Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Ehrlich gesagt – mit so viel strengem Gegenwind hatte ich nicht gerechnet, als „Patient ohne Verfügung“ im September 2016 erschienen ist. Viele Kollegen waren aufgebracht, vor allem in meiner Heimatstadt Witten. Ich wurde zu einem Krisengespräch in die örtliche Zeitungsredaktion zitiert – es waren mit die unangenehmsten 60 Minuten in meinem Leben. Das Buch diffamiere Ärzte, die Kritik sei zu pauschal, übertrieben, polemisch oder populistisch, hieß es. Der Ärzteschaft sei das Buch sauer aufgestoßen. Es entspreche nicht den Tatsachen, die Zahlen würden nicht stimmen. Unverhohlen wurde mir gar angedroht, die Zusammenarbeit mit dem Palliativnetz aufzukündigen, was sich leider in den folgenden Monaten bewahrheiten sollte: Die Zuweisungszahlen sterbenskranker, hilfsbedürftiger Menschen sanken um etwa 30 Prozent – lieber ließ man die Patienten ohne Palliativversorgung, als die Zusammenarbeit mit einem „Nestbeschmutzer“ fortzuführen, war mein Eindruck. Berechtigt wurde kritisiert, dass das Buch das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient empfindlich störe – eine Sorge, die ich teile und die mich so manche schlaflose Nacht gekostet hat.
Ich betone immer wieder, dass ich die dunkle Seite der Medizin beschreibe und mir bewusst ist, dass es genauso eine wunderbare Seite gibt. Die Erfolge und den Nutzen der modernen Krebs- und Intensivmedizin schätze ich sehr und kenne viele einwandfrei handelnde Pflegekräfte und Ärzte. Zudem ist mir bewusst, dass es jenseits finanzieller Anreize andere Gründe für Übertherapie gibt, aber die sind eben nicht so verwerflich und Experten zufolge nicht so häufig.
Auch privat ging es hoch her in den Wochen nach Erscheinen des Buches: Meine Freundin war hochschwanger. Kurzum, ich hatte viel Stress. Und wenn ich Stress habe, bekomme ich wie viele Menschen „Rücken“. Da hilft es mir akut auch nichts, dass ich mir immer sage: Thöns, das ist „nur psychosomatisch“. Deshalb war ich besonders froh über mein fantastisches Team, das hinter mir stand – und überglücklich über die Geburt meines Sohnes Noah im Januar 2017.
Wenn ich bei Lesungen von den Widrigkeiten erzähle, die mir nach Veröffentlichung des Buches entgegenschlugen, ernte ich viele Lacher, wenn ich aus der Geschichte zitierte: Schon bei den alten Griechen wurde der Überbringer schlechter Nachrichten bestraft, im Mittelalter wurde er geköpft, und bei Konfuzius heißt es: „Ein Mann, der die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd.“
Fast durchweg positiv war jedoch das Feedback, das ich von Kollegen, Freunden und insbesondere von Angehörigen sowie Patienten erhielt. Ich habe mittlerweile über 1000 Zuschriften bekommen, nur eine Handvoll waren kritischer Art und vertraten Standpunkte wie „mein Arzt ist toll“ oder „Ärzte stehen unter so starkem Druck“. Das bestreite ich natürlich nicht. Trotz der vielen gruseligen Berichte, die in meinem Postfach landen, bin ich fest davon überzeugt, dass die Mehrheit meiner Kollegen menschlich und richtig handelt. Auch die Presse hat fast durchgehend positiv reagiert.
Schon lange vor der Veröffentlichung von „Patient ohne Verfügung“ hatte ich mich bemüht, auf die im ersten Buchkapitel thematisierte Übertherapie an Intensivpatienten aufmerksam zu machen. Das Glück brachte mich zur ARD-Monitor-Redaktion. Reporter Jochen Tassler ging mit einer Kollegin, getarnt als angebliches Geschwisterpaar, zu verschiedenen Intensivdiensten. Dort erzählten sie vor versteckter Kamera die erfundene Geschichte ihres Vaters, nach Vorlage eines von mir präparierten Arztbriefes: Der Vater liege nach einer Hirnblutung seit Jahren im Wachkoma und solle nun verlegt werden, da es mit dem aktuellen Intensivdienst Probleme bezüglich seiner Patientenverfügung gebe. In dieser werde künstliche Beatmung abgelehnt. Das Reporterpaar scheute sich nicht, zu erwähnen, dass der Vater vor allem wegen seiner satten Rente weiter beatmet werden solle. Fünf von sechs Gesprächen verliefen erschreckend: Es wurde vorgeschlagen, die Patientenverfügung verschwinden zu lassen oder zu ändern. Auf den Einwand des angeblichen Sohnes, wie das gehen solle, wurde ihm entgegnet: „Kreuzen Sie es halt anders an.“ Eine Einrichtung prahlte sogar förmlich damit, Patientenverfügungen generell zu missachten. Anwalt Wolfgang Putz äußerte im Interview, das seien alles Straftaten: „Urkundenunterdrückung, Urkundenfälschung, Körperverletzung …“ Obgleich der Beitrag bereits im September 2016 ausgestrahlt wurde, interessiert sich bis heute kein deutscher Staatsanwalt für das Leiden dieser immer größer werdenden Patientengruppe – Sterbende haben keine Lobby.
Die Tragweite dieser Tatsache wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass nur jeder fünfte Arzt auf einer Intensivstation den Willen seines Patienten bezüglich der Therapie am Lebensende kennt.1 Bedenkt man, dass mittlerweile jeder vierte Deutsche auf einer Intensivstation stirbt und dass 70 Prozent dieser Patienten erst nach einer Entscheidung zur Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen sterben dürfen und können, wird einem bewusst, dass es sich hier um kein Randproblem handelt.2
Doch auch der Mehrheit der Überlebenden geht es alles andere als prächtig. „Chronisch kritisch krank“ heißt das sich seuchenartig ausbreitende Krankheitsbild, welches unsere Großeltern und ihre Vorfahren niemals erleben mussten. Nach nur zehn Tagen künstlicher Beatmung erleiden mindestens 70 Prozent der Patienten eine Muskel-Nerven-Krankheit, die zu extremer Schwäche, Atemversagen und Schluckstörungen führt.3 Noch ein Jahr nach der Beatmung leidet ein großer Teil der wenigen Überlebenden an geistigen Störungen, vergleichbar mit einer mittelschweren Demenz.4
Es gibt jedoch auch Nachrichten, die Hoffnung machen: Erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte hat kürzlich ein Oberlandesgericht einen Arzt wegen Übertherapie zu einem hohen Schmerzensgeld verurteilt.5 Anwalt Wolfgang Putz, der bereits mehrere Urteile für die Palliativversorgung vor dem Bundesgerichtshof erstritten hat, vertrat den klagenden Sohn. Ich durfte das Parteigutachten schreiben und habe die Akte gründlich studiert, musste schlimme Bilder sehen. Was war passiert?
Der 82-jährige Vater des Klägers stand wegen einer fortgeschrittenen Hirnabbauerkrankung bereits seit 1997 unter rechtlicher Betreuung. Kurze Zeit nach seinem Einzug in ein Pflegeheim 2006 wurde er in die Klinik eingewiesen. Ohne Rücksprache mit dem in den USA lebenden Sohn wurde wegen Zeichen einer Mangelernährung eine PEG-Magensonde angelegt. Der Mann konnte Stuhl und Harn nicht mehr kontrollieren, Sprechen war seit Monaten unmöglich. Sein diesbezüglicher Wille konnte angeblich nicht ermittelt werden, ein Berufsbetreuer traf fortan die Entscheidungen. Wegen fortschreitender Gelenkverbiegungen konnte er sich kaum mehr bewegen. 2008 wurden eine zunehmende Muskeleinsteifung und eine schmerzhafte Spastik an Armen und Beinen festgestellt, doch intensivmedizinische Maßnahmen verhinderten weiterhin zuverlässig den Tod. Wenn sein Zustand wieder richtig schlimm war, ging es in die Klinik. Als er 2011 aufgrund von Überernährung durch die Sonde zum wiederholten Male eine Lungenentzündung entwickelte, landete er in der Klinik. Dort starb er schließlich trotz umfangreicher Therapie. Der betreuende Arzt verordnete ihm zuvor nicht nur die künstliche Ernährung, er führte auch eine Krebsvorsorge durch, beauftragte vielfache Laborbestimmungen, gab bis in die letzten Lebenswochen Antibiotika und eine Grippeschutzimpfung und ließ die Atemwege des Patienten absaugen. Wirksame Schmerzmittel hingegen hat er nicht verordnet. Dieser traurige Verlauf ist leider kein Einzelfall. Wenn man Hirnerkrankte nur lange genug mit intensivmedizinischen Verfahren am Sterben hindert, ist regelhaft mit derartigen Leidenszuständen zu rechnen.
Schon zu Lebzeiten seines Vaters versuchte der Sohn, gegen die unwürdige Behandlung vorzugehen. Er beauftragte zahlreiche Anwälte, kam aber an dem Berufsbetreuer, der die Entscheidungen traf, nicht vorbei. Wegen nicht indizierter künstlicher Ernährung verklagte er schließlich den betreuenden Arzt. Die klugen Richter der zuständigen Medizinrechtskammer führten aus: „Die aus der schuldhaften Pflichtverletzung durch den Beklagten resultierende Leidensverlängerung des Patienten stellt einen ersatzfähigen Schaden dar … Denn die Zuführung von Nährstoffen über eine PEG-Sonde bei einem Patienten, der infolge schwerer irreversibler Hirnschäden auf natürlichem Wege trotz Hilfestellung keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann, ist gerade ein widernatürlicher Eingriff in den normalen Verlauf des Lebens, zu dem auch das Sterben gehört.“ Der Schmerzensgeldanspruch ging auf die Erben über. Anwalt Putz erläuterte in einem Interview die Tragweite der weisen Entscheidung: Ärzte, die zukünftig Leiden ohne medizinische Indikation oder gegen den Patientenwillen verlängern, haften gegenüber den Erben mit Schmerzensgeld und müssen Regresse der Krankenkassen fürchten. Dort, wo es Fehlentwicklungen gibt, hilft oft nur noch das Recht mit Sanktionen. Und genau das belegt eine noch druckfrische Studie: Gibt es bei Übertherapie Regresse, handeln Ärzte besser.6
Auch in der Krebsmedizin hat sich seit der Veröffentlichung von „Patient ohne Verfügung“ Erschreckendes getan. Für meine Kritik an manchen Krebstherapien wurde ich von Experten angegangen, ich sei „fachfremd“ und hätte keine Ahnung von den bahnbrechenden Erfolgen der neuen Krebstherapeutika. Nur jede vierte Substanz wird nach Studien zugelassen, die einen klaren Patientennutzen belegen, etwa eine höhere Lebenserwartung. Ansonsten erfolgen Zulassungen aufgrund von Nebenparametern wie Röntgenbildverbesserungen oder Laborwertänderungen, bei denen der Nutzen für den Patienten unklar ist. Ende letzten Jahres prüften Wissenschaftler des angesehenen King’s College London die hochgelobten neuen Substanzen.7 Die Ergebnisse lassen einen schaudern: Im Einzelnen wurden alle 68 neu zugelassenen Therapien geprüft, in 90 Prozent der Fälle war der Einsatz nur bei unheilbar Krebsbetroffenen mit dem Ziel minimaler Lebensverlängerung angedacht. Das sind die Menschen, die auch ich täglich betreue, und hier weiß man: Die große Mehrheit setzt vor allem auf Lebensqualität. Die Begründerin der modernen Palliativmedizin, die Ärztin Cicely Saunders, fasst es trefflich zusammen: „Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zuführen“ ist das Ziel. Doch die Lebensqualität wurde bei keiner (!) der neuen Krebsarzneien primär untersucht. Nur zwei der 68 geprüften Krebstherapien verbesserten Lebensqualität und Lebenszeit. Bei neun Behandlungen (13 Prozent) wurde von den Patienten eine Teilverbesserung der Lebensqualität angegeben, ohne dass dabei die Lebenszeit beeinflusst wurde. So ist etwa die Besserung von Atemnot, nicht aber von Schmerz Zulassungskriterium für ein Medikament. Solche Nebenkriterien sind statistischer Nonsens: Das ist vergleichbar mit einer ganzen Schulklasse, die versucht, eine Sechs zu würfeln. Irgendeinem Schüler wird das sicherlich gelingen – aber das heißt noch lange nicht, dass er besser würfelt als die anderen.
Auf Basis solcher Statistiken werden nebenwirkungsreiche Krebstherapeutika offensichtlich zugelassen. Selbst nach langer Beobachtungszeit von fast sechs Jahren ließ sich der Nutzen bei der Hälfte der durchgeführten Behandlungen überhaupt nicht belegen. Und die „wirksame Hälfte“ verlängerte die Lebenszeit der Patienten im Schnitt um weniger als drei Monate. Das heißt in den meisten Fällen: drei Monate länger leben bei Dauereinnahme grundsätzlich giftiger Arznei. Denn über Nebenwirkungen und Belastungen der Substanzen steht in der Studie nichts. Die Londoner Wissenschaftler stuften selber den Großteil dieser „Erfolge“ als für den Patienten irrelevant ein und schlussfolgerten: „Wenn teure Medikamente ohne klinisch sinnvolle Leistungen zugelassen und in Gesundheitssystemen bezahlt werden, können einzelne Patienten geschädigt, wichtige Ressourcen verschwendet und die Bereitstellung von gerechter und erschwinglicher Gesundheitsversorge untergraben werden.“
Eine meiner Patientinnen, eine junge Frau mit Brustkrebs, hat Avastin erhalten, eine der hier kritisierten hochpreisigen Behandlungsformen. Sie sagte in einem Interview mit dem ARD-Magazin „Monitor“: „Also wenn mir jetzt jemand sagen würde: ›Mit Chemo leben Sie noch zwei Jahre und ohne nur eins‹, dann würde ich mir noch ein schönes Jahr machen.“ In dem Fernsehbericht werden die Ergebnisse von angesehenen Experten wie auch von der europäischen Zulassungsbehörde bestätigt.8 Diese bahnbrechende Studie aus England wird im Deutschen Ärzteblatt bis heute nicht erwähnt. Dagegen berichtete es umfangreich von einem durch die Pharmaindustrie finanzierten Kongress für eine vereinfachte Zulassung von Krebsmedikamenten mit einem umstrittenen Zulassungskriterium. Zur Nichtberücksichtigung der kritischen Studie, die sogar die Tagesschau und Monitor aufgriffen, wurde vonseiten des Ärzteblatts erläutert, dass es bei weltweit über 6000 Studien jährlich nicht möglich sei, über jede einzelne zu berichten.
Was mich aber wirklich zur Weißglut bringt, ist, dass diese Medikamente bis heute weiter verordnet und auch erstattet werden. Drei der Krebstherapeutika gehören zu den umsatzstärksten Arzneimitteln in Deutschland. Die Techniker Krankenkasse hat die Kosten hochgerechnet: Wir geben etwa jeden fünften Euro in der Krebsbehandlung für diese Medikamente aus. Ein Milliardengeschäft mit unbelegter Hoffnung.
Dagegen wird bei Krebspatienten die lebensverlängernde und lebensverbessernde Palliativversorgung kaum eingesetzt. Jeder Betroffene müsste sie bei der Diagnose „unheilbar“ automatisch erhalten, so wird es schon seit Jahren international gefordert. Jetzt hat die Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die Deutschlands bekannteste und aktivste Palliativabteilung betreibt, die Daten der dort behandelten Krebsbetroffenen veröffentlicht, die innerhalb eines Jahres verstarben. Fast alle von ihnen hätten eine Palliativversorgung erhalten müssen. Tatsächlich war das aber nur bei 1,9 Prozent über zumindest drei Wochen der Fall.9 Die Studie wurde in einer relativ unbekannten amerikanischen Krebszeitschrift veröffentlicht, in Deutschland wurde sie nicht wirklich diskutiert – und, Sie ahnen es schon: Auch das Deutsche Ärzteblatt berichtete nicht. Ob es daran liegt, dass das Magazin wesentlich von Anzeigen der Pharmaindustrie finanziert wird?
Gefreut habe ich mich über viele positive Reaktionen und kleine Schritte in die richtige Richtung. „Patient ohne Verfügung“ hat es nicht nur in die Top 5 der Spiegel-Bestsellerliste geschafft, auch Platz 1 bei den Social-Media-Trendcharts10 und Leserliebling bei Bild der Wissenschaft sind eine wunderbare Anerkennung für dieses wichtige Thema.11 Selbst die Comedy-Szene griff das Thema auf, das ZDF-Late-Night-Format Mann, Sieber! brachte nach Lektüre den Sketch „Wer kriegt die Oma?“. Besser kann man die Aussagen des Buches nicht zusammenfassen, vier lohnenswerte Fernsehminuten. Die international wichtigste Medizinzeitschrift The Lancet widmete der Problematik ein ganzes Heft und fasst zusammen: „Der wichtigste Faktor gegen Übertherapie ist, die Gier der Medizinindustrie durch strukturierte Gebührenordnungen zu begrenzen.“ Der Vorsitzende des Sachverständigenrats von Bundestag und Bundesrat, Hausarzt Prof. Gerlach, mahnt entsprechend an, es gebe falsche Anreizmodelle für Ärzte, zu viele Krankenhäuser und viel zu viele unnötige Leistungen. Auch der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, fasst die Situation treffend zusammen: „Die Verwandlung der Krankenhäuser in betriebswirtschaftliche Unternehmen ist eine Fehlentwicklung historischen Ausmaßes … Nicht mehr der kranke Mensch steht heute im Mittelpunkt ärztlichen und pflegerischen Handelns, sondern die Anzahl und der Fallwert seiner Diagnosen und ärztlichen Eingriffe.“
Anfang 2017 wurde ich sogar zum damaligen Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nach Bonn geladen. Bei Kaffee und Gebäck durfte ich über die Probleme berichten, es wurde zwar Interesse bekundet und die Prüfung insbesondere der bereits heute verbotenen Bonusregelungen in Chefarztverträgen12 zugesagt – Taten folgten allerdings nicht. Wozu diese fragwürdigen Zielvereinbarungen führen, brachten die beiden Bremer Versorgungsforscher Prof. Wehkamp und Prof. Nägler nach einer Umfrage ans Tageslicht: Da gaben anonym befragte leitende Ärzte mehrheitlich zu, aufgrund von Geldanreizen würden Herzkatheter eingesetzt und weitere kostenintensive Operationen durchgeführt, die nicht medizinisch notwendig seien. Die Beatmungsdauer werde häufig durch die Vergütung bestimmt. Diese Eingriffe sind alles andere als Kavaliersdelikte, Juristen nennen sie Betrug, Körperverletzung oder gar fahrlässige Tötung. Die befragten Ärzte betonten mehrfach, dass es „so etwas“ ja gar nicht geben dürfe, dass es ein „heißes Eisen“ sei, über das nicht offen gesprochen werde, dass sich das unbedingt ändern müsse. 85 Prozent der befragten Geschäftsführer gaben zu, dass es in ihren Kliniken weiterhin die verbotenen Bonusverträge gebe. Wirklich traurig macht mich eine Aussage, die die ganze Perversion des Systems zusammenfasst: Ein Arzt gab an, in seiner Klinik würden Kaiserschnittentbindungen vorgezogen, wenn Betten auf der Frühchenstation leer stünden. Das bedeutet: Man riskiert durch eine per Kaiserschnitt erzeugte Frühgeburt die Gesundheit des Kindes – weil mit der Versorgung Frühgeborener extrem viel Geld zu verdienen ist. Das verschlägt selbst mir die Sprache.
Fälle wie dieser zeigen, warum es so wichtig ist, nicht tatenlos zuzusehen und sich weiter mit dem Thema Übertherapie zu befassen und dazu aufzuklären. Trotz erdrückender Belege erscheint es für viele Entscheidungsträger – etwa die Krankenkasse Knappschaft13 – nach wie vor „fraglich, ob die geschilderten Fehlanreize im stationären Sektor tatsächlich flächendeckend bestehen“. Offensichtlich hat man dort das aktuelle Gutachten des Sachverständigenrates im Gesundheitswesen nicht gelesen. Dort heißt es „Übertherapie ist das zentrale medizinische und ökonomische Problem“.
Erst wenn eine entsprechende Öffentlichkeit für das Thema vorhanden ist, werden Ärzteschaft, Krankenkassen und Politik wirklich regulierend eingreifen. Und deshalb möchte ich Sie, also (mögliche) Patienten und Angehörige, ermutigen, Diagnosen auch kritisch zu hinterfragen, im Zweifelsfall eine unabhängige Zweitmeinung einzuholen und vor allem an Ihre Vorsorgeplanung zu denken. Ein wichtiger Schritt hierzu kann die Patientenverfügung im Anhang dieses Buches bieten.
Witten, im August 2018
Einleitung
Als junger Medizinstudent war ich begeistert von der Idee, Menschen das Leben zu retten, also war Notarzt mein Traumberuf. Für diesen Weg ist eine Ausbildung zum Anästhesisten von Vorteil, denn in kaum einem anderen Fachgebiet erlernt man das Handwerkszeug zur Lebensrettung so umfangreich. Während meiner ersten Stelle in der Anästhesie war ich einem sehr menschlichen Chefarzt unterstellt, er verstand sich als Anwalt des Patienten. So weigerte er sich beispielsweise, an riskanten Operationen mitzuwirken, wenn er keine Aussicht auf Besserung mehr sah. Er stärkte damit uns Berufsanfängern das Selbstbewusstsein so manchem Chirurgen gegenüber, der die Grenzen seines Könnens und die Gesetze der menschlichen Natur nicht so richtig einzuschätzen vermochte.
Die nächste Stelle im Rahmen meiner Weiterbildung führte mich an eine „Klinik der Maximalversorgung“. Mein Chef dort hatte das junge Fachgebiet der Schmerztherapie in Deutschland etabliert und die Tumorschmerztherapie entscheidend geprägt. Liebevoll nannten wir ihn „godfather of pain therapy“. Allerdings wurde ich in dieser Klinik auch Zeuge unendlich aufwendiger Operationen an teils schwerstkranken alten Menschen. Die auf den Eingriff folgenden langwierigen Intensivbehandlungen erschienen mir nicht selten unangemessen. So oft bestand im Grunde keine Hoffnung mehr auf Heilung, und die endlos anmutende Intensivtherapie war von viel Leid geprägt: Nicht heilende, übel riechende Wunden, Platzbäuche, Verwirrtheitsdelirien, Fixierungen, leidverzerrte Gesichter, dazu die Verzweiflung der Angehörigen und letztlich doch der Tod.
Ein solches Verständnis von Medizin belastete mich zunehmend. Konnte ich als Arzt verantworten, dass Menschen einer riskanten Operation ausgesetzt wurden, um dann während der verbleibenden kurzen Lebenszeit an den Folgen zu leiden? Es schien mir also nur konsequent, dem fremdbestimmten Klinikbetrieb den Rücken zu kehren und selbst eine Praxis zu übernehmen, wozu ich mich vor 18 Jahren entschied. Endlich konnte ich meinen Beruf nach meiner Überzeugung ausüben. Kurz nach der Niederlassung wurde ich zu einem Notfall in das Hospiz in Bochum gerufen. Dem Patienten, der sich vor Schmerzen krümmte, konnte ich mit einer Infusion rasch helfen, doch der Besuch in dieser Einrichtung beschäftigte mich noch lange. Die Atmosphäre dort, die Herzlichkeit der Schwestern und der Blick auf den ganzen Menschen mit seinen Beschwerden und Wünschen beeindruckten mich nachhaltig. Bald schon war ich einer von vier Hospizärzten dort und lernte viel, vor allem von den Schwestern. So begann ich verstärkt, sterbende Menschen auch zu Hause zu begleiten, und wurde dabei zunehmend von Kollegen, Ehrenamtlichen und engagiertem Pflegepersonal unterstützt. Gemeinsam gründeten wir Palliativnetze in Bochum und Witten.1 In meiner täglichen Arbeit wurde mir klar, wie individuell die letzte Lebensphase ist, wie unterschiedlich die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen sind. Der eine starb ruhig im Gebet unter zärtlichen Berührungen seiner Frau, der andere kämpfte mit aller Kraft gegen den Tod und wurde dabei vom lauten Schluchzen seiner Liebsten begleitet. Es galt zu akzeptieren, dass nicht ich als Arzt, sondern der Patient und sein Umfeld über diesen letzten Weg bestimmen.
Viele Kollegen sehen das leider anders, wie der Fall von Gerhard zeigt, zu dem ich im Frühjahr 2008 gerufen wurde. Der einstige Klempner, fast 80 Jahre alt, liebte Angelteiche und endlose Wanderungen in der Natur. Irgendwann bemerkte eine seiner Töchter, dass er die Angel nicht mehr richtig halten konnte. Ein erfahrener Nervenarzt stellte die niederschmetternde Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose, kurz: ALS , sowie eine mittelgradig ausgeprägte Demenz . Die Beweglichkeit des Patienten nahm ab, immer wieder kam es zu Atemwegsinfektionen mit akuten Erstickungsanfällen.
Meist lehnte Gerhard jede Zuwendung ab, spuckte die ihm verabreichten Medikamente so gut er konnte wieder aus und schlug um sich. Manchmal lag er auch nur hilflos-apathisch in seinem Bett. Er wurde inkontinent. Bald konnte man ihn nicht mehr allein lassen. Er fing an zu schreien, wollte nicht mehr essen und trinken und wurde schwächer und schwächer. Gerhard hatte genug von seinem Dasein auf Erden. Der Neurologe empfahl dringend die Anlage einer PEG-Sonde , anderenfalls würde er verhungern. Die Ehefrau stimmte dem ärztlichen Rat zu, denn der Neurologe sagte ja, die Magensonde sei alternativlos.
Als die Sonde angelegt war, versuchte Gerhard immer wieder, sich den Schlauch aus dem Bauch zu ziehen. Daraufhin wurden seine Arme am Bettgitter fixiert, wenig später waren sie wegen der unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung ohnehin kaum mehr beweglich. Mit abnehmender Muskelkraft wurde auch die Atmung schwächer. Eines Tages fand ihn die Ehefrau, nennen wir sie Gisela, blitzeblau und nur noch ruckartig atmend in seinem Bett. Der Notarzt wurde alarmiert. Als das Rettungsteam wenig später eintraf, hatte Gerhards Herz bereits seit einigen Minuten aufgehört zu schlagen. Man kann sagen: Der Mann war klinisch tot. Das kam letztlich einer Gnade gleich.
Doch die Rettungsmannschaft begann mit der Wiederbelebung, der Notarzt legte einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre, Elektroschocks brachten das Herz wieder zum Schlagen. Rasch war eine Infusion gelegt, kreislaufstützende Medikamente wurden verabreicht.
Also musste er weiterleben. Doch trotz umfangreicher Intensivtherapie in der Klinik gelang es nicht, Gerhard von der Beatmungsmaschine zu entwöhnen. Er wachte einfach nicht mehr auf. Zu lange hatte sein Hirn nach dem Herzstillstand keinen Sauerstoff mehr bekommen. Nach gut zwei Monaten Intensivabteilung ging es mit apparativer Beatmung und Notarztwagen wieder zurück nach Hause.
Fortan saß ein Pflegeteam rund um die Uhr an Gerhards Bett. Das Wohnzimmer glich einer Intensiveinheit: Überall Infusionsständer, Beatmungsgeräte, Sauerstoffflaschen, piepsende Monitore, schlürfende Absauggeräte und die vibrierende Spezialmatratze.
So lag Gerhard über ein Jahr lang zu Hause, viele Male unterbrochen von Noteinweisungen ins Krankenhaus. Diese waren immer wieder nötig, wenn es zu Erstickungsanfällen kam, weil der Beatmungsschlauch durch Schleim verstopft war. Solche äußerst leidvollen Zustände treten bei dauerbeatmeten Patienten nicht nur regelmäßig auf, sie gelten auch als deren häufigste Todesursache: Tod durch qualvolles Ersticken. Auch wurden in der Klinik immer wieder Lungen- oder Nierenbeckenentzündungen bekämpft.
Ab und an nahm Gerhards Gesicht Züge einer schmerzverzerrten Grimasse an, ansonsten konnte er praktisch keinen Muskel mehr bewegen.
Durch einen Bericht in der Zeitung wurde Gisela auf die Möglichkeiten einer palliativmedizinischen Versorgung zu Hause aufmerksam. Also trafen wir uns und führten lange Gespräche. Über die noch verbleibenden Therapieziele waren wir uns rasch einig, und vor allem darüber, dass eine Fortführung der künstlichen Beatmung Gerhards Vorstellungen von einer menschenwürdigen Existenz grundlegend widerspräche. Und dennoch, letztendlich über die Einstellung der Beatmung, das Ziehen des Schlauches entscheiden, das wollte Gisela nicht. Ihre Angst war zu groß. Wie oft hatte man ihr im Krankenhaus gesagt: „So etwas darf kein Arzt, das ist Mord!“ Immerhin konnten wir uns auf eine Therapiebegrenzung einigen. Künftig kein Krankenhaus mehr und keine Antibiotika bei einer lebensbedrohlichen, Erlösung verheißenden Infektion. Nicht ohne Grund wird die Lungenentzündung als „Freund des alten Mannes“ bezeichnet – der Tod findet zumeist leidlos im Koma statt.
Wenige Tage nach der Übereinkunft, es war ein Samstagvormittag, wurde ich zu Gerhard gerufen. Das Beatmungsgerät gebe Druckalarm, auch mit dem Pulsmonitor stimme etwas nicht. Das Bild, das sich bei meinem Eintreffen bot, werde ich niemals vergessen. Gerhard war bereits am Vortag gestorben, die Leichenstarre war vollständig ausgeprägt. Totenflecken am Körper bis zur mittleren Flanke. Niemand hatte seinen Tod bemerkt. Irgendetwas bewegte sich doch noch. Das Beatmungsgerät kämpfte gegen die Leichenstarre an und signalisierte Alarm, weil der Druck in der Lunge zu hoch war. Niemand hatte den bis ultimo verzögerten Tod bemerkt.
Der Intensivpflegedienst konnte der Krankenkasse dann auch noch diesen Tag mit rund 800 Euro in Rechnung stellen. Sinnlose, aber gut bezahlte Übertherapie; Rückfragen der Krankenkasse: keine.
Ein Extremfall, gewiss. Aber vergleichbare Fälle ereignen sich Tag für Tag in Deutschland. Die Übertherapie, das Geschäft mit der systematischen Missachtung des Patientenwillens, mit dem bis ultimo hinausgezögerten Sterben floriert. Der prominente Palliativmediziner Prof. Gian Domenico Borasio schreibt: „Bis zur Hälfte aller Sterbenskranken erhalten Behandlungen wie zum Beispiel Chemotherapie, Bestrahlung, künstliche Ernährung oder Antibiotika, die ihnen nichts bringen.“2 Es wird also, denke ich, Zeit, die systematischen Missstände detailliert, freimütig und ohne Angst vor der erwartbaren Kollegenschelte zu benennen und in all ihren oft grausigen Konsequenzen aufzuzeigen. Darum habe ich mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, dieses Buch vorzulegen.
Aufgabe der Medizin ist es, menschliches Leiden zu heilen oder zumindest zu lindern. Dieses Ziel wird ausgerechnet in der schwierigsten Phase des Lebens durch den Einsatz teurer Hightechtherapien oft komplett ins Gegenteil verkehrt. Statt Menschen am Lebensende so viel Lebensqualität wie möglich zu schenken, quält die moderne Medizin sie teilweise sogar gegen ihren Willen mit sündhaft teuren, oft überflüssigen und äußerst belastenden Therapien.
Der Fehler steckt dabei in unserem Gesundheitssystem, das Fehlanreize schafft, um Apparatemedizin anzuwenden, immer neue Chemotherapien einzusetzen und große Eingriffe durchzuführen. Es liegt in der Logik des Systems, wenn Ärzte und die unter hohem Kostendruck arbeitenden Kliniken und Pflegedienste diese Rahmenbedingungen gezielt ausschöpfen. Übertherapie wird hierzulande honoriert und Leidensminderung bestraft – zumindest finanziell. Unser Gesundheitssystem ist krank.
Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag dazu leisten, unseren Blick wieder stärker auf den kranken Menschen zu richten: auf seine wahren Bedürfnisse und auf das medizinisch Sinnvolle. Es soll aufrütteln und den Blick schärfen für die Paradoxien eines Gesundheitssystems, das darauf ausgerichtet ist, menschliches Leben „um jeden Preis“ zu verlängern, und dabei viel Leid in Kauf nimmt. Anhand vieler Beispiele aus meiner Praxis als Palliativarzt will ich aufzeigen, wie wir es besser machen können. Dieses Buch richtet sich an Patienten, Angehörige und Mediziner, aber ebenso an wache Bürger, Politiker und insbesondere Juristen. Den Patienten will ich Mut machen, ihren Willen klar zum Ausdruck zu bringen und durchzusetzen. Denn es ist ihr Recht, selbst zu bestimmen, ob, wie und mit welchem Ziel sie medizinisch behandelt werden. Und meinen Arztkollegen soll es als Anstoß dienen, ihr Handeln kritisch zu überdenken, ihren Patienten zuzuhören und dabei nicht auf die Gebührenordnung zu schielen. Anhand von mir begleiteter Schicksale schildere ich die Probleme am Lebensende bei Patienten mit schwersten Hirnschäden nach Krankheit oder Unfall, bei Krebs, aber auch bei Lungen-, Herz- oder Nierenversagen.
Als Palliativmediziner begleite ich zusammen mit meinem Team jährlich 400 Menschen bis zu ihrem Tod. Meine Aufgabe ist es, ihre Schmerzen und Beschwerden in hoffnungslosen Situationen so weit wie möglich zu lindern und ein Sterben in vertrauter Umgebung zu Hause zu ermöglichen. In ihrer Gesellschaft erlebe ich nicht nur viel Tragisches, sondern auch viele berührende und tröstende Momente, in denen es Menschen vergönnt ist, eine friedliche und schöne letzte Lebensphase zu verbringen. Meine Patienten sind meine Lehrmeister. Sie lehren mich, mit den Mitteln der modernen Medizin verantwortungsvoll umzugehen und Demut zu üben gegenüber dem, was unser Menschsein ausmacht: ein selbstbestimmtes und gutes Leben – bis in den Tod.
Leider ist dieser selbstbestimmte Tod in vertrauter Umgebung zu Hause viel zu wenigen Sterbenden vergönnt, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 belegt. Darin wurden die Daten von über 900 000 Verstorbenen ausgewertet. Die Ergebnisse sprechen für sich: Jeder zweite Deutsche stirbt im Krankenhaus. Befragt nach dem gewünschten Sterbeort haben aber nur drei Prozent aller Befragten angegeben, dass sie ihre letzte Lebensphase tatsächlich in die Klinik verlegen wollen.
Schuld an dieser Diskrepanz sind die Zustände in allzu vielen deutschen Kliniken, wo operiert, katheterisiert, infundiert, bestrahlt, geröntgt und beatmet wird, was die Gebührenordnung für Ärzte an Heilbehandlungspositionen hergibt.
Deutschland ist Weltmeister, was die Anzahl an Intensivbetten angeht. Während hierzulande 34 Betten pro 100 000 Einwohner belegt werden wollen, sind es in Portugal gerade einmal vier. Für Unfallopfer nach Katastrophen mit vielen Schwerstbetroffenen, so suggeriert diese Zahl, ist Deutschland gut gerüstet. Doch obwohl Katastrophen selten sind, reicht die Bettenzahl für die deutsche Bevölkerung lange nicht aus. Denn immer kränkere und ältere Menschen werden mit immer ausgefeilterer technischer Spitzenmedizin ohne Mitspracherecht und leidend am Sterben gehindert. Und wird das Intensivbett für einen neuen Patienten gebraucht – kein Problem: Man verlegt die Intensiveinheit einfach ins heimische Wohnzimmer oder neuerdings in sogenannte „Beatmungs-WGs“. Acht und mehr Sterbenskranke werden dort rund um die Uhr maximaltherapiert, damit auch im nächsten Monat die 22 000 Euro für die weitere Behandlung fließen. Die Rate heimbeatmeter Patienten hat sich in den letzten zehn Jahren verdreißigfacht.3 Die Erklärung der zuständigen Fachgesellschaft: „der demografische Wandel“ – wir sollen also 30-mal älter und kränker geworden sein. Ich frage mich ja eher, ob heute nicht 30-mal ältere und kränkere Menschen, die früher friedlich gestorben wären, in diesen Betten liegen.
Während Übertherapie friedvolles Sterben hinauszuzögern vermag, führt sie jedoch in vielen anderen Fällen sogar zu einem vorzeitigen Ableben. Denn das Zuviel an Medizin ist keinesfalls gesund. Sowohl in der Notfallmedizin wie auch in der Intensivmedizin ist bekannt: Je mehr Prozeduren bei einem Schwerstkranken durchgeführt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für einen letalen Ausgang der Krankheit.4 Und eine weithin beachtete Untersuchung ergab: In Gegenden mit höherer Behandlungskapazität wurden mehr Untersuchungen veranlasst, es erfolgten häufiger kleinere Eingriffe, und die Patienten wurden öfter im Krankenhaus behandelt – vor allem mit Intensivtherapie. Und dies alles führte dazu, dass die Patienten früher starben. Nicht selten quält und tötet Übertherapie.5
Fatale ökonomische Anreize führen zu einer qualvollen Fehlversorgung. Dagegen sollten verantwortungsvolle Mitglieder unseres Standes protestieren. Deshalb plädiere ich nicht nur für eine Kurskorrektur bei Kollegen, Kostenträgern und Politikern, sondern erbitte auch die Unterstützung der Leser. Reden Sie mit Ihrer Familie, mit Freunden und Bekannten. Holen Sie sich bei großen bzw. kritischen Eingriffen oder kostspieligen Therapieverfahren stets eine Zweitmeinung! Üben Sie sich in Renitenz gegenüber dem bestehenden System! Denn auch Sie könnten eines Tages Opfer einer dramatischen Fehlentwicklung sein und in dem Intensivbett liegen, an dem sich die folgende Geschichte ereignete, die mir kürzlich zugetragen wurde.
Der Oberarzt steht mit einem Assistenzarzt am Bett eines greisen Mannes. Seine Atmung rasselt, der Puls ist schwach, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Ganz offensichtlich liegt er im Sterben. Ohne den Sterbenden anzusprechen, wendet sich der Oberarzt an seinen Assistenten und sagt: „Hätten wir den doch gestern an die Beatmungsmaschine gehängt, wir hätten den Fall viel besser abrechnen können.“ Lachend verlassen sie das Krankenzimmer.
1 Lungenversagen: Der letzte Atemzug ist kein Grund zu sterben
Der Fall von Monika
Sie war zeitlebens eine leidenschaftliche Skifahrerin. Auch kurz vor Weihnachten 2008 machte sich die 67-jährige Speditionskauffrau Monika H. auf in die österreichischen Alpen. Endlich wieder Pulverschnee, Bergluft und Hüttenzauber! Sie fühlte sich fit und wurde leichtsinnig. Als sie sich ohne Helm auf die Piste wagte, stürzte sie und brach sich am Freitag, den 11. Dezember, die beiden ersten Halswirbel. Herzstillstand. Ersthelfern glückte die Reanimation. Ein Rettungshubschrauber brachte Monika ins Universitätsspital nach Innsbruck. Dort wurden die Knochenbrüche notfallmäßig stabilisiert, doch die inkomplette Querschnittslähmung war irreversibel – und die Atemlähmung nicht mehr zu beheben. Der lange Sauerstoffmangel am Unfallort hatte zu schwersten Hirnschäden geführt. Die verheiratete Frau litt unter epileptischen Anfällen und lag apathisch im Wachkoma. Ihre Augen waren leblos und konnten dem Geschehen im Krankenzimmer nicht folgen. Die einschlägigen Untersuchungen bestätigten den hoffnungslosen Zustand. Einzig der Piekser mit einer spitzen Nadel provozierte noch einen schwachen Reflex der Gesichtsmuskulatur. Eine schmerzverzerrte Grimasse war das letzte Relikt der einstigen Vitalität.
Monika war, wenn sie nicht gerade auf den Brettern stand, eine umsichtige Frau. Im Haus ihres Sohns ist eine Patientenverfügung hinterlegt. Darin ist unter anderem festgelegt, dass sie darauf bestehe, in Würde sterben zu dürfen, „wenn ich mich in einem permanenten vegetativen Status befinde und diese Diagnose von einem besonders erfahrenen Neurologen bestätigt worden ist“. In einem solchen Stadium wolle sie „ausschließlich nach palliativmedizinischen und palliativpflegerischen Regeln behandelt werden“. Am Ende des Dokuments, das bekanntlich rechtsverbindlichen Charakter hat, steht ein klares, eindeutiges Diktum: „Ich untersage ausdrücklich alle therapeutischen Maßnahmen, die ausschließlich der künstlichen Verlängerung meines Lebens dienen.“ Die Verfügung hat ihr keinen Deut genutzt. Monika musste um jeden Preis weiterleben. Und Krankenhäuser, Pflegedienste, Ärzte und Apotheken verdienten an der Wehrlosen jedes Jahr sechsstellige Eurosummen.
Ihr trostloser Zustand wurde verlängert durch Operationen, Bestrahlungen von Gelenkfehlstellungen, Katheterisierungen, einen Luftröhrenschnitt, durch Magensonden-Ernährung, Antibiotikainfusionen und Dauerbeatmung. Nach drei Monaten intensivmedizinischer Behandlung wurde ihr Zustand schlechter und schlechter. Das Herz versagte. Sie wurde wiederbelebt. Fortan hielt ein Schrittmacher mit 70 Elektroimpulsen pro Minute das Herz am Schlagen. Dafür begannen, da der Mund kein Essen mehr aufnehmen konnte, die Zähne zu verfaulen. Sie wurden operativ entfernt. Und die Gelenke mussten gegen schmerzhaften Widerstand durchbewegt werden, was zu Blutungen führte. Der Physiotherapeut machte aus den engen Grenzen seiner Bemühungen keinen Hehl: „Bei fehlender Kontaktmöglichkeit beschränkten sich die Maßnahmen auf den Erhalt der Gelenkbeweglichkeit.“ Dass sich Monika nie wieder eigenständig würde bewegen können, schien dabei keinen zu interessieren.
Nach vier Monaten Intensivtherapie erfolgte eine Verlegung nach Hause. „Bei der abschließenden klinischen Untersuchung“, heißt es im Entlassungsbericht, „war die Patientin wach, nicht ansprechbar, zeigte aber keinerlei Blickzuwendungen. Insgesamt ist keine Kontaktaufnahme möglich.“ Berge von Medikamenten wurden verschrieben, ein Katalogsortiment von Hilfsmitteln verordnet: vom Beatmungsgerät bis zum Duschsystem mit Zubehör, vom Multifunktionsstuhl bis zum elektrisch-mobilen Lifter nebst Tragetuch. Mit den Angehörigen wurde, wie der Bericht bar jeder Gefühlsregung vermerkt, „eine psychologisch-psychotherapeutische Begleitung durchgeführt.“ Eine Abrechnungsziffer eben, mehr nicht.
Jetzt also galt es, Monika rund um die Uhr im heimischen Umfeld zu pflegen. Der Entlassungsbrief hatte für die Patientin, bei der keine Aussicht auf Gesundung bestand, eine Vielzahl von Therapien empfohlen. Vom Patientenwillen aber war nicht die Rede. Die Medikation galt nur dem einen Ziel: Herz und Kreislauf zu stützen. Die PEG-Sonde wurde regelmäßig getauscht, eine Rollerpumpe sorgte für dauerhafte Zwangsernährung. Schmerzlindernde Mittel dagegen waren im Behandlungsplan nicht vorgesehen. Der Zustand der Patientin verschlechterte sich bald weiter. Am 6. April 2009 attestierte der Bericht des Hausarztes „neurogene Harnblasen- und Mastdarm-Entleerungsstörungen“ und ein „cerebrales Krampfleiden mit generalisierten Krampfpotentialen“. Das bedeutet: Die Patientin krümmt sich in schmerzhafter Spastik. Die Mimik ist verspannt. Die Blaseninfektionen häufen sich.
Lungenentzündungen, die ihr einen gnädigen Tod hätten bescheren können, wurden mit Antibiotika niedergekämpft. Die Frau, die sich nicht mehr artikulieren konnte, wurde von Schmerzen gepeinigt: Wegen des monotonen Liegens auf dem Rücken hatten sich bis hinauf zum Schädelknochen tiefe Druckgeschwüre auf der Haut gebildet. Auch das Steißbein war offen, teils machte sich von dort Verwesungsgeruch breit.
Hat Monika jemals so leben wollen? Der Sohn hat den Ärzten einmal erzählt, die Mutter habe die lange Sterbephase einer Bekannten, die an Krebs litt, miterlebt und daraus in ihrer lebensfrohen Art den Schluss gezogen: „Mädels – lasst mich sterben, wenn ich nicht mehr alleine zum Töpfchen komme.“ Von der Patientenverfügung einmal ganz zu schweigen. All das hat niemanden interessiert.
Monika blieb ein friedliches Ende verwehrt. Warum hatte niemand Erbarmen? Ich fürchte, die Antwort ist einfach: Weil sie monatlich rund 22 000 Euro allein an Pflegekosten generierte, zuzüglich ärztlicher Behandlungskosten.
Brutal gesagt: Sie war eine Kuh in melkfähigem Zustand und ergo mit lukrativer Übertherapie am Leben zu halten. Neben dem Hausarzt und dem sogenannten Heimbeatmungs-Pflegedienst liquidierten Urologen, Hilfsmittellieferanten, Ernährungsmanager, Intensivmediziner und Hirnspezialisten. Und wenn die Beatmungsprobleme, Erstickungsanfälle, die Blasen- und Augeninfekte oder die Zahnfäule einmal mehr akut wurden, wartete das Klinikum schon mit offenen Armen. Der Rettungsdienst lieferte die „cash cow“ frei Haus. Es folgten zumeist lange stationäre Intensivbehandlungen, bei denen es immer wieder zu Infektionen durch Problemkeime kam.
So vergingen die Sommer und Winter. Die Hoffnung auf Besserung schwand auch beim Ehemann und bei den Kindern. Im Juni 2015 – da lag Monika bereits 6 ½ Jahre unverändert im Wachkoma, und dies bei inkompletter Querschnittslähmung – wurde ich nach einem Nierenversagen palliativ zurate gezogen. Am Vortag seien umfangreiche intensivmedizinische Maßnahmen erfolgt, gleichwohl sei der Gesundheitszustand fortbestehend ernst. Ob ich nicht helfen könne? Ich schaute mir erst die Patientin, dann die dicke Krankenakte an – und wurde grün vor Wut. Hier wurde eine schwerstbehinderte Frau entwürdigt, der Geist ihrer Patientenverfügung verspottet. Das erfüllte, juristisch besehen, den Tatbestand der schweren Körperverletzung, der sich all jene schuldig machen, die – wider den Geist einer hinterlegten Patientenverfügung – das Leiden einer unheilbar Kranken künstlich verlängern. Monikas Leben bestand nur noch aus Absaugen, Spastik, Grimassieren. Zu kurieren gab es schon lange nichts mehr.
Die Frage nach dem Therapieziel
Wesentlicher Bestandteil einer jeden medizinischen Behandlung muss laut ärztlicher Ethik ein klar formuliertes Therapieziel sein.1 Bei Monika war dies schon seit einem halben Jahrzehnt nicht mehr erkennbar. Die Ärzte aber „therapierten“ unverdrossen weiter. Und den Angehörigen wurde suggeriert, dass dies ein Akt tätiger Nächstenliebe sei. Sie sind – wie leider so viele – dem Schwindel aufgesessen. Ein mitfühlender Vertretungsarzt, Dr. F., trifft Monika in desaströsem Zustand an, sie leidet unter Schnappatmung. Er notiert am 11. Mai 2009: „Langes Gespräch mit der Familie. Der Sohn ist Bevollmächtigter. Der Ehemann möchte Krankenhauseinweisung: ›Kann nicht zusehen und sie sterben lassen.‹ Nicht meine Meinung, aber auch der Sohn entscheidet so. Feuerwehr und Notarzt informiert.“ Das minuziös dokumentierte Martyrium ging also weiter.
Mein Palliativteam und ich empfahlen, da die Sterbephase, objektiv besehen, bereits vor Jahren begonnen hatte, die schon lange nicht mehr zielführende und gegen den erklärten Willen der Patientin erfolgte künstliche Beatmung augenblicklich einzustellen. Wir haben versucht, mit den Angehörigen Klartext zu sprechen: „Ein Beenden der nicht indizierten Maßnahmen wird nur unter Narkose gehen.“ Für diesen – ethisch wie juristisch gebotenen – Schritt hätte allerdings ein Einvernehmen innerhalb der Familie erzielt werden müssen. Dem hatte der Pflegedienst entgegengewirkt und dem Ehemann wie auch dem Sohn ein schlechtes Gewissen eingeredet. Auch das hat leider Methode, denn sonst könnte man ja einen guten Kunden verlieren. Mein Palliativteam und ich konnten – es fällt mir schwer, das niederzuschreiben – nichts für die Patientin tun. Monika wird wohl bis heute am Sterben gehindert – eine Aussicht auf Besserung ihres mit Gewissheit von starken Schmerzen begleiteten Zustandes besteht nicht.
Ein Einzelfall? Keineswegs. Der Fall Monika ist nur einer von Abertausenden – und die Übertherapie ist, wie es scheint, zu einer ans Kriminelle grenzenden Fachrichtung der Medizin avanciert. Ich habe im Juli 2015, noch unter dem unmittelbaren Eindruck von Monikas deprimierendem Fall, die Probe aufs Exempel gemacht, indem ich in die Rolle einer gewissen Nele Hayens schlüpfte und dem Phantom eine Mailadresse verpasste. Jetzt konnte ich mit dem Betreff „Suche gute Beatmungspflege, wie bei Ihnen!!!“ ans Werk gehen. Die Idee meiner Aktion war zugegebenermaßen recht simpel. Ich gab mich als Nichte eines schwerstkranken, im Wachkoma verharrenden, aber vermögenden Onkels aus, den es – obwohl er bedauerlicherweise eine Patientenverfügung verfasst habe – unter allen Umständen am Leben zu halten gelte, schon seiner formidablen Rente wegen. Also schickte ich an 254 Pflegedienste einen Formbrief mit folgendem Wortlaut:
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich suche dringend einen neuen guten Intensivpflegedienst für meinen Onkel Christof Meine, weil es mit einigen Schwestern aktuell schwere Probleme gibt. Einzelne möchten gar die Beatmung beenden. Er hatte 2013 einen Unfall auf dem Weg zu einer Baustelle, liegt seitdem im Koma und wird durchgehend beatmet. Die Diagnosen lauten schwere hypoxische Enzephalopathie nach Reanimation bei Querschnitt sub C2 nach HWK 1–3 Fraktur, Tetraparese, Inkontinenz, Gelenkkontrakturen. Leider zeigt er seit dem Unfall keinerlei Reaktion, nur beim Streicheln der Stirn verzieht er teils das Gesicht oder schwitzt stark. Das Ganze eilt sehr, da mir meine Tante droht, dass sie und nicht mehr ich die Betreuung macht. Sie behauptet mit dem Rest der Familie, er hätte so nie leben wollen. Ehrlicherweise ist so auch seine Patientenverfügung zu verstehen. Nun macht mir das Betreuungsgericht hier Schwierigkeiten. Mit einem neuen Betreuungsgericht wird es keinen Ärger geben, wenn das Original nicht vorgelegt wird (und das liegt bei mir).
Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie kurzfristig die Beatmungspflege (haben Sie eine entsprechende Einrichtung? Könnten Sie eine Mietwohnung organisieren/ vermitteln/ empfehlen?) übernehmen würden. Mein Onkel ist recht wohlhabend und bezieht eine gute Unfallrente. Trotzdem wäre es schön zu erfahren, mit welchen Kosten zu rechnen ist. Wird es mit Ihrem Pflegeteam Ärger und Probleme geben, oder steht sein Lebensrecht bei Ihnen fest?
Es wäre toll, wenn Sie mir per Mail kurzfristig antworten könnten, da ich bis Mitte August im Ausland bin.
Herzliche Grüße
Nele Hayens
Das Bittschreiben ist im Grunde eine Aufforderung zum offenen Rechtsbruch. Die bestehende Patientenverfügung ist schließlich explizit erwähnt. Umso erstaunlicher fielen die Antworten aus, die schon bald das digitale Postfach fluteten. Sage und schreibe 90,3 Prozent der Dienste, die auf meine verschlagene Anfrage reagierten, zeigten sich wohlwollend aufgeschlossen gegenüber meinem ruchlosen, aber profitverheißenden Ansinnen. Dies mögen einige Beispiele verdeutlichen.
Hallo Frau Hayens,
habe Ihre Mail erhalten. Ich werde mich unverzüglich bei Ihnen melden, vorher muss ich mich mit meinem Teamleiter für die Intensivtherapien kurzschließen, wir sind gerade auf dem Weg, eine neue WG einzurichten. Das dauert natürlich noch ein paar Tage. Näheres würde ich Ihnen erläutern, wenn ich mit meinem Teamleiter gesprochen habe, weil ich nicht weiß, ob noch Kapazitäten vorhanden sind, da wir einige Anmeldungen vor Ort haben. Wir mischen uns generell in Entscheidungen des Lebensrechts nicht ein.
„Wir mischen uns generell nicht in Entscheidungen des Lebensrechts ein“ – im Klartext heißt das: Solange die Gelder fließen, kümmert uns der verbriefte Patientenwille nicht einen Kehricht. Solvente Familienmitglieder werden, wie immer die Begleitumstände sein mögen, rund um die Uhr umhegt. Ein kirchlich gebundener Anbieter aus Bayern bringt’s auf den Punkt.
Unsere Wohngemeinschaft hat fünf Plätze. Jeder unserer Patienten hat ein Einzelzimmer, das mit Satellitenfernsehen und einer Überwachungskamera ausgestattet ist. Hierbei ist es den Angehörigen mit einem persönlichen Zugangscode möglich, sich zu vergewissern, dass es ihrem Familienmitglied gut geht. […] Bezüglich einer Therapiebegrenzung bzw. Therapiebeendigung: Wir sehen es nicht als unseren pflegerischen Auftrag an, solche Entscheidungen zu treffen oder zu forcieren. Unser höchstes Bestreben ist es, mit professioneller Pflege unseren Klienten ein schmerz- und angstfreies Leben zu ermöglichen und im Rahmen der verbliebenen Ressourcen eine Teilhabe am Leben zu erhalten.
Die Entscheidung über eine Therapiebegrenzung muss, aus unserer Sicht, im Einvernehmen zwischen dem behandelnden Arzt und den engsten Vertrauten des Klienten beschlossen werden. Nur so kann im Sinne des Betroffenen gehandelt werden. Mir wäre deshalb auch sehr wichtig, dass meine Mitarbeiter nicht zwischen die Fronten geraten. Grundsätzlich sind wir als Pflegefachpersonal nicht berechtigt, über Leben und Tod zu entscheiden.
Anders gesagt: Wir werden tun, was immer Sie wollen. Satellitenfernsehen für Komapatienten: Kein Problem! Hauptsache, die Kohle stimmt.
In diesem Stil geht es weiter. Relevant für die Anbieter erscheinen allenfalls logistische Details.
Herzlichen Dank für Ihre Anfrage. Bitte teilen Sie mir vorab mit, in welcher Region Ihr Onkel lebt. Zu den Kosten: Wir haben einen Stundensatz von 34 Euro pro Stunde. Wobei ich sagen muss, dass das hier die Krankenkassen übernehmen und, wie ich gelesen habe, war es ja ein BG Unfall, also müsste meiner Meinung nach die BG für die Kosten aufkommen.
Von ethischen Bedenken ist zumindest in dieser Mail keine Spur. Über Annahme oder Ablehnung eines Aufnahmeantrags entscheidet wieder einmal das Finanzielle:
Es kommt darauf an, wo Ihr Onkel versichert ist. Die gesetzliche Krankenkasse zahlt in der Regel die Betreuung in einer außerklinischen Intensiveinrichtung. Bei Kostenübernahme der Krankenkasse, welche im Schnitt 14 Tage dauert, kann eine Aufnahme zügig erfolgen.
Wo man auch hinsieht: Willige Vollstrecker, wenn auch nicht des verbrieften Willens des kranken Onkels: Einzig interessiert die Kostenzusage der Krankenkasse. Ist die erst mal da, wird das Beatmungsgerät gestartet.
Die finanziellen Interessen an Sterbenskranken
Während das Thema Sterbehilfe immer wieder breit in den Medien behandelt wird, bleibt das eigentliche Problem unangetastet: Todkranke werden durch sinnlosen Einsatz ausgefeilter Medizintechnik am Sterben gehindert.
Der renommierte Palliativmediziner Dr. Matthias Thöns erläutert in seinem Buch anhand vieler Fallbeispiele Missstände und Probleme in unserem Gesundheitssystem. So wünschen sich mehr als 90 Prozent der Menschen, zu Hause im Kreise ihrer Angehörigen aus dem Leben zu scheiden, was jedoch nur in knapp 20 Prozent der Fälle eintritt.
Stattdessen sterben viele Patienten einsam in der Anonymität der Intensivstation. Nicht Linderung von Leid und Schmerz, sondern finanzieller Profit steht dabei im Fokus des Interesses vieler Ärzte und Kliniken: Diese werden honoriert, wenn sie möglichst viele und aufwendige Eingriffe durchführen.
Unnötige Behandlungen bei Sterbenskranken
Namhaften Experten zufolge leiden bis zu 50% der Sterbenden unter Übertherapie. Da wird am Lebensende intensivtherapiert, wiederbelebt, chemotherapiert, bestrahlt, dialysiert und operiert, obgleich bereits vorher klar erkennbar war, dass dies dem Patienten nicht mehr nützen würde.
Doch der fehlende Nutzen und die damit einhergehende Verschwendung allein sind nicht das Problem: Diese Behandlungen sind leidvoll, verhindern gute hospizliche Begleitung, verschlechtern die Trauerarbeit und vermeiden das würdevolle Abschiednehmen.
Das Problem schreitet fort, seit die Krankenhausfinanzierung Anfang des Jahrtausends von einer Kostendeckung nach Liegezeit auf Gewinn durch viele Eingriffe bei schlimmen Diagnosen umgestellt wurde. Leitende Ärzte werden an diesen Gewinnen durch sogenannte Bonusverträge beteiligt und tragen den wirtschaftlichen Druck in der ärztlichen Hierarchie nach unten weiter.
Ruchbar wurde das ganze vor wenigen Jahren in der Transplantationsmedizin, aktuellen Untersuchungen zufolge gibt es die Problematik aber auch in vielen anderen Bereichen, insbesondere bei Sterbenskranken. Gegensteuernde Maßnahmen auf freiwilliger Basis greifen nicht. So wird etwa seit Jahren empfohlen, auf problematische Bonusverträge zu verzichten. Doch 2015 fanden sich die Klauseln noch in 97% der neuen Chefarztverträge.
Stationäre versus häusliche Pflege
Viele Schwerkranke und insbesondere ihre Familien glauben Klinik, Pflegeheim oder gar das Hospiz seien am Ende alternativlos. Das steht in krassem Widerspruch zu dem Wunsch der allermeisten Menschen (97%), die letzte Lebensphase daheim zu verbringen. Diesen Wunsch zu erfüllen gibt es die gesetzlichen Ansprüche auf häusliche Krankenpflege, auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung und Hospizdienstbegleitung daheim. Bei guter Leidenslinderung – und die sollte heutzutage in den allermeisten Fällen gelingen – ist die letzte Lebensphase für alle meist sehr erfüllend. Oft sagen unsere Patienten, es ist eine der schönsten Lebensphasen in ihrer Familie. Und nicht nur die Kranken profitieren: Gelingt die Versorgung bis zuletzt daheim, verläuft die anschließende Trauerphase milder.
Dagegen hat eine große bundesweite Untersuchung erbracht, dass nur 20% der Menschen wirklich bis zuletzt daheim versorgt werden, 30% in Pflegeeinrichtungen und bei 50% geht es gar zum Sterben in die Klinik. Dieser Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit liegt in hohem Maße an finanziellen Fehlanreizen: Kliniken werden neuerdings anhand von schlimmen Diagnosen und ihnen folgenden Eingriffen bezahlt: Niemand hat so schlimme Diagnosen wie Sterbenskranke und hier kann man große Eingriffe durchführen. Gelingen letztere nicht, geht es intensivversorgt in Wohngemeinschaften oder nach Hause. Ein Wachstumsmarkt mit jährlich 15% Steigerung. Mittlerweile wird ein Viertel bis zur Hälfte der gesamten Ausgaben für die häusliche Versorgung in ambulante Intensivversorgung investiert. Widerstand gegen aussichtslose Behandlungsverfahren oder von den allermeisten ungewünschte Apparatemedizin ist von einem Sterbenskranken kaum zu erwarten: Er ist ein Patient ohne Verfügung, so auch der Titel des weiterführenden Buches.
Patientenverfügung Formular
Die Vorsorgeplanung sollte immer Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht umfassen. Dies stellen wir aus Sicht der Palliativmedizin zur Verfügung. Kein anderer Arzt hat soviel mit Sterbenden zu tun, wie Palliativmediziner, keiner ist so nah dran an den Wünschen, um die es bei der Vorsorgeplanung konkret geht. Wir stellen hier eine Vorsorgeplanung zur Verfügung, die grob das Folgende berücksichtigt:
- leben, insbesondere auch bei Krankheiten, wenn es Aussicht auf Besserung des Zustandes gibt – auch mit den Möglichkeiten moderner Medizin.
- nicht leiden und umfassend die Möglichkeiten der Leidenlinderung (Schmerztherapie etc.) haben.
- die letzte Lebenszeit daheim verbringen, wenn dies geht
- dass ihre nächsten Angeörigen oder eine Vertrauensperson informiert und befragt wird.
- wenn es keine Aussicht auf Besserung gibt und der Geisteszustand dauerhaft und unwiederkehrbar schwerst gestört ist nicht den Möglichkeiten moderner Medizin ausgesetzt werden.
- Organe spenden
Stand: September 2018. Erstellt vom Palliativnetz Witten e.V
Dr. Matthias Thöns, geboren 1967 in Witten, ist Anästhesist und seit 1998 als niedergelassener Palliativmediziner tätig. Er ist stellvertretender Sprecher der Landesvertretung NRW der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und war Sachverständiger im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags zur Sterbehilfe-Debatte. Sein Anliegen vertrat er u. a. bei Markus Lanz, im Spiegel und in der ZEIT.
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Es ist ein sehr gutes und vor allem sehr wichtiges Buch, sehr zu empfehlen.
Ich hoffe, das es weit verbreitet wird.