mich besonders aufzuwärmen, legte ich los und merkte schnell, dass mir die Luft ausging. „Unfassbar, wie unfit ich bin“, japste ich. Ich konzentrierte mich darauf, eine Übung nach der anderen zu schaffen. Je mehr es wurden, desto mehr drehte sich mir der Kopf. Ich schwitzte, und mein Körper zitterte. Nach und nach drängten sich während der kurzen Verschnaufpausen Gedanken in meinen Kopf: Warum muss das so anstrengend sein? Warum muss ich diese Scheiße nur erleben? Warum ist das alles mir passiert?
Mit jeder weiteren Übung platzten zornige Schreie aus mir heraus. Hitze stieg mir in den Kopf und in meine Fäuste. Der Drang, all den Schmerz über den Mord an meiner Schwester, über meinen unfassbaren Verlust sofort rauszulassen, war zu groß. Meine glühende Faust knallte voller Wucht gegen den Kleiderschrank: „Du verdammtes Arschloch. Ich hasse dich! Warum hast du das nur getan!“ Ich hämmerte noch einige Male fest gegen den Schrank, bevor ich unter Tränen auf den Boden sank.
Einen Moment später atmete ich tief durch, stand wieder auf und beendete das Workout mit den letzten Wiederholungen. Erschöpft sank ich auf meine Matte und blieb dort liegen. Ein wildes Gefühlschaos breitete sich in mir aus. Unerwartet lachte ich lauthals los. Es war ein erleichterndes Lachen. Ich fühlte mich das erste Mal seit dem Tod von Larissa einfach frei. Mein ganzer Körper bebte, die Muskeln zuckten, und ich war glücklich, mich selbst so intensiv zu spüren. Ich lebe, schoss es mir durch den Kopf. Wut und Zorn waren wie weggeblasen, und all der Ballast fühlte sich für einen Moment ganz leicht an.
Von diesem Tag an war das Training ein fester Bestandteil meines Alltags. Ich verlagerte es nach draußen, um meine Möbel zu schonen. Bereits nach wenigen Wochen veränderten sich sowohl mein seelischer als auch mein körperlicher Zustand grundlegend. Ich wurde fitter, konzentrierter, konnte wieder schlafen, spürte meinen Körper auf positive Art und Weise. Meine Wut, meine Ängste und meine Traurigkeit bekamen einen Ort und eine Zeit, um sich vollends entladen zu können. Dadurch beherrschten sie mich für den Rest des Tages weniger intensiv.

Die Gebrauchsanweisung für das Leben danach

Was passiert, wenn wir sterben?

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So sterben wirSo sterben wir

Unser Ende und was wir darüber wissen sollten

Was passiert, wenn wir sterben?

Sterben, Tod und Trauer sind unumgänglich, für jeden von uns. Und doch wissen wir wenig darüber. Roland Schulz findet Worte für das Unbeschreibliche und gibt Antworten auf die tiefsten Fragen des Lebens..  

Was passiert mit deinem Körper, wenn du stirbst? Was fühlst du – Trauer, Schmerz? Und dann, wenn dein Herzschlag verstummt ist? Was geschieht mit deinem Leichnam, bis du bestattet wirst? Wie wird man um dich trauern?   

Zwischen Schockeffekt und Samthandschuhen bleiben Ratgeber zur Sterbe- und Trauerbegleitung häufig vollkommen abstrakt. Roland Schulz hat das Tabu des Todes gebrochen und mit „So sterben wir: Unser Ende und was wir darüber wissen sollten“ einen eindringliches, aufwendig recherchiertes und schonungslos ehrliches Sachbuch verfasst.

Schon mit seiner direkten Leseransprache lässt er keinen Zweifel daran, dass sich unser Denken über Verlust, Tod und Trauer ändern muss.  

Gewinner des Preises Wissensbuch des Jahres 2019“  

Die Lektüre ist weder bequem noch lädt sie zum Wohlfühlen ein. Sie ist ein Appell an unsere Vernunft, eine Einladung zur Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit und nicht zuletzt ein Leitfaden, wie wir den Verlust lieber Menschen als Teil des Lebens verarbeiten können.  

„Ein ergreifendes Buch, besonders formuliert und voller spannender Fakten.“ – dpa  

Sterben

Tage vor deinem Tod, wenn noch niemand deine Sterbestunde kennt, hört dein Herz auf, Blut bis in die Spitzen deiner Finger zu pumpen. Wird anderswo gebraucht. In deinem Kopf. Im Kern deines Körpers, wo deine Lunge liegt, dein Herz, deine Leber. Auch aus den Zehenspitzen zieht sich das Blut zurück. Deine Füße werden kalt. Dein Atem verflacht. Die Sinne schwinden. Dein Körper leitet den Abschied vom Leben ein.

Später, wenn der Arzt den Totenschein ausfüllt, wird es so aussehen, als wäre dein Sterben einem streng geregelten Ablauf gefolgt, amtlich festgehalten im vertraulichen Teil deines Totenscheins, Blatt 1, Absatz I, Zeilen a) bis c). Aber das stimmt nicht. Dein Sterben ist ein Prozess voller Dynamik, so einzigartig wie dein Leben. Jeder Mensch erlebt diesen Prozess auf seine eigene, einmalige Weise. Erst danach, wenn du tot bist, lässt sich dein Sterben in drei Stufen staffeln, die der Arzt in den Totenschein einträgt.

Wenn dein Arzt ein Siebengescheit ist, wird er dein Sterben im ICD-Code abfassen, den Kürzeln aller Krankheiten weltweit. Vielleicht bist du eine J-18er-Lungenentzündung, wie Guido Westerwelle. Vielleicht ein Krebsfall der Kategorie C-22, wie David Bowie.

Wenn dein Arzt ein Simpel ist, wird er dein Sterben in Schlagworten abhandeln, die auf alle zutreffen. Vielleicht erfasst er dich als Atemstillstand. Am Ende steht jeder Atem still. Vielleicht als Herz-Kreislauf-Versagen. Am Ende versagt jedes Herz.

Wahrscheinlich aber wird er einfach die Kette der Krankheiten anführen, die dir den Tod brachte: von der unmittelbaren Todesursache vor wenigen Stunden über ihren Auslöser vor Monaten bis zum Grundleiden vor vielen Jahren. Aus Sicht der Statistik hat dein Sterben damals begonnen.

Du erinnerst dich sicher daran. Die Herzsache damals. Die Krebsdiagnose. Dieser dumme Sturz. Wie die Ärzte darüber redeten, war klar: Ist etwas Ernstes diesmal. Sie versprachen, es in den Griff zu kriegen. Sie hielten Wort, wie sie dein Leben lang Wort gehalten und dich geheilt hatten, bei jeder Krankheit, jedem Fieber, jedem Bruch. Sie schickten dich heim, und für ein Jahr oder fünf war es wieder gut. Aber jetzt liegst du hier, der Schwarm in weißen Kitteln war schon da, und auch wenn niemand deine Prognose in den Mund genommen hat, wird dir klar, wie es um dich steht. Du hast Angst.

 

Über Sterben ist schwer sprechen. Es lohnt sich aber, sagen die Spezialisten, die dem Sterben nahestehen. Sie waren anfangs skeptisch, als sie von der Idee dieses Buches hörten: Sterben, Schritt für Schritt? Sterben folgt keinem Fahrplan, sagten sie. Sterben ist dynamisch, Sterben ist komplex. Das beginnt schon mit dem Begriff. Sterben ist Teil des Lebens. Tod, das ist danach. Sie empfahlen Studien, Aufsätze, Statistiken. Dann erzählten sie doch, alte Ärzte und junge, Professorinnen der Palliativmedizin, Hospizleiter, Hospizhelfer, Pfleger, erfahren in tausenden Toden – weil sie ein Erlebnis aus ihrer Arbeit mit Sterbenden eint: Schmerzlicher als Sprechen ist Schweigen.

Deine Angst ist natürlich. Manche Forscher meinen, wir Menschen sind auch deswegen denkende Wesen geworden, weil wir uns lebenslang bemühen müssen, unsere Sterblichkeit zu leugnen. Das kennst du. Sterben? Das betraf dich nicht. Das war weit weg. Der Tod, das bedeutete immer den Tod der anderen, nie deinen eigenen. Auf diese Art hast du, wie wir alle, außer Acht gelassen, was uns gewiss ist: Wir werden alle sterben – aber wissen nicht, wann. Du weißt es jetzt. Bald.

Sterben zu schildern, birgt eine Gefahr: Wer Sterben zu erklären sucht, erzeugt – ob er will oder nicht – ein Gefühl des Wissens und damit der Kontrolle. Das, warnen Wissenschaftler, ist eine Illusion. Keiner kann wissen, was im Tod ist. Im Sterben stoßen der Verstand, das Denken, die Vernunft an ihre Grenzen: Da gibt es keine Gewissheiten mehr. Sicher ist jedoch: Sterben ist genau das Gegenteil von Kontrolle. Nicht lange, und du wirst die Hoheit über Körper und Geist vollkommen verlieren, unwiderruflich.
 

Fragen drängen sich in deinen Sinn; was nun, warum ich, wann genau, wie denn. Ärzte, die vielen Sterbenden zur Seite standen, sind am Anfang vorsichtig mit Antworten. Sie stellen lieber selber Fragen. Wie sehen Sie Ihre Situation? Was wissen Sie über Ihre Krankheit? Was haben Sie für ein Gefühl, wie geht es weiter? Was wäre, wenn es nicht so kommt? So stupsen sie dich, sachte, ganz sachte, und du kannst entscheiden, wie weit du der Wahrheit entgegentreten willst. Es gibt Kranke, denen wäre die volle Wahrheit zu viel. Es gibt Kranke, die wollen alles wissen. Ärzte und Pfleger auf Palliativstationen antworten daher nach einer Faustformel: Alles, was sie dir sagen, muss aufrichtig, muss wahrhaftig sein. Aber nicht zwingend gleich die ganze Wahrheit.

Du kannst jedoch jederzeit danach fragen. Das Wissen darum kann befreien. Schwerstkranke scheinen oft von einem Schweigen umstellt, das gegenseitiger Rücksichtnahme entspringt, der des Kranken wie der Gesunden:

… ich kann das den Kindern nicht zumuten …

… wir dürfen Mama damit nicht belasten …

… ich will ihnen nicht zur Last fallen …

… wir müssen Papa schonen …

… das ertragen sie nicht …

… das hält er nie aus …

 

Sehr häufig, dieses Phänomen. Sich beidseits schonen, um jeden Preis. Speziell, wenn es ans Sterben geht. Es gibt eine Geschichte dazu, die Ärzte in so vielen Spielarten erzählen, dass sie wie eine Fabel wirkt, obwohl sie sich wahrhaftig so zugetragen hat, jedes Mal. Sie handelt von einem Ehepaar.

Sie liegt drinnen auf dem Bett und flüstert: „Ich spüre es, ich werde sterben – aber sagen Sie das auf keinem Fall meinem Mann!“

Er steht draußen vor der Tür und sagt: „Meine Frau wird sterben, ich merke das – bitte sagen Sie ihr bloß nicht, wie ernst ihre Lage ist!“

Sie haben in der Medizin einen schönen Begriff gemünzt für diese Strategie: barmherzige Lügen. Solche Lügen bringen nichts. Auch die anderen Ausweichmanöver sind nutzlos, Aussitzen, Weglaufen, Schönreden. Sie funktionieren nicht; nicht beim Sterben.

[...]

Ein Erfahrungsbericht, der Mut macht

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Frau Bartsch reist sich zusammenFrau Bartsch reist sich zusammen

Wie ich auszog, das Trauern zu lernen, und unterwegs das Glück fand

Ein neues Leben in einem Haus auf vier Rädern

Als Stephanie Bartsch ihren geliebten Mann durch einen Autounfall verliert, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das Leben in ihrer neuen Rolle als „Witwe“ fühlt sich fremd an.

5164 Kilometer durch Europa

Sie beschließt deshalb, eine Auszeit von Beruf, Familie und Freunden zu nehmen, kauft sich ein Wohnmobil und fährt Richtung Süden. Von Tag zu Tag erkundet sie nun, was ihr das neue Leben zu bieten hat. Und das ist eine ganze Menge!

Ein Erfahrungsbericht, der Mut macht, seine individuellen Ziele und Wünsche zu verwirklichen

Sie begegnet helfenden Menschen, spannenden Landschaften, und sie entdeckt das Schreiben für sich. Entstanden ist eine Art Roadnovel: entwaffnend offen, ehrlich, humorvoll und ganz anders, als man sich Trauer gemeinhin vorstellt. 

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Über das Leben und über das Leben danach

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Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurückEin Regentropfen kehrt ins Meer zurück

Warum wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen

Warum wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen

Viele Menschen fürchten sich vor dem Sterben, vor Krankheit, Alter und Tod. Der in Japan praktizierende Zen-Meister Muho kann diese Ängste gut nachvollziehen: Der frühe Tod seiner Mutter, den er als siebenjähriges Kind erlebte, hat ihn zutiefst geprägt. In Deutschland geboren und aufgewachsen, führte ihn dieses einschneidende Erlebnis Jahre später zum Zen und schließlich nach Japan. Inzwischen leitet er das tief in den japanischen Bergen gelegene Zen-Kloster Antaiji. Kaum jemand versteht es daher besser, die westliche und die östliche Sicht auf die zentralen Aspekte unseres Lebens zu verbinden: Während sich die meisten Menschen im Westen um ihre Zukunft sorgen und festzuhalten versuchen, was sie an Beziehungen, Erinnerungen und Werten besitzen, konzentriert man sich im Zen ganz auf den gegenwärtigen Moment. Die Kunst des Loslassens beginnt demnach nicht erst am Ende des Lebens, sondern jetzt – wenn wir uns auf diesen Augenblick einlassen.

„Es geht um die einzige Frage, die zählt: Bin ich wirklich einverstanden mit dem Leben, wie ich es heute lebe?“

Ein neuer Blick auf einen alten Berg

Seltsam, dass sich keiner mit seinem eigenen Leben beschäftigt.
Das Einzige, was die Leute verstehen in dieser Welt, ist das, was sie
„nützlich“ nennen. Und wohin hat uns das gebracht? Nirgendwohin.
Sawaki Kodo

Das Leben hat mich auf einen besonderen Weg geschickt. Obwohl
ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, kam ich früh
schon mit der Kultur des Zen in Berührung. Heute leite ich das
tief in den japanischen Bergen gelegene Zen-Kloster Antaiji. Vielleicht
können meine Erfahrungen, die ich bei der buddhistischen
Übung gesammelt habe, auch für die Menschen im Westen hilfreich
sein. Vielleicht können auch sie von der Weisheit des Zen
etwas lernen für den eigenen, ebenso besonderen Lebensweg,
den am Ende jeder für sich allein gehen muss.
Als Zen-Meister wird mir immer wieder die Frage gestellt: Wie
soll man sein Leben führen? Das Wort „Lebensführung“ ist im
Deutschen sehr populär. Aber kann man das Leben wirklich führen,
so wie einen Hund an der Leine? Im Leben können wir nicht
immer die Zügel in der Hand behalten. Spätestens wenn es ans
Sterben geht, liegt nichts mehr in unserer Macht. Aber auch
davor gibt es immer wieder Situationen, in denen wir zwar die
Hauptrolle spielen, doch nach einem Drehbuch agieren, das wir
nicht kennen, und auch die Regie müssen wir jemand anderem
überlassen. Dann führen nicht wir das Leben, sondern das Leben
führt uns. Es schickt uns auf einen Weg, von dem wir nicht
sagen können, wohin er verlaufen wird. Wir sollten lernen, uns
dem Leben ganz zu überlassen. Dazu gehört auch, dass wir den
Fragen, die es uns aufgibt, nicht ausweichen.
Jeder lebt das Leben auf seine eigene Weise, und ich glaube auch,
dass niemand das Recht hat, die Lebensweise eines anderen als
verfehlt zu bezeichnen. Es geht nicht ums Vergleichen, um richtig
oder falsch. Es geht darum, sich eine einzige Frage zu stellen:
Bin ich wirklich einverstanden mit dem Leben, wie ich es heute
lebe? Manch einer, der die Gegenwart mit den Träumen seiner
Jugend vergleicht, wird vielleicht enttäuscht sein, weil er sich
alles ganz anders ausgemalt hat. Bunter. Aufregender. Wird er
morgen seinen Träumen näher kommen? Wohl kaum. Es sei denn,
er beginnt bereits heute damit, sich ganz auf sein Leben und auch
auf sein Sterben einzulassen. Dann wird er aufbrechen zu einem
Leben, das genauso jenseits aller Vergleiche liegt wie der Tod.
Niemand wird uns am Ende fragen, ob wir sterben wollen. Daher
müssen wir uns schon im Leben auf den Tod vorbereiten. Nur
wer seinen Frieden mit dem Leben geschlossen hat, wird ihn auch
im Sterben finden. Angst vor dem Tod hat vielleicht ohnehin nur
der, der das Leben noch nicht ganz in seine Arme geschlossen hat.
Seit 2002 stehe ich dem Kloster Antaiji als Abt vor. Wenn man
mich hier besuchen will, nimmt man zunächst den Zug und
fährt aus einer der Großstädte bis ans japanische Meer. An der
Küste gibt es einen kleinen Bahnhof, von dort geht es weiter mit
dem Bus, zwanzig Kilometer ins Landesinnere, bis man schließlich
an einer einsamen Haltestelle abgesetzt wird. Doch erst
nach einer weiteren Stunde Fußmarsch ist man am Ziel, und
auch das nur, wenn man zwischendurch nicht in die falsche
Richtung abbiegt oder auf einen der im Wald hausenden Kragenbären
trifft.
Zwar besteht die Möglichkeit, die ganze Strecke mit dem Auto
zurückzulegen, allerdings empfiehlt es sich, auch dabei aufzupassen.
Immer wieder kommt es vor, dass ein Besucher, der sich
im Kloster angekündigt hat, nach Anbruch der Dunkelheit noch
nicht angekommen ist, weil er sich auf die Stimme seines Navigationsgeräts
verlassen hat, die ihn freundlich, aber bestimmt
in ein Tal weiter im Süden gelotst hat. Ein Ort, fern jeder Behausung.
Aus der Asphaltstraße wird nach und nach ein Forstweg,
und der endet schließlich an einem stillen Bach. Erfolgt dann
der Griff zum Handy, ist es bereits zu spät. So tief wie das Tal
ist auch das Funkloch, in das sich der Gast verirrt hat. Von alldem
werden die Software-Spezialisten in Tokio vermutlich nie
etwas erfahren. Keiner von ihnen wird jemals einen Fuß in diese
Berge setzen, um sich vor Ort ein Bild fürs nötige Update des
Navigationssystems zu machen.
Auch für das Leben gibt es meist keinen zuverlässigen Lotsen.
Wer sich deshalb auf seine ganz eigene Reise machen will,
braucht einen guten Orientierungssinn. Er muss wissen, in welche
Richtung er gehen möchte. Doch selbst wenn er geglaubt
hat, beim Aufbruch das Ziel ganz klar vor sich zu sehen, kann
es passieren, dass er sich eines Tages mitten im Dschungel wiederfindet,
ohne zu wissen, woher er gekommen ist und welcher
Weg wieder aus der Irre führt. Womöglich war es sogar der in
nere Kompass, dem er bis dahin blind gefolgt ist, der ihn genarrt
hat. Dann kann es sich lohnen, einmal einen Blick auf eine neue,
andere Landkarte zu werfen.
Dieses Buch möchte so eine Karte des Lebens und des Sterbens
sein. Doch was auf alle Karten zutrifft, gilt natürlich auch für
diese: Sie zeigt nur ein Abbild, nicht die Landschaft des Lebens
selbst, und oft sind die Orte auf ihr auch noch verzerrt dargestellt.
Man muss den Maßstab der Karte kennen, man muss wissen,
wo Norden ist und wo Süden, und man muss sich im Klaren
darüber sein, dass eine Karte schnell veraltet. Dort, wo einmal
eine Straße war, befindet sich heute vielleicht nichts als unwegsames
Land. Wo es einmal eine Brücke gab, kann jetzt nur noch
ein reißender Fluss sein. Keine Karte ist besser oder genauer als
das Orientierungsvermögen dessen, der sie in die Hand nimmt.
Und auch der beste Kartograph ist nur ein irrender Mensch.
Wie jeder vermag auch ich nur eine Karte meines eigenen Lebens
zu zeichnen. Sie, der Leser, gehen durch eine ganz andere
Landschaft. Nicht nur befinden wir uns in unterschiedlichen Abschnitten
des Lebens, wir können uns nicht einmal sicher sein,
ob es derselbe Berg ist, den wir besteigen wollen. Und selbst
wenn – sieht der Berg nicht ganz fremd aus, wenn man ihn aus
einer anderen Perspektive betrachtet?
Manchmal kann es eine gute Idee sein, eine Karte mit einer
zweiten zu vergleichen. Was der eine Kartograph vergessen hat,
findet sich vielleicht bei einem anderen. Aber wenn wir nicht
achtgeben, werden wir das ganze Leben mit dem Studium von
Karten zubringen. Wer seine Zeit dafür einsetzt, spirituelle Ratgeber
zu lesen, ohne sich jemals einen Schritt aus dem Haus des
eigenen Lebens zu trauen, wird sich immer nur vergeblich danach
sehnen, bis zur Spitze des fernen Berges zu gelangen, von
der er doch schon so lange träumt.
Deshalb möchte ich Sie warnen: Trauen Sie mir nicht zu sehr!
Sawaki Kodo, der von 1880 bis 1965 gelebt hat und einige Zeit so
wie ich heute Abt im Kloster Antaiji gewesen ist, sagte einmal:
„Zen ist die größte Lüge aller Zeiten!“ Aus dem Mund eines Zen-
Meisters klingt der Satz lustig, doch er war nicht als Scherz gemeint.
Wenn man die Weisheit des Zen, wenn man die Wahrheit,
das Leben und die Liebe in Worte zu fassen versucht, dann verschwindet
die Wirklichkeit, und es bleiben nichts als Worte zurück.
Bloße Abbilder des Wirklichen.
So ist es auch mit diesem Buch. Bestenfalls kann es eine Landkarte
des Lebens sein, wie ich es heute vor mir sehe. Was Sie
daraus machen, liegt an Ihnen. Und das gilt für jeden Ratgeber.
Niemand außer dem Leben selbst kann Sie an die Hand nehmen,
wenn es um Ihren eigenen Weg geht.

 

Die Hälfte des Lebens

Geburt, Krankheit, Alter, Tod –
vertrödel sie nicht, deine kurze Zeit hier!
Sawaki Kodo


Jeder Mensch stirbt. Selbst ein Kind weiß das schon, doch so
mancher scheint es auch im hohen Alter noch nicht akzeptieren
zu können.
Wir machen uns Sorgen um das, was nach dem Tod kommen
könnte, und vergessen dabei, das Leben zu leben, solange wir
es haben. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wer kann das wissen?
Aber wenn es so weit ist, werden wir es schon herausfinden.
Früher oder später werden wir alle in den Besitz der Antwort
kommen. Wir können also gespannt sein!
Die beste Nachricht für das Hier und Jetzt aber lautet: Es gibt
ein Leben vor dem Tod.
Selbst wenn es, wie viele Buddhisten glauben, ein Leben nach
dem Tod geben sollte, dann wäre ja auch das nur ein weiteres
Leben vor dem Tod. Und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt,
dann muss es auch einen Tod nach dem nächsten Leben geben.
Wenn wir daher die Tage dieses Lebens damit verbringen, über
ein Leben nach dem Tod zu phantasieren, von dem wir noch nicht
einmal sicher sein können, ob wir es erleben werden, werden wir
dann nicht auch das nächste Leben (falls es das tatsächlich geben
sollte) vergeuden mit Tagträumereien über das übernächste
Leben? Es ist so wie mit einem, der nie etwas zustande bringt,
weil er sich ständig sagt: „Noch ist nicht aller Tage Abend. Wenn
ich auch heute nicht mehr alles schaffe – morgen ist auch noch
ein Tag. Und wenn es in diesem Leben nicht mehr passieren
sollte, dann warte ich eben auf das nächste.“
Wir kennen es alle aus eigener Erfahrung: Wenn aus morgen
heute wird, verschiebt man das ungelebte Leben einfach um einen
weiteren Tag in die Zukunft. Und immer so weiter.
Doch der einzige Tag, den ich wirklich leben kann, ist der heutige.
Da hilft mir auch kein nächstes oder übernächstes Leben.
Das Leben, das ich heute nicht lebe, wird ewig ungelebt bleiben.
Das Leben, das ich in diesem Augenblick lebe, ist das einzige
Leben. Es gibt allein das Jetzt. Nur wenn ich diesen Tag so
lebe, als wäre er mein letzter, werde ich auch den nächsten zu
leben wissen.
Und doch, der Tod ist immer da. Ich sterbe, Sie sterben, jeder
stirbt. Und das nicht irgendwann, sondern bereits jetzt, in diesem
Moment.
Ob wir es wollen oder nicht, das Sterben hat bereits begonnen,
und es existiert kein einziger Augenblick, der uns nicht mit dem
Tod konfrontieren würde.
Wie wir über den Tod nachdenken, spiegelt oft die Einstellung
wider, die wir gegenüber dem Leben einnehmen. Wie schön
könnte doch alles sein, sagen manche, gäbe es nur das Altern
nicht, die Krankheit, den Tod. Die Medien machen es uns leicht,
ans ewige Leben zu glauben. Jeder Tag verspricht eine neue
Erfahrung, jedes Erlebnis wird zum aufregenden Event, und
wer sich richtig ernährt, wer joggt und natürlich nicht raucht
oder trinkt, wird für immer jung bleiben.
Doch je mehr ein Mensch das Leben bejaht, desto mehr wird er
sich vor dem Tod fürchten. Unsere Tage sind gezählt, auch wenn
viele versuchen, das Unabwendbare so lange zu ignorieren wie
nur möglich. „Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte
nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.“ Wahrscheinlich wird es
nicht einmal Woody Allen gelingen, damit durchzukommen.
Im Alltag ist der Tod oft unsichtbar. Wir verbannen ihn auf die
Intensivstationen der Krankenhäuser oder in die Zimmer der
Pflegeheime, die wir an den Rand der Städte bauen. In den Nachrichten
erreicht uns das Sterben im Sekundentakt: Hundert Tote
in China, zwanzig in der Türkei, drei oder vier auf der Autobahn.
Unfälle, Attentate, Naturkatastrophen. Die Toten füllen die täglichen
Schlagzeilen, aber das betrifft uns nicht. Die anderen sterben,
nicht wir. Damit können wir leben.
Anders verhält es sich, wenn ein uns naher Mensch stirbt. Sein
Tod geht unter die Haut. Wir fühlen uns, als klaffte ein Loch in
unserer Brust. Mit der geliebten Person stirbt auch ein Stück von
uns. Wir werden nie mehr dieselben sein wie vorher. Wir beginnen,
über unser eigenes Leben zu reflektieren, und auf einmal
kommt es uns vor, als hätten wir das größte Stück des Weges
bereits zurückgelegt. Der eigene Tod rückt in den Blick und wir
werden uns unserer Sterblichkeit bewusst. Was immer so weit
weg schien, ist auf einmal ganz nah gerückt.
„Bis sie vierzig sind, halten viele das Sterben für eine schlechte
Angewohnheit alter Leute, die sie selbst nichts angeht“, schrieb
der Psychiater Oswald Bumke zu Weihnachten 1943 in einem
Brief an seinen Sohn, der im Krieg kämpfte. Während ich diese
Sätze schreibe, bin ich siebenundvierzig Jahre alt. Die Hälfte des
Lebens? Letztlich bleiben die Jahre unbegreiflich in ihrem Vergehen.
Als ich am Abend vor meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag
zurückblickte auf die vergangenen zwölf Monate, konnte
ich kaum glauben, wie sehr sich die Welt verändert hatte. Im
Herbst war die Berliner Mauer gefallen, die Wiedervereinigung
stand vor der Tür. Und auch ich befand mich an einem Wendepunkt
in meinem Leben, denn im Frühjahr würde ich zum Studium
nach Kyoto fahren. Überall gab es so viel zu erleben, so
viel zu lernen. Auf jede Enttäuschung folgte eine neue Liebe.
Ganze Horizonte öffneten sich. Jedes Jahr war ein zusätzliches,
ein geschenktes Jahr. Ein Jahr mehr. Nichts schien unmöglich.
Was konnte man nicht in einem Jahr alles an Erfahrungen sammeln!
Warum nicht einfach auf einem Schiff anheuern und um
die Welt fahren?
Irgendwann ändert sich diese Perspektive. Spätestens dann, wenn
man zum ersten Mal ans eigene Ende denkt. Dann ist ein Jahr
nicht länger ein Jahr mehr, sondern ein Jahr weniger. Dann nimmt
man das Schwinden der Möglichkeiten wahr. Was ich vor zehn
Jahren noch konnte, kann ich nun nicht mehr. „Noch nie war ich
so alt wie heute“, denkt man. Die Gedanken gehen zurück in die
Vergangenheit, in die Jugend, die verloren scheint, oder eilen voraus
in die Zukunft, in der man noch älter sein wird.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass mir beim Lesen plötzlich
die Buchstaben seltsam verschwommen erschienen. Stimmte
da etwas mit dem Buchdruck nicht, oder war es zu dunkel im
Zimmer? Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich mir von
nun an beim Lesen besser eine Brille aufsetzen sollte – etwas,
was ich bis dahin tatsächlich nur für eine schlechte Angewohnheit
alter Leute gehalten hatte.
Das war nur der Anfang. Hexenschuss, steife Schultern, Gelenkschmerzen
und all die anderen Wehwehchen, über die ich Onkel
und Tanten bei Familientreffen so oft hatte klagen hören, durfte
ich nun am eigenen Leib erfahren. Als ich vor einigen Monaten
mit Nierensteinen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, glaubte
ich für ein paar Stunden sogar, mein Ende sei gekommen. Zum
Leidwesen meiner Frau war ich am nächsten Tag wieder ganz
der Alte.
Doch es hört nicht auf. An die Telefonnummern alter Studienfreunde
kann ich mich zwar problemlos erinnern, aber neue
Namen behalte ich nur noch schwer. Wenn mich jemand auf der
Straße grüßt, mit dem ich vor zwei Monaten ein angeregtes Gespräch
geführt habe, weiß ich manchmal nicht, wer vor mir steht.
Natürlich bringt auch ab vierzig noch jeder Tag neue Erfahrungen.
Aber zumindest ein wenig gleicht das Gehirn dann einer
Computer-Festplatte, die die Grenze ihrer Speicherfähigkeit
erreicht hat. Für jede neue Information muss eine alte gelöscht
werden, die Software läuft nicht mehr so schnell wie früher, und
jeder Versuch eines Updates kann zum Absturz des Systems
führen.
Dann fühlt man sich bisweilen, als sei man in der zweiten Halbzeit
eines Fußballspiels angelangt. Das Spiel ist längst entschieden,
es gibt nichts mehr zu gewinnen. Die erste und bessere
Hälfte des Lebens ist vorüber. Jeder weitere Tag bringt einen dem
Schlusspfiff näher. Eine beängstigende Vorstellung. Noch beunruhigender
wird sie, wenn man auf einmal feststellt, dass ein
Jahr nicht mehr so lang zu sein scheint wie früher. Natürlich
hat es immer noch seine 365 Tage. Aber seltsamerweise fühlt
es sich sehr viel kürzer an.
Jeder kennt das Phänomen, dass sich der Weg ans Ziel einer Reise
länger anfühlt als der Weg zurück. Nach einem Ausflug zum
Berggipfel erinnern wir uns deutlicher an den Aufstieg als an die
Rückkehr ins Tal. Ich glaube, das liegt daran, weil wir auf dem
Hinweg mehr und anders wahrnehmen. Alles ist neu, und daher
sind unsere Sinne geschärft. Wir wollen uns keine Einzelheit
entgehen lassen.
Auf dem Weg zurück hinterlassen die Dinge einen schwächeren
Eindruck, denn wir kennen sie bereits. Statt einer Premiere haben
wir es nur noch mit einer Wiederholung zu tun, die nicht
mehr unsere volle Aufmerksamkeit genießt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Älterwerden. Allmählich
lernt man, seine Erfahrungen in Schubladen einzuordnen. Hübsch
beschriftete Fächer, in denen jeder Eindruck seinen Platz findet.
Wir bekommen Routine im Umgang mit der Welt, was uns im
Alltag zwar entlastet, doch dem Leben auch seinen Zauber nimmt.
Wenn sich die verschiedenen Schubladen langsam gefüllt haben,
dann dauert es nicht mehr lange, bis wir ganze Tage abhaken,
als seien sie nie passiert: „Heute nichts Besonderes“. Aufstehen,
Zähne putzen, zur Arbeit gehen, und abends das Gleiche im Fernsehen
wie immer … Das sind die Tage „auf dem Rückweg“ des
Lebens. Man erlebt sie nicht mehr. Man verlebt sie bloß. Kein
Wunder, wenn ein Jahr dann zu etwas Flüchtigem zusammenschrumpft,
das kaum Erinnerungen hinterlässt.
Das Dahinschwinden der Zeit gibt uns das Gefühl, alt zu sein.
Aber müssten wir nicht viel eher sagen: „Ich werde nie wieder
so jung sein wie heute“? Und versuchen, noch einmal neugierig
wie ein Kind zu sein?
Als Kind denkt man noch nicht an den Rückweg. Jeder einzelne
Tag bringt etwas Neues. Die Welt ist immer anders, immer aufregend,
und alles Bekannte noch unbekannt. Als Kind konnte
ich stundenlang Ameisen bei ihrer Arbeit beobachten. Mein
Staunen über das Ziehen der Wolken kannte kein Ende. Die Zeit
lief langsam, manchmal unerträglich langsam. Wie weit schien
Weihnachten noch entfernt, wenn erst ein paar Türchen des Adventskalenders
geöffnet waren! Es half gar nichts, wenn mich die
Mutter Mitte des Monats zu trösten versuchte: „Jetzt musst du
nur noch zehn Mal schlafen, dann kommt der Weihnachtsmann!“
Zehn Tage und zehn Nächte, das war eine Ewigkeit.
Und was hat sich nur die Tante beim Familientreffen gedacht? „Du
bist so schnell gewachsen, das kann ich ja gar nicht glauben.
Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du doch noch so klein!“
Schnell? Es war doch ein ganzes, unendlich langes Jahr seit der
letzten Begegnung vergangen!
Kinder wollen nicht warten. Eine Vertröstung auf den nächsten
Tag ergibt für sie keinen Sinn. Sie kennen kein „Morgen“, nur
ein „Heute“. Nur die Gegenwart zählt. Wie recht sie damit haben!

Totenkult und Begräbnissritten in aller Welt

Blick ins Buch
Wo die Toten tanzenWo die Toten tanzen

Wie rund um die Welt gestorben und getrauert wird

„Ein engagiertes Plädoyer für die Schönheit der Kulte, sinnhaftes Trauern und nicht zuletzt eine Rückeroberung der Rituale, die noch immer und überall eine Form von Geborgenheit vermitteln.“ FAZ

„Doughty – eine vertrauenswürdige Begleiterin durch die Welt des Todes – bringt uns zum Lachen.“ Washington Post

Der New-York-Times-Bestseller endlich auf Deutsch!


Fasziniert von unserer Angst vor dem Tod, zieht es die Bestatterin Caitlin Doughty in die Welt. Um zu erkunden, was wir von anderen Kulturen über Tod und Trauer lernen können, besucht sie in Indonesien einen Mann, der mit dem mumifizierten Körper seines Großvaters zusammenlebt. Verfolgt in Japan eine Zeremonie, bei der Angehörige die Knochen des Verstorbenen mit Stäbchen aus der Verbrennungsasche lesen. Und geht in Mexiko dem „Tag der Toten“ auf den Grund. Augenzwinkernd stellt sie Alternativen wie die Öko-Bestattung vor. Und hinterfragt, ob unsere westlichen Riten Raum zur angemessenen Trauer lassen. Ein außergewöhnliches Buch darüber, wie unterschiedlich mit der Sterblichkeit umgegangen werden kann. Und ein Plädoyer dafür, dem Tod wieder mit mehr Würde zu begegnen.

Ausgezeichnet mit dem ITB Buch Award

Prolog
Das Telefon klingelte, und mein Herz begann zu rasen.
In den ersten Monaten nach der Eröffnung meines Bestattungsinstituts löste ein klingelndes Telefon sofort helle Aufregung aus. Wir bekamen nicht viele Anrufe. „Was, wenn … was, wenn jemand gestorben ist?“, sagte ich dann atemlos. (Nun ja, wir sind ein Bestattungsinstitut – damit ist zu rechnen.)
Die Stimme am anderen Ende gehörte einer Hospizschwester. Sie hatte Josephine vor zehn Minuten für tot erklärt; der Leichnam war noch warm. Die Schwester saß am Bett der Toten und diskutierte mit Josephines Tochter. Die Tochter hatte sich für mein Institut entschieden, um zu verhindern, dass ihre Mutter, kaum dass sie ihren letzten Atemzug getan hatte, weggebracht wurde. Sie wollte den Leichnam noch eine Weile zu Hause behalten.
„Kann sie das machen?“
„Selbstverständlich“, erwiderte ich. „Wir raten sogar dazu.“
„Ist das nicht illegal?“, fragte die Schwester skeptisch.
„Nein, ist es nicht.“
„Normalerweise rufen wir das Bestattungsinstitut an, und die holen den Leichnam dann sehr schnell ab.“
„Die Tochter hat die Entscheidungsgewalt über den Leichnam ihrer Mutter. Nicht das Hospiz, kein Krankenhaus oder Pflegeheim, und schon gar nicht das Bestattungsinstitut.“
„Na gut, wenn Sie sich da sicher sind.“
„Ganz sicher“, sagte ich. „Richten Sie Josephines Tochter doch bitte aus, dass sie uns heute Abend anrufen kann oder morgen früh, wenn ihr das lieber ist! Sobald sie sich dazu in der Lage fühlt.“
Wir holten Josephine um acht Uhr abends ab, sechs Stunden, nachdem sie verstorben war. Am nächsten Tag schickte ihre Tochter uns ein Video, das sie mit dem Handy aufgenommen hatte. In dem Dreißig-Sekunden-Clip liegt die Verstorbene im Bett, bekleidet mit ihrem Lieblingspullover und um den Hals ihr Lieblingstuch. Kerzen flackern auf der Kommode neben dem Bett, und der Leichnam ist mit Blütenblättern bestreut.
Selbst auf der grobkörnigen Handyaufnahme war zu erkennen, dass Josephine an ihrem letzten Abend auf Erden strahlend aussah. Die Tochter war richtig stolz auf ihr Werk. Nachdem ihre Mutter sich immer um sie gekümmert hatte, kümmerte sie sich jetzt um ihre Mutter.
Nicht alle in meiner Branche heißen die Methoden gut, mit denen ich mein Bestattungsinstitut führe. Manche glauben, eine Leiche müsse einbalsamiert werden, um auf der sicheren Seite zu sein (stimmt nicht), und eine Leiche sollte nur den Händen von Fachleuten überlassen werden (stimmt auch nicht). Die Kritiker meinen, dass jüngere, progressive Bestatter „unseren Beruf ins Lächerliche ziehen“, und sie fragen sich, ob „das Bestattungswesen nicht allmählich zum Zirkus verkommt“. Ein Kollege versprach: „Wenn es irgendwann so weit ist, dass nicht einbalsamierte Leichen drei Tage lang zu Hause aufgebahrt werden, schmeiß ich hin!“
In meiner US-amerikanischen Heimat ist der Tod seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein Riesengeschäft. Ein Jahrhundert hat den Amerikanern genügt, um zu vergessen, dass Bestattungen einmal etwas waren, wofür die Familie und die Gemeinschaft zuständig waren. Im 19. Jahrhundert hätte es niemanden verwundert, wenn Josephines Tochter den Leichnam ihrer Mutter selbst hergerichtet hätte – es wäre sogar befremdlich gewesen, wenn sie das nicht getan hätte. Es hätte niemanden verwundert, dass eine Ehefrau den Leichnam ihres Mannes wäscht und ankleidet oder dass ein Vater seinen Sohn in einem selbst gezimmerten Sarg zu Grabe trägt.
In beeindruckend kurzer Zeit ist unsere Bestattungsbranche zur teuersten, kommerziellsten und bürokratischsten auf der ganzen Welt geworden. Wenn wir überhaupt in irgendetwas die Besten sind, dann wohl darin, unsere trauernden Familien von ihren Verstorbenen getrennt zu halten.
Vor fünf Jahren, als mein Bestattungsinstitut (und dieses Buch) noch reines Wunschdenken war, mietete ich eine Hütte an einer abgelegenen Lagune in Belize. Damals führte ich das glamouröse Leben einer Krematoriumsmitarbeiterin und Leichenwagenfahrerin – die Hütte musste also sehr preiswert sein. Sie hatte weder Handyempfang noch WLAN. Die Lagune lag neun Meilen vom nächsten Ort entfernt und war nur mit einem Geländewagen zu erreichen. Der Fahrer war der Verwalter des Grundstücks, ein dreißig Jahre alter Belizer namens Luciano.
Nur damit Sie sich Luciano besser vorstellen können: Er wurde auf Schritt und Tritt von seinem Rudel treuer, leicht abgemagerter Hunde verfolgt. Wenn die Hütte nicht vermietet war, verschwand er manchmal tagelang im belizischen Busch, Flipflops an den Füßen, bewaffnet mit seiner Machete und gefolgt von seinen Hunden. Er jagte Hirsche, Tapire und Gürteltiere. Und wenn er erfolgreich war, tötete er seine Beute, häutete sie und aß das Herz direkt aus dem Brustkorb.
Luciano fragte mich, was ich beruflich machte. Als ich ihm erzählte, dass ich mit Toten arbeitete, in einem Krematorium, setzte er sich in seiner Hängematte auf. „Ihr verbrennt sie?“, fragte er. „Ihr grillt Menschen?“
Ich dachte über diese Formulierung nach. „Nun ja, die Anlage wird sehr viel heißer als ein Grill. Sie schafft fast tausend Grad, durch das ›Grillstadium‹ jagt sie also blitzschnell hindurch. Aber da ist was dran, ja.“
Wenn jemand in Lucianos Umfeld stirbt, holt die Familie den Leichnam nach Hause, um ihn einen ganzen Tag lang aufzubahren. In Belize lebt ein buntes Völkergemisch mit karibischen und lateinamerikanischen Einflüssen, und Englisch ist die Amtssprache. Luciano ist ein Mestize – ein Nachfahre der indigenen Maya und der spanischen Kolonisten.
Lucianos Großvater war in seiner Gemeinde der Totenwart, der Mann, den Angehörige mit der Herrichtung eines Leichnams betrauten. Wenn er kam, hatte bei dem Verblichenen manchmal bereits die Totenstarre eingesetzt, und die Muskeln waren so steif, dass das Baden und Ankleiden sich schwierig gestalteten. Luciano erzählte, dass sein Großvater in einem solchen Fall mit dem Leichnam sprach.
„Hör mal, willst du im Himmel gut aussehen? Ich kann dich nicht anziehen, wenn du dich so sperrst.“
„Dein Großvater hat die Totenstarre also durch gutes Zureden gelöst?“, fragte ich.
„Man musste den Leichnam auch noch mit ein bisschen Rum einreiben. Aber ja, er hat mit dem Toten gesprochen“, erwiderte er.
Nachdem er den Leichnam sozusagen überredet hatte, locker zu werden, drehte Lucianos Großvater ihn auf den Bauch und presste etwaige durch die Verwesung entstandene Flüssigkeiten und Gase heraus. In etwa so, wie man ein Baby Bäuerchen machen lässt – bring es zum Rülpsen, bevor es dich anrülpst.
„Gehört das in Amerika auch zu deinen Aufgaben?“, fragte er, während er über die Lagune blickte.
Natürlich haben die größeren Städte in Belize längst Bestattungsinstitute, die das amerikanische Geschäftsmodell kopiert haben und Familien teure Mahagonisärge und Marmorgrabsteine andrehen. Der gleiche Trend in Richtung Moderne gilt für belizische Krankenhäuser, die mitunter eine Obduktion verlangen, ob die Angehörigen das wollen oder nicht. Lucianos Großmutter hatte eindeutig bestimmt, dass sie nach ihrem Tod nicht aufgeschnitten werden wollte. „Deshalb haben wir ihre Leiche aus dem Krankenhaus geklaut“, erzählte Luciano mir.
„Wie bitte?“
Ich hatte richtig gehört: Sie hatten den Leichnam aus dem Krankenhaus gestohlen. Ihn einfach in ein Laken gewickelt und mitgenommen. „Was hätte das Krankenhaus denn schon machen können?“, fragte Luciano.
Eine ähnliche Geschichte erzählte er mir über einen Freund von ihm, der just in dieser Lagune ertrunken war. Luciano hatte die Polizei gar nicht erst verständigt. „Er war tot, was ging die das an?“
Wenn er stirbt, möchte Luciano in einem einfachen Loch beerdigt werden, eingehüllt in eine Tierhaut, die Wände des Grabs mit Blättern bedeckt. Er hat vor, das Leichentuch aus Tierhaut selbst zu entwerfen.
Er erklärte, dass er „ständig“ mit Freunden über den Tod spreche. Sie fragen einander: „Hey, was soll mit dir passieren, wenn du stirbst?“
Luciano fragte: „Reden die Leute bei dir zu Hause nicht so?“
Es war nicht leicht, ihm zu erklären, dass sie das die allermeiste Zeit tatsächlich nicht tun.
Eine der Hauptfragen bei meiner Arbeit war schon immer die, warum sich meine eigene Kultur mit dem Thema Tod so schwertut. Warum weigern wir uns, solche Gespräche zu führen, unsere Angehörigen und Freunde zu fragen, was mit ihrem Körper geschehen soll, wenn sie sterben? Unsere Vermeidungstaktik ist kontraproduktiv. Wenn wir uns davor drücken, über unser unausweichliches Ende zu reden, schadet das sowohl unserem Geldbeutel als auch unserer Fähigkeit zu trauern.
Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wie in anderen Kulturen mit dem Tod umgegangen wird, weil ich glaubte, dann vielleicht zeigen zu können, dass es keine reglementierte Art gibt, mit dem Tod zu „verfahren“ oder ihn zu verstehen. In den letzten Jahren bin ich durch die Welt gereist, um mir anzusehen, welche Totenrituale in anderen Ländern praktiziert werden – in Australien, England, Deutschland, Spanien, Italien, Indonesien, Mexiko, Bolivien, Japan und in verschiedenen Gegenden der USA. Die Leichenverbrennungen in Indien und die skurrilen Särge in Ghana sind überaus lehrreich, doch die Orte, die ich besuchte, haben ebenso spektakuläre Geschichten zu bieten, die allerdings seltener erzählt werden. Ich hoffe, meine Entdeckungen können dazu beitragen, Sinn und Tradition in unser eigenes Umfeld zurückzuholen. Eine derartige Rückgewinnung ist mir als Betreiberin eines Bestattungsinstituts, aber mehr noch als Tochter und Freundin wichtig.

Der griechische Geschichtsschreiber Herodot lieferte vor über 2000 Jahren eine der ersten Schilderungen, wie sich eine Kultur über die Totenrituale einer anderen echauffiert. In der Anekdote lässt der Herrscher des Persischen Reichs eine Gruppe Griechen zu sich kommen. Da diese ihre Toten traditionell verbrennen, fragt der König sie, was sie dafür verlangen würden, wenn sie ihre verstorbenen Väter verspeisen sollten. Die Griechen sind entsetzt über die Frage und erwidern, dass sie sich für kein Geld der Welt zu Kannibalen machen lassen würden. Dann ruft der König eine Gruppe Kallatier zu sich, von denen bekannt ist, dass sie die Leichen ihrer Verstorbenen verspeisen. Er fragt, für welchen Preis sie bereit wären, ihre toten Väter zu verbrennen. Die Kallatier flehen ihn an, sie mit „solchen Scheußlichkeiten“ zu verschonen.
Diese Haltung – Abscheu vor dem Umgang anderer Gruppen mit ihren Toten – hat Jahrtausende überdauert. Wer jemals in die Nähe eines modernen Bestattungsinstituts gekommen ist, weiß, dass Bestatter ein Faible für ein Zitat haben, das William Gladstone zugeschrieben wird, einem britischen Premierminister des 19. Jahrhunderts. Es lautet:
Zeigt mir, wie eine Nation mit ihren Toten umgeht, und ich werde mit mathematischer Exaktheit
bemessen, wie es um ihre Barmherzigkeit bestellt ist, um ihren Respekt vor den Gesetzen des Landes und um ihre Treue zu hohen Idealen.

Sie gravieren dieses Zitat in Wandtafeln und platzieren es dick und fett neben flatternden amerikanischen Fahnen auf ihren Webseiten. Untermalt wird das Ganze in Endlosschleife von Songs wie „Amazing Grace“. Leider lieferte Gladstone uns nie die Gleichung, die es uns erlauben würde, mit der von ihm versprochenen „mathematischen Exaktheit“ festzustellen, dass eine bestimmte Methode des Umgangs mit den Toten zu 79,9 Prozent barbarisch ist, eine andere hingegen zu 62,4 Prozent würdevoll.
(Tatsächlich stammt das Zitat vielleicht gar nicht von Gladstone. Es tauchte erstmals 1938 in der Märzausgabe der Zeitschrift The American Cemetery auf, und zwar in einem Artikel mit dem Titel „Erfolgreiche Friedhofswerbung“. Bis heute ist ungeklärt, ob es auf Gladstone zurückgeht oder nicht, aber ein prominenter Gladstone-Forscher hat mir versichert, dass ihm dieses Zitat nie untergekommen sei. Er räumte lediglich ein, dass es „so klingt, als hätte Gladstone es gesagt haben können“.)
Selbst wenn wir den Wert des Rituals einer anderen Kultur anerkennen, wird dieses Gefühl der Akzeptanz oftmals von unseren Vorurteilen konterkariert. Im Jahr 1636 versammelten sich 2000 Angehörige des Stammes der Wendat-Indianer um ein gemeinschaftliches Grubengrab am Ufer des heutigen Huronsees in Kanada. Das Grab war knapp zwei Meter tief und sieben Meter breit und sollte die Gebeine von siebenhundert Menschen aufnehmen.
Für die Gebeine war das Grubengrab nicht die erste Station nach dem Tod. Als sie noch frische Leichen waren, wurden sie in Biberfell-Gewänder gewickelt und auf drei Meter hohe Holzgerüste gelegt. Etwa alle zehn Jahre trugen die verstreuten Huron-Wendat-Stammesgruppen die sterblichen Überreste ihrer Verstorbenen zusammen, um sie bei einem sogenannten Fest der Toten gemeinsam zu begraben. Dafür wurden die Skelette von den Gerüsten geholt, und Familienangehörige, hauptsächlich Frauen, kratzten eventuelle Fleischreste von den Knochen.
Wie schwierig sich die Säuberung der Knochen gestaltete, hing davon ab, wie lange der Mensch schon tot war. Manche Leichen waren verwest, und am Skelett haftete bloß noch getrocknete, papierdünne Haut. Andere Leichen waren nahezu mumifiziert, sodass das ausgedörrte Fleisch in Streifen abgezogen und verbrannt werden musste. Am schwierigsten waren die Leichen von kürzlich Verstorbenen, denn die wimmelten von Maden.

Ein Zeuge dieses Säuberungsrituals war ein katholischer Missionar aus Frankreich namens Jean de Brébeuf, der seine Beobachtungen festhielt. Er reagierte nicht entsetzt, sondern beschrieb mit großer Bewunderung, wie zartfühlend die Angehörigen ihre Toten behandelten. In einem Fall beobachtete de Brébeuf, wie eine Familie einen vor Verwesung triefenden Leichnam auswickelte. Unverzagt machten die Angehörigen sich daran, die Knochen zu säubern und sie in ein neues Biberfell-Gewand zu hüllen. De Brébeuf fragte sich, ob das nicht „ein leuchtendes Vorbild für Christen“ sei. Ähnliche Bewunderung brachte er für die Zeremonie am Grubengrab zum Ausdruck. Als die Leichen mit Sand und Rinde bedeckt wurden, fand er es „ermutigend“, solchen „Gnadenakten“ beiwohnen zu dürfen.
Ich bin sicher, dass de Brébeuf in dem Moment, als er am Rand der Grube stand, von den Totenritualen des Wendat-Stammes ergriffen war. Das änderte jedoch nichts an seiner größten glühenden Hoffnung, dass alle Bräuche und Zeremonien der Wendat von christlichen Zeremonien überlagert und durch sie ersetzt würden, damit sie „heilig“ und nicht mehr „töricht und sinnlos“ wären.
Es sollte erwähnt werden, dass die Indianervölker Kanadas den Alternativritualen, die Missionar de Brébeuf ihnen antrug, nicht gänzlich aufgeschlossen gegenüberstanden. Der Historiker Erik Seeman schrieb, dass Ureinwohner und Europäer häufig „schaurige Perversionen“ aneinander entdeckten. Wie sollten die Wendat glauben, dass die französischen Katholiken hehre Ziele hatten, wenn diese sich offen zum Kannibalismus bekannten und damit prahlten, in einem Brauch, der sich Kommunion nannte, Fleisch und Blut (noch dazu ihres eigenen Gottes) zu verzehren?
Da Religion der Ursprung vieler Totenrituale ist, berufen wir uns oft auf den Glauben, um die Bräuche anderer zu verunglimpfen. Noch 1965 schrieb James W. Fraser in seinem Buch Cremation: Is It Christian? (Spoiler: Nein, ist sie nicht), die Einäscherung sei ein „barbarischer Akt“ und leiste „Verbrechen Vorschub“. Für einen anständigen Christenmenschen sei es eine abstoßende Vorstellung, wenn der Leichnam eines Freundes behandelt werde „wie ein Rinderbraten im Ofen, mit triefendem Fett und brutzelndem Gewebe“.
Ich glaube mittlerweile, dass die Vorzüge eines Totenbrauchs nicht auf Mathematik beruhen (zum Beispiel zu 36,7 Prozent ein „barbarischer Akt“), sondern auf Emotionen, auf dem Glauben an die einzigartige Würde der jeweils eigenen Kultur. Das heißt, wir halten Totenrituale nur dann für primitiv, wenn sie nicht mit den unseren übereinstimmen.

An meinem letzten Tag in Belize nahm Luciano mich mit auf den Friedhof, wo seine Großeltern (einschließlich der gestohlenen Großmutter) ruhen. Der Friedhof war voll mit oberirdischen Gräbern, einige gepflegt, andere verwahrlost. Um ein umgekipptes, von Unkraut umgebenes Kreuz war ein Damenschlüpfer gewickelt. Auf zwei Gräber hatte jemand plump mit schwarzer Farbe „Gaza Earth“ und „Repent All Man“ gesprüht.
In der hinteren Ecke unter einem Baum lagen die Särge von Lucianos Großeltern übereinandergestapelt in einem Grab mit Betondeckel. „Meine Großmutter wollte diesen ganzen Zement nicht. Sie wollte bloß ein Loch in der Erde, Staub zu Staub. Aber wie das so ist …“
Luciano wischte liebevoll das Laub vom Grab.
Mich beeindruckte, dass Luciano bei jedem Schritt des Todes seiner Großmutter dabei war. Beim Diebstahl ihres Leichnams aus dem Krankenhaus, bei der Totenwache, wo die Familie Rum trank und Ranchera (Omas Lieblingsmusik) spielte, und Jahre später bei der Pflege ihres Grabs.
Im Gegensatz dazu müssen sich Trauernde in der westlichen Bestattungsindustrie nach jedem Verlust ihren Weg durch eine gezielte Verschleierung bahnen. Die meisten Leute können nicht sagen, welche Chemikalien bei der Einbalsamierung in ihre Mutter gepumpt werden (Antwort: eine Mischung aus Formaldehyd, Methanol, Äthanol und Phenol) oder warum sie einen 3000 Dollar teuren Edelstahlsarg für den Friedhof kaufen müssen (Antwort: damit das Grab sich nicht absenkt und die Gärtner den Rasen besser mähen können). Eine 2017 vom Radionetzwerk NPR in Auftrag gegebene Untersuchung amerikanischer Bestattungsinstitute stieß auf „ein verwirrendes, nutzloses System, das darauf abzielt, undurchschaubar für den Durchschnittsverbraucher zu sein, der gezwungen wird, in einer Zeit der Trauer und der finanziellen Belastungen kostspielige Entscheidungen zu treffen“.
Wir müssen unsere Bestattungsindustrie durch die Einführung neuer Methoden reformieren, die weniger gewinnorientiert sind und Angehörige stärker einbeziehen. Doch wir können unseren Umgang mit den Toten nicht reformieren – oder auch nur hinterfragen! –, wenn wir dieselbe Haltung einnehmen wie Jean de Brébeuf, also fälschlicherweise davon überzeugt sind, es richtig zu machen, während all diese „anderen Leute“ pietätlos und barbarisch sind.
Diese geringschätzige Haltung findet sich selbst dort, wo man es nie vermuten würde. Lonely Planet, der weltweit größte Verlag für Reiseliteratur, hat den idyllischen Friedhof des Dorfs Trunyan in seinen Guide über Bali aufgenommen. Die Bewohner von Trunyan flechten Bambuskäfige für ihre Toten, lassen sie darin verwesen und stapeln die Schädel und Knochen dann draußen in der sattgrünen Landschaft. Statt einer Erklärung, was es mit diesen uralten Bräuchen auf sich hat, gibt Lonely Planet klugen Reisenden den Rat, „sich das schaurige Spektakel zu ersparen“.
Wahrscheinlich käme es für Sie nie infrage, Ihren guten alten Dad zu verspeisen, wie es bei den Kallatiern Sitte war. Für mich auch nicht, schließlich bin ich Vegetarierin (ein Witz, Dad). Dennoch ist es eindeutig falsch zu behaupten, unsere im Westen üblichen Totenrituale seien denen der übrigen Welt überlegen. Durch die Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Umgangs mit unseren Verstorbenen ist es vielmehr so, dass wir dem Rest der Welt hinterherhinken, wenn es um Nähe, Intimität und Rituale in Sachen Tod geht.
Die gute Nachricht: Niemand zwingt uns zu einem distanzierten und schambesetzten Verhältnis zum Tod. Der erste Schritt zur Lösung des Problems wäre, sich der Herausforderung zu stellen, präsent und engagiert zu sein. In großen, modernen Städten wie Tokio und Barcelona habe ich erlebt, dass Familien genau das tun, dass sie zusammenkommen, um den ganzen Tag mit dem Leichnam zu verbringen und auch noch bei der Einäscherung zugegen zu sein. In Mexiko habe ich gesehen, wie Angehörige noch Jahre nach dem Tod eines geliebten Menschen auf den Friedhof gehen und Geschenke aufs Grab legen, damit niemand vergessen wird.
Viele der in diesem Buch beschriebenen Rituale unterscheiden sich stark von unseren, doch ich hoffe, dass Sie die Schönheit erkennen werden, die in diesem Unterschied liegt. Vielleicht gehören Sie zu den Leuten, bei denen alles, was mit dem Tod zu tun hat, Ängste und Beklemmungen auslöst. Aber Sie sind hier. Genau wie die Menschen, die Sie in diesem Buch kennenlernen werden, haben Sie sich der Herausforderung gestellt.


Colorado
Crestone
Eines Nachmittags im August erhielt ich eine E-Mail, auf die ich seit geraumer Zeit gewartet hatte.
Caitlin,
heute am frühen Morgen wurde Laura, ein sehr geschätztes Mitglied unserer Gemeinde, tot
aufgefunden: Sie war herzkrank und hatte gerade ihren 75. Geburtstag gefeiert. Ich weiß nicht,
wo Sie sind, aber wir würden uns freuen, wenn
Sie kommen.
Stephanie

Mit Lauras Tod hatte niemand gerechnet. Am Sonntagabend hatte sie noch munter auf einem Gemeindefest getanzt. Am Montagmorgen lag sie tot in ihrer Küche. Am Donnerstagmorgen würde die Familie sie einäschern lassen, und ich würde dabei sein.
Die Feuerbestattung war für Punkt sieben Uhr angesetzt, wenn die Sonne das blaue Licht der Dämmerung durchbrechen würde. Kurz nach halb sieben trafen die ersten Trauergäste ein. Ein Pick-up mit Lauras Sohn am Steuer fuhr vor. Lauras Leichnam, eingehüllt in ein korallenrotes Leichentuch, lag auf der Ladefläche. Es war gemunkelt worden, dass ihr Pferd, Bebe, auch dabei sein würde, doch im letzten Moment hatte die Familie befunden, dass Bebe die vielen Menschen und das Feuer nicht verkraften würde. Das Pferd, so ließ man verlauten, könne der Einäscherung „bedauerlicherweise nicht beiwohnen“.
Angehörige von Laura hoben ihren Leichnam vom Pick-up und trugen ihn auf einer Stofftrage über eine mit Sonnenhut bewachsene Wiese den sanften Hang hinauf zum Scheiterhaufen. Ein Gong schallte durch die Luft. Als ich vom Parkplatz den Sandweg hinaufging, reichte mir eine strahlende Helferin einen frisch geschnittenen Wacholderzweig.
Unter dem hohen Himmel von Colorado wurde Laura auf ein Metallgitter gelegt, das auf zwei parallel stehenden, glatten weißen Betonplatten ruhte. Ich hatte den leeren Scheiterhaufen schon zweimal vorher besucht, doch jetzt, mit dem Leichnam darauf, wurde sein Zweck erst so richtig klar. Nacheinander traten die Trauergäste vor und legten einen Wacholderzweig auf Lauras Körper. Als einzige Anwesende, die sie nicht gekannt hatte, zögerte ich, meinen Zweig abzulegen – vielleicht aus einer Art Bestattungsverlegenheit. Aber ich konnte den Zweig ja schlecht in der Hand behalten (zu offensichtlich) oder in meinen Rucksack stecken (geschmacklos), also trat ich vor und legte ihn auf das Leichentuch.
Lauras Angehörige, darunter ein Junge von acht oder neun Jahren, gingen um den Scheiterhaufen herum und stapelten Scheite aus Kiefern- und Fichtenholz, das wegen seiner ausgezeichneten Brennfähigkeit ausgewählt worden war. Lauras Partner und ihr erwachsener Sohn standen mit brennenden Fackeln bereit. Auf ein Signal hin senkten sie die Fackeln und setzten das Holz genau in dem Moment in Brand, als die Sonne über den Horizont lugte.
Weißer Rauch stieg in winzigen Wirbeln von den Flammen, die Lauras Leichnam verzehrten, in die Höhe und verschwand im Morgenhimmel. Der Geruch rief mir eine Passage aus einem Buch von Edward Abbey in Erinnerung:
Das Feuer. Der Geruch brennenden Wacholders ist der süßeste Duft auf dem Erdenrund, wenn ich mir dieses Urteil erlauben darf. Selbst alle Weihrauchfässer aus Dantes Paradies zusammen könnten es kaum mit ihm aufnehmen. Einmal Wacholderrauch tief eingeatmet – oder den Duft des Wüstenbeifuß nach dem Regen –, und schon erstehen in einer magischen Katalyse, wie manchmal bei Musik, der Raum und das Licht, die Klarheit und die durchdringende Fremdheit des amerikanischen Westens. Möge er lange brennen.

Nach einigen Minuten lösten sich die Rauchwirbel auf, und an deren Stelle tanzten nun leuchtende rote Flammen. Das Feuer gewann an Kraft, loderte zwei Meter hoch, und die Trauergäste, 130 an der Zahl, umstanden es schweigend. Das einzige Geräusch war das Knacken von brennendem Holz, als würden sich Lauras Erinnerungen eine nach der anderen im Äther ausbreiten.
Die Feuerbestattung, wie sie in dem kleinen Ort Crestone, Colorado, praktiziert wird, gibt es seit Zehntausenden von Jahren. Bekanntermaßen bedienten sich die alten Griechen, Römer und Hindus der einfachen Alchemie des Feuers, um das Fleisch zu verbrennen und die Seele zu befreien. Aber die Feuerbestattung selbst geht noch weiter zurück.

Ende der 1960er-Jahre entdeckte ein junger Geologe im entlegenen Outback Australiens die verbrannten Knochen einer erwachsenen Frau. Er schätzte das Alter der Knochen auf bis zu 20 000 Jahre. Weitere Untersuchungen ergaben, dass sie sogar 42 000 Jahre alt waren, womit sie aus einer Zeit stammten, die 22 000 Jahre vor dem vermuteten ersten Auftauchen der Aborigines lag. Die Frau musste in einer grünen Landschaft gelebt haben, in der es von riesigen Tieren wimmelte (Kängurus, Wombats, andere ungewöhnlich große Nagetiere). Ihre Nahrung bestand aus Fisch, Samen und den Eiern von gewaltigen Emus. Nach ihrem Tod wurde die Frau, heute bekannt als „Mungo Lady“, von ihrer Sippe verbrannt. Anschließend wurden ihre Knochen zertrümmert, ein zweites Mal verbrannt und rituell mit rotem Ocker bestreut, bevor man sie in der Erde vergrub, wo sie 42 000 Jahre lang ruhten.
Apropos Australien (diese Überleitung zahlt sich aus, versprochen), zehn Minuten nach Beginn von Lauras Feuerbestattung nahm eine der Frauen, die für das Feuer zuständig waren, ein Didgeridoo und bedeutete einem Mann, der eine hölzerne Flöte in der Hand hielt, mit ihr im Duett zu spielen.
Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Das Didgeridoo ist ein groteskes Instrument für eine amerikanische Bestattung. Doch der satte, volltönende Bass in Verbindung mit dem traurigen Klang der Flöte war irgendwie magisch und beruhigte die Trauergäste, während sie tiefer in die Flammen starrten.
Nun könnte man meinen, es sei irgendeine amerikanische Kleinstadt, irgendeine Trauergemeinde, die sich da um den Scheiterhaufen versammelt hatte. Doch weit gefehlt. Der Scheiterhaufen in Crestone ist der einzige unter freiem Himmel in den USA und sogar in der westlichen Welt.
Die Feuerbestattungen in Crestone verliefen nicht immer so ergreifend. Vor den Prozessionen im Morgengrauen und den Didgeridoos und den gut vorbereiteten Wacholderzweig-Verteilern gab es bloß Stephanie, Paul und ihre mobile Feuerstelle.
„Wir waren die mit dem mobilen Scheiterhaufen“, erklärte Stephanie Gaines sachlich. Sie bezeichnete sich selbst als hyperengagierte Buddhistin. „Ich bin ein Power-Widder“, fügte sie hinzu, „ein dreifacher Widder – meine Sonne, mein Mond und mein Aszendent.“ Mit ihren zweiundsiebzig Jahren betreibt sie in Crestone die Feuerbestattungen mit Logistik, Charme und weißem Bubikopf.
Stephanie und Paul Kloppenberg, ein ebenso bezaubernder Typ mit starkem holländischem Akzent, waren mit ihrem Scheiterhaufen ständig in Bewegung, transportierten ihn von Ort zu Ort, verbrannten Tote auf Privatgrundstücken und waren schon wieder weg, ehe die Obrigkeit sie aufhalten konnte. Auf diese Weise führten sie sieben Feuerbestattungen durch.
„Wir sind einfach angekommen und haben alles schnell und unauffällig aufgebaut“, sagte Paul.
Der mobile Scheiterhaufen war eine simple Konstruktion aus Betonziegeln mit aufgelegtem Rost. Aufgrund der enormen Hitze war der Rost nach jeder Feuerbestattung verzogen und verbogen. „Wir mussten mit dem Pick-up drüberfahren, um ihn wieder flach zu kriegen“, erklärte Stephanie. „Es kommt einem verrückt vor, aus heutiger Sicht“, schob sie amüsiert, aber nicht kleinlaut nach.
2006 machte sich das Paar auf die Suche nach einem dauerhaften Ort für die Feuerbestattungen. Crestone schien einfach perfekt zu sein, ländlich im wahrsten Sinne des Wortes, vier Stunden südlich von Denver, 137 Einwohner (1400 in der Umgebung). Das verleiht Crestone einen irgendwie libertären Anstrich, nach dem Motto: „Der Staat kann mich mal.“ Marihuana ist ebenso legal wie Bordelle. (Nicht, dass da irgendwelche Bordelle betrieben werden, aber erlaubt wär’s.)
Der Ort lockt alle möglichen spirituellen Suchenden an. Es kommen Leute aus der ganzen Welt, um zu meditieren, auch der Dalai Lama war schon da. Flyer in den Naturkostläden preisen Qigong-Unterricht und Schattenweisheitslehrer an, Meditationen für Kinder, um „ihr natürliches Genie zu wecken“, Retreats für nordafrikanische Tanzkurse und etwas, das sich „Sakralraum Zauberwald“ nennt. Zu Crestones Einwohnern zählen Aussteiger und Scheckbuch-Hippies, doch viele, die hier leben, sind wahrhaft überzeugte Gläubige: Buddhisten, Sufis und Karmeliterinnen. Laura selbst war jahrzehntelang Anhängerin des indischen Philosophen Sri Aurobindo.
Pauls und Stephanies erster Vorschlag für einen dauerhaften Feuerbestattungsort wurde abgeschmettert, als Grundstücksbesitzer in Windrichtung des angedachten Standorts – „Raucher, wohlgemerkt“, so Paul – mit dem Argument „nicht vor meiner Haustür“ ihr Veto einlegten. Stephanies Meinung nach waren das „notorische Nörgler“, die gar nicht erst hören wollten, dass keinerlei Gefahr von Bränden, unangenehmen Gerüchen, Quecksilbervergiftungen (verursacht von Zahnfüllungen) oder Feinstaub bestand. Die Raucher schrieben Briefe an die Bezirksverwaltung und die Umweltschutzbehörde.
Im Gegenzug gaben sich die Betreiber des mobilen Scheiterhaufens eine seriöse Rechtsform und gründeten eine gemeinnützige Organisation, das Crestone End of Life Project. Sie reichten einen Antrag nach dem anderen ein, sammelten vierhundert Unterschriften (fast ein Drittel der Bevölkerung von Crestone und Umgebung) und füllten dicke Ordner mit juristischen Dokumenten und wissenschaftlichen Abhandlungen. Sie besuchten sogar sämtliche Einwohner von Crestone und hörten sich deren Bedenken an.
Anfangs trafen sie auf heftigen Widerstand. Ein Mann in der Anti-Scheiterhaufen-Fraktion nannte die Gruppe „Nachbarn verbrennen Nachbarn“. Als Paul und Stephanie den (scherzhaft gemeinten) Vorschlag machten, einen Festwagen bei der jährlichen Parade zu sponsern, erhob eine Familie Protest, weil ein mit Pappmascheeflammen geschmückter Festwagen „schrecklich taktlos“ sei.
„Die Leute haben sogar befürchtet, durch den Scheiterhaufen würde zu viel Verkehr in den Ort kommen“, sagte Stephanie. „Dabei sind in Crestone schon sechs Autos zu viel Verkehr.“
Paul erklärte: „Es gibt jede Menge Ängste: ›Was ist mit Luftverschmutzung? Ist so was nicht makaber? Bei allem, was mit Tod zu tun hat, krieg ich Gänsehaut.‹ Man muss geduldig bleiben, sich ihre Wünsche anhören.“
Paul und Stephanie ließen sich trotz der fast unüberwindlichen rechtlichen Hürden nicht entmutigen, weil viele im Ort von der Idee des Scheiterhaufens angetan waren. (Die Möglichkeit, sich auf einem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen, hatte einige derart begeistert, dass sie Paul und Stephanie baten, einen Betonziegelgrill in ihren Gärten aufzubauen.) „Wie viele Leute bieten schon einen Service an, der bei anderen Leuten wirklich Resonanz findet?“, fragte Stephanie. „Wenn keine Resonanz da ist, vergiss es. Diese Resonanz war es, die uns Auftrieb gab.“
Schließlich fanden sie für ihren Scheiterhaufen einen festen Standort: außerhalb von Crestone, einige Hundert Meter von der Hauptstraße entfernt. Das Grundstück war eine Schenkung vom Dragon Mountain Temple, einer Gruppe von Zen-Buddhisten. Paul und Stephanie verstecken ihren Scheiterhaufen nicht. Wer mit dem Auto nach Crestone kommt, sieht ein Metallschild mit einer einzelnen Flamme und dem Schriftzug „Feuerbestattungen“. Das Schild hat ein Kartoffelfarmer (der auch als Leichenbeschauer fungiert) selbst gemacht, es bildet einen auffälligen Orientierungspunkt. Der Scheiterhaufen selbst steht auf einem Sandbett und ist von einer Bambuswand umgeben, die fast an Kalligrafie erinnert. Mehr als fünfzig Menschen sind dort bereits verbrannt worden, darunter auch (dramatische Wendung) der Mann, der sich „Nachbarn verbrennen Nachbarn“ hatte einfallen lassen und kurz vor seinem Tod einen Sinneswandel erlebte.
Drei Tage vor Lauras Feuerbestattung kamen Ehrenamtliche vom Crestone End of Life Project zu ihr nach Hause. Sie richteten den Leichnam her, halfen Lauras Freundinnen, ihn zu waschen, und legten ihn auf eine Kühldecke, um den Verwesungsprozess zu verlangsamen. Sie kleideten ihn in Naturstoffe – synthetische Textilien wie Polyester brennen nicht gut.
Die Organisation leistet Hinterbliebenen praktische Hilfe ungeachtet der anfallenden Kosten. Die Angehörigen müssen sich auch nicht für eine Feuerbestattung unter freiem Himmel entscheiden. Die Freiwilligen von Crestone End of Life bieten ihre Unterstützung selbst dann an, wenn die Angehörigen eine konventionelle Bestattung (mit Einbalsamierung), eine natürliche (ohne Metallsarg oder Einbalsamierung) oder eine Einäscherung im Bestattungsinstitut ein paar Orte weiter wählen. Paul bezeichnete letztere Option als „kommerzielle Verbrennung“.
Stephanie unterbrach ihn: „Paul, du solltest sie konventionelle Verbrennung nennen.“
„Nein“, widersprach ich, „kommerzielle Verbrennung klingt genau richtig.“
Crestone war für mich als Bestatterin inspirierend – weshalb ich immer wieder hinfuhr –, aber es überkam mich stets ein Hauch von (an Eifersucht grenzende) Melancholie. Sie hatten diesen wunderbaren Scheiterhaufen unter blauem Himmel, ich dagegen musste meine Familien zu einem lauten, staubigen Krematorium in einem Lagerhaus am Rande der Stadt bringen. Ich hätte sogar versprochen, die Didgeridoo-Spielerin einzuladen, wenn ich für mein Bestattungsinstitut Zugang zu einer so spektakulären Verbrennungsmöglichkeit gehabt hätte.

Die industrielle Einäscherung mittels Verbrennungsofen wurde erstmals im späten 19. Jahrhundert in Europa angedacht. 1869 kam eine Gruppe Fachärzte in Florenz zusammen, prangerte die Erdbestattung als unhygienisch an und sprach sich für einen Umstieg auf die Kremation aus. Fast zeitgleich machte die Pro-Kremations-Bewegung den Sprung über den großen Teich nach Amerika. Zu den tonangebenden Befürwortern zählten Reformer wie ein Mann mit dem albernen Namen Reverend Octavius B. Frothingham, der es für besser hielt, dass ein Leichnam sich in „weiße Asche“ verwandelte statt in eine „Fäulnismasse“. (Mein nächstes Drone-Folk-Album wird The Cremation Reforms of Octavius B. Frothingham heißen.)
Der erste Leichnam, der in Amerika durch „moderne, wissenschaftliche“ Einäscherung verbrannt wurde, war der von Baron Joseph Henry Louis Charles De Palm. (Korrektur: Das Drone-Folk-Album heißt jetzt The Burning of Baron De Palm.) Der gute Baron, ein mittelloser österreichischer Adeliger, der laut der New York Tribune „hauptsächlich als Leiche berühmt“ wurde, verstarb im Mai 1876.
Seine Einäscherung hatte man für Dezember angesetzt, sechs Monate nach seinem Tod. In der Zwischenzeit wurde seinem Leichnam Arsen injiziert, und als man Arsen für zu schwach hielt, um die Verwesung aufzuhalten, ließ man von einem Leichenbestatter die Organe aus dem Körper entfernen und die Haut mit Lehm und Karbolsäure einschmieren. Auf der Zugfahrt von New York nach Pennsylvania (wo er eingeäschert werden sollte) ging sein mumifizierter Leichnam kurzzeitig im Gepäckwaggon verloren, was zu einem, wie der Historiker Stephen Prothero es ausdrückte, „makabren Suchspiel“ führte.
Das Krematorium für diese Premiere wurde auf dem Anwesen eines Arztes in Pennsylvania gebaut. Es enthielt einen mit Kohle befeuerten Ofen, der den Leichnam einäschern sollte, ohne dass die Flammen ihn direkt berührten – schon allein die Hitze würde den Körper zersetzen. Obwohl der Arzt sagte, dass die Kremation „aus rein wissenschaftlichen und hygienischen Gründen“ erfolgte, wurde De Palms Leichnam mit Gewürzkräutern bestreut und auf ein Bett aus Rosen, Palmblättern, Primeln und Immergrün gelegt. Sobald sich der Körper im Ofen befand, war laut Zeugenberichten ein deutlicher Geruch nach verbranntem Fleisch wahrnehmbar, der jedoch bald den Düften von Blumen und Gewürzen wich. Nach einer Stunde im Ofen begann De Palms Körper sanft rosa zu schimmern. Das Schimmern färbte sich golden und leuchtete schließlich durchsichtig rot. Nach zweieinhalb Stunden war der Körper in Knochen und Asche zerfallen. Zeitungsjournalisten und Beobachter vor Ort erklärten, das Experiment habe zur „ersten sorgsamen und geruchlosen Verbrennung eines Menschen in einem Ofen“ geführt.
Von da an wurden die Kremationsanlagen immer größer, schneller und effizienter. Fast 150 Jahre später erfreut sich die Einäscherung größter Beliebtheit (2017 wurden erstmals mehr Amerikaner eingeäschert als begraben). Doch die Ästhetik und die Rituale rund um den Prozess haben sich kaum verändert. Unsere Kremationsöfen haben noch immer Ähnlichkeit mit ihren Vorläufern aus den 1870er-Jahren – zwölf Tonnen schwere Ungetüme aus Stahl, Ziegel und Beton. Sie verschlingen Monat für Monat Erdgas im Wert von Tausenden Dollar und speien Kohlenmonoxid, Ruß, Schwefeldioxid und hochgiftiges Quecksilber in die Atmosphäre.

Die meisten Krematorien, vor allem in größeren Städten, sind in die Industriegebiete verbannt, versteckt in unscheinbaren Lagerhäusern. Von den drei Krematorien, in denen ich in meinen neun Jahren im Bestattungswesen gearbeitet habe, lag eines gegenüber vom Auslieferungslager der Los Angeles Times, wo zu jeder Tages- und Nachtzeit Lkw abfuhren, eines lag hinter dem Lagerhaus von Structural and Termite (was auch immer die da machen), und eines lag neben einem Schrottplatz, auf dem Autos zur Altmetallgewinnung zerlegt wurden.
Gelegentlich befinden sich Krematorien auch auf dem Gelände von Friedhöfen, doch dann sind sie meist in irgendwelchen Betriebsgebäuden versteckt, sodass trauernde Angehörige, die der Einäscherung beiwohnen möchten, an Rasenmähern vorbeimüssen oder an bergeweise verrottenden Blumenkränzen, die von den Gräbern geräumt wurden.
Einige Krematorien bezeichnen sich als „Einrichtungen, die das Leben feiern“, oder als „würdevolle Einäscherungszentren“. Dort können Angehörige in klimatisierten Räumen durch Glasfenster zuschauen, wie der Leichnam durch eine kleine Metalltür in der Wand verschwindet. Die Anlage hinter dieser Wand ist der gleiche industrielle Verbrennungsofen, der auch in den Lagerhäusern benutzt wird, aber die Hinterbliebenen können den Zauberer hinter dem Vorhang nicht sehen. Diese Tarnung entfernt die Menschen noch weiter von der Realität des Todes und der klobigen, ökologisch unsinnigen Anlage. Das Privileg, die eigene Mutter in ein „würdevolles Einäscherungszentrum“ zu bringen, kann den Preis auf über 5000 Dollar steigern.
Ich behaupte nicht, dass ein Wechsel zur Kremation unter freiem Himmel all diese Probleme lösen würde. In Ländern wie Indien und Nepal, wo Scheiterhaufenbestattungen die Norm sind, werden bei vielen Millionen Einäscherungen jedes Jahr über fünfzig Millionen Bäume verbrannt und Kohlenstoffaerosole in die Atmosphäre abgegeben. Nach Kohlendioxid belegen Kohlenstoffaerosole den zweiten Platz unter den größten menschengemachten Ursachen für den Klimawandel.
Doch das Crestone-Modell ist ein großartiger Ansatz. Die gemeinnützige Organisation hat schon etliche Anrufe von Reformern in Indien erhalten, die gern die Konstruktion und die Methoden des in Crestone verwendeten Scheiterhaufens übernehmen würden – mit reichlich Abstand vom Boden, um weniger Holz zu benötigen und weniger Schadstoffe freizusetzen. Wenn sich diese uralte Methode, die untrennbar mit der Religion und dem Land verbunden ist, reformieren lässt, dann gilt das auch für die modernen, industriellen Krematorien.

Laura hatte viele Jahre in Crestone gelebt, und es schien, als wäre der ganze Ort an jenem Morgen zu ihrer Feuerbestattung gekommen. Ihr Sohn Jason sprach als Erster ein paar Worte, den Blick starr auf die Flammen gerichtet. „Mom, danke für deine Liebe“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Mach dir um uns keine Sorgen mehr, flieg und sei frei.“
Während das Feuer weiterbrannte, trat eine Frau vor und erzählte, wie sie selbst elf Jahre zuvor nach Crestone gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie seit Jahren an einer chronischen Krankheit gelitten. „Ich bin nach Crestone gezogen, um wieder Freude am Leben zu finden. Ich dachte, die Wolken und der weite Himmel hätten mich geheilt, aber ich glaube, in Wirklichkeit war es Laura.“
„Wir sind alle bloß Menschen“, fügte eine andere Freundin von Laura hinzu. „Wir haben alle unsere Fehler. Aber an Laura habe ich keinen einzigen Fehler entdeckt.“
Die Flammen hatten mit Lauras korallenrotem Leichentuch kurzen Prozess gemacht. Während Trauernde sprachen, griffen die Flammen auf Lauras entblößte Haut und die weichen Gewebeschichten über. Das Feuer dehydrierte das Gewebe, das zum größten Teil aus Wasser besteht, sodass es zusammenschrumpfte und wegbrannte. Dadurch kamen ihre inneren Organe zum Vorschein und wurden als Nächstes von den Flammen erfasst.
Da ein solcher Anblick auf Unerfahrene grausig wirken kann, achteten die ehrenamtlichen Helfer darauf, dass die Umstehenden nicht allzu genau mitbekamen, was auf dem Scheiterhaufen vor sich ging. Sie arbeiteten ruhig und gekonnt, sorgten dafür, dass kein unangenehmer Geruch entstand, dass nicht unvermittelt der Kopf oder ein verkohlter Arm ins Blickfeld geriet. „Wir wollen den Leichnam nicht verstecken“, erklärte Stephanie, „aber die Feuerbestattungen stehen allen Leuten offen, und man kann nie wissen, wer dabei sein wird und wie jemand auf die intensiven Emotionen reagiert, die der Scheiterhaufen auslösen kann. Viele stellen sich vor, dass sie eines Tages selbst da liegen.“
Im weiteren Verlauf der Zeremonie legten die Helfer immer wieder unauffällig Holz nach. Insgesamt verbrannten sie bei dieser Feuerbestattung ein Drittel Klafter Holz, also mehr als einen Kubikmeter.
Schließlich erreichten die Flammen Lauras Knochen. Als Erstes die Knie, Fersen und Gesichtsknochen, einige Zeit später dann das Becken und die Arm- und Beinknochen. Das Wasser verdampfte vom Skelett, gefolgt vom organischen Material. Die Farbe der Knochen wechselte von Weiß zu Grau zu Schwarz und dann wieder zu Weiß. Das Gewicht der Scheite presste Lauras Knochen durch den Metallrost auf die Erde darunter.
Einer der Feuerwächter nahm eine lange Metallstange und stieß sie ins Feuer, genau an der Stelle, wo Lauras Kopf gelegen hatte, doch der Schädel war verschwunden.

Mir war gesagt worden, dass jede Feuerbestattung in Crestone unterschiedlich ablief. Einige waren eine kurze Angelegenheit, nach dem Motto „Anzünden und ab nach Hause“. Andere dauerten Stunden, weil die Trauernden dabei aufwendige religiöse und spirituelle Zeremonien vollzogen. Manche waren zwanglos, wie die Einäscherung des jungen Mannes, der sich gewünscht hatte, dass sein Scheiterhaufen mit zwei Litern Tequila übergossen und ein Joint daraufgelegt werden sollte. „Also, ich kann Ihnen sagen, alle in Windrichtung waren begeistert“, erzählte mir einer der Helfer.
Doch für jede Feuerbestattung gilt, dass sie für alle Anwesenden eine lebensverändernde Erfahrung ist. Die jüngste in Crestone eingeäscherte Person war Travis, der mit nur zweiundzwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Laut Polizeibericht waren er und seine Freunde, alle betrunken und high, viel zu schnell auf einer Landstraße unterwegs gewesen. Der Wagen überschlug sich, Travis wurde hinausgeschleudert und starb noch an der Unfallstelle. Alle jungen Leute aus Crestone und den umliegenden Orten kamen zu seiner Feuerbestattung. Als Travis’ Körper auf den Scheiterhaufen gelegt wurde, zog seine Mutter das Leichentuch ein Stück herunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Travis’ Vater nahm das Gesicht des jungen Mannes, der am Steuer des Unfallwagens gesessen hatte, in beide Hände und sagte vor der versammelten Trauergemeinde: „Sieh mich an, ich vergebe dir.“ Dann wurde das Feuer entzündet.
Lauras Feuerbestattung war etwa eine Stunde im Gange, als sich die zu Beginn noch sehr deutlich spürbare Trauer in Luft aufgelöst zu haben schien. Die letzte Rednerin trat vor und sprach die Anwesenden in einem Ton an, der neunzig Minuten zuvor noch völlig unangemessen gewesen wäre. „Ihr habt alle gesagt, was Laura für ein wunderbarer Mensch war, und das stimmt auch. Aber ich werde sie als ein ganz wildes Weibsbild in Erinnerung behalten. Eine Partylöwin. Ich möchte einmal laut für sie brüllen.
Oooooooooooooooooooooo“, brüllte sie, und alle ringsherum fielen mit ein. Selbst ich, die ich kurz zuvor noch zu schüchtern gewesen war, meinen Wacholderzweig auf den Scheiterhaufen zu legen, stieß ein zaghaftes Brüllen aus.

Über ein menschenwürdiges Ende des Lebens

Glücklich sterben?Glücklich sterben?

Mit dem Gespräch mit Anne Will

Lange war es ein Tabu in Deutschland, und nun hat es ausgerechnet ein katholischer Theologe gebrochen. Hans Küng hat im Gespräch mit Anne Will erklärt, dass er es für erlaubt hält, sein Leben zu beenden, wenn es unerträglich geworden ist. Seitdem ist eine Diskussion im Gange, die keinen unberührt lässt. In seinem Buch verbindet Küng frühere Texte über das Sterben mit seinen Glaubensüberzeugungen und theologischen Einsichten zu einer klaren Position: „Glücklich sterben“ hat in seinen Augen nichts mit „Selbstmord“ zu tun, sondern meint ein menschenwürdiges Ende des Lebens.

Ein persönliches Vorwort

„Sie gefährden Ihr ganzes großes Lebenswerk durch Ihr dezidiertes Eintreten für Selbstverantwortung im Sterben.“ So oder ähnlich haben sich seit Erscheinen des dritten Bandes meiner Memoiren „Erlebte Menschlichkeit“ (Oktober 2013) nicht wenige Freunde und Leser mündlich oder schriftlich mir gegenüber geäußert. Solche Einwände nehme ich sehr ernst, möchte ich doch nicht vor allem mit dem Thema Sterbehilfe der Nachwelt in Erinnerung bleiben. Meine Einstellung zum Sterben kann man letztlich ja nur dann richtig bewerten, wenn man etwas weiß von meinem lebenslangen Bemühen um grundlegende Themen wie die Gottesfrage, das Christsein, ewiges Leben, Kirche, Ökumene, Weltreligionen, Weltethos …

Ich bekenne mich nach wie vor zur ersten der vier „unbedingten Weisungen“ eines Weltethos, zur „Verpflichtung auf eine Kultur der Ehrfurcht vor allem Leben“, wie sie das Parlament der Weltreligionen in Chicago 1993 proklamiert hat: „Aus den großen alten religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit vernehmen wir die Weisung: Du sollst nicht töten! Oder positiv: Hab Ehrfurcht vor dem Leben! Besinnen wir uns also neu auf die Konsequenzen dieser uralten Weisung: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt. Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen physisch oder psychisch zu quälen, zu verletzen, gar zu töten.“ Doch gerade weil „die menschliche Person unendlich kostbar und unbedingt zu schützen“ ist, und dies bis an ihr Ende, muss genau überlegt werden, was dies im Zeitalter einer Hochleistungsmedizin bedeutet, die das Sterben weitgehend schmerzlos herbeizuführen, aber auch in vielen Fällen beträchtlich hinauszuzögern vermag.

Dieser Problematik möchte ich mich hier in -aller Offenheit stellen und möchte gerade niemanden von all den Vielen enttäuschen, denen ich oft über Jahrzehnte in mancher Hinsicht Orientierung geben konnte. Andererseits aber erfahre ich nun so viel Zustimmung und Bestärkung von religiösen wie nichtreligiösen Menschen, die mir dankbar sind für den Mut, gerade als christlicher, ja katholischer Theologe kompetent und ehrlich diese emotional wie politisch schwer belastete und entsprechend kontrovers diskutierte Frage der Sterbehilfe anzusprechen.

Man wird also unterscheiden müssen zwischen dem breiten Konsens in Bezug auf die Ehrfurcht vor dem Leben und dem Dissens bezüglich der Art und Weise einer Sterbehilfe. In den Weltethos-Dokumenten findet man zwar allgemein ein nachdrückliches Plädoyer für Ehrfurcht vor dem Leben, aber keine Stellungnahme zur speziellen Frage der Sterbehilfe, da sich zur Zeit diesbezüglich weder zwischen den Weltreligionen noch innerhalb der einzelnen Religionen ein Konsens feststellen lässt.

Mein Vorstoß bezüglich der Sterbehilfe ist meine höchst persönliche Angelegenheit, nicht etwa die der Stiftung Weltethos. Und so bitte ich denn in aller Bescheidenheit diejenigen, die meine Auffassung teilen, weiter um ihre Unterstützung, und diejenigen, die sie ablehnen, um das Bemühen, meine Auffassung vielleicht besser zu verstehen. Zu diesem Zweck habe ich dieses Buch geschrieben. Es ist kein völlig neues Opus – das habe ich mir 2013 in meinen Abschiedsreden verboten –, aber doch ein neues Opusculum, das jedem Leser eine Klärung und Vertiefung ermöglichen sollte.

Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass mir noch die Kraft geschenkt war, dieses Buch zu vollenden. Spüre ich doch in der Endphase der Abfassung, wie meine Kräfte schwächer werden und mir auch manche geistige Tätigkeiten zur großen Anstrengung werden. Zweifellos könnte man an einigen Stellen dieses Buches noch weitere Details und Präzisierungen anbringen, doch hat ja mein Buch nicht etwa den Anspruch, die komplexe Frage der Sterbehilfe definitiv zu klären. Vielmehr will es einen Beitrag in einem andauernden Diskussionsprozess leisten und die Stimme eines christlichen Theologen einbringen, der von dieser Problematik selbst existenziell betroffen ist.

Von Herzen danke ich allen, die mir in dieser schwierigen Thematik mit vielfältigem Rat und wichtigen Informationen hilfreich waren, und allen, die ganz praktisch am Entstehen dieses Buches mitbeteiligt waren.


Tübingen, im Juni 2014

Hans Küng



Einleitung: Kann Sterben glücklich sein?

Sind Sterben und Glück nicht klare Gegensätze? „Dieser Mensch hat noch einmal Glück gehabt“, sagt man von einem, der beim Autounfall hart am Tod vorbeikam. Und meint damit das Glück des Zufalls, wofür die englische wie die lateinische Sprache mit „luck“ und „fortuna“ ein eigenes Wort zur Verfügung haben. Ebenso gibt es mit „happiness“ und „beatitudo“ ein eigenes Wort für das Glück der Erfüllung.

Der Mensch kann mitten im Alltag das kleine Glück des erfüllten Augenblicks erleben – etwa durch ein gutes Wort, eine freundliche Geste oder durch den Dank für eine von ihm erwiesene Wohltat. Ja, er kann bisweilen auch das große Glück eines momentanen Spitzenerlebnisses erfahren – etwa im Rausch der Musik, in einem überwältigenden Naturerlebnis, in der Ekstase der Liebe.

Nur eines kann der Mensch nicht: einer glücklichen Hochstimmung Dauer verleihen, weder durch Geld noch durch Alkohol oder Drogen. Gewiss vermögen höchst unterschiedliche Informationen im menschlichen Gehirn Endorphine, Glückshormone zu produzieren und so euphorische Glücksgefühle hervorzurufen. Doch Gewöhnung führt zur Abstumpfung; unser neurobiologisches Glückssystem ist nicht auf Dauerbetrieb angelegt. Fausts flehentliche Bitte an den Augenblick höchsten Glücks, „Verweile doch, Du bist so schön!“, kommt nicht von ungefähr und wird nicht erhört.

Ein anderes freilich scheint dem Menschen vielleicht möglich: Statt einer anhaltenden glücklichen Hochstimmung eine durchgehaltene glücklicheGrundstimmung, die ihnselbst in verzweifelten Situationen nicht verzweifeln lässt, sondern sein Vertrauen trägt. Gemeint ist konkret: grundsätzlich einverstanden sein mit dem Leben, wie es nun einmal ist, ohne sich jedoch mit allem abzufinden. Eine glückliche Grundstimmung heißt also ein Leben in Einklang, im Reinen mit sich. Und da frage ich mich: Lässt sich eine solche Grundhaltung nicht auch angesichts aller menschlichen Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit bis hinein ins Sterben durchhalten?

Die „ars moriendi“, die „Kunst des Sterbens“, beschäftigt mich, seitdem in den 1950er-Jahren mein Bruder Georg monatelang an einem unheilbaren Gehirntumor leiden musste, bis er am Wasser in der Lunge erstickte. Sie drängte sich mir besonders auf, seitdem etwa von 2005 an mein lieber Kollege und Freund Walter Jens, obwohl bestens betreut, in seiner Demenz bis zu seinem Tod 2013 dahindämmerte. Diese Erfahrungen bestärkten mich in der Überzeugung: So will ich nicht sterben! Aber sie machten mir zugleich die Herausforderung deutlich, den Zeitpunkt für ein selbstverantwortetes Sterben nicht zu verpassen.

Dies vertraten der Literat Walter Jens und ich in den 1990er-Jahren gemeinsam in Vorlesungen des Studium Generale an der Universität Tübingen und 1995 im gemeinsamen Buch „Menschenwürdig sterben: ein Plädoyer für Selbstverantwortung“, dessen Neuaus­gabe 2009 ich noch mit „20 Thesen zur Sterbehilfe“ und Inge Jens mit einem wertvollen persönlichen Beitrag ergänzte.

Schließlich habe ich 2013 im letzten Kapitel meines dritten Memoirenbandes „Erlebte Menschlichkeit“ auf 50 Seiten meine persönliche Krankheitsgeschichte (Parkinson, Makuladegeneration, Polyarthritis in den Fingern …) und meine Haltung zum Sterben beschrieben. Dies legte ich in aller Offenheit dar, nicht zuletzt, um in der deutschen Öffentlichkeit, die noch immer unter dem kollektiven kollektiven Trauma der Nazimorde am angeblich „lebensunwerten Leben“ leidet, Verständnis zu wecken für die heutige Problematik eines immer weiter künstlich hinausgeschobenen Lebensendes.

Es gehört für mich zur Lebenskunst und zu meinem Glauben an ein ewiges Leben, mein zeitliches Leben nicht endlos hinauszuzögern. Wenn es an der Zeit ist, darf ich, falls ich es noch kann, in eigener Verantwortung über Zeitpunkt und Art des Sterbens entscheiden. Wenn es mir geschenkt sein sollte, möchte ich gerne bewusst sterben und mich menschenwürdig von meinen Lieben verabschieden. Glücklich sterben heißt für mich nicht ein Sterben ohne Wehmut und Abschiedsschmerz, wohl aber ein Sterben in völligem Einverständnis, in tiefster Zufriedenheit und in innerem Frieden. Das bedeutet im Übrigen auch das in viele moderne Sprachen eingegangene, aber von den Nazis schändlich missbrauchte altgriechische Wort „eu-thanasia“: ein „gutes“, „richtiges“, „leichtes“, „schönes“, „glückliches Sterben“.

Also ein „Requiescat in pace, er/sie möge ruhen in Frieden“. Alles noch zu Ordnende geordnet, in Dankbarkeit und in vertrauendem Gebet. Dies ist nicht nur eine Wunschvorstellung. Ich kenne Menschen, die in diesem Sinn glücklich gestorben sind: Meine Mutter gehört zu ihnen. Diese Haltung gründet für mich letztlich in der Hoffnung auf ein definitiv gelingendes, ewiges Leben, in einer anderen Dimension des Friedens und der Harmonie, andauernder Liebe und bleibendem Glück. Dies ist meine von der Bibel gespeiste Vorstellung von einem glücklichen Sterben.

Damit ist schon deutlich geworden: Solch glückliches Sterben hat nichts zu tun mit einem eigenmächtigen, gar noch zur Provokation der kirchlichen Autorität geplanten unseligen „Selbstmord“, wie mir manche Stimmen in den Medien, aber auch in persönlichen Zuschriften unterstellten. Einzelne Vertreter der „kirchlichen Lehre“ aber, von der meine Auffassung abweicht, haben offensichtlich noch nicht begriffen, dass sich auch unser Verständnis sowohl vom Anfang wie vom Ende des Menschenlebens mitten in einem epochalen Paradigmenwechsel befindet, der weder mit der Vorstellungswelt und Begrifflichkeit der mittelalterlichen noch der orthodox-protestantischen Theologie durchschaut und gemeistert werden kann. Heutzutage muss doch die enorme Lebensverlängerung aufgrund der früher unvorstellbaren Fortschritte der modernen Medizin und Hygiene in Betracht gezogen werden; zu berücksichtigen sind aber auch die korrigierenden nachmodernen Einsichten in die Grenzen einer rein naturwissenschaftlich-technisch argumentierenden und operierenden Medizin. Der Sinn für die Notwendigkeit einer die Menschlichkeit schützenden ethischen Fundierung einer ganzheitlichen Medizin ist gewachsen. Auch in der katholischen Kirche besteht seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus Hoffnung auf größere Offenheit und erbarmende Hilfestellung in solchen notorisch schwierigen Fragen. Für ihn ist das Christentum keine abgehobene doktrinäre Ideologie, sondern ein Weg, den man erlernt, indem man ihn geht.

Auf manche in dieser Einführung angesprochenen Fragen war auch die prominente Fernseh-Moderatorin Anne Will in einem Gespräch mit mir eingegangen, das vom Ersten Deutschen Fernsehprogramm ARD am 20. November 2013 ausgestrahlt und vom Sender Phoenix am 2. Januar 2014 wiederholt wurde. Das Gespräch bildet die Plattform meiner weiteren Überlegungen. Ich bin meiner gescheiten und einfühlsamen Gesprächspartnerin von Herzen dankbar dafür, dass sie mir gestattet, diesen lebendigen und ungekünstelten Dialog hier zu veröffentlichen. Wollte ich doch wie gesagt kein völlig neues Buch schreiben, wohl aber zur Klärung und Vertiefung meiner Auffassung beitragen, auch auf schriftlich und mündlich geäußerte Einwände eingehen und dafür auf frühere Texte zurückgreifen sowie neue Kommentare hinzufügen. Einer breiteren Öffentlichkeit – und angesichts der gegenwärtigen Diskussion in Parlamenten, Berufsverbänden, Gerichten und Kirchen besonders Politikern, Ärzten, Juristen und Seelsorgern – möchte ich Stoff zu kritisch-selbstkritischen Reflexionen bieten. Dies alles in der Hoffnung auf eine interessierte und zugleich verständnisvolle Diskussion.



Gespräch mit Anne Will


Vom Glück des Widerspruchs

Anne Will: Lieber Hans Küng, wir sitzen hier im November 2013, an einem wunderschönen Tag, knallblauer Himmel, draußen Sonnenschein. 2013 ist für Sie ein besonderes Jahr, Sie sind 85 geworden, im März, und Sie haben mit dem dritten Band Ihre Lebenserinnerungen abgeschlossen. Also eine Art Abschluss, ein Ende, vom „Abend des Lebens“ schreiben Sie. Außerdem haben Sie öffentlich gemacht, dass Sie an Parkinson erkrankt sind. Und Sie haben auch gesagt, vor langer Zeit ja schon, Sie werden dann, wenn die Krankheit Sie verändern sollte, Sterbehilfe in Anspruch nehmen, aus dem Leben scheiden. Woher wissen Sie eigentlich, dass dann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, kein ­irdisches Glück mehr auf Sie wartet?

Hans Küng: Ach, ich würde nicht sagen, dass kein irdisches Glück mehr auf mich wartet, sondern ich weiß dann nur, dass mein Leben sich vollendet hat, dass ich weiter keine Aufgaben mehr zu erfüllen habe, dass es einfach Zeit ist. Wie es bei Kohelet im Alten Testament heißt, es gibt eine Zeit zu leben und eine Zeit zu sterben. Und dann wird es eben so weit sein.

Anne Will: Ist es ein bestimmter Tag, den Sie jetzt schon kennen?

Hans Küng: Nein. Ich habe auch nie gesagt, ich würde mich sofort verabschieden, das wurde eine Zeit lang durch die Medien so verbreitet. Ich habe immer noch die Möglichkeit, dass meine verschiedenen Krankheiten …

Anne Will: Was ist es denn alles?

Hans Küng: Na ja, mit dem Schreiben habe ich Schwierigkeiten, ich habe Schwierigkeiten mit den Augen, eine Makuladegeneration, ich habe Schwierigkeiten mit dem Rücken, mit dem Lendenwirbel und so weiter. Das ist alles nicht schlimm, wenn man so will, aber es sind einfach Zeichen, dass die letzte Periode begonnen hat und dass mein Leben auch nicht ewig dauert. Ich habe mich von vornherein immer mit dem Leben so abgefunden, wie es war. Ich wollte das auch nicht verschweigen, was ich ja leicht hätte machen können. Ich hätte ja leicht diesen dritten Band furios abschließen können mit irgendeinem großen Ereignis. Ich habe genügend solcher Ereignisse erlebt. Aber ich wollte bis zum Ende die Wahrheit in Wahrhaftigkeit sagen.

Anne Will: Ich habe Sie eben kurz unterbrochen an der Stelle, als Sie, glaube ich, dabei waren, uns zu entwickeln, woran Sie festmachen könnten, dass der Zeitpunkt gekommen wäre, wo Sie sagen, okay, jetzt ist mein Leben vollendet, und jetzt mag ich den nächsten Schritt gehen.

Hans Küng: Also der sichere Terminus, wo es für mich klar wäre, wäre das, wenn ich irgendwelche Zeichen von Demenz spüre. Hier um die Ecke wohnte Walter Jens. Ich habe über Jahre seine Demenzerkrankung miterlebt. Wir haben ja in den 1990er-Jahren zusammen Vorlesungen gehalten, die „Menschenwürdig sterben“ hießen, unten in der Universität. Und Jens hat immer gesagt, es wäre für ihn ein Glück, wenn er wie Sigmund Freud damals einen Arzt fände, der ihm dann helfen würde zu sterben. Er hat das eigentlich vorgehabt, er hat aber den Moment verpasst. Ich will auf keinen Fall den Moment verpassen. Beginnende Demenz wäre jedenfalls eine klare Indikation, was sonst noch dazu kommen kann, das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich bin bereit zu allem. Ich bin bereit, auch noch eine neue Aufgabe zu übernehmen, wenn eine sich stellt, die ich jetzt noch leisten kann. Aber ich will nicht in demselben Stil weitermachen. Ich habe alle Bücher geschrieben, die ich schreiben wollte, habe alle Reisen gemacht, die ich machen wollte, also ich bin in diesem Sinne ein glücklicher Mensch, relativ glücklich, und kann sagen, mein Werk hat sich in etwa gerundet und vollendet.

Wie kann man die Angst vor dem Tod besiegen?

Dem Tod begegnen und Hoffnung finden

Die emotionale und spirituelle Begleitung Sterbender

Vorwort von Sogyal Rinpoche

Wir alle sind mit dem Tod konfrontiert – dem von Freunden und Angehörigen, aber auch mit dem eigenen Sterben. Doch wie kann man sich emotional darauf vorbereiten, wie mit diesem tabubeladenen Thema umgehen? Unter Einbeziehung tibetisch-buddhistischer Lehren zeigt Christine Longaker, Mitbegründerin eines Hospizes in Kalifornien, wie wir uns spirituell und emotional auf den Tod vorbereiten können.

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Das Geschäft mit dem Lebensende

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Patient ohne VerfügungPatient ohne Verfügung

Das Geschäft mit dem Lebensende

Ein Plädoyer gegen Übertherapie am Lebensende

In deutschen Kliniken wird operiert, katheterisiert, bestrahlt und beatmet, was die Gebührenordnung hergibt – ein durchaus rentables Geschäft. Dr. Matthias Thöns berichtet aus seiner jahrelangen Erfahrung von zahlreichen Fällen, in denen alte, schwer Kranke mit den Mitteln der Apparatemedizin behandelt werden, obwohl kein Therapieerfolg mehr zu erwarten ist.

Finanzieller Profit steht im Fokus des Interesses vieler Ärzte und Kliniken. Thöns' Appell lautet deshalb: Wir müssen in den Ausbau der Palliativmedizin investieren, anstatt das Leiden alter Menschen durch Übertherapie qualvoll zu verlängern.

„Dieses Buch ist überfällig! Unbedingt lesen!“Deutschlandfunk

Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Ehrlich gesagt – mit so viel strengem Gegenwind hatte ich nicht gerechnet, als „Patient ohne Verfügung“ im September 2016 erschienen ist. Viele Kollegen waren aufgebracht, vor allem in meiner Heimatstadt Witten. Ich wurde zu einem Krisengespräch in die örtliche Zeitungsredaktion zitiert – es waren mit die unangenehmsten 60 Minuten in meinem Leben. Das Buch diffamiere Ärzte, die Kritik sei zu pauschal, übertrieben, polemisch oder populistisch, hieß es. Der Ärzteschaft sei das Buch sauer aufgestoßen. Es entspreche nicht den Tatsachen, die Zahlen würden nicht stimmen. Unverhohlen wurde mir gar angedroht, die Zusammenarbeit mit dem Palliativnetz aufzukündigen, was sich leider in den folgenden Monaten bewahrheiten sollte: Die Zuweisungszahlen sterbenskranker, hilfsbedürftiger Menschen sanken um etwa 30 Prozent – lieber ließ man die Patienten ohne Palliativversorgung, als die Zusammenarbeit mit einem „Nestbeschmutzer“ fortzuführen, war mein Eindruck. Berechtigt wurde kritisiert, dass das Buch das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient empfindlich störe – eine Sorge, die ich teile und die mich so manche schlaflose Nacht gekostet hat.
Ich betone immer wieder, dass ich die dunkle Seite der Medizin beschreibe und mir bewusst ist, dass es genauso eine wunderbare Seite gibt. Die Erfolge und den Nutzen der modernen Krebs- und Intensivmedizin schätze ich sehr und kenne viele einwandfrei handelnde Pflegekräfte und Ärzte. Zudem ist mir bewusst, dass es jenseits finanzieller Anreize andere Gründe für Übertherapie gibt, aber die sind eben nicht so verwerflich und Experten zufolge nicht so häufig.
Auch privat ging es hoch her in den Wochen nach Erscheinen des Buches: Meine Freundin war hochschwanger. Kurzum, ich hatte viel Stress. Und wenn ich Stress habe, bekomme ich wie viele Menschen „Rücken“. Da hilft es mir akut auch nichts, dass ich mir immer sage: Thöns, das ist „nur psychosomatisch“. Deshalb war ich besonders froh über mein fantastisches Team, das hinter mir stand – und überglücklich über die Geburt meines Sohnes Noah im Januar 2017.
Wenn ich bei Lesungen von den Widrigkeiten erzähle, die mir nach Veröffentlichung des Buches entgegenschlugen, ernte ich viele Lacher, wenn ich aus der Geschichte zitierte: Schon bei den alten Griechen wurde der Überbringer schlechter Nachrichten bestraft, im Mittelalter wurde er geköpft, und bei Konfuzius heißt es: „Ein Mann, der die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd.“
Fast durchweg positiv war jedoch das Feedback, das ich von Kollegen, Freunden und insbesondere von Angehörigen sowie Patienten erhielt. Ich habe mittlerweile über 1000 Zuschriften bekommen, nur eine Handvoll waren kritischer Art und vertraten Standpunkte wie „mein Arzt ist toll“ oder „Ärzte stehen unter so starkem Druck“. Das bestreite ich natürlich nicht. Trotz der vielen gruseligen Berichte, die in meinem Postfach landen, bin ich fest davon überzeugt, dass die Mehrheit meiner Kollegen menschlich und richtig handelt. Auch die Presse hat fast durchgehend positiv reagiert.
Schon lange vor der Veröffentlichung von „Patient ohne Verfügung“ hatte ich mich bemüht, auf die im ersten Buchkapitel thematisierte Übertherapie an Intensivpatienten aufmerksam zu machen. Das Glück brachte mich zur ARD-Monitor-Redaktion. Reporter Jochen Tassler ging mit einer Kollegin, getarnt als angebliches Geschwisterpaar, zu verschiedenen Intensivdiensten. Dort erzählten sie vor versteckter Kamera die erfundene Geschichte ihres Vaters, nach Vorlage eines von mir präparierten Arztbriefes: Der Vater liege nach einer Hirnblutung seit Jahren im Wachkoma und solle nun verlegt werden, da es mit dem aktuellen Intensivdienst Probleme bezüglich seiner Patientenverfügung gebe. In dieser werde künstliche Beatmung abgelehnt. Das Reporterpaar scheute sich nicht, zu erwähnen, dass der Vater vor allem wegen seiner satten Rente weiter beatmet werden solle. Fünf von sechs Gesprächen verliefen erschreckend: Es wurde vorgeschlagen, die Patientenverfügung verschwinden zu lassen oder zu ändern. Auf den Einwand des angeblichen Sohnes, wie das gehen solle, wurde ihm entgegnet: „Kreuzen Sie es halt anders an.“ Eine Einrichtung prahlte sogar förmlich damit, Patientenverfügungen generell zu missachten. Anwalt Wolfgang Putz äußerte im Interview, das seien alles Straftaten: „Urkundenunterdrückung, Urkundenfälschung, Körperverletzung …“ Obgleich der Beitrag bereits im September 2016 ausgestrahlt wurde, interessiert sich bis heute kein deutscher Staatsanwalt für das Leiden dieser immer größer werdenden Patientengruppe – Sterbende haben keine Lobby.
Die Tragweite dieser Tatsache wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass nur jeder fünfte Arzt auf einer Intensivstation den Willen seines Patienten bezüglich der Therapie am Lebensende kennt.1 Bedenkt man, dass mittlerweile jeder vierte Deutsche auf einer Intensivstation stirbt und dass 70 Prozent dieser Patienten erst nach einer Entscheidung zur Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen sterben dürfen und können, wird einem bewusst, dass es sich hier um kein Randproblem handelt.2
Doch auch der Mehrheit der Überlebenden geht es alles andere als prächtig. „Chronisch kritisch krank“ heißt das sich seuchenartig ausbreitende Krankheitsbild, welches unsere Großeltern und ihre Vorfahren niemals erleben mussten. Nach nur zehn Tagen künstlicher Beatmung erleiden mindestens 70 Prozent der Patienten eine Muskel-Nerven-Krankheit, die zu extremer Schwäche, Atemversagen und Schluckstörungen führt.3 Noch ein Jahr nach der Beatmung leidet ein großer Teil der wenigen Überlebenden an geistigen Störungen, vergleichbar mit einer mittelschweren Demenz.4
Es gibt jedoch auch Nachrichten, die Hoffnung machen: Erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte hat kürzlich ein Oberlandesgericht einen Arzt wegen Übertherapie zu einem hohen Schmerzensgeld verurteilt.5 Anwalt Wolfgang Putz, der bereits mehrere Urteile für die Palliativversorgung vor dem Bundesgerichtshof erstritten hat, vertrat den klagenden Sohn. Ich durfte das Parteigutachten schreiben und habe die Akte gründlich studiert, musste schlimme Bilder sehen. Was war passiert?
Der 82-jährige Vater des Klägers stand wegen einer fortgeschrittenen Hirnabbauerkrankung bereits seit 1997 unter rechtlicher Betreuung. Kurze Zeit nach seinem Einzug in ein Pflegeheim 2006 wurde er in die Klinik eingewiesen. Ohne Rücksprache mit dem in den USA lebenden Sohn wurde wegen Zeichen einer Mangelernährung eine PEG-Magensonde angelegt. Der Mann konnte Stuhl und Harn nicht mehr kontrollieren, Sprechen war seit Monaten unmöglich. Sein diesbezüglicher Wille konnte angeblich nicht ermittelt werden, ein Berufsbetreuer traf fortan die Entscheidungen. Wegen fortschreitender Gelenkverbiegungen konnte er sich kaum mehr bewegen. 2008 wurden eine zunehmende Muskeleinsteifung und eine schmerzhafte Spastik an Armen und Beinen festgestellt, doch intensivmedizinische Maßnahmen verhinderten weiterhin zuverlässig den Tod. Wenn sein Zustand wieder richtig schlimm war, ging es in die Klinik. Als er 2011 aufgrund von Überernährung durch die Sonde zum wiederholten Male eine Lungenentzündung entwickelte, landete er in der Klinik. Dort starb er schließlich trotz umfangreicher Therapie. Der betreuende Arzt verordnete ihm zuvor nicht nur die künstliche Ernährung, er führte auch eine Krebsvorsorge durch, beauftragte vielfache Laborbestimmungen, gab bis in die letzten Lebenswochen Antibiotika und eine Grippeschutzimpfung und ließ die Atemwege des Patienten absaugen. Wirksame Schmerzmittel hingegen hat er nicht verordnet. Dieser traurige Verlauf ist leider kein Einzelfall. Wenn man Hirnerkrankte nur lange genug mit intensivmedizinischen Verfahren am Sterben hindert, ist regelhaft mit derartigen Leidenszuständen zu rechnen.
Schon zu Lebzeiten seines Vaters versuchte der Sohn, gegen die unwürdige Behandlung vorzugehen. Er beauftragte zahlreiche Anwälte, kam aber an dem Berufsbetreuer, der die Entscheidungen traf, nicht vorbei. Wegen nicht indizierter künstlicher Ernährung verklagte er schließlich den betreuenden Arzt. Die klugen Richter der zuständigen Medizinrechtskammer führten aus: „Die aus der schuldhaften Pflichtverletzung durch den Beklagten resultierende Leidensverlängerung des Patienten stellt einen ersatzfähigen Schaden dar … Denn die Zuführung von Nährstoffen über eine PEG-Sonde bei einem Patienten, der infolge schwerer irreversibler Hirnschäden auf natürlichem Wege trotz Hilfestellung keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann, ist gerade ein widernatürlicher Eingriff in den normalen Verlauf des Lebens, zu dem auch das Sterben gehört.“ Der Schmerzensgeldanspruch ging auf die Erben über. Anwalt Putz erläuterte in einem Interview die Tragweite der weisen Entscheidung: Ärzte, die zukünftig Leiden ohne medizinische Indikation oder gegen den Patientenwillen verlängern, haften gegenüber den Erben mit Schmerzensgeld und müssen Regresse der Krankenkassen fürchten. Dort, wo es Fehlentwicklungen gibt, hilft oft nur noch das Recht mit Sanktionen. Und genau das belegt eine noch druckfrische Studie: Gibt es bei Übertherapie Regresse, handeln Ärzte besser.6
Auch in der Krebsmedizin hat sich seit der Veröffentlichung von „Patient ohne Verfügung“ Erschreckendes getan. Für meine Kritik an manchen Krebstherapien wurde ich von Experten angegangen, ich sei „fachfremd“ und hätte keine Ahnung von den bahnbrechenden Erfolgen der neuen Krebstherapeutika. Nur jede vierte Substanz wird nach Studien zugelassen, die einen klaren Patientennutzen belegen, etwa eine höhere Lebenserwartung. Ansonsten erfolgen Zulassungen aufgrund von Nebenparametern wie Röntgenbildverbesserungen oder Laborwertänderungen, bei denen der Nutzen für den Patienten unklar ist. Ende letzten Jahres prüften Wissenschaftler des angesehenen King’s College London die hochgelobten neuen Substanzen.7 Die Ergebnisse lassen einen schaudern: Im Einzelnen wurden alle 68 neu zugelassenen Therapien geprüft, in 90 Prozent der Fälle war der Einsatz nur bei unheilbar Krebsbetroffenen mit dem Ziel minimaler Lebensverlängerung angedacht. Das sind die Menschen, die auch ich täglich betreue, und hier weiß man: Die große Mehrheit setzt vor allem auf Lebensqualität. Die Begründerin der modernen Palliativmedizin, die Ärztin Cicely Saunders, fasst es trefflich zusammen: „Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zuführen“ ist das Ziel. Doch die Lebensqualität wurde bei keiner (!) der neuen Krebsarzneien primär untersucht. Nur zwei der 68 geprüften Krebstherapien verbesserten Lebensqualität und Lebenszeit. Bei neun Behandlungen (13 Prozent) wurde von den Patienten eine Teilverbesserung der Lebensqualität angegeben, ohne dass dabei die Lebenszeit beeinflusst wurde. So ist etwa die Besserung von Atemnot, nicht aber von Schmerz Zulassungskriterium für ein Medikament. Solche Nebenkriterien sind statistischer Nonsens: Das ist vergleichbar mit einer ganzen Schulklasse, die versucht, eine Sechs zu würfeln. Irgendeinem Schüler wird das sicherlich gelingen – aber das heißt noch lange nicht, dass er besser würfelt als die anderen.
Auf Basis solcher Statistiken werden nebenwirkungsreiche Krebstherapeutika offensichtlich zugelassen. Selbst nach langer Beobachtungszeit von fast sechs Jahren ließ sich der Nutzen bei der Hälfte der durchgeführten Behandlungen überhaupt nicht belegen. Und die „wirksame Hälfte“ verlängerte die Lebenszeit der Patienten im Schnitt um weniger als drei Monate. Das heißt in den meisten Fällen: drei Monate länger leben bei Dauereinnahme grundsätzlich giftiger Arznei. Denn über Nebenwirkungen und Belastungen der Substanzen steht in der Studie nichts. Die Londoner Wissenschaftler stuften selber den Großteil dieser „Erfolge“ als für den Patienten irrelevant ein und schlussfolgerten: „Wenn teure Medikamente ohne klinisch sinnvolle Leistungen zugelassen und in Gesundheitssystemen bezahlt werden, können einzelne Patienten geschädigt, wichtige Ressourcen verschwendet und die Bereitstellung von gerechter und erschwinglicher Gesundheitsversorge untergraben werden.“
Eine meiner Patientinnen, eine junge Frau mit Brustkrebs, hat Avastin erhalten, eine der hier kritisierten hochpreisigen Behandlungsformen. Sie sagte in einem Interview mit dem ARD-Magazin „Monitor“: „Also wenn mir jetzt jemand sagen würde: ›Mit Chemo leben Sie noch zwei Jahre und ohne nur eins‹, dann würde ich mir noch ein schönes Jahr machen.“ In dem Fernsehbericht werden die Ergebnisse von angesehenen Experten wie auch von der europäischen Zulassungsbehörde bestätigt.8 Diese bahnbrechende Studie aus England wird im Deutschen Ärzteblatt bis heute nicht erwähnt. Dagegen berichtete es umfangreich von einem durch die Pharmaindustrie finanzierten Kongress für eine vereinfachte Zulassung von Krebsmedikamenten mit einem umstrittenen Zulassungskriterium. Zur Nichtberücksichtigung der kritischen Studie, die sogar die Tagesschau und Monitor aufgriffen, wurde vonseiten des Ärzteblatts erläutert, dass es bei weltweit über 6000 Studien jährlich nicht möglich sei, über jede einzelne zu berichten.
Was mich aber wirklich zur Weißglut bringt, ist, dass diese Medikamente bis heute weiter verordnet und auch erstattet werden. Drei der Krebstherapeutika gehören zu den umsatzstärksten Arzneimitteln in Deutschland. Die Techniker Krankenkasse hat die Kosten hochgerechnet: Wir geben etwa jeden fünften Euro in der Krebsbehandlung für diese Medikamente aus. Ein Milliardengeschäft mit unbelegter Hoffnung.
Dagegen wird bei Krebspatienten die lebensverlängernde und lebensverbessernde Palliativversorgung kaum eingesetzt. Jeder Betroffene müsste sie bei der Diagnose „unheilbar“ automatisch erhalten, so wird es schon seit Jahren international gefordert. Jetzt hat die Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die Deutschlands bekannteste und aktivste Palliativabteilung betreibt, die Daten der dort behandelten Krebsbetroffenen veröffentlicht, die innerhalb eines Jahres verstarben. Fast alle von ihnen hätten eine Palliativversorgung erhalten müssen. Tatsächlich war das aber nur bei 1,9 Prozent über zumindest drei Wochen der Fall.9 Die Studie wurde in einer relativ unbekannten amerikanischen Krebszeitschrift veröffentlicht, in Deutschland wurde sie nicht wirklich diskutiert – und, Sie ahnen es schon: Auch das Deutsche Ärzteblatt berichtete nicht. Ob es daran liegt, dass das Magazin wesentlich von Anzeigen der Pharmaindustrie finanziert wird?
Gefreut habe ich mich über viele positive Reaktionen und kleine Schritte in die richtige Richtung. „Patient ohne Verfügung“ hat es nicht nur in die Top 5 der Spiegel-Bestsellerliste geschafft, auch Platz 1 bei den Social-Media-Trendcharts10 und Leserliebling bei Bild der Wissenschaft sind eine wunderbare Anerkennung für dieses wichtige Thema.11 Selbst die Comedy-Szene griff das Thema auf, das ZDF-Late-Night-Format Mann, Sieber! brachte nach Lektüre den Sketch „Wer kriegt die Oma?“. Besser kann man die Aussagen des Buches nicht zusammenfassen, vier lohnenswerte Fernsehminuten. Die international wichtigste Medizinzeitschrift The Lancet widmete der Problematik ein ganzes Heft und fasst zusammen: „Der wichtigste Faktor gegen Übertherapie ist, die Gier der Medizinindustrie durch strukturierte Gebührenordnungen zu begrenzen.“ Der Vorsitzende des Sachverständigenrats von Bundestag und Bundesrat, Hausarzt Prof. Gerlach, mahnt entsprechend an, es gebe falsche Anreizmodelle für Ärzte, zu viele Krankenhäuser und viel zu viele unnötige Leistungen. Auch der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, fasst die Situation treffend zusammen: „Die Verwandlung der Krankenhäuser in betriebswirtschaftliche Unternehmen ist eine Fehlentwicklung historischen Ausmaßes … Nicht mehr der kranke Mensch steht heute im Mittelpunkt ärztlichen und pflegerischen Handelns, sondern die Anzahl und der Fallwert seiner Diagnosen und ärztlichen Eingriffe.“
Anfang 2017 wurde ich sogar zum damaligen Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nach Bonn geladen. Bei Kaffee und Gebäck durfte ich über die Probleme berichten, es wurde zwar Interesse bekundet und die Prüfung insbesondere der bereits heute verbotenen Bonusregelungen in Chefarztverträgen12 zugesagt – Taten folgten allerdings nicht. Wozu diese fragwürdigen Zielvereinbarungen führen, brachten die beiden Bremer Versorgungsforscher Prof. Wehkamp und Prof. Nägler nach einer Umfrage ans Tageslicht: Da gaben anonym befragte leitende Ärzte mehrheitlich zu, aufgrund von Geldanreizen würden Herzkatheter eingesetzt und weitere kostenintensive Operationen durchgeführt, die nicht medizinisch notwendig seien. Die Beatmungsdauer werde häufig durch die Vergütung bestimmt. Diese Eingriffe sind alles andere als Kavaliersdelikte, Juristen nennen sie Betrug, Körperverletzung oder gar fahrlässige Tötung. Die befragten Ärzte betonten mehrfach, dass es „so etwas“ ja gar nicht geben dürfe, dass es ein „heißes Eisen“ sei, über das nicht offen gesprochen werde, dass sich das unbedingt ändern müsse. 85 Prozent der befragten Geschäftsführer gaben zu, dass es in ihren Kliniken weiterhin die verbotenen Bonusverträge gebe. Wirklich traurig macht mich eine Aussage, die die ganze Perversion des Systems zusammenfasst: Ein Arzt gab an, in seiner Klinik würden Kaiserschnittentbindungen vorgezogen, wenn Betten auf der Frühchenstation leer stünden. Das bedeutet: Man riskiert durch eine per Kaiserschnitt erzeugte Frühgeburt die Gesundheit des Kindes – weil mit der Versorgung Frühgeborener extrem viel Geld zu verdienen ist. Das verschlägt selbst mir die Sprache.
Fälle wie dieser zeigen, warum es so wichtig ist, nicht tatenlos zuzusehen und sich weiter mit dem Thema Übertherapie zu befassen und dazu aufzuklären. Trotz erdrückender Belege erscheint es für viele Entscheidungsträger – etwa die Krankenkasse Knappschaft13 – nach wie vor „fraglich, ob die geschilderten Fehlanreize im stationären Sektor tatsächlich flächendeckend bestehen“. Offensichtlich hat man dort das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen nicht gelesen. Dort heißt es „Übertherapie ist das zentrale medizinische und ökonomische Problem“.
Erst wenn eine entsprechende Öffentlichkeit für das Thema vorhanden ist, werden Ärzteschaft, Krankenkassen und Politik wirklich regulierend eingreifen. Und deshalb möchte ich Sie, also (mögliche) Patienten und Angehörige, ermutigen, Diagnosen auch kritisch zu hinterfragen, im Zweifelsfall eine unabhängige Zweitmeinung einzuholen und vor allem an Ihre Vorsorgeplanung zu denken. Ein wichtiger Schritt hierzu kann die Patientenverfügung im Anhang dieses Buches bieten.
Witten, im August 2018


Einleitung
Als junger Medizinstudent war ich begeistert von der Idee, Menschen das Leben zu retten, also war Notarzt mein Traumberuf. Für diesen Weg ist eine Ausbildung zum Anästhesisten von Vorteil, denn in kaum einem anderen Fachgebiet erlernt man das Handwerkszeug zur Lebensrettung so umfangreich. Während meiner ersten Stelle in der Anästhesie war ich einem sehr menschlichen Chefarzt unterstellt, er verstand sich als Anwalt des Patienten. So weigerte er sich beispielsweise, an riskanten Operationen mitzuwirken, wenn er keine Aussicht auf Besserung mehr sah. Er stärkte damit uns Berufsanfängern das Selbstbewusstsein so manchem Chirurgen gegenüber, der die Grenzen seines Könnens und die Gesetze der menschlichen Natur nicht so richtig einzuschätzen vermochte.
Die nächste Stelle im Rahmen meiner Weiterbildung führte mich an eine „Klinik der Maximalversorgung“. Mein Chef dort hatte das junge Fachgebiet der Schmerztherapie in Deutschland etabliert und die Tumorschmerztherapie entscheidend geprägt. Liebevoll nannten wir ihn „godfather of pain therapy“. Allerdings wurde ich in dieser Klinik auch Zeuge unendlich aufwendiger Operationen an teils schwerstkranken alten Menschen. Die auf den Eingriff folgenden langwierigen Intensivbehandlungen erschienen mir nicht selten unangemessen. So oft bestand im Grunde keine Hoffnung mehr auf Heilung, und die endlos anmutende Intensivtherapie war von viel Leid geprägt: Nicht heilende, übel riechende Wunden, Platzbäuche, Verwirrtheitsdelirien, Fixierungen, leidverzerrte Gesichter, dazu die Verzweiflung der Angehörigen und letztlich doch der Tod.
Ein solches Verständnis von Medizin belastete mich zunehmend. Konnte ich als Arzt verantworten, dass Menschen einer riskanten Operation ausgesetzt wurden, um dann während der verbleibenden kurzen Lebenszeit an den Folgen zu leiden? Es schien mir also nur konsequent, dem fremdbestimmten Klinikbetrieb den Rücken zu kehren und selbst eine Praxis zu übernehmen, wozu ich mich vor 18 Jahren entschied. Endlich konnte ich meinen Beruf nach meiner Überzeugung ausüben. Kurz nach der Niederlassung wurde ich zu einem Notfall in das Hospiz in Bochum gerufen. Dem Patienten, der sich vor Schmerzen krümmte, konnte ich mit einer Infusion rasch helfen, doch der Besuch in dieser Einrichtung beschäftigte mich noch lange. Die Atmosphäre dort, die Herzlichkeit der Schwestern und der Blick auf den ganzen Menschen mit seinen Beschwerden und Wünschen beeindruckten mich nachhaltig. Bald schon war ich einer von vier Hospizärzten dort und lernte viel, vor allem von den Schwestern. So begann ich verstärkt, sterbende Menschen auch zu Hause zu begleiten, und wurde dabei zunehmend von Kollegen, Ehrenamtlichen und engagiertem Pflegepersonal unterstützt. Gemeinsam gründeten wir Palliativnetze in Bochum und Witten.1 In meiner täglichen Arbeit wurde mir klar, wie individuell die letzte Lebensphase ist, wie unterschiedlich die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen sind. Der eine starb ruhig im Gebet unter zärtlichen Berührungen seiner Frau, der andere kämpfte mit aller Kraft gegen den Tod und wurde dabei vom lauten Schluchzen seiner Liebsten begleitet. Es galt zu akzeptieren, dass nicht ich als Arzt, sondern der Patient und sein Umfeld über diesen letzten Weg bestimmen.

Viele Kollegen sehen das leider anders, wie der Fall von Gerhard zeigt, zu dem ich im Frühjahr 2008 gerufen wurde. Der einstige Klempner, fast 80 Jahre alt, liebte Angelteiche und endlose Wanderungen in der Natur. Irgendwann bemerkte eine seiner Töchter, dass er die Angel nicht mehr richtig halten konnte. Ein erfahrener Nervenarzt stellte die niederschmetternde Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz: ALS , sowie eine mittelgradig ausgeprägte Demenz . Die Beweglichkeit des Patienten nahm ab, immer wieder kam es zu Atemwegsinfektionen mit akuten Erstickungsanfällen.
Meist lehnte Gerhard jede Zuwendung ab, spuckte die ihm verabreichten Medikamente so gut er konnte wieder aus und schlug um sich. Manchmal lag er auch nur hilflos-apathisch in seinem Bett. Er wurde inkontinent. Bald konnte man ihn nicht mehr allein lassen. Er fing an zu schreien, wollte nicht mehr essen und trinken und wurde schwächer und schwächer. Gerhard hatte genug von seinem Dasein auf Erden. Der Neurologe empfahl dringend die Anlage einer PEG-Sonde , anderenfalls würde er verhungern. Die Ehefrau stimmte dem ärztlichen Rat zu, denn der Neurologe sagte ja, die Magensonde sei alternativlos.
Als die Sonde angelegt war, versuchte Gerhard immer wieder, sich den Schlauch aus dem Bauch zu ziehen. Daraufhin wurden seine Arme am Bettgitter fixiert, wenig später waren sie wegen der unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung ohnehin kaum mehr beweglich. Mit abnehmender Muskelkraft wurde auch die Atmung schwächer. Eines Tages fand ihn die Ehefrau, nennen wir sie Gisela, blitzeblau und nur noch ruckartig atmend in seinem Bett. Der Notarzt wurde alarmiert. Als das Rettungsteam wenig später eintraf, hatte Gerhards Herz bereits seit einigen Minuten aufgehört zu schlagen. Man kann sagen: Der Mann war klinisch tot. Das kam letztlich einer Gnade gleich.
Doch die Rettungsmannschaft begann mit der Wiederbelebung, der Notarzt legte einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre, Elektroschocks brachten das Herz wieder zum Schlagen. Rasch war eine Infusion gelegt, kreislaufstützende Medikamente wurden verabreicht.
Also musste er weiterleben. Doch trotz umfangreicher Intensivtherapie in der Klinik gelang es nicht, Gerhard von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen. Er wachte einfach nicht mehr auf. Zu lange hatte sein Hirn nach dem Herzstillstand keinen Sauerstoff mehr bekommen. Nach gut zwei Monaten Intensivabteilung ging es mit apparativer Beatmung und Notarztwagen wieder zurück nach Hause.
Fortan saß ein Pflegeteam rund um die Uhr an Gerhards Bett. Das Wohnzimmer glich einer Intensiveinheit: Überall Infusionsständer, Beatmungsgeräte, Sauerstoffflaschen, piepsende Monitore, schlürfende Absauggeräte und die vibrierende Spezialmatratze.
So lag Gerhard über ein Jahr lang zu Hause, viele Male unterbrochen von Noteinweisungen ins Krankenhaus. Diese waren immer wieder nötig, wenn es zu Erstickungsanfällen kam, weil der Beatmungsschlauch durch Schleim verstopft war. Solche äußerst leidvollen Zustände treten bei dauerbeatmeten Patienten nicht nur regelmäßig auf, sie gelten auch als deren häufigste Todesursache: Tod durch qualvolles Ersticken. Auch wurden in der Klinik immer wieder Lungen- oder Nierenbeckenentzündungen bekämpft.
Ab und an nahm Gerhards Gesicht Züge einer schmerzverzerrten Grimasse an, ansonsten konnte er praktisch keinen Muskel mehr bewegen.
Durch einen Bericht in der Zeitung wurde Gisela auf die Möglichkeiten einer palliativmedizinischen Versorgung zu Hause aufmerksam. Also trafen wir uns und führten lange Gespräche. Über die noch verbleibenden Therapieziele waren wir uns rasch einig, und vor allem darüber, dass eine Fortführung der künstlichen Beatmung Gerhards Vorstellungen von einer menschenwürdigen Existenz grundlegend widerspräche. Und dennoch, letztendlich über die Einstellung der Beatmung, das Ziehen des Schlauches entscheiden, das wollte Gisela nicht. Ihre Angst war zu groß. Wie oft hatte man ihr im Krankenhaus gesagt: „So etwas darf kein Arzt, das ist Mord!“ Immerhin konnten wir uns auf eine Therapiebegrenzung einigen. Künftig kein Krankenhaus mehr und keine Antibiotika bei einer lebensbedrohlichen, Erlösung verheißenden Infektion. Nicht ohne Grund wird die Lungenentzündung als „Freund des alten Mannes“ bezeichnet – der Tod findet zumeist leidlos im Koma statt.
Wenige Tage nach der Übereinkunft, es war ein Samstagvormittag, wurde ich zu Gerhard gerufen. Das Beatmungsgerät gebe Druckalarm, auch mit dem Pulsmonitor stimme etwas nicht. Das Bild, das sich bei meinem Eintreffen bot, werde ich niemals vergessen. Gerhard war bereits am Vortag gestorben, die Leichenstarre war vollständig ausgeprägt. Totenflecken am Körper bis zur mittleren Flanke. Niemand hatte seinen Tod bemerkt. Irgendetwas bewegte sich doch noch. Das Beatmungsgerät kämpfte gegen die Leichenstarre an und signalisierte Alarm, weil der Druck in der Lunge zu hoch war. Niemand hatte den bis ultimo verzögerten Tod bemerkt.
Der Intensivpflegedienst konnte der Krankenkasse dann auch noch diesen Tag mit rund 800 Euro in Rechnung stellen. Sinnlose, aber gut bezahlte Übertherapie; Rückfragen der Krankenkasse: keine.
Ein Extremfall, gewiss. Aber vergleichbare Fälle ereignen sich Tag für Tag in Deutschland. Die Übertherapie, das Geschäft mit der systematischen Missachtung des Patientenwillens, mit dem bis ultimo hinausgezögerten Sterben floriert. Der prominente Palliativmediziner Prof. Gian Domenico Borasio schreibt: „Bis zur Hälfte aller Sterbenskranken erhalten Behandlungen wie zum Beispiel Chemotherapie, Bestrahlung, künstliche Ernährung oder Antibiotika, die ihnen nichts bringen.“2 Es wird also, denke ich, Zeit, die systematischen Missstände detailliert, freimütig und ohne Angst vor der erwartbaren Kollegenschelte zu benennen und in all ihren oft grausigen Konsequenzen aufzuzeigen. Darum habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, dieses Buch vorzulegen.

Aufgabe der Medizin ist es, menschliches Leiden zu heilen oder zumindest zu lindern. Dieses Ziel wird ausgerechnet in der schwierigsten Phase des Lebens durch den Einsatz teurer Hightechtherapien oft komplett ins Gegenteil verkehrt. Statt Menschen am Lebensende so viel Lebensqualität wie möglich zu schenken, quält die moderne Medizin sie teilweise sogar gegen ihren Willen mit sündhaft teuren, oft überflüssigen und äußerst belastenden Therapien.
Der Fehler steckt dabei in unserem Gesundheitssystem, das Fehlanreize schafft, um Apparatemedizin anzuwenden, immer neue Chemotherapien einzusetzen und große Eingriffe durchzuführen. Es liegt in der Logik des Systems, wenn Ärzte und die unter hohem Kostendruck arbeitenden Kliniken und Pflegedienste diese Rahmenbedingungen gezielt ausschöpfen. Übertherapie wird hierzulande honoriert und Leidensminderung bestraft – zumindest finanziell. Unser Gesundheitssystem ist krank.
Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag dazu leisten, unseren Blick wieder stärker auf den kranken Menschen zu richten: auf seine wahren Bedürfnisse und auf das medizinisch Sinnvolle. Es soll aufrütteln und den Blick schärfen für die Paradoxien eines Gesundheitssystems, das darauf ausgerichtet ist, menschliches Leben „um jeden Preis“ zu verlängern, und dabei viel Leid in Kauf nimmt. Anhand vieler Beispiele aus meiner Praxis als Palliativarzt will ich aufzeigen, wie wir es besser machen können. Dieses Buch richtet sich an Patienten, Angehörige und Mediziner, aber ebenso an wache Bürger, Politiker und insbesondere Juristen. Den Patienten will ich Mut machen, ihren Willen klar zum Ausdruck zu bringen und durchzusetzen. Denn es ist ihr Recht, selbst zu bestimmen, ob, wie und mit welchem Ziel sie medizinisch behandelt werden. Und meinen Arztkollegen soll es als Anstoß dienen, ihr Handeln kritisch zu überdenken, ihren Patienten zuzuhören und dabei nicht auf die Gebührenordnung zu schielen. Anhand von mir begleiteter Schicksale schildere ich die Probleme am Lebensende bei Patienten mit schwersten Hirnschäden nach Krankheit oder Unfall, bei Krebs, aber auch bei Lungen-, Herz- oder Nierenversagen.
Als Palliativmediziner begleite ich zusammen mit meinem Team jährlich 400 Menschen bis zu ihrem Tod. Meine Aufgabe ist es, ihre Schmerzen und Beschwerden in hoffnungslosen Situationen so weit wie möglich zu lindern und ein Sterben in vertrauter Umgebung zu Hause zu ermöglichen. In ihrer Gesellschaft erlebe ich nicht nur viel Tragisches, sondern auch viele berührende und tröstende Momente, in denen es Menschen vergönnt ist, eine friedliche und schöne letzte Lebensphase zu verbringen. Meine Patienten sind meine Lehrmeister. Sie lehren mich, mit den Mitteln der modernen Medizin verantwortungsvoll umzugehen und Demut zu üben gegenüber dem, was unser Menschsein ausmacht: ein selbstbestimmtes und gutes Leben – bis in den Tod.
Leider ist dieser selbstbestimmte Tod in vertrauter Umgebung zu Hause viel zu wenigen Sterbenden vergönnt, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 belegt. Darin wurden die Daten von über 900 000 Verstorbenen ausgewertet. Die Ergebnisse sprechen für sich: Jeder zweite Deutsche stirbt im Krankenhaus. Befragt nach dem gewünschten Sterbeort haben aber nur drei Prozent aller Befragten angegeben, dass sie ihre letzte Lebensphase tatsächlich in die Klinik verlegen wollen.

Schuld an dieser Diskrepanz sind die Zustände in allzu vielen deutschen Kliniken, wo operiert, katheterisiert, infundiert, bestrahlt, geröntgt und beatmet wird, was die Gebührenordnung für Ärzte an Heilbehandlungspositionen hergibt.
Deutschland ist Weltmeister, was die Anzahl an Intensivbetten angeht. Während hierzulande 34 Betten pro 100 000 Einwohner belegt werden wollen, sind es in Portugal gerade einmal vier. Für Unfallopfer nach Katastrophen mit vielen Schwerstbetroffenen, so suggeriert diese Zahl, ist Deutschland gut gerüstet. Doch obwohl Katastrophen selten sind, reicht die Bettenzahl für die deutsche Bevölkerung lange nicht aus. Denn immer kränkere und ältere Menschen werden mit immer ausgefeilterer technischer Spitzenmedizin ohne Mitspracherecht und leidend am Sterben gehindert. Und wird das Intensivbett für einen neuen Patienten gebraucht – kein Problem: Man verlegt die Intensiveinheit einfach ins heimische Wohnzimmer oder neuerdings in sogenannte „Beatmungs-WGs“. Acht und mehr Sterbenskranke werden dort rund um die Uhr maximaltherapiert, damit auch im nächsten Monat die 22 000 Euro für die weitere Behandlung fließen. Die Rate heimbeatmeter Patienten hat sich in den letzten zehn Jahren verdreißigfacht.3 Die Erklärung der zuständigen Fachgesellschaft: „der demografische Wandel“ – wir sollen also 30-mal älter und kränker geworden sein. Ich frage mich ja eher, ob heute nicht 30-mal ältere und kränkere Menschen, die früher friedlich gestorben wären, in diesen Betten liegen.
Während Übertherapie friedvolles Sterben hinauszuzögern vermag, führt sie jedoch in vielen anderen Fällen sogar zu einem vorzeitigen Ableben. Denn das Zuviel an Medizin ist keinesfalls gesund. Sowohl in der Notfallmedizin wie auch in der Intensivmedizin ist bekannt: Je mehr Prozeduren bei einem Schwerstkranken durchgeführt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen letalen Ausgang der Krankheit.4 Und eine weithin beachtete Untersuchung ergab: In Gegenden mit höherer Behandlungskapazität wurden mehr Untersuchungen veranlasst, es erfolgten häufiger kleinere Eingriffe, und die Patienten wurden öfter im Krankenhaus behandelt – vor allem mit Intensivtherapie. Und dies alles führte dazu, dass die Patienten früher starben. Nicht selten quält und tötet Übertherapie.5
Fatale ökonomische Anreize führen zu einer qualvollen Fehlversorgung. Dagegen sollten verantwortungsvolle Mitglieder unseres Standes protestieren. Deshalb plädiere ich nicht nur für eine Kurskorrektur bei Kollegen, Kostenträgern und Politikern, sondern erbitte auch die Unterstützung der Leser. Reden Sie mit Ihrer Familie, mit Freunden und Bekannten. Holen Sie sich bei großen bzw. kritischen Eingriffen oder kostspieligen Therapieverfahren stets eine Zweitmeinung! Üben Sie sich in Renitenz gegenüber dem bestehenden System! Denn auch Sie könnten eines Tages Opfer einer dramatischen Fehlentwicklung sein und in dem Intensivbett liegen, an dem sich die folgende Geschichte ereignete, die mir kürzlich zugetragen wurde.
Der Oberarzt steht mit einem Assistenzarzt am Bett eines greisen Mannes. Seine Atmung rasselt, der Puls ist schwach, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Ganz offensichtlich liegt er im Sterben. Ohne den Sterbenden anzusprechen, wendet sich der Oberarzt an seinen Assistenten und sagt: „Hätten wir den doch gestern an die Beatmungsmaschine gehängt, wir hätten den Fall viel besser abrechnen können.“ Lachend verlassen sie das Krankenzimmer.


1 Lungenversagen: Der letzte Atemzug ist kein Grund zu sterben

Der Fall von Monika
Sie war zeitlebens eine leidenschaftliche Skifahrerin. Auch kurz vor Weihnachten 2008 machte sich die 67-jährige Speditionskauffrau Monika H. auf in die österreichischen Alpen. Endlich wieder Pulverschnee, Bergluft und Hüttenzauber! Sie fühlte sich fit und wurde leichtsinnig. Als sie sich ohne Helm auf die Piste wagte, stürzte sie und brach sich am Freitag, den 11. Dezember, die beiden ersten Halswirbel. Herzstillstand. Ersthelfern glückte die Reanimation. Ein Rettungshubschrauber brachte Monika ins Universitätsspital nach Innsbruck. Dort wurden die Knochenbrüche notfallmäßig stabilisiert, doch die inkomplette Querschnittslähmung war irreversibel – und die Atemlähmung nicht mehr zu beheben. Der lange Sauerstoffmangel am Unfallort hatte zu schwersten Hirnschäden geführt. Die verheiratete Frau litt unter epileptischen Anfällen und lag apathisch im Wachkoma. Ihre Augen waren leblos und konnten dem Geschehen im Krankenzimmer nicht folgen. Die einschlägigen Untersuchungen bestätigten den hoffnungslosen Zustand. Einzig der Piekser mit einer spitzen Nadel provozierte noch einen schwachen Reflex der Gesichtsmuskulatur. Eine schmerzverzerrte Grimasse war das letzte Relikt der einstigen Vitalität.
Monika war, wenn sie nicht gerade auf den Brettern stand, eine umsichtige Frau. Im Haus ihres Sohns ist eine Patientenverfügung hinterlegt. Darin ist unter anderem festgelegt, dass sie darauf bestehe, in Würde sterben zu dürfen, „wenn ich mich in einem permanenten vegetativen Status befinde und diese Diagnose von einem besonders erfahrenen Neurologen bestätigt worden ist“. In einem solchen Stadium wolle sie „ausschließlich nach palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Regeln behandelt werden“. Am Ende des Dokuments, das bekanntlich rechtsverbindlichen Charakter hat, steht ein klares, eindeutiges Diktum: „Ich untersage ausdrücklich alle therapeutischen Maßnahmen, die ausschließlich der künstlichen Verlängerung meines Lebens dienen.“ Die Verfügung hat ihr keinen Deut genutzt. Monika musste um jeden Preis weiterleben. Und Krankenhäuser, Pflegedienste, Ärzte und Apotheken verdienten an der Wehrlosen jedes Jahr sechsstellige Eurosummen.
Ihr trostloser Zustand wurde verlängert durch Operationen, Bestrahlungen von Gelenkfehlstellungen, Katheterisierungen, einen Luftröhrenschnitt, durch Magensonden-Ernährung, Antibiotikainfusionen und Dauerbeatmung. Nach drei Monaten intensivmedizinischer Behandlung wurde ihr Zustand schlechter und schlechter. Das Herz versagte. Sie wurde wiederbelebt. Fortan hielt ein Schrittmacher mit 70 Elektroimpulsen pro Minute das Herz am Schlagen. Dafür begannen, da der Mund kein Essen mehr aufnehmen konnte, die Zähne zu verfaulen. Sie wurden operativ entfernt. Und die Gelenke mussten gegen schmerzhaften Widerstand durchbewegt werden, was zu Blutungen führte. Der Physiotherapeut machte aus den engen Grenzen seiner Bemühungen keinen Hehl: „Bei fehlender Kontaktmöglichkeit beschränkten sich die Maßnahmen auf den Erhalt der Gelenkbeweglichkeit.“ Dass sich Monika nie wieder eigenständig würde bewegen können, schien dabei keinen zu interessieren.
Nach vier Monaten Intensivtherapie erfolgte eine Verlegung nach Hause. „Bei der abschließenden klinischen Untersuchung“, heißt es im Entlassungsbericht, „war die Patientin wach, nicht ansprechbar, zeigte aber keinerlei Blickzuwendungen. Insgesamt ist keine Kontaktaufnahme möglich.“ Berge von Medikamenten wurden verschrieben, ein Katalogsortiment von Hilfsmitteln verordnet: vom Beatmungsgerät bis zum Duschsystem mit Zubehör, vom Multifunktionsstuhl bis zum elektrisch-mobilen Lifter nebst Tragetuch. Mit den Angehörigen wurde, wie der Bericht bar jeder Gefühlsregung vermerkt, „eine psychologisch-psychotherapeutische Begleitung durchgeführt.“ Eine Abrechnungsziffer eben, mehr nicht.
Jetzt also galt es, Monika rund um die Uhr im heimischen Umfeld zu pflegen. Der Entlassungsbrief hatte für die Patientin, bei der keine Aussicht auf Gesundung bestand, eine Vielzahl von Therapien empfohlen. Vom Patientenwillen aber war nicht die Rede. Die Medikation galt nur dem einen Ziel: Herz und Kreislauf zu stützen. Die PEG-Sonde wurde regelmäßig getauscht, eine Rollerpumpe sorgte für dauerhafte Zwangsernährung. Schmerzlindernde Mittel dagegen waren im Behandlungsplan nicht vorgesehen. Der Zustand der Patientin verschlechterte sich bald weiter. Am 6. April 2009 attestierte der Bericht des Hausarztes „neurogene Harnblasen- und Mastdarm-Entleerungsstörungen“ und ein „cerebrales Krampfleiden mit generalisierten Krampfpotentialen“. Das bedeutet: Die Patientin krümmt sich in schmerzhafter Spastik. Die Mimik ist verspannt. Die Blaseninfektionen häufen sich.
Lungenentzündungen, die ihr einen gnädigen Tod hätten bescheren können, wurden mit Antibiotika niedergekämpft. Die Frau, die sich nicht mehr artikulieren konnte, wurde von Schmerzen gepeinigt: Wegen des monotonen Liegens auf dem Rücken hatten sich bis hinauf zum Schädelknochen tiefe Druckgeschwüre auf der Haut gebildet. Auch das Steißbein war offen, teils machte sich von dort Verwesungsgeruch breit.
Hat Monika jemals so leben wollen? Der Sohn hat den Ärzten einmal erzählt, die Mutter habe die lange Sterbephase einer Bekannten, die an Krebs litt, miterlebt und daraus in ihrer lebensfrohen Art den Schluss gezogen: „Mädels – lasst mich sterben, wenn ich nicht mehr alleine zum Töpfchen komme.“ Von der Patientenverfügung einmal ganz zu schweigen. All das hat niemanden interessiert.
Monika blieb ein friedliches Ende verwehrt. Warum hatte niemand Erbarmen? Ich fürchte, die Antwort ist einfach: Weil sie monatlich rund 22 000 Euro allein an Pflegekosten generierte, zuzüglich ärztlicher Behandlungskosten.
Brutal gesagt: Sie war eine Kuh in melkfähigem Zustand und ergo mit lukrativer Übertherapie am Leben zu halten. Neben dem Hausarzt und dem sogenannten Heimbeatmungs-Pflegedienst liquidierten Urologen, Hilfsmittellieferanten, Ernährungsmanager, Intensivmediziner und Hirnspezialisten. Und wenn die Beatmungsprobleme, Erstickungsanfälle, die Blasen- und Augeninfekte oder die Zahnfäule einmal mehr akut wurden, wartete das Klinikum schon mit offenen Armen. Der Rettungsdienst lieferte die „cash cow“ frei Haus. Es folgten zumeist lange stationäre Intensivbehandlungen, bei denen es immer wieder zu Infektionen durch Problemkeime kam.
So vergingen die Sommer und Winter. Die Hoffnung auf Besserung schwand auch beim Ehemann und bei den Kindern. Im Juni 2015 – da lag Monika bereits 6 ½ Jahre unverändert im Wachkoma, und dies bei inkompletter Querschnittslähmung – wurde ich nach einem Nierenversagen palliativ zurate gezogen. Am Vortag seien umfangreiche intensivmedizinische Maßnahmen erfolgt, gleichwohl sei der Gesundheitszustand fortbestehend ernst. Ob ich nicht helfen könne? Ich schaute mir erst die Patientin, dann die dicke Krankenakte an – und wurde grün vor Wut. Hier wurde eine schwerstbehinderte Frau entwürdigt, der Geist ihrer Patientenverfügung verspottet. Das erfüllte, juristisch besehen, den Tatbestand der schweren Körperverletzung, der sich all jene schuldig machen, die – wider den Geist einer hinterlegten Patientenverfügung – das Leiden einer unheilbar Kranken künstlich verlängern. Monikas Leben bestand nur noch aus Absaugen, Spastik, Grimassieren. Zu kurieren gab es schon lange nichts mehr.

Die Frage nach dem Therapieziel
Wesentlicher Bestandteil einer jeden medizinischen Behandlung muss laut ärztlicher Ethik ein klar formuliertes Therapieziel sein.1 Bei Monika war dies schon seit einem halben Jahrzehnt nicht mehr erkennbar. Die Ärzte aber „therapierten“ unverdrossen weiter. Und den Angehörigen wurde suggeriert, dass dies ein Akt tätiger Nächstenliebe sei. Sie sind – wie leider so viele – dem Schwindel aufgesessen. Ein mitfühlender Vertretungsarzt, Dr. F., trifft Monika in desaströsem Zustand an, sie leidet unter Schnappatmung. Er notiert am 11. Mai 2009: „Langes Gespräch mit der Familie. Der Sohn ist Bevollmächtigter. Der Ehemann möchte Krankenhauseinweisung: ›Kann nicht zusehen und sie sterben lassen.‹ Nicht meine Meinung, aber auch der Sohn entscheidet so. Feuerwehr und Notarzt informiert.“ Das minuziös dokumentierte Martyrium ging also weiter.
Mein Palliativteam und ich empfahlen, da die Sterbephase, objektiv besehen, bereits vor Jahren begonnen hatte, die schon lange nicht mehr zielführende und gegen den erklärten Willen der Patientin erfolgte künstliche Beatmung augenblicklich einzustellen. Wir haben versucht, mit den Angehörigen Klartext zu sprechen: „Ein Beenden der nicht indizierten Maßnahmen wird nur unter Narkose gehen.“ Für diesen – ethisch wie juristisch gebotenen – Schritt hätte allerdings ein Einvernehmen innerhalb der Familie erzielt werden müssen. Dem hatte der Pflegedienst entgegengewirkt und dem Ehemann wie auch dem Sohn ein schlechtes Gewissen eingeredet. Auch das hat leider Methode, denn sonst könnte man ja einen guten Kunden verlieren. Mein Palliativteam und ich konnten – es fällt mir schwer, das niederzuschreiben – nichts für die Patientin tun. Monika wird wohl bis heute am Sterben gehindert – eine Aussicht auf Besserung ihres mit Gewissheit von starken Schmerzen begleiteten Zustandes besteht nicht.
Ein Einzelfall? Keineswegs. Der Fall Monika ist nur einer von Abertausenden – und die Übertherapie ist, wie es scheint, zu einer ans Kriminelle grenzenden Fachrichtung der Medizin avanciert. Ich habe im Juli 2015, noch unter dem unmittelbaren Eindruck von Monikas deprimierendem Fall, die Probe aufs Exempel gemacht, indem ich in die Rolle einer gewissen Nele Hayens schlüpfte und dem Phantom eine Mailadresse verpasste. Jetzt konnte ich mit dem Betreff „Suche gute Beatmungspflege, wie bei Ihnen!!!“ ans Werk gehen. Die Idee meiner Aktion war zugegebenermaßen recht simpel. Ich gab mich als Nichte eines schwerstkranken, im Wachkoma verharrenden, aber vermögenden Onkels aus, den es – obwohl er bedauerlicherweise eine Patientenverfügung verfasst habe – unter allen Umständen am Leben zu halten gelte, schon seiner formidablen Rente wegen. Also schickte ich an 254 Pflegedienste einen Formbrief mit folgendem Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich suche dringend einen neuen guten Intensivpflegedienst für meinen Onkel Christof Meine, weil es mit einigen Schwestern aktuell schwere Probleme gibt. Einzelne möchten gar die Beatmung beenden. Er hatte 2013 einen Unfall auf dem Weg zu einer Baustelle, liegt seitdem im Koma und wird durchgehend beatmet. Die Diagnosen lauten schwere hypoxische Enzephalopathie nach Reanimation bei Querschnitt sub C2 nach HWK 1–3 Fraktur, Tetraparese, Inkontinenz, Gelenkkontrakturen. Leider zeigt er seit dem Unfall keinerlei Reaktion, nur beim Streicheln der Stirn verzieht er teils das Gesicht oder schwitzt stark. Das Ganze eilt sehr, da mir meine Tante droht, dass sie und nicht mehr ich die Betreuung macht. Sie behauptet mit dem Rest der Familie, er hätte so nie leben wollen. Ehrlicherweise ist so auch seine Patientenverfügung zu verstehen. Nun macht mir das Betreuungsgericht hier Schwierigkeiten. Mit einem neuen Betreuungsgericht wird es keinen Ärger geben, wenn das Original nicht vorgelegt wird (und das liegt bei mir).
Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie kurzfristig die Beatmungspflege (haben Sie eine entsprechende Einrichtung? Könnten Sie eine Mietwohnung organisieren/ vermitteln/ empfehlen?) übernehmen würden. Mein Onkel ist recht wohlhabend und bezieht eine gute Unfallrente. Trotzdem wäre es schön zu erfahren, mit welchen Kosten zu rechnen ist. Wird es mit Ihrem Pflegeteam Ärger und Probleme geben, oder steht sein Lebensrecht bei Ihnen fest?
Es wäre toll, wenn Sie mir per Mail kurzfristig antworten könnten, da ich bis Mitte August im Ausland bin.
Herzliche Grüße
Nele Hayens

Das Bittschreiben ist im Grunde eine Aufforderung zum offenen Rechtsbruch. Die bestehende Patientenverfügung ist schließlich explizit erwähnt. Umso erstaunlicher fielen die Antworten aus, die schon bald das digitale Postfach fluteten. Sage und schreibe 90,3 Prozent der Dienste, die auf meine verschlagene Anfrage reagierten, zeigten sich wohlwollend aufgeschlossen gegenüber meinem ruchlosen, aber profitverheißenden Ansinnen. Dies mögen einige Beispiele verdeutlichen.

Hallo Frau Hayens,
habe Ihre Mail erhalten. Ich werde mich unverzüglich bei Ihnen melden, vorher muss ich mich mit meinem Teamleiter für die Intensivtherapien kurzschließen, wir sind gerade auf dem Weg, eine neue WG einzurichten. Das dauert natürlich noch ein paar Tage. Näheres würde ich Ihnen erläutern, wenn ich mit meinem Teamleiter gesprochen habe, weil ich nicht weiß, ob noch Kapazitäten vorhanden sind, da wir einige Anmeldungen vor Ort haben. Wir mischen uns generell in Entscheidungen des Lebensrechts nicht ein.

„Wir mischen uns generell nicht in Entscheidungen des Lebensrechts ein“ – im Klartext heißt das: Solange die Gelder fließen, kümmert uns der verbriefte Patientenwille nicht einen Kehricht. Solvente Familienmitglieder werden, wie immer die Begleitumstände sein mögen, rund um die Uhr umhegt. Ein kirchlich gebundener Anbieter aus Bayern bringt’s auf den Punkt.

Unsere Wohngemeinschaft hat fünf Plätze. Jeder unserer Patienten hat ein Einzelzimmer, das mit Satellitenfernsehen und einer Überwachungskamera ausgestattet ist. Hierbei ist es den Angehörigen mit einem persönlichen Zugangscode möglich, sich zu vergewissern, dass es ihrem Familienmitglied gut geht. […] Bezüglich einer Therapiebegrenzung bzw. Therapiebeendigung: Wir sehen es nicht als unseren pflegerischen Auftrag an, solche Entscheidungen zu treffen oder zu forcieren. Unser höchstes Bestreben ist es, mit professioneller Pflege unseren Klienten ein schmerz- und angstfreies Leben zu ermöglichen und im Rahmen der verbliebenen Ressourcen eine Teilhabe am Leben zu erhalten.
Die Entscheidung über eine Therapiebegrenzung muss, aus unserer Sicht, im Einvernehmen zwischen dem behandelnden Arzt und den engsten Vertrauten des Klienten beschlossen werden. Nur so kann im Sinne des Betroffenen gehandelt werden. Mir wäre deshalb auch sehr wichtig, dass meine Mitarbeiter nicht zwischen die Fronten geraten. Grundsätzlich sind wir als Pflegefachpersonal nicht berechtigt, über Leben und Tod zu entscheiden.

Anders gesagt: Wir werden tun, was immer Sie wollen. Satellitenfernsehen für Komapatienten: Kein Problem! Hauptsache, die Kohle stimmt.
In diesem Stil geht es weiter. Relevant für die Anbieter erscheinen allenfalls logistische Details.

Herzlichen Dank für Ihre Anfrage. Bitte teilen Sie mir vorab mit, in welcher Region Ihr Onkel lebt. Zu den Kosten: Wir haben einen Stundensatz von 34 Euro pro Stunde. Wobei ich sagen muss, dass das hier die Krankenkassen übernehmen und, wie ich gelesen habe, war es ja ein BG Unfall, also müsste meiner Meinung nach die BG für die Kosten aufkommen.

Von ethischen Bedenken ist zumindest in dieser Mail keine Spur. Über Annahme oder Ablehnung eines Aufnahmeantrags entscheidet wieder einmal das Finanzielle:

Es kommt darauf an, wo Ihr Onkel versichert ist. Die gesetzliche Krankenkasse zahlt in der Regel die Betreuung in einer außerklinischen Intensiveinrichtung. Bei Kostenübernahme der Krankenkasse, welche im Schnitt 14 Tage dauert, kann eine Aufnahme zügig erfolgen.

Wo man auch hinsieht: Willige Vollstrecker, wenn auch nicht des verbrieften Willens des kranken Onkels: Einzig interessiert die Kostenzusage der Krankenkasse. Ist die erst mal da, wird das Beatmungsgerät gestartet.

23. August 2023
Schicksalromane
Bewegende Romane aber auch Mut-Mach-Geschichten über Menschen, die in ihrem Leben etwas verloren haben. Es sind berührende Bücher über Krankheit und Verlust... und die Kraft von Freundschaft.