Prolog
Orkney – Anno Domini 916
Sie schreckte aus dem Schlaf hoch und schnappte keuchend nach Luft, als hätte man ihren Kopf unter Wasser gedrückt, bis die Lungen platzten. Der vertraute Traum war zurückgekehrt, aber diesmal war einiges anders gewesen.
Zuvor hatte sie stets geträumt, in den Tiefen des Waldes zu sein. Eschen, Kiefern und Fichten ragten in den Himmel, uralt und mit Moos bewachsen. Die Wipfel zeichneten sich vor dem Vollmond ab, dessen Silberlicht Schatten zwischen den Ästen und auf dem Waldboden warf. Man jagte sie, das war ihr klar. Tief in der Finsternis des Waldes suchte etwas – jemand – nach ihr. Immer wieder ertönte ein Krachen, als bahnte sich ein gewaltiger Troll oder Riese einen Weg durchs Gehölz. Es kam immer näher.
Sie drehte sich um, wollte die Flucht ergreifen, wurde sich jedoch plötzlich ihres schweren, angeschwollenen Leibes bewusst. Da wusste sie, dass es ein Traum sein musste, denn sie hatte die weise Frau erst an diesem Morgen besucht. Die Alte hatte bestätigt, was sie bereits vermutet hatte: Sie erwartete ein Kind. Aber es würde noch viele Monde dauern, bis ihre Zeit kam. Man sah es ihr noch nicht einmal an.
Sie stolperte an den Bäumen vorbei. Plötzlich ließ sie eine Bewegung zu ihrer Rechten stehen bleiben und herumfahren. Nicht weit entfernt, neben einer mächtigen Esche, stand eine Gestalt, das Mondlicht im Rücken. Der Mann war hochgewachsen, sein langer Umhang reichte bis zum Boden. In einer Hand hielt er einen Stab. Auf dem Kopf saß ein Hut mit breiter Krempe, der sein Gesicht in Schatten tauchte. Ihr Atem ging schneller. In der kalten Nachtluft stieg er in kleinen Wölkchen in die Höhe.
Der Fremde winkte sie zu sich. Dann drehte er sich um und ging. Dabei sah sie tief in den Schatten unter dem Hut ein Schimmern, wo das rechte Auge des Mannes sein musste. Auf der linken Seite war alles schwarz. Er trat hinter einen Baum und war nicht länger zu sehen. Irgendwo im Wald ertönte das traurige Heulen eines Wolfes.
Wie in den früheren Träumen folgte sie dem Fremden. Als sie zu dem Baum kam, hinter dem er verschwunden war, fehlte jede Spur von ihm. Sie stand am Rand einer Lichtung.
Entsetzen stieg in ihr auf, als sie sich wieder erinnerte, was dort wartete. In der Mitte der Lichtung ragte eine weitere mächtige Esche auf, die schreckliche Früchte trug. Von fast allen Ästen baumelten gehängte Leichen und drehten sich im Wind. Jede vorstellbare Kreatur, Hunde, Hirsche, Gänse, sogar ein Pferd. Auch Männer waren darunter, einige noch ganz frisch, andere schon verwest und zerfallen. Die Dunkelheit und die Schatten der Nacht verbargen Schreckliches.
Das Krachen zwischen den Bäumen hinter ihr war nicht mehr weit entfernt. Dann drang ein neuer Laut an ihr Ohr. Aus dem Unterholz stieg ein leises Knurren auf. In Bodennähe leuchteten gelbe Augen auf. Das war anders als in den früheren Träumen. Wölfe schlichen von überall her auf die Lichtung, ihr grauer Pelz schimmerte im Mondlicht.
Dann hatte auch das Wesen, das sie verfolgt hatte, den Rand der Lichtung erreicht. Sie konnte noch immer nicht erkennen, was es eigentlich war; nur eine riesige Gestalt war zwischen den Bäumen auszumachen. Unaussprechliches Entsetzen ergriff ihr Herz.
„Was willst du?“, rief sie.
Es kam keine Antwort, aber irgendwie wusste sie Bescheid. Nicht sie war es, die das Wesen suchte.
Sondern ihr Kind.
Dann wachte sie auf und ließ die Furcht einflößende Welt des Traums zurück, war zurück in dem Albtraum, aus dem ihr Leben bestand. Keuchend lag sie da und versuchte zu Atem zu kommen.
Als sich ihr Herzschlag langsam beruhigte und der Schweiß auf ihrer Haut abkühlte und sie frösteln ließ, starrte sie zu dem Strohdach über ihr. Ihre Hände lagen verkrampft auf ihrem Unterleib. Die Worte der weisen Frau hallten in ihr wider.
Du wirst es loswerden müssen, hatte die Alte schadenfroh gezischt. Er wird keine Bettsklavin mit einem Kind haben wollen.
Sie vermochte nicht zu sagen, wo der Traum hergekommen war, aber seine Botschaft war eindeutig. Der Augenblick war gekommen, auch in dieser Welt die Flucht zu ergreifen.
Kapitel 1
Island – Anno Domini 934 –
Das dísablót-Fest
Unn trat auf die Seherin zu, zögerte dann aber. Sie biss sich in die Unterlippe, grub die Fingernägel in die Handflächen. Ihr rechter Zeigefinger, der mit dem abgekauten Nagel, schnitt einen roten Halbmond in die Handfläche, obwohl die Haut von den Jahren unablässiger Schufterei so hart wie Leder war. Die Frage brannte ihr auf den Lippen, als hätte sie zu heiße Suppe gelöffelt, trotzdem wagte sie es nicht, die Worte auszusprechen.
Im Zwielicht sah die Seherin furchterregend aus. Das rote Glimmen der Scheite in der Feuerstelle warf lange, dunkle Schatten auf das vom Alter zerfurchte Antlitz. Langes weißes Haar fiel ihr bis auf die Schultern; Kämme hielten es aus ihrem Gesicht, als wäre sie eine unvermählte Jungfrau. Ihr langes schwarzes Kleid schien mit den Schatten zu verschmelzen, die sich aus allen Ecken stahlen, um das Langhaus von Unn Kjartansdottir zu beanspruchen. Hier und da glitzerten in den Stoff eingenähte kleine Edelsteine, Seemuscheln und andere Schmuckstücke im Feuerschein und ließen das Gewand wie den Nachthimmel funkeln. Ihr Gesicht und ihre Unterarme waren übersät mit getrockneten rotbraunen Blutspritzern.
Wovor hast du Angst?, rief sich Unn zur Ordnung. Sie war doch kein junges Mädchen mehr, das die Furcht umtrieb, von der Seherin zu hören, dass sie niemals einen guten Mann finden würde. Das hatte sie schon hinter sich, den Mann und alles, was dazugehörte. Sie war Unn. Sie war mit nicht mehr als einem Beutel voller Gold und ihrem kurz zuvor geborenen Sohn Einar auf dem Arm auf dieser fremden, rauen Insel am Rand der Welt eingetroffen. Sie hatte das Land beansprucht, auf dem nun ihr Langhaus stand. Auf diesem kargen Boden hatte sie ihren eigenen Hof aufgebaut, inmitten von Ungläubigen, deren heidnische Götter noch immer in den Hügelgräbern und schwarzen Felsen der Berge zu lauern schienen. Achtzehn Winter hatte sie in diesem seltsamen Land verbracht, in dem kochendes Wasser aus dem Boden in die Höhe schoss, sich Eisströme aus den Bergen ihren Weg ins Tal bahnten, im Sommer die Sonne den ganzen Tag schien, um im Winter niemals aufzugehen, in dem der Himmel von seltsamen schimmernden, geisterhaften Lichtern heimgesucht wurde. Jetzt war sie eine Frau mit Einfluss. Ihr gehörten Land, ein Hof und Vieh. Sie hatte einen prächtigen Sohn großgezogen. Bis jetzt hatte sie alles überstanden, was das Schicksal ihr in den Weg gestellt hatte, und bis jetzt war es grausam gewesen. Also warum hatte sie nun solche Angst, zu fragen, was es ihr als Nächstes entgegenschleudern würde?
Sie warf einen Blick auf die anderen, ihre Freunde und Nachbarn, die auf den Bänken schnarchten oder um das große Feuer lagen, das sich von einem Ende des Raums zum anderen erstreckte. Wie die meisten isländischen Langhäuser war auch Unns Haus, wie der Name schon sagte, um ein Vielfaches länger als breit. Das Dach beschrieb einen Bogen und reichte an den Wänden beinahe bis zum Boden, als würde sich das Gebäude auf der Suche nach Schutz vor der gnadenlosen Witterung in die Erde ducken.
Heute Abend war es mit Wärme und den Bewohnern der umliegenden Höfe des Midfjord-Bezirks gefüllt gewesen, die wie üblich auf Unnsstaðir – Unns Hof – zusammenkamen, um das dísablót zu feiern, den ersten Tag des Winters. Das taten sie nun schon seit ihrer Ankunft vor achtzehn Wintern. Sie hatten sie willkommen geheißen, und als sie ihnen erzählt hatte, dass sie Witwe und ganz allein auf der Welt war, hatten sie sich zusammengetan und ihr geholfen, diesen Hof aufzubauen. Sie wussten, dass sie nicht zu ihrem Volk gehörte, aber sie hatten sie trotzdem unterstützt. Island war ein noch sehr junges Land. Alle waren Siedler, viele Flüchtlinge. Wollten sie überleben, mussten sie zusammenhalten. Nicht nur die Witterung wollte ihnen ans Leben. Indem sie für das dísablót auf Unns Hof kamen, zeigten sie auf eine weitere Weise, dass man sie akzeptierte, und Unn hatte sich erkenntlich gezeigt. Sie billigte ihre Religion nicht, war aber stets eine großzügige Gastgeberin gewesen. Schließlich mussten sie alle miteinander auskommen.
Die Haut ihrer Nachbarn war genau wie die der Seherin voller getrockneter Blutflecken. Für Unn waren das Zeichen der falschen Götter, aber sie wusste, dass sie ihnen wichtig waren, sogar heilig. Früher am Tag hatte die Seherin zur Feier des dísablót die Tiere getötet, die es nicht durch den Winter schaffen würden. Mit einer scharfen Klinge hatte sie ihre Kehlen aufgeschlitzt.
Dann hatte sie die dísir angerufen, die Geister des Landes, damit sie die Seelen der Tiere annahmen, während deren Fleisch zerteilt und das Blut mit einer tiefen Holzschüssel aufgefangen wurde. Nachdem die alte Frau einen Zweig in die Schale getaucht und Gebete an ihren Donnergott gesungen hatte, hatte sie damit die Versammelten mit Blut bespritzt, und alle hatten es als Zeichen ihres Glaubens trocknen lassen.
Danach wurde gefeiert. Bei so vielen geschlachteten Tieren gab es viel Fleisch, und Unn hatte für genug Ale gesorgt, um damit einen Riesen ertränken zu können. Als die letzte Herbstnacht hereinbrach, hatten sich alle um das Feuer versammelt, um die Lieder des Skalden Snorri Thorketelsson zu hören, den Unn bezahlt hatte. Dann hatte man die Seherin gebeten, die Zukunft vorauszusagen. Nacheinander hatten Unns Freunde und Nachbarn vor der alten Frau Platz genommen und gespannt ihren Prophezeiungen, ihrem Gegeifer und ihrem Flüstern gelauscht. Jetzt lagen alle mit vollgestopftem Bauch und mit Strömen von Ale gestilltem Durst in der Dunkelheit, und die alten Geschichten, die bis spät in die Nacht gesungen worden waren, hatten ihre Herzen erwärmt.
Unn hatte gewartet, bis der letzte Gast eingeschlafen war und die Sklaven zu Bett gegangen waren, bevor sie es gewagt hatte, vor die Seherin zu treten. Falls die vǫlva eine Antwort für sie hatte, sollte sie niemand sonst hören. Die letzten Flammen flackerten in der Feuerstelle, als griffe der bittere Wind mit kalten Fingern nach ihnen, um gierig jegliche Wärme zu ersticken. Er rüttelte an dem Torf auf dem Dach, verursachte seltsame Laute, als ginge jemand auf dem Haus. Unns Schultern zitterten, als wäre eine Ratte ihren Rücken hinuntergelaufen.
Mit einem tiefen Atemzug setzte sie sich und sah die Seherin auf der anderen Seite der allmählich erlöschenden Scheite an.
Die Zeit war gekommen, ihre Frage zu stellen.
Kapitel 2
„Ich sehe dich, Kjartansdottir.“
Unn zuckte zusammen, als die Seherin sprach. Die Lippen der alten Frau verzogen sich spöttisch, als sie den Namen sagte, mit dem die Isländer Unn riefen. Noch einen Augenblick zuvor schien sie an der Schwelle des Schlafes gewesen zu sein. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen vor dem Feuer, die Finger locker um ihren Eisenstab gelegt. Unns Blick fuhr zu der Holzschale, die neben der Seherin auf dem Boden stand. Sie enthielt noch immer Reste des Tranks, den sie am Abend zubereitet hatte, eine Mischung aus Saatgut, Kräutern und getrockneten Zweigen, die in warmem Wasser gelegen hatten. Je mehr die Alte davon getrunken hatte, umso wilder waren ihre Prophezeiungen geworden, umso unverständlicher ihr Gemurmel und umso leerer ihr Blick. Aber das alles schien nun schlagartig verschwunden zu sein.
„Du sprichst meinen Namen aus, als würde er einen schlechten Geschmack in deinem Mund hinterlassen“, sagte Unn leise, sich der vielen Schläfer in dem dunklen Langhaus bewusst.
Die Alte zuckte mit den Schultern und sah zur Seite, als wäre ihr das egal. „Ich weiß, dass das nicht dein richtiger Name ist“, antwortete sie. „Ich weiß, dass du ihn verbirgst.“
Beide Frauen hatten ihre besten Jahre hinter sich, aber im Gegensatz zu der alten, runzeligen Seherin hatte Unn noch einiges von ihrem guten Aussehen bewahrt. Ihre Wangen fingen an zu erschlaffen, und Krähen hatten ihre Fußabdrücke an den Rändern ihrer dunklen Augen hinterlassen, aber es war noch immer zu sehen, dass sie in ihrer Jugend eine atemberaubende Schönheit gewesen war.
Die Seherin oder vǫlva, wie die Isländer sie nannten, war am Vortag eingetroffen. Sie zog von Hof zu Hof und lebte von der großzügigen Gastfreundschaft der Menschen. Seit einigen Jahren hielt sie sich nun schon in Island auf. Ursprünglich stammte sie aus Norwegen, und wer vermochte schon zu sagen, wo sie davor gewesen war. Im Gegensatz zu anderen zauberkundigen seiðr-Frauen, die gern mit einem Gefolge junger Mädchen umherreisten, die sie bei ihren Ritualen unterstützten, indem sie Trommeln schlugen und heilige Lieder oder Beschwörungen sangen, war Heid allein. Aber ihr Ruf eilte ihr voraus, und jeder Hof in Island, der etwas auf sich hielt, wünschte sich einen Besuch von ihr. Die Ankunft der vǫlva war ein Zeichen, dass man für wichtig genug befunden worden war, ihren Besuch zu verdienen – und reich genug, um ihren Lohn zahlen zu können. Ihre Vorhersagen waren beeindruckend in ihrer Präzision, ihre Zauber versagten nie, und davon abgesehen, wer würde es schon wagen, jemanden abzuweisen, der in den magischen Künsten so erfahren war. Ihre Flüche waren so effektiv wie ihre Heilzauber.
Über Flüche wusste Unn Bescheid.
„Ich habe meine Arbeit getan“, sagte die alte Frau und sah Unn an. „Die Geister sind fort. Es gibt nichts mehr zu sagen. Du hättest früher kommen sollen, wie die anderen.“
Unn nickte und wollte wieder aufstehen. Dann hielt sie inne und holte tief Luft. Sie musste ihre Frage stellen.
„Ich habe dir zu essen und eine Unterkunft für die Nacht gegeben. Ich habe dich mit viel Silber bezahlt, damit du meine Gäste unterhältst“, sagte sie mit zitternder, aber entschlossener Stimme. „Sie haben dir auch viele Geschenke gemacht. Mir steht meine Zeit zu.“
„Unterhaltung?“ Die Alte schnaubte. „So betrachtest du meine Gabe?“
Unn biss sich auf die Lippe. War sie zu weit gegangen? Sie teilte den Glauben ihrer Nachbarn nicht, aber man hatte ihr in ihrer Jugend beigebracht, dass es nie von Vorteil sein konnte, jemanden zu beleidigen, der mit den Geistern der Anderswelt sprechen konnte. Manchmal sagten auch Dämonen und Teufel die Wahrheit. Die Nachbarn respektierten Unns anderen Glauben, aber die Gesetze des Landes besagten, dass sie ihren Gott nicht außerhalb ihrer vier Wände anbeten durfte. Toleranz beschränkte sich nur auf diejenigen, die sie kannten, und dessen war sie sich bewusst.
Die Alte sah sie einen Moment lang an. Dann schoss ihre blutbefleckte Hand so schnell, wie eine jagende Katze nach einer Maus schlägt, über das ersterbende Feuer. Unn hatte nicht damit gerechnet, dass sich eine gebrechliche Frau so schnell bewegen kann, und war überrumpelt. Die Alte griff in den Halsausschnitt ihres Kleids, ihre Finger verschwanden darin wie eine Spinne aus Knochen. Mit einem Ruck zog sie das Amulett hervor, das daran hing.
Bei seinem Anblick verzogen sich die Lippen der vǫlva erneut. Zwei sich überschneidende Halbkreise aus Silber bildeten die Umrisse eines Fisches. Eine beeindruckende Handwerksarbeit.
„Ich habe es gewusst.“ Heid ließ das Amulett los und lehnte sich zurück. „Du betest den Christengott an. Ich gehöre zu Odins Kindern. Warum kommst du zu mir?“
Unn schüttelte den Kopf. „Ich frage nicht für mich. Du hast recht. Wo ich aufwuchs, folgten wir unserem Herrn Jesus Christus. Aber man hat uns beigebracht, die Kräfte der weisen Frauen und Seher zu respektieren. Als du vorhin die Zukunft vorausgesagt hast …“
„Warum verbirgst du, wo du herkommst?“, unterbrach die Seherin sie mit zu wässrigen Schlitzen verengten Augen. „Ich weiß, dass du nicht von hier bist. Ich weiß, dass du weder zu unserem Volk noch zu unserem Glauben gehörst. Was ist das für ein Akzent? Irisch?“
„Das spielt keine Rolle.“ Unn blickte sich hastig im Raum um. „Wo ich herkomme, ist für dich nicht von Belang.“
Die Seherin kicherte leise.
„Woher weißt du diese Dinge?“, zischte Unn heiser.
Heid legte die Stirn in gereizte Falten, da sie das offensichtlich für eine sehr dumme Frage hielt.
„Ich bin eine Seherin, schon vergessen?“ Sie blickte Unn mit grausamer Intensität an. Ein verschlagenes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Ich weiß viele Dinge. Nicht nur von den Geistern. Ich reise umher. Ich bleibe hier und da. Ich höre zu. Oft höre ich Dinge, die ich nicht hören sollte. Ich bin eine spákona, die in die Zukunft blickt, aber ich werde auch gut für Dinge entlohnt, die ich im Heute erspähe. Vielleicht habe ich Neuigkeiten für dich, die dich interessieren könnten.“
„Was könnte mich schon am Tratsch meiner Nachbarn interessieren? Vielleicht ist Hrafnkel Hallfredssons preisgekröntes Pferd gestorben? Oder ist Bjarni Njalssons Ziege auf Grettir Gunnlaugssons Sommerweide gewandert?“
Heid grunzte. „Möglicherweise wärst du nicht so sarkastisch, würde ich dir sagen, dass mir vor vier Nächten auf einem Hof im Süden ein Händler von den Orkneyinseln begegnet ist.“
Unn blieb der Mund offen stehen. Die Seherin lächelte. „Ah! Ich dachte mir, dass dich das interessiert. Wir waren beide Gäste von Thorkill auf Mostar. Thorkill erzählte von der erstaunlichen Unn Kjartansdottir, der noch immer so schönen Irin, die nur zusammen mit ihrem Sohn den eigenen Hof bewirtschaftet. Der Händler interessierte sich dafür. Sehr sogar. Er hat viele Fragen gestellt. Wo kommst du her? Wann bist du hergekommen? Teilst du unseren Glauben? Solche Dinge eben. Er hat gesagt, dass der Jarl von Orkney sehr daran interessiert sein würde, davon zu hören.“
Unn runzelte die Stirn und sah auf die glühenden Scheite. Ihr Atem ging schwerer, dann blickte sie vom Feuer hinauf in die Schatten, die das Dachgebälk verbargen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Schultern sackten nach unten, und einen Augenblick lang wirkte sie am Boden zerstört.
„Ich wünschte, ich könnte dir für diese Neuigkeit danken“, sagte sie. In ihren Augen glänzten Tränen. Wieder warf sie einen nervösen Blick in den Raum.
„Ich wusste, dass dich das interessiert.“ Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf Heids Gesicht aus. „Dein Sohn …“
Schlagartig veränderte sich Unns Miene. „Was ist mit Einar?“ Ihre Zähne blitzten weiß im Feuerschein auf.
Die Alte kicherte leise, und Unn starrte sie aufgebracht an.
„Ein prächtiger Junge“, sagte Heid. „Groß und stark. Und ein Dichter. Der Skalde hat ganz schön eifersüchtig ausgesehen, als dein Junge die drápa von Hrolf Kraki sang.“
Trotz ihrer von der Gegenwart der Alten verursachten Beklommenheit verspürte Unn Stolz, als sie daran dachte, wie Einar die ganze Versammlung mit seinem Vortrag des Heldengesangs in seinen Bann geschlagen hatte. Snorri Thorketelsson, der Skalde, den Unn zur Unterhaltung der Gäste bezahlt hatte, hatte in der Tat etwas verstimmt gewirkt. Ihre Zufriedenheit hatte allerdings einen Dämpfer durch das viele Ale erhalten, das Einar danach getrunken hatte, aber es bestand nicht der geringste Zweifel, dass ihr Sohn eine ganz besondere Gabe für die Dichtkunst hatte.
„Mir ist nicht entgangen, dass er seine Zukunft nicht vorausgesagt bekommen wollte“, fuhr Heid fort. „Vielleicht ist er ja ein braver Sohn und wollte nicht, dass du siehst, wie ihm eine Seherin sein Schicksal vorhersagt.“
Unn schnaubte. „Wenn es doch nur so wäre. Er hat zu viel getrunken und schnarcht in seinem Bett. Aber deshalb bin ich hier. Nicht wegen mir, sondern wegen meines Sohns. Ich will, dass du mir Einars Zukunft vorhersagst.“
Die Alte hob eine Braue. „Bist du sicher? Manchmal bedauern die Leute, die Zukunft erfahren zu haben.“
Unn nickte zögernd.
Heid seufzte. „Also gut.“
Sie hob die Holzschale und trank sie aus, dann setzte sie sie wieder ab und griff nach ihrem Beutel. Er war aus dem schwarz-weißen Fell einer Katze gemacht und seidig weich. Sie schloss die Augen. Ihre Lippen bewegten sich, während sie Beschwörungen murmelte. Dann schüttelte sie einen Haufen kleiner Knochen aus dem Beutel vor sich auf den Boden, in die einzelne Runen geschnitzt waren. Unn entging nicht, dass die Knochen klein genug waren, um von den Fingern eines Kindes zu stammen.
Die Seherin öffnete die Augen und betrachtete schweigend einen Runenknochen nach dem anderen. Grabesstille senkte sich über das Langhaus. Nur das Heulen des Windes war zu hören.
Dann schloss Heid die Augen und lehnte sich zurück. Sie fing an zu singen.
„Eis und Feuer ringen miteinander. Die See wütet, aber Zwölf kommen aus dem Heim der Götter. Südwärts segeln sie; angeführt vom Blitz wird die Walstraße zum Schlachtfeld. Unbesäte Felder, kaum gereiftes Korn. Balder und Höd hausen in Hropts Ruhmeshalle. Dann gewinnt Hönir den Stab der Prophezeiung, und die Söhne von Tveggis Brüdern verweilen in Wanenheim.“
Unn runzelte die Stirn. Was war das für ein Unsinn?
„Eine blutige Axt wird geschwungen“, fuhr die Alte fort. „Wehe den Iren. Wehe den Nordmännern. Schädel werden gespalten.“
Unn riss die Augen auf. Sie beugte sich vor.
„Krieger wandeln am Himmel. Ein Schiff so schnell wie Skíðblaðnir überquert das Meer des Nordens. Da ist Blut auf dem Eis. Einar muss Island verlassen. Er muss die Wahrheit über seinen Vater herausfinden. Das ist sein Schicksal. Ich sehe ihn in einem Wald. Er läuft mit einem Rudel Wölfe. Einar ist kein Einzelkind. Urd, Verdandi und Skuld sehen zu. Sie erlassen Gesetze. Gesetze werden gebrochen. Den Söhnen der Menschen werden Lebensspannen zugeteilt. Ihr Schicksal steht fest. Männer in einem brennenden Haus. Jarle und Könige spielen in der Irischen See ein Kriegsspiel. Odin lacht. Der Sohn kämpft gegen den Vater. Einer tötet den anderen.“
Unn holte scharf Luft.
Heid blinzelte und sah Unn an, als wäre sie von ihrer Anwesenheit überrascht. Verwundert führte sie eine Hand zur Wange.
„Was … habe ich gesagt?“ Die Alte senkte den Blick wieder zum Feuer.
„Du hast von Einar gesprochen“, sagte Unn. „Was hat das alles zu bedeuten? Du hast vom Schädelspalter gesprochen. Einar muss gehen? Ein Sohn kämpft gegen seinen Vater?“
„Habe ich …?“ Heid schüttelte den Kopf. Plötzlich sah sie wie die verbrauchte alte Frau aus, die sie war.
Unn runzelte die Stirn. War die Seherin tatsächlich von einem Teufel besessen gewesen? Hatte der Geist durch ihren Mund gesprochen und war nun verschwunden, hatte sie völlig verwirrt zurückgelassen? Oder war das alles nur ein Schauspiel gewesen?
„Geh!“, rief die Alte. „Ich bin zu müde dafür. Ich sage nichts mehr.“
Unn starrte sie an, erkannte dann aber, dass jede weitere Diskussion sinnlos war. Die alte Frau sah völlig erschöpft aus. Sie spielte nichts vor.
Unn stand auf, strich ihr Kleid glatt und holte tief Luft, während sie versuchte, sich zu sammeln.
„Es ist spät“, sagte sie. „Zeit, dass wir alle zu Bett gehen.“
Aber sie wusste genau, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde.
Kapitel 3
Einar Unnsson öffnete verwirrt ein Auge. Gerade noch hatte er tief geschlafen, sein Verstand war in der angenehmen Wärme eines Meeres aus Ale versunken gewesen. Jetzt war er wach.
„Steh auf, du fauler Hund!“ Die Stimme seiner Mutter erschien unerfreulich laut. Sie stand über ihm, und der dumpfe Schmerz in seinem Oberschenkel verriet ihm, dass sie ihn mit einem Tritt geweckt hatte. Die kalte Liebkosung der Luft verriet ihm, dass sie ihm auch die Decke weggezogen hatte. Sie musste wirklich wollen, dass er aufstand.
„Es wird Zeit“, sagte Unn.
Einar stöhnte bei dem stechenden Schmerz hinter seinen Augen.
„Was hast du?“
Er drückte die Finger an die Schläfen. „Die Elfen müssen in der Nacht auf mich geschossen haben. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.“
Seine Mutter schnalzte nur laut mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Elfen! In meiner Kindheit hieß es bei mir zu Hause, dass die Feen mit unsichtbaren Pfeilen auf einen schießen, wenn Leute plötzlich Schmerzen verspürten. Hier sind es die Elfen. Schon komisch, wie diese Wesen ihre Bögen stets auf die richten, die am Abend zuvor zu viel Ale getrunken haben.“
Einar seufzte und setzte sich auf. „Zeit wofür, Mutter?“
Aber sie hatte sich bereits von seiner Bettstatt abgewandt und eilte davon.
„Der Barde Snorri reist ab“, sagte sie über die Schulter. „Du solltest dich von ihm verabschieden.“
Einar ließ sich auf das alte Wolltuch zurückfallen, das auf seinem Bett lag, und stieß einen tiefen Seufzer aus. Es war nichts zu machen. Er würde aufstehen müssen. Sie würde bald zurückkommen, um sich zu vergewissern, ob er auf den Beinen war.
Die Tür des Langhauses stand offen, Tageslicht strömte hinein. Aber es war noch früh. An den Seiten des großen Raumes schnarchten noch immer Gäste, was wenig überraschend war, wenn man bedachte, wie ausgelassen sie am Vorabend gefeiert hatten. Hilda, die Sklavin seiner Mutter, stand über die Feuerstelle gebeugt und schürte das Feuer wieder an. Abgesehen von ihr war noch niemand auf den Beinen.
Die Vorstellung, mit Snorri Thorketelsson sprechen zu müssen, erfüllte Einar nicht mit Begeisterung. Der Skalde war ein temperamentvoller Mann, und bei dem Fest war er in einer seltsamen Stimmung gewesen. Man konnte ihn schnell auf dem falschen Fuß erwischen, und Einar vermutete, dass er genau das getan hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Er schob sich aus der tröstlichen Wärme seines Bettes und kämpfte sich in die Hose. Sein schrecklicher Kater ließ ihn nach Luft schnappen, er stolperte hinaus an die frische Luft. Das Licht des grauen Morgenhimmels war schwach und kalt, trotzdem kniff er die Augen zusammen, als wäre es eine blendende Glut. Einen Augenblick später öffnete er sie vorsichtig einen Spalt und beschattete sie mit der Hand.
Snorri stand für die Reise gekleidet ein Stück entfernt und belud sein Pferd. Das Tier fraß von dem spärlichen Gras am Boden, während Snorri seine in einer schützenden Ledertasche verstaute Harfe hinter dem Sattel festschnallte. Als Einar auftauchte, hob er den Blick, sagte aber kein Wort. Einar war überzeugt, dass er das Gesicht verzogen hatte, bevor er sich wieder den Riemen seiner Harfe zuwandte.
„Du bist früh auf“, bemerkte Einar und stolperte zu der aus grobem Stein gemeißelten Tränke. Der Skalde antwortete nicht. Einar atmete tief durch die Nase und versuchte den Aledunst aus seinem Kopf zu vertreiben. Er stieß die Finger durch die dünne Eisschicht auf dem schwarzen Wasser, holte erneut tief Luft und tauchte dann den Kopf in die eiskalte Flüssigkeit.
Keuchend riss er ihn wieder aus dem Wasser und verspritzte überall Tropfen, als sein nasses Haar durch die Luft peitschte. Kurz blinzelte er Wasser aus den Augen, dann runzelte er die Stirn.
„Ich dachte, das würde meinem Kopf helfen“, sagte er. „Aber es hat nichts genützt. Ich muss gestern Abend genug getrunken haben, um ein Langschiff versenken zu können.“
Snorri schwieg noch immer. Langsam wurde Einar ärgerlich. Der Mann war einfach unhöflich. Er ging zu dem Skalden und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Was ist los, Snorri? Seit du gestern Abend auf dem Fest gesungen hast, hast du kaum ein Wort von dir gegeben“, sagte er. „Jetzt bist du schon bei Tagesanbruch auf den Beinen und schleichst dich davon, während alle noch im Bett liegen?“
Snorri zuckte mit den Schultern und blickte in Richtung des mit Ginster bewachsenen Hügels, der sich gegenüber dem Hof erhob. „Ich habe zu tun. Viele reiche Männer wollen meine Lieder hören.“
Einar grunzte. „Das ist es nicht. Aber wie ich sehe, hast du eine deiner Launen. Ich werde den wahren Grund nicht von dir erfahren. Wann erhalte ich meinen nächsten Unterricht? Vielleicht geht es dir dann ja besser.“
„Es wird keine nächste Unterrichtsstunde geben“, erwiderte Snorri. „Es wird überhaupt keinen Unterricht mehr geben.“
Einar war sprachlos. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
In diesem Augenblick gesellte sich seine Mutter zu ihnen. Ihr entgingen das nasse Haar und das feucht glänzende Gesicht nicht.
„Gut“, sagte sie. „Du hast dir dieses Teufelsblut abgewaschen.“
Endlich lächelte Snorri. „Ich werde dich nie verstehen, Unn“, meinte er freundlich. „Du betest den Christengott an, erziehst aber deinen Sohn in unserem Glauben.“
Unn warf dem Skalden einen scharfen Blick zu, als hätte er gerade das Dümmste gesagt, was sie je gehört hatte.
„Sein Vater war ein Heide, genau wie ihr alle. Der Junge muss zu euch gehören. Ich will nicht, dass er aus der Masse hervorsticht. Die, die allein gehen, beschreiten den schwersten Weg.“
„Und damit weißt du genauso viel über meinen Vater wie ich, Snorri“, fügte Einar hinzu.
Seine Mutter schnalzte mit der Zunge und verschränkte die Arme. Einar seufzte. Wie immer, wenn das Thema seines Vaters zur Sprache kam – oder überhaupt etwas über ihre Vergangenheit –, verschloss sie sich fester als eine Muschel.
„Wir wissen nur, dass er zu einer Reise aufbrach und starb“, fuhr er mit einer Spur Bitterkeit fort. „Er ließ meine Mutter, die arme Witwe, mit mir als Einzigem zurück, der sich um sie kümmert.“
„Ich habe gehört, dass Hrapp, der Gode, daran interessiert ist, deine Einsamkeit zu lindern“, sagte Snorri zu Unn. „Er ist kürzlich selbst Witwer geworden und spricht in höchsten Tönen von dir.“
Unn schnaubte. „Er ist doch nur an meinem Land interessiert und will den leeren Platz in seinem Bett füllen. Dieser Hof ist das Erbe meines Sohnes. Ich werde ihn kaum einem alten Ziegenbock übergeben, dessen Weib in ihrem Grab nicht mal kalt ist.“
Snorri zuckte mit den Schultern. „Er ist ein reicher Mann. Er könnte dir ein bequemes Leben bieten. Andererseits hast du in den vergangenen achtzehn Wintern ja auch sonst niemanden geheiratet.“
Unn hielt die Arme weiter verschränkt. „Ich war einmal verheiratet. Das hat gereicht.“
„Snorri hat mir gerade gesagt, dass du in Zukunft etwas Geld sparen wirst“, wechselte Einar das Thema, denn er wusste aus Erfahrung, dass es völlig sinnlos war, weiter über seinen Vater zu sprechen. „Du musst ihn nicht länger bezahlen, damit er mir beibringt, wie man singt.“
Unn runzelte die Stirn. „Was soll das heißen? Willst du mehr Geld haben?“
Snorri verdrehte die Augen, dann warf er Einar einen vorwurfsvollen Blick zu. „Nein, darum geht es nicht.“ Er seufzte.
„Ist mein Sohn nicht gut genug für dich? Wie kannst du das sagen, so wie er gestern Abend gesungen hat?“
Snorris Gesicht, das für gewöhnlich von dem kalten Wind und dem vielen Ale, das er trank, gerötet war, wurde noch röter. Er schaute zu Boden, dann hob er den Blick und sah Einar das erste Mal in die Augen.
„Ihm gestern Abend zuzuhören, hat mir das klargemacht“, sagte er. „Einar, ich kann dir nichts mehr beibringen. Du bist bereits besser als ich.“
Er wandte sich Unn zu. „Du hast doch gesehen, wie er alle mit seinem Gesang verzaubert hat. Das ist eine seltene Gabe. Es geht über das reine Singen hinaus. Jetzt kann ich ihm nur noch andere Gesänge beibringen. Was die Technik angeht, kann dein Sohn nichts mehr von mir lernen.“
Die Stimme des Skalden klang hart, und Einar wurde klar, dass die Feuchtigkeit in seinen Augen nicht von dem kalten Wind verursacht wurde.
„Ich bedanke mich für deine netten Worte, aber du hast doch bestimmt nicht deshalb so schlechte Laune?“, wunderte sich Einar. „Das zeigt doch nur, was für gute Arbeit du geleistet hast.“
Snorri lächelte, aber da war auch eine gewisse Bitterkeit in dem Ausdruck. Einars Mentor sah nicht nur müde, sondern alt aus.
„Vielleicht wirst du eines Tages erfahren, wie es sich anfühlt, vierzig Winter hinter dir zu haben“, sagte der Skalde. „Und dann kommt ein junger Bursche von achtzehn des Weges, der bereits besser als du ist, und er kann nur noch besser werden. Und dir wird klar sein, dass du niemals so gut wie er sein wirst, selbst wenn du es für den Rest deiner Tage versuchst. Vielleicht wird dir das passieren, aber nach dem zu urteilen, was ich gestern Abend erlebt habe, müsste dieser junge Bursche wahrlich ein ganz besonderes Talent haben.“
Einar runzelte die Stirn. „Du sprichst in Rätseln.“
Snorris Lächeln wurde breiter. Die Dunkelheit in seinen Augen verschwand. Er klopfte Einar auf den Rücken. „Möglicherweise singst du ja besser als ich, aber du hast noch eine Menge zu lernen, bevor du so klug bist wie ich. Ich muss los.“
Er stieg auf.
„Darf ich dir einen letzten Rat geben?“, fragte der Skalde, während er sich auf dem Sattel zurechtsetzte.
„Natürlich.“
„Odin hat dir eine seltene Gabe verliehen.“ Snorri warf Unn einen Blick zu, bevor er fortfuhr. „Island ist ein kleiner Ort. Da draußen gibt es eine große Welt voller Leute, die sich alle danach sehnen, Geschichten von einem guten Skalden zu hören. Verschwende dein Talent nicht damit, dass du auf deinem Bauernhof den Kühen vorsingst, wenn Könige und Jarle für dieselben Geschichten Gold bezahlen werden.“
„Ich würde lieber neue Geschichten erschaffen, als die von anderen zu erzählen“, erwiderte Einar.
„Viel Glück.“ Snorri nickte Mutter und Sohn zu, dann stieß er dem Pferd die Fersen in die Seite, und es trottete den Weg entlang, der von Unns Hof fortführte.
Unn und Einar sahen ihm nach, dann wandte sie sich ihrem Sohn zu.
„Wenigstens spart mir das etwas Silber“, sagte sie. „Jetzt zieh dein bestes Hemd an. Wir besuchen den Goden.“
Einar runzelte die Stirn. „Hrapp? Was wollen wir denn bei dem alten Ziegenbock?“
„Zieh dich einfach an“, erwiderte seine Mutter. „Etwas ist geschehen. Wir werden seine Hilfe brauchen.“
Kapitel 4
Einar und seine Mutter ritten mit ihren Ponys über den kleinen Pfad, der durch das Tal zum Haus des Häuptlings führte. Die Reise hatte sie den halben Morgen gekostet und Einars Kater nicht im Mindesten geholfen.
„Ich dachte, du kannst Hrapp nicht ausstehen“, murrte er.
„Man muss seinen Goden nicht mögen, um ihn um seine Hilfe zu bitten“, erwiderte Unn.
„Und als er vor ein paar Wochen diesen Sklaven mit dem eingesalzenen Vogelfleisch geschickt hat? Er benimmt sich wie ein liebeskranker Bursche, der seine erste Frau umwerben will, dabei ist er ein alter Mann, dessen Weib kaum unter der Erde liegt. Das ist dir doch bestimmt klar. Du hast selbst gesagt, dass er nur hinter unserem Hof her ist.“
Unn sah ihren Sohn missbilligend an. „Hrapp ist in meinem Alter. Und das Fleisch hat dir gut geschmeckt.“
Einar runzelte die Stirn, und sie beendeten den Ritt schweigend.
Wie es sich für den Goden des Bezirks gehörte, war Hrapps Langhaus doppelt so groß wie das aller anderen. Das mit Torf gedeckte lange Dach stieg wie ein Buckelwal aus dem Wasser eines Meeresarms aus dem bleichen Grasland auf.
Der goði hatte das dísablót viel aufwendiger als Unn gefeiert, und die vielen Pferde seiner Gäste standen festgezurrt in der Nähe der steinernen Ställe an der Seite des Hauses. Einars Augen weiteten sich beim Anblick des Berges von geschlachteten Tieren neben dem kleinen Bach, der sich ein Stück weiter durch das Gelände schlängelte. Das kristallklare Wasser vermischte sich mit dem dunklen Blut aus den Kadavern, an den Steinen im Bachbett stand rosafarbener Schaum. Ein paar Männer vom Hof nahmen die Tiere auseinander, schnitten sie in Stücke, die man für den kommenden Winter räuchern, trocknen oder einsalzen würde. Ein Stück weiter wurde die rote Färbung noch intensiver, wo die Sklaven die Eingeweide der Tiere im fließenden Wasser auswuschen. Aus den weißen, grünen und purpurroten Darmschlingen und anderen Innereien flossen Blut und Kot; man säuberte sie und bereitete sie für die spätere Nutzung vor. Nicht ein Stück der Tiere würde verschwendet werden. In diesem Winter würde es auf Hrapps Hof keinen Mangel an Nahrung geben.
Einar fröstelte, als er an die dunklen, kalten Monate dachte, die vor ihnen lagen, in denen sie alle drinnen eingesperrt sein würden, während die Häuser vermutlich unter Schnee begraben lagen, in einer dunklen, eiskalten Nacht, die Wochen andauern würde; sie würden alle zusehen müssen, wie die dürftigen Vorräte dahinschmolzen, während die Langeweile den Hunger, der an den Eingeweiden nagte, noch verstärkte.
„Wenn uns dieses Jahr die Nahrung ausgeht, wissen wir, an wen wir uns wenden müssen“, sagte Unn aus dem Mundwinkel. „Hrapp hat hier genug, um ein ganzes Heer zu versorgen.“
Ein junger Mann ungefähr in Einars Alter, hochgewachsen und gut aussehend, sah den Schlachtern bei der Arbeit zu. Sein langes blondes Haar war gekämmt und wehte im Wind. Ein kurzer Bart schmiegte sich an Wangen, die wie aus Kalkstein gemeißelt aussahen; die Augen waren so blau wie engjamunablóm im Frühling. Einar erkannte Audun Hrappsson sofort. Wie es sich für den Sohn eines Goden gehörte, strahlten Auduns Haltung und Kleidung den Reichtum und das Selbstbewusstsein aus, die Macht mit sich brachte. Seine Tunika war aus feinster Wolle, verziert mit Stickereien in mindestens drei Farben, die verschlungene Muster bildeten. Ein greller Kontrast zu Einars düsterer, grober, ungefärbter Wollkleidung.
Ein Thrall hieb ein Schlachterbeil in den Nacken einer Ziege und ließ dunkles Blut auf das Gras spritzen. Der blonde junge Mann runzelte die Stirn und trat einen Schritt zurück.
„Pass auf“, knurrte er den Sklaven an. „Ich will nichts davon auf meiner Kleidung.“
„Reite vor mir“, befahl Unn ihrem Sohn. „Du bist der Mann in meinem Haushalt, du musst zuerst gehen.“
Einar seufzte und trieb sein Pferd vor das seiner Mutter.
Audun entdeckte sie und sah ihnen mit in die Hüften gestemmten Fäusten entgegen.
„Einar Unnsson“, sagte er. „Was bringt dich zum Hof meines Vaters? Willst du vor dem Spiel morgen unsere Taktik ausspionieren?“
Einar biss sich auf die Lippe. Er hatte sein ganzes Leben in einem Land verbracht, in dem er der einzige junge Mann war, dessen Nachname der seiner Mutter war. Jeder andere Jüngling war nach seinem Vater benannt. Die Jungen in seinem Alter hießen Bjarnisson, Njalsson oder Hrappsson – nur er nicht. Jeder andere konnte bei der Vorstellung mit Stolz verkünden, wer sein Vater war. Einar konnte das nicht. Selbst nach achtzehn Jahren durchfuhr ihn bei „Unnsson“ ein Stich der Scham. Je älter er wurde, desto schlimmer wurde es sogar. Und er wusste nur zu genau, dass die Art und Weise, wie Audun den Namen betonte, eine absichtliche Herabsetzung war, was zusätzlich Salz in die Wunde rieb.
„Wir brauchen deine Taktik nicht auszuspionieren, um euch zu schlagen, Audun“, sagte Einar, während er das Pferd zügelte. „Wir haben dieses Jahr eine großartige Mannschaft.“
Am Abend des zweiten Tages des dísablót würde weiter gefeiert werden, aber morgen würden die jungen Männer des Bezirks den offiziellen Beginn des Winters mit dem ersten knattleikr-Spiel der Jahreszeit einläuten. Einars Mannschaft, Midfjord, würde auf dem Eis gegen Auduns Vididaler antreten.
„Eine großartige Mannschaft?“ Audun schnaubte verächtlich. „Aus Midfjord? Von euch Ziegenhirten haben wir nichts zu befürchten. Letztes Jahr haben wir es euch gezeigt, oder?“
„Gunnar ist zurück von der Beutefahrt.“ Einar bemerkte mit Vergnügen, dass Audun bei dieser Neuigkeit verstummte. „Dieses Jahr wird es anders sein.“
„Ein Mann macht keine Mannschaft“, sagte Audun. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Eines muss ich Midfjord jedoch lassen, ihr habt ein paar hübsche Mädchen. Eine ist eine echte Schönheit. Sie heißt Asgerd. Kennst du sie näher?“
Einar biss die Zähne zusammen und beugte sich im Sattel vor.
„Wir sind nicht gekommen, um über Jungenspiele und Mädchen zu sprechen“, unterbrach Unn die beiden jungen Männer.
„Warum seid ihr dann hier?“, fragte Audun, noch immer an Einar gewandt.
„Meine Mutter hat etwas mit deinem Vater zu bereden“, sagte Einar und bereute seine Worte sofort, sobald sie ihm über die Lippen gekommen waren.
Audun grinste und murmelte den Knechten, die in seiner Nähe standen, etwas zu. Alle kicherten. Unwillkürlich errötete Einar, was ihm sehr missfiel, und es überlief ihn kalt.
„Wo ist Hrapp?“, mischte sich Unn wieder in die Unterhaltung ein.
„Heute Morgen findet eine Namensgebungszeremonie statt.“ Audun zeigte in die Richtung des Hauses. „Ihr findet ihn im hof.“
Abgesehen von Reichtum und Status gab es noch einen Grund, warum Hrapps Haus länger als die meisten im Bezirk war. Der goði musste Frieden und Glauben aufrechterhalten. Als Häuptling wurde von Hrapp nicht nur erwartet, in seinem Bezirk für Recht und Ordnung zu sorgen, sondern sich auch um die spirituellen Bedürfnisse seiner Leute zu kümmern. Aus diesem Grund war ein großer Raum am Ende seines Hauses den Göttern als heiliger Ort gewidmet, ein hof. Ein öffentlicher Ort, an dem der goði dafür sorgte, dass die korrekten Riten praktiziert wurden, um die Asen gnädig zu stimmen.
Einar und Unn stiegen ab und gingen zum hof. Die mit Schnitzereien verzierten Holztüren standen offen, aber das schwache Sonnenlicht drang kaum ins Innere. Man konnte nur ein paar sich in dem Raum bewegende Gestalten ausmachen. Der Duft brennender Kräuter wehte ihnen entgegen.
Unn blieb an der Schwelle stehen.
„Ich gehe nicht hinein“, verkündete sie. „Das ist das Haus des Teufels. Du gehst.“
Bevor Einar sich in Bewegung setzen konnte, trat eine Gruppe Leute heraus. Es war ein junges Paar, die Mutter hielt den Säugling, der in ein besticktes Tuch gewickelt war. Einar erkannte die beiden als Brynjar und Ingibjörg. Ihre Vermählung vergangenen Sommer war im Bezirk ein großes Ereignis gewesen und das erste Mal, dass er vor einer Menge gesungen hatte. Alle nickten zur Begrüßung.
Hrapp kam hinter dem Paar. Wie es sich für einen Häuptling gehörte, war er ein großer Mann. Hochgewachsen und mit einer Brust so breit wie ein großes Alefass; darunter wölbte sich ein Bauch, der von dem Inhalt vieler solcher Fässer genährt worden war. Sein langes weißes Haar und der Bart waren zu ordentlichen Zöpfen geflochten, und seine weiße Tunika war mit einem Mjölnir bestickt, Thors mächtigem Hammer, dazu kamen Eber, ein Adler und noch andere Symbole der Götter. Es war die angemessene Kleidung für jemanden, der die religiöse Zeremonie vollziehen musste, die gerade beendet worden war. Sein fleischiger rechter Unterarm quoll über den goldenen Armreif, den der Gode bei der Durchführung heiliger Zeremonien laut Glaubensgesetz tragen musste. Getrocknete braune Blutspritzer nahmen dem Metall seinen Glanz.
Die Stirn des Säuglings war noch feucht von dem Wasser, das man während der Namensgebungszeremonie darauf getröpfelt hatte, und er strampelte in den Armen seiner Mutter.
Bei seinem Anblick wurde Unns Miene weicher. „Er ist ein großer, starker Junge“, sagte sie zu der Mutter. „Ich bin so froh, dass ihr ihn behalten konntet.“
Die Eltern nickten. Das Leben in Island war hart und die Rohstoffe knapp. Oft gab es nicht genug für alle zu essen. Manchmal konnten Eltern einfach kein weiteres Kind ernähren, dann setzte man Neugeborene in der Heide aus, wo sie den Elementen ausgeliefert waren; Wind und Kälte würden ihre jungen Seelen mit sich nehmen. Das war kein Mord, sondern einfach nur Überleben. Einar verspürte ein Frösteln, als er daran zurückdachte, wie er ein paar Jahre zuvor auf die Leiche eines Säuglings gestoßen war, der von den Eltern, die keinen weiteren Esser mehr hatten ernähren können, auf der Heide zum Sterben ausgesetzt worden war. Seitdem suchten ihn die geschwärzte Haut und das verzerrte Gesicht des Kleinen in seinen Träumen heim. Nachdem dieser Säugling nun einen Namen erhalten hatte, stand fest, dass er dieses Schicksal nicht teilen würde. Nun war das Kind offiziell eine Person, sowohl in den Augen des Gesetzes wie auch des Glaubens.
„Wie habt ihr ihn genannt?“, fragte Unn.
„Koll“, sagte die Mutter mit einem breiten Grinsen.
Ihrem Gemahl Brynjar schwoll die Brust. Er legte Ingibjörg die Hand auf die Schulter. „Koll Brynjarsson.“ Vor Stolz klang seine Stimme belegt.
Einar schaute zu Boden.
Als Hrapp Unn entdeckte, erhellte ein entzücktes Lächeln sein Gesicht.
„Unn Kjartansdottir!“, donnerte er. „Das ist in der Tat eine Ehre. Was bringt dich auf meinen bescheidenen Hof? Ziehst du mein Angebot in Betracht?“
Einar versteifte sich, als der große Häuptling seiner Mutter zuzwinkerte.
„Du bist eine gut aussehende Frau, Unn“, fuhr Hrapp fort. „Als mein Weib an meiner Seite wärst du eine willkommene Verschönerung meiner bereits prächtigen Festhalle.“
Unn ignorierte das Funkeln in den Augen des Goden. „Du meinst, mein Hof wäre eine willkommene Verschönerung deines Besitzes?“
Hrapp sah niedergeschlagen aus.
„Kannst du deiner Mutter nicht etwas Vernunft beibringen, Junge?“, wandte er sich an Einar. „In unserem Alter haben die meisten Frauen ihr gutes Aussehen und ihre Figur verloren. Sie hat beides. Es ist eine solche Verschwendung, dass sie allein bleibt.“
„Ich bin wegen einer ernsten Angelegenheit gekommen“, sagte Unn. „Ich bringe die Nachricht von einer Gefahr. Ein norwegischer Spion ist unter uns in Island.“
Hrapp zog die Brauen hoch. Brynjar wurde ernst. Einar sah seine Mutter überrascht an.
„Bei Thors Eiern“, murmelte Hrapp.
Es schockierte Brynjar, Ingibjörg und Einar, einen derart respektlosen Fluch ihres Goden an der Tür des Heiligtums zu hören, und sie warfen besorgte Blicke in das darin herrschende Zwielicht. Brynjar berührte den Thorshammer an seinem Hals.
„Was ist?“, fragte Audun, der hinzugekommen war und den ernsten Ausdruck auf den Gesichtern der Versammelten bemerkt hatte.
Hrapp hakte die Daumen in den Gürtel und straffte die Schultern. „Das ist eine ernste Anschuldigung“, sagte er zu Unn. „Erzähl mir mehr davon.“
„Auf einem Hof im Süden ist derzeit ein reisender Händler zu Gast“, antwortete Unn. „Seine Waren sind aber nur der Deckmantel für seine wahren Absichten. Tatsächlich steht er im Sold von König Erik von Norwegen und soll Wissen über uns sammeln.“
Hrapp atmete tief ein.
„Das ist nicht gut“, sagte Audun zu seinem Vater.
„Woher weißt du das?“, verlangte Hrapp von Unn zu wissen. Seine vorherige Jovialität war tödlichem Ernst gewichen.
„Die spákona hat es mir gesagt. Heid war für das dísablót in meinem Haus. Sie hat es bei ihrem Besuch auf jenem Hof herausgefunden, auf dem sich der Händler gerade aufhält.“
Einar runzelte die Stirn. „Was? Wann hat sie das erzählt?“
„Spät in der letzten Nacht“, sagte Unn abschätzig. „Du warst betrunken und hast geschlafen.“
„Und woher weiß Heid, dass er ein Spion ist?“, fragte Einar.
Seine Mutter zuckte mit den Schultern. „Sie ist eine Seherin und hat das Zweite Gesicht. Sie hat ihn mit ihrer Magie verzaubert, damit er die Wahrheit sagt.“
„Für einen Spion hört sich das nicht besonders schlau an“, meinte Einar. „Und selbst wenn er tatsächlich ein Spion ist, was soll’s? Welchen Schaden kann ein einzelner Mann schon anrichten?“
Die anderen blickten ihn finster an, und er war peinlich berührt. Offensichtlich hatte er da gerade etwas sehr Dummes gesagt.
„Die Tyrannei von Eriks Vater Harald hat unsere Väter und Großväter aus den Heimen ihrer Vorväter vertrieben“, sagte Hrapp anklagend. „Heute nennt man ihn Harald Schönhaar, aber damals wurde er Harald Zottelhaar gerufen. Seine Arroganz und seine Gier kannten keine Grenzen. Norwegen war ein Ort, an dem Männer als Gleichgestellte leben konnten, vorausgesetzt, sie hatten die dazu nötige Kraft. Aber Harald wollte, dass jeder vor ihm das Knie beugte. Alle mussten sich dem Tyrannen unterwerfen oder sterben.“
Die Anwesenden nickten mit grimmigen Gesichtern. Es war eine allgemein bekannte Geschichte.
„Unsere Vorväter, die nicht im Kampf gegen Harald gestorben waren, verließen ihre Heimat und ihre Sippen, um das Nordmeer zu überqueren und dieses Land zu besiedeln. Dabei schworen sie, dass es ein Ort werden sollte, an dem das Volk frei vom Joch der Könige ist. Genau wie sein Vater würde Erik nichts lieber sehen, als diese Freiheit zu beenden. Genau wie König Sigtrygg von Dänemark und all die anderen königlichen Bastarde, die es nicht ertragen können, eine Nation freier Menschen zu sehen, die sich nicht ihrer Autorität unterwerfen. Wir Isländer haben keinen König. Keine Jarle. Keine Adligen. Wir entscheiden unsere Angelegenheiten beim þing. Unsere Freiheit ist eine kostbare Sache, und wir müssen stets wachsam gegen jene sein, die sie uns stehlen wollen.“
Einar hatte das Gefühl, gerade zurechtgewiesen worden zu sein.
„Wenn Erik Blutaxt von Norwegen Spione entsendet, wird er vorhaben, später Schiffe und Krieger zu schicken. Vater, wir können diesen Mann nicht frei herumlaufen lassen“, fügte Audun hinzu. Er hörte sich mehr als nur etwas gönnerhaft an, und Einars Nackenhaare sträubten sich.
Hrapp warf seinem Sohn einen scharfen Blick zu, der deutlich besagte, dass er dessen Rat ebenfalls nicht zu schätzen wusste. „Glaubst du, das wüsste ich nicht, Audun? Geh und nimm den grauen Wallach, Freyfaxi. Er ist unser schnellstes Pferd. Reite los und hol meine eidverschworenen Männer zusammen, meine Thingmänner und die anderen Krieger, die ich in Zeiten der Gefahr zusammenrufen kann. Sag ihnen, sie sollen sich zur Schlacht rüsten und so schnell herkommen, wie sie können.“
Hrapp richtete den Blick auf Einar. „Du reitest nach Süden und bestellst diesem Händler, dass ich ihn dazu einlade, den zweiten Abend des dísablót auf meinem Hof zu feiern. Bring ihn mit, und wir werden diesem norwegischen Spion ein raues Willkommen bereiten. Versage nicht. Unsere Freiheit könnte von dieser Mission abhängen.“
Obwohl er Hrapp nicht mochte, straffte Einar die Schultern, eine instinktive Reaktion auf die befehlsgewohnte Stimme des Goden.