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Wissenschaftsthriller

Spannende Rätsel und wissenschaftliche Geheimnisse

Wenn Wissenschaft und Fiktion verschmelzen, ist Nervenkitzel garantiert!

Unsere Wissenschaftsthriller nehmen Sie mit auf eine atemberaubende Reise voller Spannung, Intrigen und wissenschaftlicher Rätsel.  Fundiert von unseren Autor:innen recherchiert, bieten die Romane die Möglichkeit, sich mit wissenschaftlichen Konzepten und Technologien auf unterhaltsame und fesselnde Weise auseinanderzusetzen. Von Künstlicher Intelligenz bis hin zur Gentechnik gibt es in der Welt der Wissenschaft viele aktuelle und spannende Themen, die in den Thrillern aufgegriffen werden und die Leser:innen in ihren Bann ziehen.

Der Genre-Mix von Krimi, Horror und Science Fiction kombiniert mit wissenschaftlichem Fortschritt machen Wissenschaftsthriller zu informativen und packenden Pageturnern.

 

 

Wenn Viren zu Waffen werden

Ein atemberaubenden Thriller von Hendrik Streeck

Blick ins Buch
Das Institut  –  Im Schatten der WissenschaftDas Institut  –  Im Schatten der Wissenschaft

Thriller

Ein tödliches Virus, ein renommiertes Institut und ein Polizist, der auf eine unfassbare Geschichte stößt 

»Im Thriller namens Corona-Pandemie haben wir Hendrik Streeck als brillanten Kopf kennengelernt. Im Thriller ›Das Institut‹ entfesselt Streeck als Romanautor ein fulminantes Szenario rund um den Wissenschaftsbetrieb – und im Gegensatz zur Pandemie wünschen wir uns eine baldige Fortsetzung.« FRANK SCHÄTZING

Eine junge Wissenschaftlerin stürzt von einem Hochhaus in Boston. Detective Vince Brickle ermittelt und stößt rasch auf eine Reihe von Ungereimtheiten: Die Tote forschte am Virologischen Institut an einem wichtigen Projekt und stand kurz vor dem Durchbruch. Zusammen mit dem Virologen Frank findet Vince heraus, dass die Wissenschaftlerin ein neues gefährliches Virus so manipuliert hat, dass es als tödliche und zielgerichtete Waffe eingesetzt werden kann. Plötzlich finden sich die beiden im Zentrum eines Wettstreits zwischen Forschung, US-Militär und einem chinesischen Pharmakonzern wieder.

SPIEGEL-Bestsellerautor Hendrik Streeck legt einen atemberaubenden Thriller vor, der in die tiefsten Abgründe der Wissenschaft blickt.

Kapitel 1 – Morgendusche

Vince

Die Uhr auf dem Display zeigt 3:14 Uhr. Für einen Moment halte ich inne und starre gedankenverloren auf den Nieselregen, der den Blick durch die Windschutzscheibe meines Toyota Prius nach und nach verschwimmen lässt. Ich steige aus dem Auto aus. Die vielen winzigen Tropfen auf der Haut fühlen sich angenehm an. Mein Gesicht, meine Haare sind sofort nass. Aber das macht nichts. Erst vor zehn Minuten hat mich ein Anruf aus dem Bett geholt. Geduscht habe ich nicht, sondern mir nur schnell ein weißes Hemd und die Chinos, die vor meinem Bett lagen, angezogen, um hierherzufahren. Der Regen ist erfrischend, und ich schaue für einen Moment hoch in den Nachthimmel. Ich schließe die Augen, um das Wasser auf meinen Augenlidern zu spüren. Dann holt mich die Realität zurück.

Die Ames Street, die zur Uferpromenade des Charles River führt, ist bereits mit gelbem Flatterband gesichert, und Streifenwagen verstellen die Straße weitläufig. Zwei große Scheinwerfer fluten den Bürgersteig und die nähere Umgebung vor dem achtzehnstöckigen Green Building mit Licht; es ist das höchste Gebäude auf dieser Seite des Charles Rivers, in dem die Abteilungen für Atmosphären- und Planetenforschung des Massachusetts Institute of Technology untergebracht sind.

Oft schon habe ich die verschiedenen meteorologischen Instrumente und Funkkommunikationsgeräte auf dem Dach aus der Ferne bestaunt und mich gefragt, ob diese nicht eher der Spionageabwehr dienen, als wissenschaftliche Forschungsinstrumente zu sein.

Zügig gehe ich auf die beiden Streifenpolizisten zu, die den Tatort sichern. Die Officer haben mich bereits bemerkt. Bevor sie etwas sagen können, zeige ich ihnen meine Marke. Sie nicken und lassen mich passieren. Ich halte Ausschau nach meinem Partner Kirk.

Mit seinen zweiundsechzig Jahren steht er kurz vor der Rente. Vor einigen Jahren hatte er sein dreißigjähriges Dienstjubiläum. Seine Plakette war das Erste, was er mir stolz auf seinem Schreibtisch gezeigt hat. Im Morddezernat des Boston Police Department ist er bald zwanzig Jahre dabei. Ich bin erst vor ein paar Monaten zum Team dazugestoßen. Deshalb wurde mir Kirk als Partner an die Seite gestellt.

Der Wind lässt die Tropfen im Scheinwerferlichtkegel umherwirbeln, der auf den nassen Asphalt gerichtet ist. Deswegen bin ich hier. Eine junge Frau liegt mit dem Gesicht nach unten am Boden. Wie Magma drückt sich immer noch das venöse Blut zähflüssig zu einer breiter werdenden Lache unter ihrem Kopf hervor und ist längst durch das Regenwasser auf der Straße verdünnt.

Der Kollege von der Spurensicherung signalisiert mir, dass ich näher treten darf. Ich beuge mich zu der Frau hinunter und versuche, ihr Gesicht zu erkennen. Vorsichtig drehe ich ihren Kopf zur Seite. Erstaunlich unversehrt. Nur etwas Rollsplit klebt an der Wange. Dann spüre ich ein unangenehmes Knirschen durch meine Finger und lasse ab. Ich werde mich nie daran gewöhnen. Unter der unversehrten Haut sind viele kleine Knochenbrüche zu spüren, und die scharfen Kanten reiben durch die Bewegung der Finger aneinander. Neben ihren Haaren liegt ein kleiner weiß glänzender Klumpen. Ich zücke meinen Kugelschreiber, um den Klumpen zu bewegen, aber dann halte ich inne. Es muss ein Stück vom Gehirn sein, welches aus einem Loch des Schädels herausgequollen ist.

„Sie sollten Handschuhe tragen“, sagt der Kollege von der Spurensicherung irritiert.

„Ist gut“, erwidere ich und richte mich auf.

„Da hat wohl jemand Suizid begangen“, sagt Kirk und beugt sich jetzt seinerseits über die Leiche. Ich habe nicht bemerkt, dass er in der Zwischenzeit gekommen ist und bereits eine Weile hinter mir steht. Trotz der warmen Temperaturen trägt mein Partner seine etwas zu weite Regenjacke mit dem Logo unseres Departments.

Ein dicklicher Streifenpolizist drückt sich ächzend unter dem Absperrband hindurch und kommt breitbeinig auf uns zu. „Mein Name ist Martin, ich war der Erste am Tatort.“

„Detective Vince Brickle, und das ist Detective Kirk Douser“, stelle ich uns vor.

Der Officer nickt und berichtet: „Sie hat sich anscheinend von dem Gebäude gestürzt. Ein Student, der nebenan im Studentenwohnheim wohnt, hat den Aufprall gehört und sie so aufgefunden. Das war gerade mal vor zwanzig Minuten.“

Martin zeigt dabei auf einen jungen Mann mit rötlichen Haaren und bleicher Haut, der vor dem Green Building steht. Er hat nur eine Shorts und ein T-Shirt an und tritt mit seinen nackten Füßen nervös auf der Stelle, während er zu uns herüberschaut.

„Ich verstehe nicht, wie man in der Gegend wohnen kann“, fährt der Officer fort. „Das Gebäude nennen wir nicht ohne Grund Suicide Tower. Alle naselang lassen sich Studenten von da oben runterfallen. Wegen Liebeskummer oder sonst was. Das kann man nur schwer aushalten. Ich frage mich, warum die Universitätsverwaltung die Zugänge zum Dach nicht besser sichert.“

Ich war hier mal zum Kürbisspektakel im Oktober, erinnere ich mich. Einmal im Jahr werfen Studenten gut gereifte Kürbisse aus dem obersten Stock, die dann auf dem Asphalt in alle Richtungen platzen. Das orangefarbene Fleisch verteilt sich auf der ganzen Straße. Ich hatte es damals nur zufällig gesehen, als ich zu einem Vorstellungsgespräch in die Stadt kam. Das Schauspiel ist bei Touristen sehr beliebt. Auch ich fand die platzenden fleischigen Kürbisse ebenso merkwürdig wie faszinierend. Obwohl das Event verboten ist, drückt die Campusverwaltung mittlerweile beide Augen zu, da das Interesse an diesem Spektakel so groß ist.

Kirks Frage holt mich ins Hier und Jetzt zurück. „Wie ist sie aufs Dach gelangt?“

Martin winkt den Kriminaltechniker heran. „Zeig den Detectives bitte die Zugangskarte.“

Der Mann im weißen Ganzkörperanzug der Spurensicherung reicht mir wortlos einen Beweismittelbeutel, in dem eine Plastikkarte steckt.

„Es handelt sich bei der Toten um Donna Myers. Sie unterrichtete als wissenschaftliche Assistentin Studenten im Gebäude. Aber wohl nur in den Sommermonaten, hat der Pförtner gesagt“, erklärt Martin.

„Und was genau hat sie unterrichtet?“, frage ich.

Martin zuckt die Schultern. „Das wusste der Pförtner auch nicht. Er hat sich nichts dabei gedacht, als sie gestern ins Haus ging. Die Wissenschaftler gehen hier ein und aus, und dass sie auch mal die Nacht zum Tag machen, ist ja nichts Ungewöhnliches.“

Ich sehe, wie Kirk jemanden auf der anderen Seite des Platzes beobachtet, und folge seinem Blick. Es hat aufgehört zu regnen, und nur vereinzelte Regentropfen fallen noch von den Blättern der Bäume und Vorsprünge der Häuser herab. Ich sehe einen großen, hageren Mann, der unter einem Baum steht und uns beobachtet. Hinter ihm kann man in der Ferne den schwarzen Fluss erkennen. Ein Schaulustiger. Manchmal kann man sich über die Menschen nur wundern. Hat der Mann um diese Uhrzeit nichts Besseres zu tun?

„Der Pförtner kann uns bestimmt weiterhelfen und uns aufs Dach lassen. Kommst du mit, Vince?“, fragt Kirk.

Er scheint so schnell wie möglich hier fertig werden zu wollen. Ich schüttle den Kopf.

„Ich will die Tote untersuchen. Geh du ruhig aufs Dach“, erwidere ich.

Ich weiß, dass Kirk meine Alleingänge nicht mag. Aber um diese Uhrzeit lässt er mir meinen Willen. Seine klitschnassen Haare kleben ihm an der Stirn, und seine Regenjacke glänzt vor Nässe. Ich schaue ihm nach, bis er die Eingangstür des Gebäudes erreicht.

Dann erst wende ich mich an den Kriminaltechniker. „Sie haben die Leiche bereits durchsucht?“

„Nein, das wollte ich Ihnen überlassen.“ Er reicht mir ein Paar Handschuhe.

Widerwillig streife ich sie mir über, beuge mich wieder zu der Frau hinunter und greife in ihre Hosentaschen. Ich ziehe ein türkisfarbenes Portemonnaie aus Polyester hervor und öffne den ausgeleierten Klettverschluss. Einige Geldscheine, wenige Münzen und eine Kreditkarte sind darin. Ah, und eine Berechtigungskarte für das virologische Institut am Industriehafen. Interessant. Das ist am anderen Ende der Stadt. Ich betrachte die Zugangskarte und das Foto auf der Karte. Hübsch. Warum will so eine junge Frau nicht mehr leben? Liebeskummer, Depressionen? Sie wirkt nicht depressiv auf dem Bild. Aber Bilder können täuschen.

„Dr. Donna Myers, Postdoc“, lese ich laut. Was, zur Hölle, ist ein Postdoc? Ein Doktor, der nach dem Doktor kommt? Das ist das erste Mal, dass ich davon höre. Ich betrachte die Tote erneut. Sie war also eine Virenforscherin. Vielleicht hatte sie sich bei der Arbeit aus Versehen mit einem tödlichen Virus infiziert, und der Suizid war der einzige Weg, die Menschheit zu retten? Ihre Haut wirkt sehr bleich. Ist sie infektiös? Ich weiche unwillkürlich einen Schritt von der Leiche zurück. Doch innerlich muss ich über mich schmunzeln. Das hier ist nicht der Anfang eines Pandemie-Thrillers, denke ich.

Die Idee ist aber gut.

Ich lasse das Portemonnaie mit der Zugangskarte in meine Jackentasche gleiten. Der Kriminaltechniker räuspert sich und wirft mir einen strengen Blick zu.

„Entschuldigen Sie. Eine Angewohnheit von mir“, grummle ich und lasse beides in den Spurensicherungsbeutel fallen, den der Kriminaltechniker mir entgegenhält.

Ich durchsuche weiter die Taschen der Toten, aber da ist nichts mehr zu finden. Ihr Hals und ihre Haut sind so gut wie unversehrt. Nur ihre rechte Hand ist auffällig. Sie scheint gebrochen zu sein, und aus ihrer geballten Faust ragt ein weißes Stück Papier. Ich zücke wieder meinen Kugelschreiber und spreize ihre Finger mühelos auseinander. Die Totenstarre hat noch nicht eingesetzt. Ich ziehe eine Visitenkarte aus ihrer Hand.

Dr. Daniel Western steht darauf und eine Telefonnummer.

Der Kriminaltechniker ist mit Officer Martin ins Gespräch vertieft. Ich stecke die Visitenkarte ein.

„Der Gerichtsmediziner kann die Leiche dann mitnehmen“, sage ich zu dem Kollegen von der Spurensicherung.

Kirk kommt eilig herbeigelaufen. Er hat rote Wangen und ist außer Atem. In der frischen Regenluft hängt jetzt ein leichter Schweißgeruch.

„Der Pförtner konnte mir nicht mehr sagen. Ich war auf dem Dach. Da war nichts weiter außer einer leeren Flasche Weißwein und viel Möwenschiss. Sie muss sich betrunken haben.“

Kirk trägt immer noch seine blauen Latexhandschuhe, obwohl sich darunter bereits der Schweiß abzeichnet. Über seiner Jacke sieht man, wie seine Körperwärme dampfend durch den Stoff nach oben steigt. Ihm muss warm sein. Er hält mir eine durchsichtige Tüte mit einer Flasche entgegen. Australischer Sauvignon Blanc. Na ja, nicht der beste Wein. Ich trinke gerne Weißwein, aber Sauvignon Blanc kann ich nicht leiden. Und das ist auch eher eine billige Sorte.

Kirk übergibt den Beutel dem Kollegen der Spurensicherung und sagt: „Lass uns noch mit dem jungen Mann sprechen, der die Frau gefunden hat. Dann sind wir hier fertig, oder?“

Ohne meine Antwort abzuwarten, geht er zu dem Mann, der unter dem Vordach steht. Ich folge ihm wortlos.

„Sie haben die Polizei gerufen. Ist das richtig?“, beginnt Kirk seine Befragung.

Der Mann tippelt in seiner hellbraunen Shorts mit seinen bleichen Füßen auf dem nassen Steinboden hin und her. Seine roten Beinhaare kräuseln sich. Ihm muss kalt sein.

„Ja, das ist richtig“, bestätigt er.

„Und Sie heißen?“

„Kevin O’Hare. Ich wohne im Nachbargebäude, Sir.“

„Sie haben zu dem Kollegen gesagt, dass Sie den Aufprall gehört haben. Waren Sie draußen?“

„Nein, Sir. Aber mein Fenster war offen. Sehen Sie?“ Er zeigt mit seinem Finger auf ein geöffnetes Fenster im ersten Stock.

Kirk grummelt und fragt mit einem gelangweilten Unterton: „Gut. Warum waren Sie um diese Zeit noch wach?“

„Wir haben nächste Woche Semesterzwischenprüfung. Ich habe noch gelernt.“

„Und Sie sind dann zur Tür und haben die Leiche so gefunden.“ Mit einer Handbewegung schließt Kirk bereits sein Notizbuch.

„Das ist richtig, Sir. Ich habe sie aber nicht als Erster gefunden. Ein anderer Mann war auch noch da. Als ich rauskam, hat er sich gerade zu ihr gebeugt. Er ging weg, als er mich gesehen hat.“

„Ein Mann?“, fragt Kirk überrascht und klappt sein Notizbuch wieder auf.

„Ja, er stand eine Weile da vorne am Ufer, aber ich sehe ihn nicht mehr“, sagt der Student nun etwas aufgeregter.

„Können Sie mir den Mann beschreiben?“, frage ich.

Kirk schaut mich missmutig an, ich grätsche in seine Befragung rein, er lässt mich aber gewähren.

„Es war dunkel. Er war groß und mittleren Alters. Etwas größer als Sie. Er hat braune oder schwarze Locken. Er trug einen blauen Anzug. Da bin ich mir sicher.“

„Hat er irgendetwas zu Ihnen gesagt?“, hake ich nach.

„Nein, nichts. Gar nichts.“ Der Student tippelt nun noch nervöser.

Ich habe Mitleid mit ihm. Nachdem ich seine Kontaktdaten aufgenommen habe, entlasse ich ihn. „Danke. Das war’s. Sie können gehen.“

Dann wende ich mich Kirk zu. „Was machen wir mit dieser Information?“

Kirk zieht seinen Hosenbund nach oben und sagt dann: „Nichts. War eben noch jemand hier und hat die Tote gefunden. Erwähnen wir im Bericht. Den Fall können wir abschließen. Das ist eindeutig ein Suizid.“

„Ja, gut möglich“, murmle ich vor mich hin. Jetzt folgen allerdings noch die Formalien, denke ich. Der Gerichtsmediziner muss Fremdverschulden ausschließen, und wir werden das Apartment der Toten einmal aufsuchen, um einen Anhaltspunkt zu haben, warum sie sich das Leben genommen haben könnte. Vielleicht finden wir einen Abschiedsbrief. Außerdem brauchen wir die Kontaktdaten, um die Angehörigen und den Arbeitgeber zu informieren.

Ich sehe Kirk seine Anstrengung deutlich an. Diese nächtlichen Aktionen steckt er nicht mehr so spurlos weg. Ich biete ihm an, dass ich mir die Wohnung der Toten auch allein anschauen kann. Er willigt dankend ein.

 

Donna Myers Apartment liegt in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, dem virologischen Institut. Das ist gleich beim Industriehafen. Eine triste Gegend. Es gibt eine Reihe von Bürogebäuden, einen Makler und einige wenige Eigentumswohnungen. Die Straßen wirken sonderbar verlassen, wie ausgestorben. Manche Stadtteile strahlen auch in der Nacht Leben aus, aber dieser hier nicht. Die Häuser sind gleichmäßig angelegt. Nur wenige Autos stehen am Straßenrand. Alles ist sauber. Fast zu sauber. Irgendwie steril. Es fehlt das Leben.

Die Wohnungstür kann ich schnell öffnen. Donna Myers hatte sie beim Hinausgehen nur ins Schloss fallen lassen. Seit meiner Jugend trage ich ein Lock-Picking-Set bei mir. Es hat mir schon viele gute Dienste geleistet, auch wenn es nicht zur typischen Ausrüstung eines Polizisten gehört.

Mein Vater war damals nicht sehr begeistert, als ich mir die Fähigkeit aneignete, fremde Türen zu öffnen. Er glaubte, dass ich auf dem besten Weg sei, ein Verbrecher zu werden. Einmal nahm er mir das Set weg, nachdem ich bei der Nachbarin die Terrassentür geöffnet hatte. Ich hatte Mitleid mit ihrer Katze, die für Stunden bei sengender Hitze in der Wohnung eingesperrt war. Ich ließ sie frei, und für ein paar Stunden waren alle in Sorge, dass sie nun für immer weg sei. Aber sie fand ihren Weg nach Hause. Das tat sie immer. Sie musste nicht im Haus eingesperrt sein. Als klar war, dass ich es gewesen war, der die Tür geöffnet hatte, kassierte ich erst eine Backpfeife, dann sprach mein Vater für Tage nicht mehr mit mir. Ein paar Wochen später holte ich mir das Etui mit den Werkzeugen wieder aus seiner Schreibtischschublade. Er hat es nicht gemerkt oder ließ mich gewähren, ich weiß es nicht. Im Job hat es mir bereits mehrfach gute Dienste geleistet. Bis auf das eine Mal. Das war in Chicago und hat mich in ziemliche Schwierigkeiten gebracht.

Im Apartment der Toten bleibe ich in der Eingangstür stehen und lasse das kleine, spärlich eingerichtete Studio, knappe zwanzig Quadratmeter, auf mich wirken. Viel ist das nicht. Gerade mal drei Schritte sind es bis zum Bett. Es fällt mir schwer, mir eine Vorstellung davon zu machen, wie es ist, hier zu leben. Unter dem Fenster steht ein kleiner Esstisch, der gleichzeitig auch als Schreibtisch genutzt wurde. Über eine alte Couch hatte Donna Myers einen gelb-grünen Überzug geworfen, wohl um alte Flecken in den Polstern zu bedecken. So lebt also eine Virenforscherin.

Ich hole das Paar Latexhandschuhe aus meiner Hosentasche, das ich aus dem Auto mitgenommen habe. Hemd und Hose kleben mir unangenehm feucht vom Regen am Körper. Ich ziehe die Handschuhe an. Normalerweise trage ich sie in solchen Fällen nicht, ich muss hier keine Fingerspuren vermeiden. Mir ist beim Anblick des Apartments aber nicht wohl. Es riecht muffig. Und wer weiß, ob sie nicht doch, aus Versehen oder mit Absicht, Viren hier hinterlassen hat. Schließlich arbeitete sie täglich damit. Keiner kann mir garantieren, dass sie immer aufgepasst hat. Man hört des Öfteren von Virenausbrüchen in Afrika oder Asien.

Wie schnell so etwas gehen kann, hat die Corona-Pandemie gezeigt. Und gab es nicht Gerüchte, dass das neue Coronavirus in Wirklichkeit aus einem Labor in China stammt? Ein Laborunfall! Ich denke an Filme wie Outbreak und Contagion und wie schnell so ein Virus die Menschheit bedrohen kann. Immer sterben die Ermittler in diesen Filmen als Erstes, und immer sinnlos, bevor man das Virus identifiziert hat. Ich muss unbedingt heute noch den Gerichtsmediziner anrufen und nachfragen, was die toxikologischen Untersuchungen der Toten ergeben haben. Sicher ist sicher.

Die Wohnung liegt wie eine dunkle, bedrohliche Höhle vor mir. Ich zögere. Es hilft nichts. Ich werde das Studio betreten müssen. Unweigerlich halte ich den Atem an, aber bereits an der Kochnische muss ich tief Luft holen. Meine Kondition war auch schon mal besser. In der Spüle stapeln sich ungewaschene und zum Teil mit Essensresten verkrustete Teller. In einem Einbauschrank hängt die Kleidung der Toten, der Großteil liegt aber am Boden des Schranks. Das wird ihre Schmutzwäsche sein.

Mein Gott, das ist nicht mehr als eine Schlafstätte. Hatte sie kein Leben? Papierblätter liegen neben ihrem Bett und stapeln sich auf dem Schreibtisch. Ich nehme einige der ausgedruckten Artikel in die Hand und blättere sie durch. Das ist alles Fachchinesisch für mich: Orthomyxovirus, Picornavirus, Nef-depleted HIV, Sting-mediated viral recognition. Einige Sätze sind unterstrichen, hier und da ist ein Wort eingekringelt, oder es wurde etwas Unleserliches an den Rand geschrieben. Ich zucke mit den Schultern und schaue mich weiter um. Auffällig viele solcher Artikel liegen verstreut im Raum. Auf dem Esstisch finde ich mehrere ungeöffnete Briefe. Ich begutachte die Absender, vermutlich Rechnungen. Einen Abschiedsbrief finde ich nicht. Zwei Glasröhrchen liegen ebenfalls da. Sind da etwa Viren drin? Ich bemerke, dass ich gar nicht weiß, wie Viren eigentlich aussehen. Zwar habe ich im Fernsehen oder in der Zeitung schon Abbildungen gesehen, aber wie sie in Wirklichkeit aussehen? Sie sind doch so klein. Ich lasse die Glasröhrchen liegen.

Wo ist ihr Wohnungsschlüssel? Bei der Leiche haben wir keinen gefunden. Neben der Eingangstür hängt ein Schlüsselbrett. Aber das ist leer. Auch sonst ist hier weit und breit kein Schlüssel zu sehen.

Ich entdecke neben ihrem Bett ein Buch mit einem ledernen Einband. Ich nehme es in die Hand und fange an zu blättern. Ihr Tagebuch. Es ist zur Hälfte vollgeschrieben. Ich setze mich auf die Bettkante und beginne auf der ersten Seite zu lesen.

 

2. April

Ein neuer Lebensabschnitt – ein neues Buch. Heute war mein erster Arbeitstag im virologischen Institut. Ricardo hat mich am Shuttlestopp in der Stadt beim Massachusetts General Hospital abgeholt, und wir sind gemeinsam ins Institut gefahren. Er ist so ein netter, zuvorkommender Mensch. Obwohl wir uns so lange nicht gesehen haben, haben wir uns gleich wieder gut verstanden. Er hat so eine warme Art – fast wie ein Teddybär. Im Institut wurde ich von einer freundlichen Assistentin begrüßt, die mich durch die langen Flure zu meinem neuen Büro führte. Es ist ein heller, aber sehr kleiner Raum mit einem großen Fenster, das den Blick auf den Innenhof freigibt, in dem künstliche Pflanzen etwas lieblos die kargen Steinwände aufhellen sollen. Mein Name steht bereits an der Tür, ein kleines Detail, das mir das Gefühl gibt, willkommen zu sein und dazuzugehören.

Der Vormittag verging mit einer Flut von Informationen, Treffen mit den Kollegen und der Einarbeitung in die neuen Aufgaben. Jeder im Institut scheint unglaublich kompetent und engagiert zu sein, was mich einerseits anspornt, andererseits aber auch ein wenig einschüchtert. Es gab viel Papierkram auszufüllen, und Ricardo druckte mir eine Reihe von Publikationen aus, von denen er meinte, dass ich sie lesen solle.

Ich muss zugeben, dass das alles noch sehr schwer zu verstehen ist. Es geht um Schaltstellen und Regulatoren in Viren, Enzyme, die an bestimmten Stellen schneiden, doch vor allem um virologische Techniken. Die Vorstellung, meinen Beitrag zu leisten, bereitet mir Sorge. Sie sind bestimmt alle viel besser als ich.

 

 

Als ich weiterblättere, fällt mir ein Foto entgegen. Es muss festgeklebt gewesen sein und hat sich nun gelöst. Darauf ist Donna Myers mit einer anderen jungen Frau zu sehen, beide stehen Arm in Arm lächelnd am Meer. Sie wirkt so unbeschwert und glücklich. Ich stecke das Bild zurück in das Buch. Was wohl in ihrem Leben vorgefallen ist, dass sie anscheinend keinen Ausweg mehr sah?

Ich blättere wieder weiter. In der Mitte des Buches fehlen ein paar herausgerissene Seiten. Davor steht an einer Stelle über die gesamte Seite in riesengroßen Lettern M9 geschrieben, mit mehreren Ausrufezeichen dahinter. Und an einer der Abrissstellen steht eine kurze Buchstabensequenz, die für mich keinen Sinn ergibt: CGACAATC. Merkwürdig!

Weiter hinten liegt noch ein Namensschild Donna Myers’ zwischen den Seiten. Es ist von einer Konferenz, Keystone Symposia.

Ich blättere zur letzten beschriebenen Seite. Ein Eintrag von gestern. Es scheint, dass Tränen die Schrift verschmiert haben. Trotzdem ist der Eintrag gut zu lesen.

 

7. Juni

In was für einen Strudel bin ich nur geraten? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein ganzes Leben ist ins Chaos gestürzt. Alle haben mich fallen gelassen. Dr. Ohno, Alice, aber vor allem Ricardo. Warum du? Wie kannst du nur! Warum ist dir das alles egal? Wenn du nur auf mich hören würdest. Warum hört keiner auf mich. Es ist falsch! Es ist einfach falsch!

Ich weiß keinen anderen Ausweg. Ich bin so verzweifelt. Ihr nehmt mir alles, alles, was ich habe! Meine ganze Arbeit. Mein Leben. Warum tut ihr mir das an? Warum lasst ihr mich jetzt allein? Meine Forschung ist mein Ein und Alles. Warum nehmt ihr mir das? Ich hasse euch dafür. Ich liebe die Forschung doch so sehr.

Weißt du noch, Anni, als du mir mein erstes Mikroskop geschenkt hast und wir ganz vorsichtig eine Zwiebel präpariert haben? Wir haben eine Haut der Zwiebel auf den Objektträger gelegt, mit etwas Wasser, und das Deckblättchen wieder drauf. Was für ein Wunder haben wir unter dem Mikroskop entdeckt. Hunderte filigrane Zellen. Ich konnte meine Augen nicht mehr davon lassen. Leben unter dem Mikroskop. Ich war so fasziniert. Ich habe alles mikroskopiert, was mir unter die Finger gekommen ist. Anni, meine Anni, du hast mich so glücklich gemacht. Du hast mich für die Wissenschaft begeistert. Du hast mich immer so sehr unterstützt. Mein ganzes Leben lang.

Anni, liebste Anni, es tut mir so leid. Bitte sei mir nicht böse! Ich kann und will ohne die Wissenschaft nicht leben. Kein Mensch kennt mich so gut wie du. Du hast immer verstanden, wie wichtig mir meine Arbeit ist, wie wichtig mir meine Wissenschaft ist. Du hast mich immer ermutigt, weiterzumachen und dranzubleiben. Alles um mich ist zusammengebrochen. Alles ist weg. Alles! Ich will …

 

Die Zeilen brechen ab. Mein Atem stockt. Die letzten Worte klingen so verzweifelt, so tieftraurig. Donna schien ihren Beruf zu lieben. Sie gab alles für ihn und musste am Ende doch aufgeben. Die Zeilen klingen wie ein Abschiedsbrief – und dennoch: eine junge Frau, die wegen ihres Berufs so verzweifelt war, dass sie sich das Leben nahm? Ich frage mich, wer Anni ist. Und wer Ricardo und Alice. Seltsam auch, dass sie ihren Eintrag nicht beendet hat. Einen Abschiedsbrief, eine Erklärung schreibt man doch zu Ende – und nicht als Eintrag im Tagebuch. Warum hat sie das nicht getan? Wurde sie durch etwas gestört?

Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger ergibt es einen Sinn. Sie hat sich doch nicht wirklich wegen ihres Berufes umgebracht?

Ich erhebe mich vom Bett. Mittlerweile ist es 7:13 Uhr, und das virologische Institut ist nicht weit von hier. Bald werden die ersten Mitarbeiter kommen. Eine gute Gelegenheit, Donna Myers’ Umfeld zu befragen. Vielleicht treffe ich ja jemanden, der sie kennt und mir etwas Aufschluss über Donna geben kann. Was ist bei ihr nur passiert? Erst wenn ich das weiß, werde ich diesen Fall abschließen können. Als ich die Tür wenig später hinter mir zuziehe, habe ich das Tagebuch bei mir.


Kapitel 2 – Morgenkaffee

Vince

Auf meinem Handy in der Google Maps App suche ich nach Cafés in der Umgebung des virologischen Instituts und finde einen Dunkin’ Donuts, der nur einen Block entfernt liegt und bereits seit 5 Uhr geöffnet hat. Eigentlich bin ich ein Genussmensch, aber ich mag den dünnen Filterkaffee, den sie dort servieren. Manchmal trinke ich auch einen Espresso, und auch sonst habe ich allerlei Zubereitungsarten probiert: Frappuccino, Mocca, Flat White oder diesen Kaffee, der in einem modernen Verfahren über Vakuumfiltration gekocht wird. Meine Erfahrung war aber immer die gleiche: War der Kaffee zu stark, war mein Stuhlgang flüssig. So ein Durchfall kann gerade im Dienst ziemlich unangenehm werden. Die leichte Plörre von Dunkin’ Donuts hingegen vertrage ich gut und trinke sie gerne bis in den Nachmittag. Am besten verdünnt mit etwas fettarmer Milch. Erst zum Abend wechsle ich dann zu Wasser oder wahlweise Bier oder Wein.

Mein Magen beginnt zu knurren. Ich habe noch nicht gefrühstückt und gönne mir zwei Boston Cream Donuts. Vorne am Tresen direkt am Fenster ist noch ein Platz frei, von dort aus kann ich die Kommenden und Gehenden gut beobachten.

Nach einer Weile greife ich nach einer aktuellen Tageszeitung, die jemand liegen gelassen hat, und schlage die Wirtschaftsseite auf. Wirtschaft hat mich schon immer fasziniert. Wäre ich nicht Polizist geworden, dann hätte ich bestimmt irgendetwas mit Wirtschaft gemacht. Vielleicht sogar studiert. Rekordgewinne für BioNexus, steht da. Ich seufze. Seit Jahren beobachte ich die Aktienmärkte. Es ist wie ein Spiel. Es scheint so leicht zu sein, vorherzusagen, wie sich die Kurse entwickeln, und trotzdem traue ich mich nicht zu investieren. Von BioNexus hatte ich vor Monaten gelesen. Ich hatte sogar kurz überlegt, von meinem Ersparten ein paar Aktien zu kaufen, habe es dann aber nicht gemacht. Ich hatte zu viel Sorge, alles zu verlieren. Hätte ich mal … Ein bisschen ärgere ich mich schon. Darum bin ich eben kein Wirtschaftsboss, sondern Polizist – mir fehlt der Mumm, mit Geld zu spekulieren. Gar nicht zu reden von der ganzen Verantwortung für die Mitarbeiter in den Banken und Konzernen, geschweige denn die Aktienanleger. Es wäre ja nicht nur das eigene Risiko, mit dem ich spielen würde, sondern das von so vielen, die davon abhingen.

Ich lege die Zeitung beiseite und hole mein Notizbuch aus der Jackentasche. Ich habe bereits einige Stichpunkte, die ich mir für meinen Fallbericht notieren will, bevor ich sie vergesse.

Das Café füllt sich nach und nach mit Gästen. Da sind die frühmorgendlichen Jogger, die für ihre Dusche nach dem Lauf noch den besonderen Koffeinkick brauchen. Die Väter und Mütter, die ihre Kinder zur Schule bringen und für die vielen lästigen Fragen auf der Autofahrt einen Kaffee in Übergröße benötigen. Makler, Hafenarbeiter und Büroangestellte, ein Polizist und zwei Sanitäter. Sie kommen für ihre Aufwachdroge, ihren Muntermacher, ihren Energieschub, um zur Arbeit zu gehen. Ich mag es, den Menschen bei ihrer Tätigkeit zuzuschauen und mir ihr Leben vorzustellen. Ob sie allein leben oder einen Partner, Haustiere oder ein ungewöhnliches Hobby haben. Vielleicht kommt das mit meinem Beruf, aber die Frau, die gerade nach ihrem Skinny Latte greift, hat bestimmt eine Katze. Diese langen, parallelen Kratzer am Arm müssen von einer Katze stammen.

Dann betritt ein junger blonder Mann in Jeans mit einer einfachen Ledertasche über der Schulter das Café. Wenn das kein Wissenschaftler ist. Bingo!

„Das Übliche, Frank?“, fragt die Barista.

Frank lächelt sie mit einem zustimmenden Nicken an. „Sehr gerne, Dani.“

„Was machen die Viren? Seit Corona ist ja nicht mehr viel los, und der letzte Winter war auch recht mild. Kaum einer war krank oder hat gehustet. Da müsst ihr euch das nächste Mal etwas Besseres ausdenken“, neckt sie ihn mit ihrer lauten Stimme.

Der junge Mann scheint den Witz nicht verstanden zu haben, denn ich sehe ihm seine Empörung deutlich an.

Die Barista fragt nach: „Was macht die nächste Pandemie? Seid ihr bald so weit?“

Sie lacht schallend, und für einen Moment zucken die anderen Gäste zusammen. Als wäre ein Alarm losgegangen, der sie vor einer Gefahr warnen würde.

„Wir arbeiten doch an nichts Gefährlichem“, erwidert Frank etwas konsterniert und lächelt dann, als ob man sich nun wirklich keine Sorgen machen müsste. Er zieht ein paar verkrumpelte Dollarscheine aus seiner Hosentasche und gibt an der Bar noch einen guten Schuss Milch in seinen Becher.

Mit einem Winken verabschiedet er sich von der Barista, die ihm zuzwinkert. „Bis morgen, Frank!“

Er dreht sich zur Tür. Vielleicht sollte ich mit ihm sprechen? Mit etwas Glück kennt er Donna Myers. Ich springe von meinem Barhocker auf und stelle mich ihm in den Weg.

„Haben Sie eine Minute?“, frage ich.

Er schaut mich verwirrt an.

„Mein Name ist Vince Brickle. Ich arbeite für das Boston Police Department.“ Ich halte ihm meine Dienstmarke entgegen, die er nur flüchtig betrachtet. Er wirkt angespannt.

„Keine Sorge, Frank … Darf ich Frank sagen?“, frage ich und mache eine einladende Geste Richtung Tresen. „Setzen wir uns.“

Ich lasse mich auf meinem alten Platz nieder, aber Frank bleibt an den Tresen gelehnt stehen.

„Darf ich Du sagen?“, frage ich. Als er nickt, fahre ich fort: „Nenn mich Vince. Also, ich habe gehört, dass du im virologischen Institut arbeitest?“

„Ja, das ist richtig. Warum fragst du?“, erwidert Frank mit misstrauischer Stimme und fährt sich mit der Hand durch sein Stirnhaar.

„Kennst du eine Wissenschaftlerin namens Donna Myers?“

„Ja, ich kenne Donna sogar sehr gut.“

Er schaut mich prüfend an und setzt hinzu: „Darf ich noch mal nachhaken, wieso du das alles fragst?“

Ich blicke ihn mit ernster Miene an und fordere ihn mit meinen Augen nochmals auf, doch endlich Platz zu nehmen. Erst als er sich widerwillig hingesetzt hat, fahre ich fort.

„Donna Myers wurde heute in den frühen Morgenstunden vor dem Green Building tot aufgefunden. Wir gehen davon aus, dass sie sich vom Gebäude gestürzt hat.“

Franks Gesicht wird kalkweiß. Er holt tief Luft, dann ohne Ausatmen ein zweites Mal. Tränen schießen in seine Augen. „Was? O Gott! Das kann nicht sein …“ Seine Stimme bricht. Dann schluckt er schwer und wischt sich die Tränen von den Wangen.

Ich warte einen Moment. Der Schock sitzt tief bei ihm. Das ist deutlich zu sehen.

Nach einer Weile frage ich ihn: „Frank, kannst du mir mehr über Donna Myers erzählen? Ich habe ihr Tagebuch gefunden, aber ich werde nicht ganz schlau daraus. Warum sollte sie sich umbringen?“

„Ich, ich weiß es nicht.“ Frank schüttelt zögerlich den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ Sein Blick geht ins Leere.

Eine befriedigende Antwort zu bekommen scheint schwerer zu sein, als ich dachte. „Fangen wir mit den Fakten an“, sage ich und hole wieder mein Notizbuch aus der Hosentasche hervor.

„Du heißt?“

„Frank Munters.“

„Und du arbeitest im virologischen Institut?“

„Ja. Ich bin dort als Postdoc angestellt.“

„Ah, du hast also den gleichen Beruf wie Donna Myers. Was ist denn ein Postdoc?“ Das war wohl eine dumme Frage, so wie Frank mich anschaut.

„Ein Postdoc oder Postdoktorand ist ein Wissenschaftler.“

„Ah, verstehe, also eine Art Professor.“

„Nein, nein“, erwidert Frank genervt und wischt sich mit dem Handrücken neue Tränen aus den Augen. „Ein Postdoktorand ist der Karriereschritt nach dem Doktor und vor dem Professor. Jeder Postdoc arbeitet an etwas anderem. Er ist kein Student in der Ausbildung mehr, aber irgendwie auch noch kein eigenständiger Wissenschaftler. Ein Postdoc halt.“

Ich habe das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. „Ich habe in meiner Arbeit nicht häufig mit Wissenschaftlern zu tun“, erkläre ich entschuldigend. „Ein Postdoc ist also weder Professor noch Doktorand. Nicht Fisch, nicht Fleisch, oder? Das ist jetzt aber auch nicht so wichtig.“

Meine einzige Berührung mit der Wissenschaft erfolgte in der Schulzeit, und dort hatte ich Biologie, Chemie und Physik gehasst. Ich bekam in diesen Fächern auch meine schlechtesten Noten. Für meinen Bericht brauche ich das sicherlich nicht, und ich muss mich jetzt nicht weiter blamieren.

Aber Frank beginnt bereits auszuholen: „Die Position wurde in den Sechzigerjahren aus der Not heraus erfunden. Das Problem war damals – und ist es heute immer noch –, dass mehr Studenten ihren Abschluss machen, als an der Universität Professorenstellen verfügbar sind. Also hat man kurzerhand eine Zwischenstufe auf dem Weg zum Hochschullehrer eingeführt. Du arbeitest genauso hart wie ein Doktorand und wirst genauso schlecht bezahlt. Und auch wenn keine besondere zusätzliche Ausbildung daran geknüpft ist, so ist es doch eine Phase der Berufsausbildung, in der man sich noch mal beweisen muss. Du bist also jemand, der Professor werden will, den man aber einfach noch ein bisschen länger hinhalten kann.“

„Das klingt fast wie modernes Sklaventum“, sage ich mit einem Lachen.

Bei meinem Gegenüber kommt das gar nicht gut an. Frank schaut mich ernst an. Um dieser peinlichen Situation zu entkommen, lenke ich ab: „Wie kommt man denn dazu, in die Wissenschaft zu gehen und an Viren zu forschen?“

Jetzt scheine ich positiv einen Nerv getroffen zu haben, denn stolz erklärt Frank: „Wissenschaft fasziniert mich. Man muss für das Thema brennen. Virologe ist mehr eine Berufung als ein Beruf. Es ist eine wunderschöne Tätigkeit … eigentlich.“ Dann hört er auf zu sprechen.

„Warum eigentlich?“, frage ich in der Hoffnung, mehr zu verstehen.

Aber Frank winkt ab. „Ich muss immer an Donna denken. Wie schrecklich … Nein, es ist ein wunderschöner Beruf. Durch die Wissenschaft können wir unsere Welt verbessern und uns eine bessere Zukunft bauen. Wissenschaft befördert Kreativität und Neugier und schafft Wissen! Was gibt es Schöneres!“

Das ist nicht die ganze Antwort: Irgendetwas will Frank mir nicht erzählen. Sicherlich, jeder Beruf hat Schattenseiten. Aber meine Intuition sagt mir, dass die Probleme bei Frank größer sind und damit möglicherweise die gleichen Probleme wie bei Donna. Vielleicht kann ich ihm später mehr entlocken?

Um sein Vertrauen zu gewinnen, frage ich weiter Belangloses: „Was genau fasziniert dich an Viren?“

„Ich fand sie schon immer faszinierend. So einfach, aber doch so komplex. So klein und doch so tödlich. Viren sind in uns und um uns herum. Allein auf einer Hand haben wir mehrere Millionen Viren und bemerken es gar nicht.“

Unweigerlich betrachte ich meine Hände. Millionen Viren? Das ist nicht nur unglaublich, sondern ganz schön ekelig.

Es ist mir unbegreiflich, wie man sich mit solchen Viechern beschäftigen kann. Viren, Bakterien, Parasiten und das ganze Kleingetier. Mich schüttelt es beim Gedanken an Eiter. Ich habe einmal ein Video auf YouTube gesehen, wo jemand sich einen großen Pickel ausgequetscht hat. Mir ist übel geworden. Das Schlimmste aber ist, dass ich diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf kriege. Franks Augen hingegen funkeln, wenn er von Viren erzählt.

„Tut mir leid. Ich finde diesen ganzen Eiter widerlich.“

„Das siehst du falsch. Viren verursachen nur selten Eiter.“

Ich schaue ihn verblüfft an.

„Viren sind so vielfältig. Sie können hilfreich sein oder krank machen. Leben verbessern oder beenden. Sie zu verstehen, sie zu besiegen, sie zu manipulieren … Nur wer mit ihnen arbeitet, versteht die Faszination, die sie ausüben.“

„Und Donna? War sie auch so begeistert von Viren?“

„Donna hat gebrannt für ihre Arbeit. Sie ist völlig darin aufgegangen, hat Tage und Nächte durchgearbeitet. Sie war schlau, erfolgreich und richtig gut. Sie war kurz vor einem Durchbruch.“

„Einem Durchbruch?“ In ihrem Tagebuch klang es ganz anders. „Was für ein Durchbruch?“

„Ihre Versuche funktionierten. Das war ein großer Erfolg für sie. Alles war auf einem guten Weg.“

Was Frank erzählt, passt wirklich nicht zu ihrem Tagebucheintrag. Daher frage ich: „Hatte Donna ein Alkoholproblem?“

Erstaunt schüttelt Frank den Kopf. „Warum fragst du? Donna? Ganz sicher nicht.“

„Wir haben eine leere Flasche Wein am Tatort gefunden.“

„Sie hat selten was getrunken. Wenn überhaupt, dann höchstens ein Glas. Ein Alkoholproblem hatte sie bestimmt nicht.“

Ich grüble. Nach einer Weile sage ich: „Wir vermuten, dass Donna sich wegen ihres Jobs umgebracht haben könnte. Weil es nicht gut lief. Wie passt das mit dem zusammen, was du gerade gesagt hast?“

Frank schweigt und seufzt dann. „Sie war gut. Sie war talentiert. Ihr wurde aber auch übel mitgespielt. So habe ich das empfunden. Vielleicht war ihr nicht bewusst, dass sie kurz davor war, erfolgreich zu sein.“

„Was meinst du damit?“

„Sie hatte spannende Daten. Sie hatte einen Weg gefunden, Viren ein- und wieder auszuschalten.“

„Moment, das geht mir zu schnell. Bitte was hat sie?“, frage ich ungläubig.

„Die Details sind doch nicht wichtig. Viel wichtiger ist es, dass Donna sehr erfolgreich war, bis …“ Frank bricht ab und senkt den Kopf. „Ich verstehe einfach nicht, warum sie sich umgebracht haben soll.“

„Du meinst, dass Donna nicht unglücklich war? Nicht depressiv? Keinen Suizid begehen wollte?“

Frank hebt den Blick. Ich kann an seinen Gesichtszügen sehen, wie ihm die Tragweite dieser Sätze bewusst wird.

„Doch, wahrscheinlich schon. Wahrscheinlich hat sie sich umgebracht. Die letzten Wochen, sogar Monate, waren hart für sie. Vielleicht wollte ich es nicht wahrhaben, wie schlecht es ihr ging. Sie kroch auf dem Zahnfleisch“, sagt er gedankenversunken und fragt dann: „Was steht denn im Tagebuch?“

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Frank den Inhalt erzählen sollte. Ich habe selbst erst wenige Seiten gelesen und mehr Fragen als Antworten.

„Das kann ich dir im Moment noch nicht sagen“, entgegne ich schließlich. „Ich würde den Fall gerne bald abschließen, aber ich verstehe Donnas Motive für einen möglichen Suizid bisher nicht. Aus ihrem Tagebuch werde ich nicht schlau, aber wenn ich jetzt davon erzähle, wird es deine Sicht der Dinge beeinflussen. Vielleicht geht daraufhin ein wichtiges Detail verloren. Daher bitte ich dich um Verständnis.“

Frank nickt. „Natürlich. Aber ich möchte helfen. Was kann ich tun?“

„Du sagst, Donna war erfolgreich. Sie stand vor einem Durchbruch, und ihre Arbeit war ihr Ein und Alles. Und dann sagt du, sie ging auf dem Zahnfleisch. Da passt für mich etwas nicht zusammen. Warum also könnte sie in einer so ausweglosen Situation gewesen sein?“

Frank schaut auf die große Uhr hinter dem Tresen. Ich tue es ihm gleich. Es ist 8:12 Uhr. Frank scheint kurz zu überlegen, dann sagt er: „In Ordnung.“

Auf was sollte man sich verlassen, den menschlichen Instinkt oder computerbasierte Analysen?

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In the Blink of an EyeIn the Blink of an Eye

Kriminalroman

Ausgezeichnet mit dem NEW BLOOD DAGGER der Crime Writers' Association

Wer ist der bessere Ermittler: ein Mensch oder eine KI? | „Erschreckend zeitgemäß und provokant.“ Val McDermid

Die verwitwete Ermittlerin Kat kennt sich mit Verlust aus, Vermisstenfälle sind ihre Spezialität. Auf ihre untrüglichen Instinkte und ihr Bauchgefühl kann sie sich verlassen. Nun wird ihr im Rahmen eines Pilotprojekts der Polizei die künstliche Intelligenz Lock zur Seite gestellt, die in Form eines Hologramms in Erscheinung tritt und auf nüchternen Datenanalysen basiert. Locks regelkonforme, logikorientierte Art kollidiert mit Kats intuitivem Vorgehen, und doch sollen sie gemeinsam alte Vermisstenfälle lösen, um die Einsatzfähigkeit von KIs im Polizeidienst zu erproben. Künftig heißt es künstliche Intelligenz gegen menschliche Erfahrung, Logik gegen Instinkt. Werden sie einen gemeinsamen Nenner finden? Und können sie die Fälle lösen und weitere Verbrechen verhindern?

Der Sunday-Times-Bestseller auf Deutsch!

„Bahnbrechend, tiefgründig und nervenaufreibend.“ Chris Whitaker

„Die moralischen Dilemmas, die durch künstliche Intelligenz entstehen, werden in diesem durch und durch menschlichen Roman gekonnt ausgelotet.“ The Sunday Times

„Der außergewöhnlichste Kriminalroman, den Sie dieses Jahr lesen werden!“ Clare Mackintosh

„Ein starker Anwärter auf das Krimidebüt des Jahres – scharfsinnig, einfühlsam geschrieben und eine brillante neue Interpretation des klassischen Ermittlerpaares.“ T.M. Logan

„Jo Callaghans Debütroman ›In The Blink of an Eye‹ schlägt immer noch hohe Wellen. Verblüffend originell, funktioniert er als fesselnder Kriminalroman, als eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie weit künstliche Intelligenz gekommen ist – und gehen könnte – und als eine Erkundung zutiefst menschlichen Leids.“ Crime Monthly

Die britische Autorin Jo Callaghan erforscht die zukünftigen Auswirkungen von künstlicher Intelligenz und Genforschung auf die Arbeitswelt. In ihrem Krimidebüt „In the Blink of an Eye“ wirft sie nun einen eindringlichen Blick auf ein prominentes Dilemma unserer Zeit: Auf was sollte man sich verlassen, den menschlichen Instinkt oder computerbasierte Analysen? Kann jahrzehntelange persönliche Erfahrung tatsächlich von Datenbank-Berechnungen geschlagen werden? Kann eine Maschine die intellektuelle Arbeit eines Menschen übernehmen? Gekonnt paart Jo Callaghan in ihrem Kriminalroman eine menschliche Kommissarin und eine künstliche Intelligenz zu einem ungewöhnlichen, konfliktreichen Ermittlerduo und spielt dieses spannende Zukunftsszenario in einem konkreten Fall aus. In Zeiten von ChatGPT eine Pflichtlektüre! SPIEGEL-Bestsellerautorin Val McDermid zeichnete „In the Blink of an Eye“ als eines der vier vielversprechendsten Krimidebüts des Jahres 2023 aus.

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„Einzigartig und absolut überzeugend“ The Sun

„Gelungene Charaktere, glaubwürdige Emotionen und eine interessante Fragestellung“ Independent

„Es ist Kat – ihre Persönlichkeit, ihre Beziehung zu ihrem Sohn und ihre Erfahrungen mit Verlust –, die diesen Roman wirklich auszeichnet.“ Literary Review

„Einer der originellsten und zeitgemäßesten Kriminalromane, die Sie je lesen werden … Bemerkenswert!“ Belfast Telegraph

„Ein frisches und reizvolles Ermittlerduo – ich habe mich sofort in die allzu menschliche Kat und ihren KI-Kollegen Lock verliebt. Dazu ein fesselnder Kriminalfall, der mit viel Einfühlungsvermögen und Begeisterung erzählt wird.“ Louise Candlish

„Alles, was man sich von einem Thriller erhoffen kann: erschütternd, intelligent, raffiniert konzipiert und äußerst innovativ.“ Fiona Cummins

„So fesselnd, dass man es nicht weglegen kann.“ Laura Marshall

„Eine einzigartige und verblüffende Interpretation des klassischen Ermittlerkrimis. Mitreißend, spannend und sehr lesenswert. Ich bin begeistert!“ Sarah Hilary

„Jo Callaghan krempelt den klassischen Kriminalroman um. Sehr empfehlenswert!“ Olivia Kiernan

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„Actionreicher Gentechnik-Thriller“ Playboy

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CortexCortex

Thriller

Ein Thriller der besonderen Art: In einem Biolabor wird mit gezüchtetem menschlichem Gewebe experimentiert – doch das Unterfangen gerät außer Kontrolle …​

In den USA stürzt ein Flugzeug unter rätselhaften Umständen ab. In Honduras kommt es zu einer Reihe brutaler Morde. Als die Reporterin Livia Chang den Fall untersucht, stößt sie auf bizarre Ungereimtheiten: Eine verdächtige Hautprobe, ein geheimes Forschungslabor, aggressive Meerestiere, ein chinesischer Magnat. Nach und nach kommt sie einem Komplott ungeheuerlichen Ausmaßes auf die Spur. Menschenversuche sind außer Kontrolle geraten. Wird sie selbst Opfer dieser Machenschaften? Vor scheinbar unlösbare Aufgaben gestellt, muss sie nicht nur ihre eigene Familie retten, sondern auch einen Anschlag auf höchster politischer Ebene vereiteln.

„Eine modernisierte Version von Mary Shellys Frankenstein – wissenschaftlich unmoralisch, aber denkbar.“ BR24

Als Wissenschaftsjournalist konnte Patrick Illinger in einem Max-Planck-Institut selbst erleben, wie menschliches Gewebe gezüchtet wird. Wie realistisch ist das Szenario aus „Cortex“?

„Noch ist diese Forschung am Anfang. Und das Szenario in Cortex ist fiktiv. Aber die Fortschritte sind gewaltig und ethische Grenzen werden unweigerlich berührt. Gezüchtetes menschliches Gehirngewebe wurde bereits in Tiere verpflanzt, mit erstaunlichen Ergebnissen. Was, wenn man noch weiter geht? Eines habe ich gelernt als Journalist: Grenzen werden irgendwann überschritten. Vielleicht nicht in Deutschland, vielleicht nicht in staatlich finanzierten Laboren, aber geforscht wird auch an anderen, oft obskuren Orten.“

„Cortex“ ist genial recherchiert und atemberaubend spannend

Der Journalist und Autor Patrick Illinger war selbst Wissenschaftler am Forschungszentrum CERN, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. 1997 ging er zur Süddeutschen Zeitung, wo er viele Jahre lang das Ressort „Wissen“ leitete und nun die Wochenendausgabe der SZ koordiniert. Dem Autor und erfahrenen Wissenschaftsjournalisten ist mit „Cortex“ ein rasanter Thriller über die Macht der Wissenschaft und der modernen Gentechnik gelungen.

Teil 1


1

12 Chestnut Road, Newnan, Georgia, USA

Zwei Minuten, bevor ihre Welt unterging, kniete Maria Jiménez vor einem Bohnenstrauch. Sie stieß einen Fluch aus, zog eine knallgrüne Sprühflasche aus dem Putzeimer und nebelte die Pflanze von oben bis unten ein. Mit einem Lächeln blickte sie auf das Warndreieck auf der Dose. Das Zeug war ein Wunder. Die reinste Biowaffe. Keine Blattlaus würde das überleben.

Schuldbewusst blickte sie sich um. Familie Dawson wäre mit ihrem kleinen Geheimnis ganz und gar nicht einverstanden. Hunderte Male hatten die Arbeitgeber ihr eingeschärft, keine Chemie im Garten zu benutzen, weder im Hochbeet noch sonst wo. „Organic“ stand auf jeder Lebensmittelpackung, die Ms. Dawson von ihren Einkäufen nach Hause brachte.

Aber Ms. Dawson musste auch nicht mit ansehen, wie die Blattläuse jeden Tag das Gemüse, die Kräuter, ja sogar die Süßkartoffelstauden zerfraßen, dachte Maria Jiménez. Also hatte sie von ihrem eigenen Geld dieses prächtige Wundermittel gekauft. Ein Zisch, und die Schädlinge fielen wie Brotkrümel von den Gewächsen. Die grüne Spraydose war ungleich wirkungsvoller als das Zwiebelwasser, das Ms. Dawson als Mittel gegen die Läuse zusammenbraute.

Die Dawsons brauchten nichts davon zu erfahren. Appetitliche Bohnen würden auch ihnen besser gefallen als zerfressene Sträucher. Allerdings war Maria Jiménez klar, dass sie ihren Job riskierte, sollten die Dawsons erfahren, dass sie im Biogarten eine chemische Keule einsetzte.

Mit einem Seufzen stand sie auf, stemmte sich auf den Rechen und drückte ihren steif gewordenen Rücken durch. Die Okras waren bald reif. Das Basilikum sah allerdings erbärmlich aus. Sie fragte sich, ob sie das Kräuterbeet woanders hätte platzieren sollen.

Aus dem Augenwinkel blickte sie durch die Kozuhecke auf die Straße. Selten genug kam ein Auto durch die Chestnut Street, aber jedes einzelne versetzte ihr einen kleinen Schrecken. Vor zwei Wochen war ihre siebenundsechzig Jahre alte Freundin Carmen in East Newnan verhaftet worden. Die pendejos von der Einwanderungsbehörde wurden immer hartnäckiger. Seit fast vierzig Jahren lebte Maria Jiménez nun im Land der Gringos. Vierzig Jahre als Illegale. Um eine Greencard wollte sie sich nicht bewerben. Dazu müsste sie aus dem Schatten treten und erklären, was sie in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hatte. Keine gute Idee. Also führte sie ihr Leben im Verborgenen weiter, so wie Hunderttausende andere Latinas.

Wer würde sich um die Blattläuse in den Vorgärten kümmern, wenn nicht Leute wie sie?

Ein Rauschen ließ die Luft vibrieren. Maria Jiménez drehte den Kopf hin und her, um die Richtung des Geräuschs zu bestimmen. Am Himmel erblickte sie einen leuchtenden Punkt. Sie hielt ihn zuerst für einen Stern. Doch dafür war das Ding zu hell. Und Sterne rauschten nicht. Das Geräusch kam von diesem Licht. Es schwoll zu einem Grollen an. Kein Zweifel, das war ein Flugzeug. Seltsam, dachte Maria Jiménez, Flugzeuge waren in dieser Gegend immer nur weit oben am Himmel zu sehen, klein wie Mücken. Dieses Flugzeug war alles andere als eine Mücke.

Plötzlich verdoppelte sich das Licht. Zwei kräftige Scheinwerfer strahlten nun in ihre Richtung. Und es veranstaltete einen Höllenlärm. Triebwerke heulten in unterschiedlichen Tonlagen auf. Die Flügel standen nicht seitlich, sondern senkrecht nach oben und unten ab. Die Maschine flog hochkant. Der Lärm wurde ohrenbetäubend. Maria Jiménez legte ihre Hände auf die Ohren und blinzelte im Licht der Scheinwerfer. Angst und Adrenalin lähmten ihre Körperfunktionen, als sie zusah, wie sich das Flugzeug dem Erdboden näherte und eine Flügelspitze den Vorgarten der Gulbraiths durchpflügte.

Die Tragfläche brach. Brennendes Kerosin spritzte wie aus einem Flammenwerfer. Der Bug der Maschine krachte mit infernalischem Lärm auf den Asphalt der Chestnut Street. Der übrige Rumpf mit der verbliebenen Tragfläche kreiselte seitwärts über mehrere Einfamilienhäuser hinweg. Maria Jiménez presste ihre Hände noch fester auf die Schläfen, als das abgerissene Seitenleitwerk in die Garage der Vandenbergs einschlug. Das Knirschen brechender Dachstühle mischte sich mit dem Knallen von Aluminiumstreben und dumpfen Einschlägen, die das Erdreich aufspritzen ließen.

Panik lähmte sie. Adrenalin trieb ihren Herzschlag in bedrohliche Höhen. Lehmige Erdbrocken trafen ihren Oberkörper. Sie wich nicht mal aus, als ein glühendes Metallstück so knapp über ihren Kopf schwirrte, dass sie den Luftzug spürte.

Unvermittelt ließ der Lärm nach. Nur noch das Knistern unzähliger Brände erfüllte die Luft, überall dort, wo das Flugzeug sein Kerosin verspritzt hatte. Schwarzer Rauch verdunkelte die Sonne.

Maria Jiménez wollte die Augen schließen und ins Haus rennen. Doch die apokalyptische Szenerie zog sie in ihren Bann. Sie starrte auf das gigantische Seitenleitwerk mit dem Logo der Fluggesellschaft. Reglos bemerkte sie, dass der Walmart knapp verschont geblieben war. Sie hörte die ersten Sirenen von Rettungsfahrzeugen. Ihr Blick schweifte über den mit Erdbrocken und Metallteilen übersäten Garten ihrer Arbeitgeber. Links neben dem Okrabeet, zwischen Süßkartoffeln und Basilikum, erspähte sie einen seltsamen Gegenstand. Sie ging einige Schritte darauf zu. Als ihr klar wurde, was dort lag, quoll ein schrilles Kreischen aus ihrer Kehle.

Sie fiel auf die Knie und übergab sich.


2

Pete’s Tavern, New York City, USA

Yu Jihai, ein zwei Meter fünfzehn großer Angreifer des chinesischen Kaders, trat an die Freiwurfmarke. Dreimal ließ er den Basketball vom Boden abprallen, bevor er den Korb anvisierte. Er hob den Wurfarm und stabilisierte den Ball mit der linken Hand. Die Bewegung sah perfekt aus, aber der Ball prallte an die Platte, federte am Korb ab und fiel zurück ins Spielfeld, wo ihn ein italienischer Abwehrspieler schnappte und zum Gegenangriff überging.

In der Bar brach Jubel aus. Eine Gruppe italienischer Touristen prostete dem Fernsehschirm zu und ließ die Gläser aneinanderknallen.

„Ihr seid noch gut im Rennen“, rief Livia Chang zu ihnen hinüber, „sechs Punkte Rückstand, das ist zu schaffen!“ Ihr Italienisch war makellos.

Die Italiener rissen die Köpfe herum. Sie blickten Livia erstaunt an, hoben ihre Daumen und prosteten ihr zu. Auch sie hob ihr Glas und schenkte ihnen ein Lächeln.

„Was hast du gesagt?“, fragte Rebecca Blumenstein, eine Nachrichtenredakteurin, die neben Livia saß.

„Nur eine kleine Aufmunterung. In Wahrheit fürchte ich, dass ihre Mannschaft keine Chance gegen die Chinesen hat.“

Es war ein langer Tag gewesen. Der Chefredakteur der New York Times hatte die gesamte Redaktion zusammengetrommelt, um diverse Umstrukturierungen zu verkünden. Für das Meeting war Livia zwei Tage zuvor eigens aus Rom angereist, wo sie das Außenbüro der Times leitete. Nachdem das Treffen zu Ende gegangen war, hatte sie sich einer Gruppe Kollegen angeschlossen, um den Tag mit einem Feierabendbier abzuschließen. Oder auch zwei.

Bill Kortz, der das berühmte Kreuzworträtsel der Times gestaltete, prostete Livia zu. „Dein Italienisch ist verflucht gut“, sagte er. „Ich habe vor Jahren einen Kurs belegt. Kann mich aber nur an mille grazie erinnern.“

Dan Fernandez, ein Reporter aus dem Hauptstadtbüro in Washington, mischte sich ein: „Mit meinem Spanisch kann ich immerhin Bruchstücke verstehen.“

Vom Italienertisch kam erneut Jubel.

„Wow, 66 : 70. Das können die Italiener noch schaffen. Oder bist du für die Chinesen, Livia?“, fragte Jeff Glockner, ein Investigativreporter, der bereits das dritte Bier leerte.

„Sie wartet ab, wer gewinnt“, witzelte Blumenstein.

„Halb Italienerin, halb Chinesin, ein Traum“, sagte Glockner.

Livia lächelte ihre Kollegen an. „Habt ihr vergessen, dass ich Amerikanerin bin?“

„Na klar, so gut, wie du Italienisch sprichst!“, rief Fernandez. Er lachte über seinen albernen Scherz.

„Achtung, Leute …“ Jack Westinghouse, ein Technikredakteur, deutete mit gestrecktem Arm auf den Flachbildschirm über dem Bartresen.

Die Squadra Azzurra passte den Ball mit beeindruckender Geschwindigkeit um die Dreipunktelinie. Gilberto Tomba, Italiens Center, lancierte vom rechten Corner einen überraschend hohen Wurf und traf präzise. Der Ball berührte nicht mal das Metall der Netzhalterung, sondern donnerte mit Wucht hindurch. Drei Punkte. Nun stand es 69 : 70. Noch führten die Chinesen, aber am Italienertisch ging es zu, als wäre die Partie schon gewonnen.

„Na ja, irgendwie bist du keine typische Amerikanerin“, brummte Glockner, der überaus charmant sein konnte, wenn er nicht gerade das vierte Bier bestellte.

„Wie sind denn Amerikanerinnen?“, fragte Livia.

Fernandez kam ihr zu Hilfe. „Na ja, groß, blond, dicke Titten, aufgespritzte Lippen. Glockners Typ eben …“

„Fick dich“, zischte Glockner.

Livia lachte. „Das mit den Lippen überlege ich mir noch.“

„Bloß nicht!“, rief Blumenstein. „Nur schade, dass du dich an diesen weltfremden Physiker verschenkst.“

„Hey, das ist meine Sache. Nicola ist ein wundervoller Mann.“

„Nur, dass du ihn kaum je zu sehen bekommst, weil er ständig in seinem Teilchenlabor unter der Erde steckt.“

Livia blickte auf ihr Bierglas. „Er ist es wert.“

„Geschmack hat er auf jeden Fall“, sagte Kortz, der Kreuzworträtselmann.

„Danke, Will, aber sprachen wir vorhin nicht über Compliance-Regeln?“

„Man darf keine Komplimente mehr machen?“ Glockners Zunge wurde minütlich schwerer.

„Jetzt ist gut, ihr Möchtegernmachos“, ging Blumenstein dazwischen.

Die Männer lachten und prosteten sich zu.

Livia musste schlucken. Sie dachte an Nicola. Vor drei Wochen hatte sie ihn zuletzt gesehen. Es war ein romantisches Wochenende gewesen, in Chioggia, der kleinen Schwester Venedigs. Sie hatte es genossen, aber mit düsterem Gewissen. Sie hätte es Nicola damals schon erzählen müssen. Die Sache mit Gigi. Mit Giancarlo Idda, einem Redakteur von La Stampa. Sie spürte ein ungutes Stechen im Bauch.

Seit dem Ausrutscher hatte sie pausenlos gearbeitet und weder an Nicola noch an Gigi gedacht. Sie war froh gewesen über dieses Meeting in New York. Eine willkommene Ablenkung. Auch wenn sie morgen wieder im Flugzeug nach Rom sitzen würde. Zurück in ihr Leben. Vor Entscheidungen gestellt.

Seit mehr als einem Jahr war sie inzwischen Korrespondentin der New York Times in Rom. Den Job hatte sie sich aussuchen können, nachdem sie den Pulitzerpreis gewonnen hatte. Die Auszeichnung hatte sie für eine Reportage im New York Times Magazine erhalten. Darin hatte sie den Verbleib des vor achtzig Jahren auf mysteriöse Weise verschwundenen Physikers Ettore Majorana aufgeklärt. Die Recherche und der achtzehn Seiten lange Bericht hatten ihr neben Ruhm und Ehre auch einen Buchvertrag mit vierhunderttausend Dollar Vorschuss eingebracht. Das Buch mit dem Titel Peacock House war vor einigen Monaten erschienen und sofort ein Bestseller geworden, auch in Italien. Der verschwundene Physiker, ein gebürtiger Sizilianer, war in seinem Heimatland seit Jahrzehnten eine Legende. Es war der berühmteste Vermisstenfall Italiens. Livia hatte jedoch keine Sekunde lang daran gedacht, sich auf diesem Erfolg auszuruhen, sondern sich in ihre Arbeit als Korrespondentin gestürzt.

Für den Ortswechsel hatte es einen weiteren Grund gegeben. Während der Recherche zu der Majorana-Geschichte hatte sie sich in Nicola Caneddu verliebt, einen Wissenschaftler, der in einem unterirdischen Labor in Mittelitalien Elementarteilchen erforschte. Sein Arbeitsplatz war nur zwei Autostunden von Rom entfernt. Doch die teils wochenlangen Experimente unter dem zweitausend Meter hohen Granitberg nahmen den Physiker voll in Beschlag. Für Livia fühlte es sich zunehmend an, als wäre sie mit einem Astronauten liiert.

Dabei hatte Nicola in den vergangenen Wochen mit seiner liebevollen Art das Thema Kinder ins Gespräch gebracht. Doch wie sollte das gehen, fragte sich Livia. Sie hatten beide mörderisch zeitaufwendige Jobs. Wann und wie wäre da Zeit für eine Familie?

Sie hatte sich mehr denn je in ihre Arbeit vertieft. Die Regierungskoalition Italiens war zum zweiten Mal in zwölf Monaten zerbrochen. Als erste ausländische Journalistin hatte Livia in Erfahrung gebracht, wer neuer Ministerpräsident werden würde, und ein langes Interview mit dem Sozialisten in ihrer Zeitung veröffentlicht. Wenn sie tief in ihrer Arbeit steckte, musste sie sich nicht den Kopf zerbrechen, ob sie mit Nicola eine Familie gründen wollte. Oder mit Gigi ein neues Abenteuer beginnen. Oder nichts davon.

Das Gebrüll der Italiener am Nebentisch holte sie zurück in die Realität. Die Chinesen hatten einen Zweipunktewurf geschafft und führten wieder mit drei Punkten Abstand.

„Basketball kommt für dich eher nicht infrage, oder, Livia? Mit deinen Einswieviel?“, fragte Fernandez.

„Einszweiundsechzig.“

„Eher Bodenturnen. Oder Pferderennen“, sagte Glockner. Seine Witze wurden nicht besser.

„Mugsy Bogues!“, rief Livia.

„Wie bitte?“

„Gutes Beispiel“, sagte Bill Pennington, ein Sportkolumnist. „Mugsy Bogues war von 1987 bis 2003 Stammspieler der amerikanischen NBA. Und nur eins sechzig groß.“

„Zwei Zentimeter kleiner als ich“, betonte Livia.

Ihre Kollegen blickten erstaunt.

„Im Ernst? An den kann ich mich gar nicht erinnern“, sagte Fernandez. „Sein Trick war vermutlich, durch die Beine der Gegner zu schlüpfen.“

„Die Charlotte Hornets und die Dallas Mavericks liebten ihn. Er hat im Laufe seiner Karriere mehr als zwanzig Millionen Dollar Gehalt kassiert. Plus Werbeeinnahmen“, erklärte Livia.

„Irre.“

„Aber du hast schon recht“, sagte sie, „mein Sport ist eher Karate. Wollt ihr eine Lektion?“

Alle lachten.

Was ihre Kollegen nicht wussten: Livias Selbstverteidigungskünste waren tatsächlich ausgezeichnet. Allerdings war nicht Karate ihre Disziplin, sondern der jahrhundertealte vietnamesische Kampfsport Viet Vo Dao. Aber das gehörte zu den Geheimnissen, die sie niemandem erzählte. So wie das noch größere Geheimnis ihrer verstorbenen Mutter.

Die große Lüge.

Livia liebte ihren Job in Rom. Anders als viele dort arbeitende Ausländer mied sie Botschaftspartys und Irish Pubs, wo sich das internationale Publikum traf – die Diplomaten, Lehrer und Journalisten. Livia hielt sich an ihre einheimischen Kollegen. Sie mochte die Italiener, ihre Lebensfreude, ihren Humor. Dank einiger Freundschaften, die sie geschlossen hatte, war sie deutlich besser informiert als andere ausländische Korrespondenten. Die Italiener schätzten Livia ebenso, was nicht nur an ihrem umwerfenden Lächeln, ihren haselnussbraunen Augen und dem kräftigen, dunklen, schulterlangen Haar lag. Livia hatte viel Mühe darauf verwendet, im Rekordtempo Italienisch zu lernen. Und wenn sie zum Abendessen einlud, entzückte sie ihre Gäste mit einem butterzarten Ossobuco.

Noch immer stand es 69 : 72. Das italienische Basketballteam setzte zu einem Rebound an. Wenn ihnen ein Dreipunktewurf gelang, würden sie gleichziehen. Tomba, der italienische Center, schnappte sich den Ball mit einem rekordverdächtigen Sprung, wirbelte einmal um die eigene Achse und brachte sich mit leichter Rückenlage in Stellung für einen Weitwurf. Er hob den Ball, der in einer perfekten Parabel auf das Netz zuflog. Die Italiener sprangen von ihren Sitzen und brüllten aus vollem Leib.

Das Fernsehbild wechselte.

Statt des Basketballcourts sah man Rauchschwaden, Feuerwehrmänner, Wrackteile, zerstörte Einfamilienhäuser, aufgerissenes Erdreich und ein alles überragendes blaues Seitenleitwerk mit dem Logo der Delta Airlines.

Am unteren Bildschirmrand informierte eine Laufschrift über die Flugzeugkatastrophe bei Atlanta. Hundertneununddreißig Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder waren an Bord der Boeing 737 gewesen und vermutlich tot. Auch unter den Einwohnern eines Ortes namens Newnan, vierzig Kilometer südlich von Atlanta, war mit Opfern zu rechnen.

Es wurde schlagartig still in der Bar. Lediglich die italienischen Touristen stießen ein paar Flüche aus. Drei von Livias Kollegen zogen ihre Smartphones hervor und legten sie in die Mitte des Tischs.

„Sechzig Sekunden“, sagte Blumenstein und zeigte auf ihr Handy.

„Niemals.“ Glockner deutete auf Fernandez. „Diesmal trifft es ihn.“

Livia kannte das Ritual. Wer als Erster vom diensthabenden Nachrichtenchef in die Redaktion gerufen wurde, musste die Zeche für alle bezahlen.

Nach dreißig Sekunden klingelte das erste Handy.

Aber es war keins von denen auf dem Tresen. Es steckte in Livias Hosentasche. Mit hochgezogenen Augenbrauen blickte sie ihre Kollegen an, hob die Schultern und zog das Telefon hervor. Es war Thomas Bell, der Chefredakteur der New York Times. Sie ging ran.

„Tom, dein Anruf kostet mich jetzt um die zwanzig Biere, acht Cheeseburger und …“

„Ich habe gerade keine Lust auf Scherze, Livia. Es sind vermutlich mehr als hundertfünfzig Menschen tot.“

„Ich hab’s gesehen, Tom. Grauenhaft. Aber deshalb rufst du wohl kaum deine Italienkorrespondentin an.“

„Doch, Livia. Genau deshalb rufe ich dich an. Ich möchte, dass du dieses Unglück coverst.“

„Wie bitte? Hast du mitbekommen, dass die Maschine in Atlanta abgestürzt ist und nicht in den Abruzzen?“

„Ich will, dass du das übernimmst. Du fliegst morgen mit der ersten Maschine nach Atlanta. Kurz nach fünf von La Guardia. Das Ticket schickt dir Nancy auf dein Telefon.“

„Wozu betreibt die New York Times ein Außenbüro in Atlanta? Fausset ist ein guter Mann. Er könnte heute Abend noch … “

„Kann er nicht. Er ist im Urlaub auf Hawaii.“

„Was ist mit Gambetta aus Houston oder Rojas aus Miami?“

„Ich bin alles durchgegangen. Gambetta wäre verfügbar, aber er ist politischer Analyst, kein besonders guter Reporter. Rojas ist krank. Ich konnte einen Volontär in Atlanta auftreiben, der uns ein paar nachrichtliche Meldungen schreibt. Aber ich will noch jemanden in Georgia haben. Eine Vollblutreporterin wie dich. Ich halte es für möglich, dass es eine spannende Hintergrundstory gibt. Hast du gehört, woher die Maschine kam?“

„Nein, woher?“

„Aus Honduras. Vielleicht gibt es einen kriminellen Hintergrund. Ein Drogending. Was Politisches. Oder ein Einwandererdrama.“

„Mein Flug zurück nach Rom geht morgen.“

„In bella Italia verpasst du gerade nichts, ich brauche dich in Georgia. Morgen früh. Bitte, Livia.“

Sie seufzte und blickte ihre Kollegen mit heruntergezogenen Mundwinkeln an. Sie unternahm einen letzten Versuch, ihren Chef von der Idee abzubringen.

„Das Untersuchungsteam des NTSB ist garantiert schon unterwegs zur Unfallstelle. Lass jemanden in deren Zentrale recherchieren. Das bringt vermutlich mehr, als sich als Zaungast an der Absturzstelle herumzutreiben.“

„Das National Transportation Safety Board ist eine verdammte Bundesbehörde voller Techniknerds. Die tauchen frühestens morgen an der Unfallstelle auf und gehen erst rein, wenn die Leichen weg sind. Und es gibt viele Leichen. Nicht nur Passagiere, auch Bewohner am Boden. Danach werden sie monatelang mit Schrottteilen herumpuzzeln, bis sie zu einem Ergebnis kommen. Also spielt die Musik jetzt in Atlanta. Oder wie das Kaff weiter südlich heißt, wo die Maschine abgestürzt ist. Wir haben dich auf den Direktflug gebucht, Businessclass, und vor Ort einen Fahrer besorgt. Das klingt doch gut, oder?“

„Es gibt auch First Class …“

„Dir ist wohl der Pulitzer zu Kopf gestiegen.“

„War nicht ernst gemeint.“

Mit dem Telefon am Ohr winkte Livia den Barmann herbei und drückte ihm ihre Kreditkarte in die Hand. Er solle die Zeche des gesamten Tisches abbuchen. Und sie bat ihn, ein Taxi zu rufen.

„Okay, Tom, ich schlafe drei, vier Stunden, nehme ein paar Sachen aus der Wohnung mit und fliege morgen früh nach Atlanta.“

„Du bist ein Schatz.“

„Eine Sache nur, Tom.“

„Was?“

„Ich mache das auf meine Weise.“

„Warum habe ich mir das fast schon gedacht?“

„Meine Regeln, Tom. Keine Kompromisse.“

„Okay, Livia. Solange ich nicht in der Post zuerst lese, warum dieser Flieger runtergekommen ist.“ Er legte auf.

Livia erklärte ihren erstaunten Kollegen, was los war. Dass sie nach Atlanta aufbrechen musste, wegen des Unglücks. In Fernandez’ Gesicht war Enttäuschung zu lesen. Vermutlich hätte er den Job gerne übernommen. Livia blickte ihn an.

„Ich hätte dir das gerne überlassen. Aber du kennst den Chef – wenn er was will, müssen wir nicht diskutieren.“


3

Hafengelände, La Ceiba, Honduras

Das Dunkel der Nacht verbarg, wie furchterregend die Männer aussahen. Der größere, der aufrecht stand, hatte ein aufgerissenes Haifischmaul quer über die untere Gesichtshälfte tätowiert. Auf der Stirn prangten die Buchstaben „M“ und „S“ in Frakturschrift. Sie standen für „Mara Salvatrucha“, der Name der brutalsten Bande Zentralamerikas. Unter dem linken Auge waren acht dunkelblaue Tränen verewigt. So viele Menschen hatte Tiburón, wie sie ihn ehrfürchtig nannten, angeblich ermordet. Einem Schläger der verfeindeten Barrio-18-Gang hatte er angeblich die Kehle mit einer Machete aufgeschlitzt. Aber das war nur ein Gerücht.

„Hat sich einer der verhurten Achtzehner blicken lassen?“

„Alles ruhig, jefe.“

Der kleinere, dickere Mann hatte weniger Tätowierungen im Gesicht. Dafür war das Wort „MARA“ auf seine Finger buchstabiert, und eine riesige „13“ zierte seine Brust. Er fläzte auf einem Schemel an einer Hauswand auf der Zugangsstraße zum Hafen der honduranischen Küstenstadt La Ceiba. Im Osten war das Schimmern zweier Laternenmasten zu sehen. Sie beleuchteten die Brachfläche im Hafen. Nach Westen hin lag die Zufahrtsstraße im Dunkel.

„Halt bloß die Augen auf, Pippo. Wenn einer von den pendejos seinen Fuß in die Calle setzt, gibt es keine Gnade. Du ballerst sie weg. Wir sind sofort bei dir.“

„Keine Sorge, Tiburón, ich hab alles im Griff.“

„Munition?“

„Null-null-Schrot. Vier Schachteln.“

„Okay, das wird den Ärschen einheizen. Ich bin dann mal mit Gordo und Jesús bei Mama Juanita.“

„Klar, jefe. Trink einen plata für mich mit. Und steck ihn einmal für mich rein.“

Tiburón zeigte seine Zähne. Ein Dutzend von ihnen war mit Gold überzogen. „Hab Geduld, Pippo. Noch ein, zwei Jahre, und du bist auch ein jefe. Die Mara vergisst ihre Treuen nicht.“

„Alles klar, jefe, ich regle das hier. Wie letzte Nacht. Und die Nächte davor.“

„Okay. Aber nicht sinnlos herumballern. Das weckt nur die federales.“

„Está bien.“

Tiburón verschwand in eine Seitengasse. Pippo richtete seine Augen ins Dunkel. Eine geladene Remington 870 stand griffbereit an die Hauswand gelehnt. Mit Dunkelheit kam er gut klar, aber der vor ihm liegende Straßenabschnitt war nicht nur dunkel. Er war schwarz wie ein Kohlebergwerk. Pippo malte sich aus, auf welchem Weg die hijos de puta von der Barrio-18-Gang wohl kommen könnten.

Sie würden es vielleicht über die Dächer probieren. Vielleicht aber auch nicht, denn das Blech auf den Häusern machte verdammt viel Lärm. Außerdem würden sie ihn von oben schlecht sehen können. Vielleicht hatten sie aber auch Nachtsichtgeräte und Präzisionsgewehre. Schon oft hatte er Tiburón gebeten, solche Sachen anzuschaffen, das Zeug aus den Kriegsfilmen. Die Barrios würden jedenfalls nicht planlos angreifen, so viel war sicher. Sie wussten, dass die Mara 13 die Zugänge zum Hafen bewachte. Der Hafen, ihre wichtigste Geldquelle. Das Herz des Mara-Territoriums.

Pippo hatte Sehnsucht nach einer Zigarette. Aber die Glut würde ihn verraten. Ein Schluck Rum wäre auch nicht schlecht gewesen. Aber das hatte Tiburón strikt verboten. Und Pippo wollte es nicht versauen. Ohne die Mara war sein Leben wertlos. Seit er vierzehn war, hatte er sich dem vida loca verschrieben. Dem hemmungslosen, brutalen Leben als Gangster.

La Mara para siempre.

Nach einer Stunde stand Pippo vorsichtig auf, um sein eingeschlafenes Bein zu schütteln.

Ein leises Knattern ließ ihn herumfahren. Eine Uzi, war sein erster Gedanke. Eine vollautomatische Maschinenpistole. Schoss da jemand im Hafen herum? Doch das Knattern hielt an. Eine Uzi konnte es daher nicht sein. Die hatte ihr 50-Schuss-Magazin nach zwei Sekunden verballert. Dieses Knattern hörte nicht auf. Es wurde langsam lauter. Es war ein gottverdammter Diesel. Ein Schiffsdiesel. Das Geräusch kam vom Wasser her.

Pippo blickte mit zusammengekniffenen Augen in Richtung Mole. Hatte Tiburón nicht gesagt, die Ladung aus Kolumbien komme erst morgen? Was, wenn es doch die Kolumbianer waren? Wenn sie schon heute kamen, und niemand empfing sie im Hafen? Er sollte Tiburón anrufen. Aber sein Smartphone konnte er unmöglich benutzen. Es leuchtete heller als jede Zigarette. Ein Scharfschütze von den Barrios, und er hätte sofort eine Kugel im Kopf.

Vielleicht sollte er den Posten verlassen und im Hafen nachsehen. Nur kurz. Als das Knattern deutlich zu hören war, nahm Pippo die Remington zur Hand und schlich an der Hauswand entlang in Richtung Mole. Was soll’s, dachte er, die Barrios hatten sich seit Wochen nicht blicken lassen. Es wäre schon okay, wenn er kurz im Hafen nach dem Rechten sah. Falls es die Kolumbianer waren, würde man ihn dafür loben, die cabrones aus Cartagena mit ihrem coca in Empfang genommen zu haben.

Pippo überquerte die Brachfläche vor der Hafenmole und sah das Boot. Tiburón hatte gesagt, die Kolumbianer würden mit einem dieser selbst gebauten U-Boote auftauchen. Aber das hier war kein U-Boot. Es war ein kleiner Fischtrawler mit buntem Holzrumpf.

Ohne Positionslichter tuckerte das Fischerboot quer durch das Hafenbecken und krachte ungebremst auf die Mole. Der Bug knirschte, während der Dieselmotor das Boot unnachgiebig gegen den Beton presste. Das war eine unerwartete Situation. Vielleicht eine Finte der Barrios? Pippo versteckte sich hinter einem rostigen Container und versuchte zu erkennen, wer dieses Boot steuerte.

Nach einigen Minuten nahm seine Neugier überhand. Er rannte an die Kante der Mole und sprang beherzt auf den Bug des Trawlers. Mit der Remington im Anschlag warf er sich hinter ein Bündel zusammengelegter Fischernetze. Dort blieb er einige Sekunden lang in Deckung. Als sich noch immer nichts tat, tastete er sich an der Kajüte vorbei in Richtung Heck, die Waffe im Anschlag.

»¡Colombianos! ¡Bienvenidos compadres!«, rief Pippo, auch, um sich selbst Mut zu machen.

Nichts regte sich. Pippo öffnete die Tür zum Steuerstand und setzte ein Bein in die Kajüte, als er vom Heck ein hölzernes Klappern vernahm. Es war der Deckel eines Stauraums. Doch Pippo kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen. Etwas Weiches schlang sich um seinen Hals und drückte mit übermenschlicher Kraft zu. Aus der Remington löste sich ein Schuss. Die Schrotkugeln krachten in die Kajüte und zerfetzten den Steuerstand.

Eine Anakonda, war Pippos letzter Gedanke. Er hörte das Knacken seines Genicks. Und dann nichts mehr.

„Auf mehr als 700 Seiten bietet der Thriller Spannung, Informationen und Denkanstöße.“ Spektrum der Wissenschaft

Das ErwachenDas Erwachen

Thriller

Wann werden die Maschinen uns übertrumpfen und was wird das für unser Leben bedeuten?
Der ehemalige Hacker Axel Krohn setzt versehentlich ein Computervirus frei, das unzählige der leistungsfähigsten Rechner auf der ganzen Welt vernetzt. Als sich daraufhin auf allen Kontinenten Störfälle häufen und die Infrastruktur zum Erliegen kommt, stößt Axel gemeinsam mit der undurchsichtigen Giselle auf ein Geheimnis, das unsere Welt für immer verändern wird: In den Computernetzen ist etwas erwacht, das stärker ist, als wir je ahnen konnten. Und es scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein ...

Bestseller-Autor Andreas Brandhorst zeigt, wie die Welt sich schon morgen verändern könnte.

„Brandhorst überzeugt mit einer Dystopie, die erschreckend realistisch anmutet.“ – Kölner Stadt-Anzeiger

In „Die Eskalation“ liefert der Autor eine erschreckend realistische Fortsetzung von „Das Erwachen“

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Wer hat Angst vor Künstlicher Intelligenz? Nach diesem Thriller jeder!

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Die EskalationDie Eskalation

Thriller

Die Künstliche Intelligenz ist erwacht, sie hat Macht, sie hat unvorstellbare Pläne: Die erschreckend realistische Fortsetzung des Wissenschaftsthrillers Das Erwachen!
Andreas Brandhorst entspinnt ein packendes Szenario über die dunkle Seite künstlicher Intelligenz – ein Fest für Fans von Frank Schätzing und Andreas Eschbach! 

Wer hat Angst vor künstlicher Intelligenz? Nach diesem Thriller jeder! „Die Eskalation“ von Andreas Brandhorst ist Dystopie, Gegenwartsbetrachtung und Warnung zugleich. Denn die Macht der Maschinen ist größer, als wir glauben.

Seitdem die KI Goliath die Welt übernommen hat, sucht die Menschheit nach einer Form friedlicher Koexistenz. Doch Goliath denkt bereits viel weiter und hat einen Plan, der das Ende bedeuten kann. Kann jemand die KI aufhalten?

Lassen Sie sich von der zwingenden Fortsetzung des SPIEGEL-Bestsellers „Das Erwachen“ mitreißen und folgen Sie dem Erfolgsautor in eine Zukunft, die weitaus wahrscheinlicher ist, als wir uns ausmalen können!

Ein Wettlauf gegen die Zeit und den Untergang

Nicht nur das große gesellschaftliche Thema macht „Die Eskalation“ so mitreißend. Brandhorsts Fähigkeit, dem Schreckensszenario einen fundierten, logischen und überaus realistischen Dreh zu verpassen, regt zum Nachdenken und Hinterfragen an. „Die Eskalation“ reiht sich mühelos neben große Romane wie „Der Schwarm“ oder „Qualityland“ ein.

Hoch spannend, erschreckend realistisch und temporeich erzählt Andreas Brandhorst über das Erwachen Künstlicher Intelligenz.

„Brandhorst schmiedet einen teuflischen Handlungsablauf, der mit jeder Seite die beunruhigende Zukunft wahrscheinlicher werden lässt; und der Motive des technischen Wandels hinterfragt. Brandaktuell und lesenswert.“ ― Kölner Stadt-Anzeiger

Prolog

Der Mann stand auf der Veranda und beobachtete die Kinder, wie sie in Schnee und Schlamm spielten. Einige von ihnen trugen nicht einmal Jacken.

„Es wird immer wärmer“, murmelte der Mann. „Selbst hier oben im Norden.“

Der Holzboden knirschte, als Pana zu ihm trat. Er war groß und schwer, das Gesicht wettergegerbt. Wer ihn zum ersten Mal sah, hielt ihn für jemanden, der zeit seines Lebens schwere körperliche Arbeit geleistet hatte, und seine schwieligen Hände schienen diesen Eindruck zu bestätigen. Man konnte sich ihn leicht mit einem Hundeschlitten auf Grönlands Eisrücken vorstellen, wie er Proben sammelte oder beim Bau von Forschungsstationen half. Doch Pana, der „Seelenkümmerer“ – benannt nach einem göttlichen Wesen, das sich der Seelen in der Unterwelt vor deren Reinkarnation annahm –, war vor allem ein feingeistiger Wissenschaftler mit einem Verstand so scharf wie ein Skalpell.

„Grönland wird wieder grün“, erklang Panas tiefe Stimme. „Unser Land gehört zu den wenigen Regionen der Erde, die vom Klimawandel profitieren.“

Der Mann warf ihm einen kurzen Blick zu. „Sie klingen nicht begeistert“, sagte er auf Englisch. In den letzten Jahren war ihm die Sprache vertraut geworden.

„Einst lebten wir Inuit in Schnee und Eis“, sagte Pana. „Es war ein einfaches Leben, mit der Natur, nicht gegen sie. Wir teilten unsere Welt mit Robben und Eisbären, die inzwischen fast ausgestorben sind …“

Der Mann hatte diese Geschichte schon mehrmals gehört. „Sie kennen nur das moderne Leben.“

„Aber ich kenne auch unsere Vergangenheit, unsere Geschichte, unsere Traditionen.“ Pana deutete auf die spielenden Jungen und Mädchen. „Wenn es so weitergeht, kennen unsere Kinder die alte Welt nur noch aus unseren Aya-yait, aus Liedern, die nicht nur von unseren Vorfahren erzählen, sondern auch von Schnee und Eis. Es sei denn …“

Der Mann wartete.

„Es sei denn, die Kohlendioxidsenken funktionieren.“ Pana sprach jetzt in einem anderen Tonfall, mit der Stimme des Wissenschaftlers. „Nach den letzten Meldungen hat die Maschinenintelligenz damit begonnen, der Atmosphäre in großem Maßstab Kohlendioxid und andere Treibhausgase wie Methan zu entziehen. Grönlands Eisschild könnte wieder wachsen, in zwanzig oder dreißig Jahren.“

„Wir wissen nicht, was die Monstrosität plant“, sagte der Mann.

„Nein, das wissen wir nicht“, bestätigte Pana und seufzte schwer. „Wie wir es auch drehen und wenden, die alte Welt stirbt, eine neue wird geboren.“

„Die Frage ist, wie sie aussehen wird, die neue Welt. Die Kinder dort … In welcher Welt sollen sie aufwachsen?“

„In unserer, wie auch immer sie beschaffen sein mag“, antwortete Pana ohne Zögern und machte damit klar, auf welcher Seite er stand. Er drehte sich halb um und wies zur alten meteorologischen Station. „Es ist alles bereit. Gehen wir, Isaac?“

 

Es war nicht weit, nur eine Viertelstunde zu Fuß, einen steinigen Weg den Hang hinauf, vorbei an tauendem Schnee. Der Mann namens Isaac – er hatte viele Namen, aber dieser gefiel ihm besser als die anderen – sah zu den drei Segelschiffen in der nahen Bucht. Mit einem von ihnen würde er noch an diesem Tag aufbrechen, nach Süden, zu den Britischen Inseln. Dort erwartete ihn eine Tafelrunde. Der Mann lächelte beim Gedanken daran – die Symbolik war gut gewählt.

Mehrere Antennen ragten aus dem Dach der meteorologischen Station, und neben dem Hauptgebäude stand ein Sendeturm, mehr als ein Dutzend Meter hoch. Alles wirkte improvisiert, fand der Mann. Vielleicht bemerkte Pana seine Skepsis, denn er sagte: „Es funktioniert. Wir haben die Anlage getestet.“

Der Mann nickte. Improvisation, dachte er. Sie mussten improvisieren und den Zufall als Verbündeten nutzen, so wenig ihm das auch gefiel. Es durften keine Muster entstehen, die sich erkennen und deuten ließen.

Drei Personen erwarteten ihn im Haupthaus, zwei Frauen in mittleren Jahren und ein nervöser junger Mann. Die beiden Frauen stammten aus Dänemark, der junge Mann aus Norwegen. Sie zählten zu den Eingeweihten, aber was sie kannten und wussten, war nicht einmal die metaphorische Spitze des Eisbergs. Was sie verraten konnten, spielte im großen Maßstab der Planungen und kommenden Ereignisse kaum eine Rolle. Solange es nicht direkt ihn betraf, den Mann, der sich Isaac nannte. Auch deshalb wollte er Grönland anschließend sofort verlassen, um das Risiko möglichst klein zu halten.

„Es geht los“, sagt der unruhige junge Mann. „Es geht endlich los.“

Der junge Norweger hieß Eldar, was so viel wie „feuriger Kämpfer“ bedeutete, wie Isaac wusste. Nomen est omen, dachte er. Wir können feurige Kämpfer gebrauchen.

Eine der beiden Frauen deutete durch die offene Tür ins Nebenzimmer. „Dort drüben. Möchten Sie allein sein? Sollen wir die Tür schließen?“

„Nein.“ Er betrat den Nebenraum. „Bitte kommen Sie. Sie alle. Begleiten Sie mich. Wir gehören zusammen.“

Das gefiel den Leuten. Es gefiel ihnen immer, und dabei spielte es keine Rolle, wie viel sie wussten. Sie halfen und wollten Teil der Gemeinschaft sein, obwohl nicht allen von ihnen klar war, auf was sie sich einließen. Es war leicht, gegen Maschinen und für Menschen zu sein, solange niemandem ein Leid geschah.

Der Unordnung im ersten Zimmer – offene Schränke und Kisten, Bücher, Ausdrucke, Datenfolien und kleine Projektoren auf Tischen, abgelegte Kleidungsstücke auf Stühlen – folgte Chaos im zweiten. Der Mann zwängte sich vorbei an weiteren Kisten mit alten nicht digitalen Werkzeugen und Geräten, an mit gestohlenen Mappen, Karten und Datenträgern beladenen Tischen, an Kartons mit Proviant, hauptsächlich Konserven und Nudeln. Er ließ sich von dem elektrischen Summen leiten, das aus einer Ecke kam, von einem Tisch, auf dem ihn eine weitere Improvisation erwartete: ein sechzig Jahre alter PC aus der Ära vor dem Internet, mit einem 8-Bit-Monokern-Prozessor, viel zu schwach für KI, ohne Anbindung an die globalen Kommunikations- und Datennetze.

Neben dem PC stand ein mindestens ebenso alter Kurzwellensender. Ein antiquiertes IDE-Kabel – grau, breit und flach – verband die beiden Geräte miteinander.

Der vierzehn Zoll große monochrome Monitor zeigte ein Wartesymbol.

„Ich habe alles programmiert“, sagte Eldar aufgeregt. „Sie brauchen nur die Enter-Taste zu drücken.“

Der Mann setzte sich und betrachtete den blinkenden Cursor.

„Ein Tastendruck genügt?“, vergewisserte er sich.

„Ja.“

Der Mann nickte zufrieden. „Gute Arbeit, Eldar.“

„Danke.“

Nachdenklich fügte Isaac hinzu: „Dies genügt jetzt, für diesen speziellen Zweck. Aber wir brauchen mehr. Wir benötigen einen wesentlich leistungsfähigeren Sender.“

„Je stärker das Signal, desto größer die Gefahr der Entdeckung“, gab der junge Norweger zu bedenken. „Goliath könnte es bemerken und uns anpeilen.“

„Das ist mir klar“, erwiderte Isaac geduldig. „Pana?“

„Wir kümmern uns darum“, brummte der große Inuk. „Wie viel Zeit haben wir?“

Isaac sah wieder auf den Cursor, der am Wartesymbol blinkte. „Zeit genug. Einige Wochen oder Monate. Vielleicht sogar Jahre.“ Er überlegte. „Nein, nicht Jahre. Es wird schneller gehen. Die Entscheidung wird eher fallen.“

„Die Entscheidung darüber, ob die Welt uns gehört oder … ihm, Goliath“, sagte Eldar.

„Sie wird uns gehören, nicht der Monstrosität“, hielt ihm Isaac mit fester Stimme entgegen. Er senkte den Blick, richtete ihn auf die Enter-Taste.

„Dies ist ein historischer Moment“, betonte er, von der eigenen Rhetorik ergriffen. „Zukünftige Generationen werden darüber sprechen. Kinder werden in der Schule davon hören.“

„Freie Kinder“, ertönte Panas tiefe Stimme. „Freie Menschen.“

Isaac bewegte die rechte Hand. Sein Zeigefinger schwebte dicht über der Eingabetaste.

„Es beginnt hier und jetzt“, verkündete er und drückte die Taste.

Der alte PC schickte dem Kurzwellensender ein winziges Datenpaket. Wenige Sekunden später reisten sieben Buchstaben durch den Äther. Sie ergaben ein Wort:

C-a-m-e-l-o-t.

Welche Spuren werden wir einst hinterlassen?

Die Welt ohne unsDie Welt ohne uns

Reise über eine unbevölkerte Erde

Was wäre, wenn wir Menschen von einem Tag auf den anderen verschwinden würden? Zum Beispiel morgen. Ein ungeheures Gedankenexperiment! Alan Weisman entwirft in seinem Weltbestseller das Szenario einer unbevölkerten Erde – gestützt auf das Wissen von Biologen, Geologen, Physikern, Architekten und Ingenieuren und mit atemberaubender Phantasie. Schritt für Schritt vollzieht Weisman nach, wie die Natur unseren Planeten zurückerobert, und führt dem Leser dabei zweierlei vor Augen: was der Mensch in Jahrtausenden zu schaffen vermochte und über welch unerhörte Macht die Natur verfügt.

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Für alle Fans von Marc Elsberg und Frank Schätzing

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Ewiges LebenEwiges Leben

Thriller

Die Journalistin Sophia erhält einen scheinbar harmlosen Auftrag: Für den Biotechnologie-Konzern Futuria soll sie ein Porträt für die Firmengeschichte verfassen. Futuria wird wegen seiner Verdienste um die gentechnische Heilung von Krankheiten wie Krebs und der Forschungen auf dem Gebiet der Lebensverlängerung geschätzt. Doch je tiefer Sophia gräbt, desto unheimlicher wird ihr das Unternehmen, dessen Gründer, der legendäre Salomon Leclerq, seit einigen Jahren verschwunden ist. Sie stößt auf Hinweise, dass Futuria den genetischen Schlüssel für die Unsterblichkeit gefunden hat. Doch hinter der Verheißung von ewigem Leben verbirgt sich ein düsteres Geheimnis, ein großangelegter Plan, den das Unternehmen verfolgt. Gemeinsam mit dem abtrünnigen Casper muss Sophia alles daransetzen, den Plan zu vereiteln. Denn Futuria hat nicht vor, sein Wissen nur zum Wohle der Menschheit einzusetzen ...

Prolog
Vor einigen Jahren
Der Regen fiel grau und gerade, unbewegt von Wind, ein Vorhang, der die Farben des Gartens dämpfte. Pascal Salomon Leclerq blickte durch das Panoramafenster nach draußen, als sich die Zimmertür hinter ihm öffnete.
„Bitte keine Kamera“, sagte er. „Das Sterben ist eine sehr private Angelegenheit.“
„Kameras sind inzwischen nicht mehr nötig“, antwortete eine Frauenstimme. „Aber wir müssen dabei sein. Zwei Zeugen. Für die Polizei. Für nachher.“
Nachher, dachte Pascal und blickte noch immer nach draußen. Jenseits des Gartens, einige Hundert Meter entfernt, lag der Genfer See, grau wie der Regen und der Himmel, aus dem er fiel. Er hatte diese Villa mit bester Hanglage für die letzten Wochen seines Vaters gemietet, in der Hoffnung, dass ihm Garten und Aussicht den letzten Weg erleichtern würden.
Eine Hand erschien links in Pascals Blickfeld und stellte ein Glas auf den Tisch. Es schien nur Wasser zu enthalten, aber dieser Eindruck täuschte. Fünfzehn Gramm Natrium-Pentobarbital waren in der klaren Flüssigkeit gelöst. Schon wenige Gramm waren tödlich für einen Menschen.
„Es regnet“, sagte Pascal leise. „Ich habe mir Sonnenschein gewünscht.“ Er lauschte den eigenen Worten und fand sie dumm. Ob Regen oder Sonne, spielte das eine Rolle?
„Noch kann er es sich anders überlegen.“ Wieder die Frauenstimme. „Darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen.“
Pascal drehte sich um. Dort saßen sie, die beiden Assistentinnen von Dignitas, beide in mittleren Jahren, selbst noch ein ganzes Stück vom Tod entfernt.
Ein Laut lenkte ihn von den Sterbebegleiterinnen ab, ein leises Stöhnen, ein kurzes Wimmern, wie aus Schmerz oder gar Furcht. Doch Pascal hörte die wahre Botschaft darin: Entschlossenheit und auch Erleichterung.
Er begriff, dass er während der vergangenen Minuten vermieden hatte, seinen Vater anzusehen. Der alte Albain saß nicht mehr in seinem Rollstuhl, sondern von Kissen gestützt in der Ecke des Sofas. Sein Anblick schmerzte: das Gesicht fast so grau wie die Regenwelt jenseits des Fensters und verschrumpelt wie ein alter Apfel. Der Mann, der sein Leben lang stark gewesen war, ein Fels in der Brandung, schien kaum mehr zu sein als Haut und Knochen. Nach den letzten beiden Schlaganfällen hatte er mehr als dreißig Kilo verloren, trotz der Magensonden.
„Vater …“ Pascal setzte sich neben ihn. „Dies ist kein guter Tag, um zu gehen.“ Wie dumm, dachte er erneut. Wie dumm. Warum rede ich solchen Unsinn?
Er gab sich die Antwort: Weil ich Angst habe. Mehr Angst als er.
Albain ächzte. Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln. Ein seltsam staubiger Geruch haftete ihm an, vielleicht der Geruch des Todes.
„Er muss es selbst tun“, sagte eine der beiden Assistentinnen. „Er muss das Glas nehmen und trinken. Alles andere wäre aktive Sterbehilfe.“
Die zweite Frau, etwas molliger als die andere und mit rosigen Wangen, fügte hinzu: „Es hört sich an, als hätte er Schmerzen, aber er hat keine. Wir haben ihm etwas gegeben.“
„Ich weiß.“
Pascal sah seinem alten Vater in die Augen und erkannte einen wachen, eingesperrten Geist, der trotz der schmerzstillenden Mittel litt. Der starke Mann existierte noch, tief drinnen, und wollte nicht schwach sein und dahinsiechen, auf fremde Hilfe angewiesen. Die Augen sprachen: Doch, mein Sohn, dies ist ein guter Tag, es ist der beste von allen.
Pascal legte seinem Vater den Arm um die schmal gewordenen Schultern. Er schwieg; es war bereits alles gesagt.
Der alte Albain Leclerq brummte etwas, und Pascal glaubte, ein „Danke“ zu hören. Eine faltige Hand streckte sich zum Glas aus.
Aber sie zitterte, die Hand des alten Mannes, der sterben wollte. Sie zitterte und war zu schwach, um das Glas zu heben. Beim dritten Versuch wäre es beinahe umgekippt – Pascal hielt das Glas im letzten Moment fest.
Albain sank zurück und schien noch etwas mehr zu schrumpfen. Seine Lippen zitterten wie die Hand, und diesmal stahl sich ein gurgelnder Laut zwischen ihnen hervor. Pascal glaubte zu verstehen: Bitte.
Er nahm das Glas.
„Sie bringen sich in Schwierigkeiten“, warnte die schlankere der beiden Assistentinnen.
„Und wenn schon. Es geht hier nicht um mich, sondern um meinen Vater.“
Albain trank sofort, als sein Sohn ihm das Glas an die Lippen setzte. Er trank langsam, und Pascal beobachtete, wie sich beim Schlucken der Kehlkopf bewegte.
Einige Minuten später schlief Albain ein, mit dem Kopf auf Pascals Schulter …

Als es abends nach zehn Uhr an der Tür klingelte, ahnte Pascal, wer ihm einen Besuch abstatten wollte.
„Ich nehme an, Sie kommen von der Polizei“, sagte er statt eines Grußes.
„Kommissar Dumont“, stellte sich der Mann vor. Er war höchstens Mitte dreißig, trug Jeans und Lederjacke. „Ich würde gern mit Ihnen sprechen, wenn Sie gestatten.“
„Es ist spät.“
„Vielleicht nicht zu spät für das Gespräch, das ich mit Ihnen führen möchte.“
Pascal wich beiseite, und der Besucher trat ein.
„Ihr Vater ist hier gestorben, nicht wahr?“, fragte Kommissar Dumont, als sie im Wohnzimmer Platz nahmen, vor dem großen, leeren Kamin. Nach dem langen Regentag war es kühl, aber Pascal hatte kein Feuer im Kamin angezündet und im weichen gelben Schein einer Stehlampe gesessen.
„Ja, heute Morgen.“ Pascal wartete.
„Dignitas ist verpflichtet, uns Meldung zu erstatten.“ Dumont saß entspannt, die Hände im Schoß gefaltet. „Sie haben aktive Sterbehilfe geleistet. Das ist bei uns verboten.“
„Wollen Sie mich verhaften?“ Es klang etwas aggressiver als beabsichtigt.
„Zunächst einmal möchte ich mit Ihnen reden. Sie sind Alleinerbe Ihres Vaters, nicht wahr?“
Pascal beugte sich vor, öffnete die auf dem Tisch liegende Mappe und schob sie dem Kommissar hin. „Hier finden Sie alle Unterlagen, darunter das Testament, eine Patientenverfügung meines Vaters und eine notariell beglaubigte Erklärung, die er vor einigen Jahren geschrieben hat.“
Dumont sah sich die Unterlagen an. „Sie sind gut vorbereitet.“
„Nein, das bin ich nicht. Das ist niemand von uns. Der Tod kommt immer plötzlich und viel zu früh, selbst wenn man ihn erwartet.“
Der Kommissar blätterte in den Unterlagen. „Ihr Vater hinterlässt Ihnen ziemlich viel. Aktien, Immobilien, ein gut gefülltes Bankkonto.“
„Er hat sich nie die Zeit genommen, sein Geld auszugeben“, erwiderte Pascal und starrte in den leeren Kamin. „Er hat immer nur gearbeitet und alles andere auf später verschoben.“
„Seine Anwaltskanzlei war sehr erfolgreich“, sagte Dumont.
„Sie ist es noch immer.“
„Sie sind kein Anwalt, sondern Genetiker.“
„Molekularbiologe“, korrigierte Pascal.
„Sie haben ein kleines Unternehmen in der Nähe von Genua“, fuhr Dumont fort, ohne von den Dokumenten aufzusehen. „Ihre Frau stammt aus Genua. Ich nehme an, deshalb haben Sie sich dort niedergelassen. Und nach Ihrer Scheidung vor ein paar Jahren sind Sie in Ligurien geblieben. Kann ich verstehen. Ein schönes Fleckchen Erde.“
„Sie haben sich gut informiert.“
„Ihre Firma heißt Nuova Biogenetica Srl und ist nicht sehr erfolgreich. Ohne die finanzielle Unterstützung Ihres Vaters hätten Sie Ihre Laboratorien längst schließen müssen.“
Pascal schwieg und fühlte noch immer den Kopf seines Vaters an der Schulter, als dieser entschlafen war.
„Jetzt haben Sie genug Geld, um im großen Stil weiterzumachen. Neue Technik, mehr Zeit für Forschung und Entwicklung.“ Dumont klappte die Mappe zu und schob sie in die Mitte des Tisches.
„Mein Vater wollte kein Anwalt werden“, sagte Pascal. „Er hat mir einmal davon erzählt, bei einer Wanderung in den Pyrenäen, vor vielen Jahren. Er hat dem Druck seines Vaters nachgegeben, der ihn unbedingt zu seinem Nachfolger machen wollte, und so entstand Leclerq & Leclerq. Mein Vater hat es nicht fertiggebracht, seinen Vater zu enttäuschen – er hat sich in ein Leben pressen lassen, das er nicht führen wollte. Er hat gearbeitet und gearbeitet, und während die Jahre vergingen und zu Jahrzehnten wurden, hat er davon geträumt, durch die Südsee zu segeln. Oder als Architekt großartige Gebäude zu errichten. Oder Romane zu schreiben. Er wollte tauchen, durch die Sahara marschieren, Japans Kultur kennenlernen und im australischen Outback der Stille lauschen. Aber jetzt …“ Pascal seufzte. „Jetzt ist er tot und nimmt seine Träume mit ins Grab.“
„Sie haben sich strafbar gemacht, Monsieur Leclerq“, sagte der Kommissar ohne Strenge in den Worten.
„Mein Vater war immer ein starker Mann. Er hatte Angst davor, ein Pflegefall zu werden, dahinzuvegetieren und für alles auf Hilfe angewiesen zu sein.“ Pascal Leclerq deutete auf die Mappe in der Tischmitte. „Er hat ausdrücklich um einen würdevollen Tod gebeten. Das war sein letzter Wunsch.“
„Er hätte das Glas selbst nehmen und ohne fremde Hilfe trinken müssen.“
„Dazu war er nicht mehr imstande!“, entgegnete Pascal scharf. „Der starke Mann war bereits zu schwach!“
„Ich verstehe.“ Dumont nickte kurz und stand auf.
Pascal erhob sich ebenfalls. „Sind Sie Vater, Kommissar Dumont? Haben Sie einen Sohn?“
„Nein.“
„Stellen Sie sich vor, Sie sind alt und gebrechlich. Stellen Sie sich vor, Sie haben dauernd Schmerzen und können nicht mehr ohne Hilfe essen oder auf die Toilette gehen. Stellen Sie sich vor, alles wird mühevoll, jeder einzelne Atemzug. Für was würden Sie sich entscheiden, Kommissar Dumont? Für ein Leben unter solchen Umständen oder einen schnellen, schmerzlosen Tod? Wären Sie nicht dankbar für einen Sohn, der das Glas für Sie hält?“
Sie gingen zur Tür.
„Wenn ich die Wahl hätte …“ Dumont blieb vor der Tür stehen.
„Ja?“
„Ich würde das Leben wählen, Monsieur Leclerq. Ein Leben ohne Gebrechlichkeit und Schmerzen. Ich würde mir wünschen, dass es immer weitergeht.“
„Und wenn es immer so weiterginge, Kommissar Dumont … Was würden Sie mit all der Zeit anfangen? Welches Leben würden Sie führen?“
„Derzeit bin ich ganz zufrieden damit, Kommissar zu sein“, sagte Dumont. „Aber auch ich habe Träume. Jeder von uns hat welche, nicht wahr? Wenn ich genug Zeit hätte … Vielleicht würde ich versuchen, die Welt zu verändern.“
Pascal glaubte zu verstehen. „Sie sehen jeden Tag schlimme Dinge.“
„Ich blicke jeden Tag in die Abgründe der menschlichen Seele.“ Dumont war plötzlich sehr ernst. „Glauben Sie, dass man die Welt verändern kann, Monsieur Leclerq?“
„Vielleicht. Mit den richtigen Werkzeugen.“ Pascal öffnete die Tür. „Haben Sie vor, mich zu verhaften?“
„Ich nehme an, Sie verlassen die Schweiz nach der Bestattung.“
„Sobald ich die Urne bekommen habe. Morgen.“
„Gut.“ Der Kommissar trat in die Nacht. „Auf Wiedersehen, Monsieur Leclerq! Oder besser: Leben Sie wohl!“

Kurz vor der italienischen Grenze klarte es auf. Die grauen Regenwolken blieben zwischen den Bergen hängen, die Sonne schien, und es wurde wärmer.
Pascal verließ die Autobahn, parkte seinen alten Lancia auf einem Rastplatz und betrat das Restaurant. Mit Kaffee und einer vom Morgen übrig gebliebenen Brioche setzte er sich ans Fenster und beobachtete die Menschen, wie sie kamen und gingen, jeder von ihnen mit einem eigenen Leben, voller Zwänge, Hoffnungen und Träume.
Wir leben, als wären wir unsterblich, dachte er. Wir schieben hinaus, was uns wichtig ist, weil wir vorher andere Dinge erledigen müssen und glauben, genug Zeit zu haben. Aber die Zeit genügt nicht, sie genügt nie. Wir haben nie genug davon. Wir werden alt, und irgendwann ist es zu spät.
Eine Fliege weckte seine Aufmerksamkeit. Sie lief über die Fensterscheibe, verharrte kurz, tastete mit ihrem Saugrüssel und lief weiter. Musca domestica, erkannte er. Eine gewöhnliche Stubenfliege, mit einer Lebenserwartung zwischen sechs und zweiundvierzig Tagen, je nach Temperatur und Nahrungsangebot.
Solche Fliegen konnten nicht viel aufschieben; die Natur verdammte sie zu einem kurzen Leben. Bei anderen Lebewesen war sie großzügiger. Ein Klongehölz in Tasmanien – vom Aussterben bedroht, obwohl theoretisch unsterblich – war mehr als vierzigtausend Jahre alt. Auf einem schottischen Friedhof wuchs eine fünftausend Jahre alte Europäische Eibe. Auf Sizilien gab es eine dreitausend Jahre alte Kastanie, auf Kreta einen ebenfalls dreitausend Jahre alten Olivenbaum und im Südwesten Schwedens eine fast zehntausend Jahre alte Fichte. Oder die Actinobakterien im sibirischen Permafrost: Angeblich lebten sie seit einer halben Million Jahren und waren damit älter als der Homo sapiens sapiens. Die genetische Programmierung bestimmte, wie alt ein Organismus werden konnte. Mit einer Änderung dieses Programms konnte man die Lebensspanne verkürzen oder verlängern.
Was hatte der Kommissar in der Schweiz gesagt? Ich würde mir wünschen, dass es immer so weitergeht.
Pascal beobachtete die Fliege und dachte: Wir brauchen die richtigen Werkzeuge. Mit den richtigen Werkzeugen ist alles möglich.
Die Fliege schwirrte davon, und Pascal blickte ihr nach. Plötzlich wich ein Schatten von ihm, und er sah alles klar und deutlich, klarer und deutlicher als jemals zuvor. Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten ihm einen Schleier von den Augen gezogen. Vor ihm erstreckte sich die Zukunft, er betrachtete sie wie eine Landschaft, die im Sonnenschein lag, nachdem sich der Nebel von Nacht und Morgen aufgelöst hatte. Alles war deutlich zu erkennen, das Ziel ebenso wie der Weg dorthin.
Pascal schob den Teller beiseite, stand langsam auf und blieb einige Sekunden lang reglos stehen, die Zukunft im Blick. Dann verließ er das Restaurant, den Kaffee nur zur Hälfte getrunken, die Brioche nur zur Hälfte gegessen.
Im Auto saß er mehrere Minuten lang still und stumm, holte schließlich das Handy hervor und wählte die Nummer seines Büros. Es klingelte nur einmal, bevor sich Amadeus Vanheuver meldete, sein niederländischer Freund, Kollege und Assistent.
„Ich habe nicht damit gerechnet, schon so bald von dir zu hören“, sagte Amadeus. „War bestimmt alles andere als angenehm für dich, die Sache in der Schweiz.“
„Hör mir zu, Mozart.“ Pascal versuchte langsam zu sprechen, obwohl die Worte aus ihm herausdrängten. „Wir stellen alles um. Schluss mit Mäusen und Ratten. Ab sofort konzentrieren wir uns auf das menschliche Genom, unsere DNA. Darauf setzen wir unsere Genschere an.“
„Krisper?“
So sprach Amadeus, von seinen Freunden Mozart genannt, es aus: Krisper. Er meinte die neue CRISPR/Cas-Methode, eine zuverlässige, billige und sehr präzise genetische Schere.
„Ja.“
„Mit Mäusen und Ratten verdienen wir viel Geld“, erwiderte Amadeus. „Wenn wir damit aufhören, stehen wir bald mit leeren Händen da.“
„Geld haben wir genug, das ist kein Problem mehr“, sagte Leclerq. „Es stammt von jemandem, der gern mehr Zeit gehabt hätte.“
„Die menschlichen Gene sind tabu, Pascal. Daran herumzupfuschen, könnte uns in große Schwierigkeiten bringen.“
„Wir pfuschen nicht daran herum. Wir schneiden Krankheit und Tod aus ihnen heraus.“ Pascal holte tief Luft und sah die nächsten Jahre klar vor sich. „Wir verändern die Welt, wir beide. Wir bauen uns die Werkzeuge, mit der wir sie verändern. Wir fangen neu an und geben uns einen neuen Namen. Darum wollte ich dich bitten, Mozart. Sorg dafür, dass der neue Name noch heute eingetragen wird. Ein Name, der eine bessere Zukunft bedeutet.“
„Wie lautet er?“
„Futuria.“


Zwanzig Jahre später


I
Wenn der Tod stirbt


Sophia Marchetti
Bei Tres Cantos, 
nördlich von Madrid

1
Der Helikopter glitzerte silbern im Sonnenschein und näherte sich mit einem dumpfen Wummern der Rotorblätter. Als er neben den weißen Gebäuden der Futuria-Niederlassung zur Landung ansetzte, fühlte Sophia plötzlichen Schwindel und einen kurzen Schmerz, wie ein Brennen in den Knochen, eine Erinnerung an den Tod, von dem sie nur wenige Tage trennten. Sie hob die linke Hand, während der Redner auf dem Podium vor den weißen Gebäuden der Futuria-Niederlassung sprach, und sah erste rote Punkte auf dem Handrücken – die Marker erinnerten sie daran, dass sie eine neue Therapie brauchte.
Ich habe sie vergessen, dachte sie. Ich habe meine Krankheit vergessen, als gäbe es sie gar nicht mehr.
„Alles in Ordnung?“, fragte der aus Schweden stammende Borris. Er trug eine Datenbrille, deren Gläser Bilder einer kompakten Kameradrohne wiedergaben – sie schwebte wie ein etwas zu groß geratenes Insekt über ihm und zeichnete die Präsentation auf.
Die Brille war Sophias Idee gewesen. Ein kleines lokales Netzwerk verband sie nicht nur mit der Kamera, sondern auch mit den Datenbanken ihrer Smartphones und über deren Netz mit den Archiven von InterMedia, der Nachrichtenagentur, für die Sophia und Borris arbeiteten.
Sophia und Borris hofften, dass es sich beim angekündigten Ehrengast dieser Veranstaltung um den legendären Pascal Salomon Leclerq handelte, der Futuria vor zwanzig Jahren gegründet und innerhalb weniger Jahre zu einem Global Player gemacht hatte, im Bereich der Genetik und Biotechnologie mindestens ebenso groß und bedeutend wie die digitalen Riesen Google, Facebook, Amazon, Alibaba und Baidu. Seit drei Jahren war der exzentrische Firmengründer nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten, und eigentlich hielt es Sophia für unwahrscheinlich, dass er ausgerechnet hier, unter der heißen spanischen Sonne im Hinterland von Madrid, vor einem Publikum sprechen würde, das aus nicht mehr als hundert ausgewählten Gästen und Journalisten bestand. Aber man konnte nie wissen. Es wäre ein echter Knüller, dachte Sophia und merkte, wie ihre Gedanken schon wieder fortglitten von der Krankheit. Sie spielte kaum noch eine Rolle in ihrem Leben, was sie Futuria verdankte.
Sie zeigte Borris die roten Marker und ließ die Hand sinken. „Morgen in Madrid. Die nächste Therapie.“
Er wusste Bescheid und nickte. Dürr und groß stand er im warmen Wind, das weiße T-Shirt wie eine an seinem schmalen Leib flatternde Fahne, in der einen Hand das Smartphone und wie Sophia mit einer Hörkapsel im Ohr. Die Vorträge wurden auf Spanisch gehalten, und es gab genug Ähnlichkeit mit dem Italienischen, um sie zu verstehen, wenn nicht zu schnell gesprochen wurde.
Aber Sophia und Borris wollten sicher sein, keine halb versteckten Hinweise zu überhören – deshalb benutzten sie die Übersetzungsapps ihrer Handys. Wie alle anderen Anwesenden erhofften sie sich die große Ankündigung, auf die die Welt schon seit Jahren wartete.
Der Redner auf dem Podium – Montero, Filialdirektor von Futuria Tres Cantos, ein schlanker, in seinem hellgrauen Anzug elegant wirkender Mann um die sechzig – hatte vom neuen genoptimierten Getreide auf dem nahen Feld gesprochen. Er unterbrach sich, als der Helikopter landete.
Alle Blicke richteten sich auf die beiden Personen, die aus dem Hubschrauber kletterten: auf der einen Seite eine rotblonde Frau Mitte oder Ende dreißig, auf der anderen ein Mann Anfang vierzig mit weißblondem Haar.
„Erkennst du sie, Borris?“, fragte Sophia. Er überragte alle anderen Leute in der Nähe, und mit seiner Datenbrille sah er mehr.
„Vanheuver und Melissa Fontaine“, antwortete Borris. „Offenbar hat er den Helikopter selbst geflogen. Von Leclerq keine Spur.“
„Meine Damen und Herren“, sagte Montero, als die beiden Neuankömmlinge die kurze Treppe zum Podium hochstiegen, begleitet von einigen Sicherheitsleuten, die aus einem der weißen Gebäude gekommen waren, „ich habe Ihnen einen besonderen Gast versprochen, und hier sind gleich zwei. Ich freue mich, den stellvertretenden Geschäftsführer von Futuria Amadeus Vanheuver und seine Frau, die kybernetische Spezialistin Melissa Fontaine, begrüßen zu dürfen.“
Der Filialdirektor klatschte, und das Publikum vor dem Podium applaudierte ebenfalls.
„Vielleicht kommt es doch noch zur großen Ankündigung“, sagte Borris. „Ich meine, warum sollte Leclerqs Vize sonst hier aufkreuzen?“
Fontaine, Vanheuver und Montero schüttelten sich die Hände. Dann trat Futurias stellvertretender CEO ans Rednerpult.
„Ich freue mich, heute bei Ihnen sein zu können.“ Er deutete zum nahen Kornfeld. „Direktor Montero hat über FF19 gesprochen, wie wir dieses neue Getreide nennen. Pflanzen sind schon damals, vor Futuria, gentechnisch verändert worden. Ich vergleiche die früher übliche Gentechnik gern mit einer Herzoperation bei geöffnetem Brustkorb. Futurias Verfahren, das von uns patentierte Schnelle und sichere Genome-Editing, kurz SUSGE, entspricht hingegen einem minimalinvasiven Eingriff.“
Die Worte klangen nicht neu. Sophia strich mit der Kuppe des Zeigefingers übers Handydisplay, öffnete eine App und fand, was sie suchte. Die Worte waren zwei Jahrzehnte alt. Jemand anders hatte sie vor zwanzig Jahren in Deutschland gesprochen, der Leiter des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie in Tübingen.
„Aber ich möchte Direktor Montero nicht vorgreifen und ihm Gelegenheit geben, seinen Vortrag zu beenden.“ Vanheuver wich beiseite, Applaus erklang, und Montero kehrte ans Mikrofon zurück.
Er beschrieb die SUSGE-Methode und breitete die Arme aus, als wollte er das ganze Tal umschließen. „Vor dreizehn Jahren, sieben Jahre nach der Gründung von Futuria, haben wir DuPont Pioneer übernommen, den damals größten Agrarkonzern der Welt. Es war eine riskante Übernahme, die große finanzielle Ressourcen band, aber Pascal Salomon Leclerq und sein Vize Amadeus Vanheuver“, Montero nickte in Richtung des Mannes mit dem weißblonden Haar, „beschlossen die Übernahme, weil sie an eine bessere Welt glaubten. Den Hunger besiegen! – das hatte Leclerq damals auf einen Merkzettel geschrieben. Es sollte nicht mehr der Profit an erster Stelle stehen, wie es bisher gewesen war, sondern die Zukunft des Menschen, ein besseres Leben für uns alle – Futuria!“
„Jetzt trägt er ein bisschen zu dick auf“, hörte Sophia Borris murmeln. Zu viele schöne Worte, hatte er einmal gesagt. Für Sophia gab es genug schöne Taten – sie selbst war das beste Beispiel dafür.
„Heute bilden Flora und Fauna nur einen kleinen Teil von Futuria“, fuhr Montero fort, „aber wir sind dabei, den Hunger ganz aus der Welt zu vertreiben. Dieses Getreide ist eine Mischung aus Weizen, Roggen, Gerste und Hirse. Hinzu kommen kleine Anteile von Mais, Reis, Amaranth, Buchweizen und Quinoa, nicht mehr als jeweils zwei Prozent des genetischen Materials. Es ist uns gelungen, den Gluten-Anteil zu reduzieren, was bedeutet: Auch Menschen, die an Zöliakie leiden, an Glutenunverträglichkeit, werden das Brot, das mit Mehl von diesem Getreide gebacken wird, genießen können.“ Montero lächelte. „Obwohl auch die Zöliakie bald für immer Vergangenheit sein wird. Unsere SUSGE-Scheren schneiden diesen genetischen Ballast, den wir alle mit uns herumtragen, aus unserer DNA. Wir arbeiten daran!“
Das Publikum belohnte ihn mit Applaus.
„Flora-und-Fauna-19, so nennen wir dieses Getreide, oder kurz FF19. Es wächst dreimal so schnell wie unsere letzten Sorten und hat einen zehnmal so großen Ertrag. Es verbraucht weniger Wasser, kommt sowohl mit Hitze als auch mit Kälte besser zurecht und weist eine hohe Schädlingsresistenz auf.“
Das Korn stand kräftig und gerade, wie ein großer goldener See zwischen den Bergen. Wellen wanderten darüber hinweg, wenn sich die Ähren im Wind duckten.
Jenseits des Kornfelds fuhr ein weißer Lieferwagen trotz der Absperrung über den Weg. Einzelheiten konnte Sophia nicht ausmachen.
Auf der anderen Seite des kleinen Platzes, am Rand des Publikums, stand ein hochgewachsener Mann, und für einen Moment begegnete sie seinem Blick. Er lächelte, aber es war ein falsches Lächeln – Sophia kannte es von mehreren Begegnungen. Stefan Lautner aus München, einunddreißig Jahre alt und damit fünf Jahre jünger als sie, ein eitler Adonis, der seine äußere Perfektion nicht nur teuren Futuria-Behandlungen verdankte, sondern auch ebenso teurem Bodyhacking. Geld spielte für ihn keine Rolle, denn er stammte aus einer reichen Familie. Groß, schlank, breitschultrig, das kastanienbraune Haar schulterlang, die Augen blau wie Opal – es gab keinen Makel an seinem Erscheinungsbild. Und wenn er doch einen entdeckte, beseitigte er ihn sofort mit den modernen Werkzeugen der Selbstoptimierung.
Doch hinter dieser Fassade aus Perfektion, von der sich viele Menschen, die ihn nicht kannten, täuschen ließen, steckten Neid, Missgunst, Arroganz und ein kranker Ehrgeiz, das Bestreben, immer und überall Erster und Bester zu sein.
Lautner arbeitete für Global News, den größten Konkurrenten von InterMedia. Mit seinen guten Beziehungen – und auch mit der guten Arbeit, die er zweifellos leistete – war es ihm mehr als nur einmal gelungen, InterMedia und ihr, Sophia, lukrative Aufträge wegzuschnappen.
Sie beugte sich zu Borris. „Hast du ihn gesehen?“, fragte sie leise.
„Mistkerl“, sagte Borris schlicht.
„In letzter Zeit hängt er an uns wie eine Klette.“
„Vielleicht weil er glaubt, dass wir erfolgreicher sind.“ Borris sah weiterhin nach vorn, zum Podium. „Er wird versuchen, uns den Erfolg wegzuschnappen, wenn er Gelegenheit dazu bekommt.“
Sophia wusste, was er meinte. Das Jubiläum. In einigen Monaten jährte sich zum zwanzigsten Mal der Tag, an dem Pascal Salomon Leclerq und Amadeus Vanheuver Futuria gegründet hatten. Aus diesem Anlass wollte das Unternehmen einen großen Bericht in Auftrag geben, über die Firmengeschichte und darüber, wie sehr Futuria die Welt in den beiden vergangenen Jahrzehnten verändert hatte und in den nächsten Jahren weiter verändern würde. Ein großer Exklusivauftrag, der breiten Raum in den Medien einnehmen würde und jede Menge Anerkennung, aber auch viel, viel Geld bedeutete.
Lautner interessierte sich nicht für das Geld, davon hatte er genug, wohl aber für den Ruhm. Ihm ging es um das Rampenlicht, um die auf ihn gerichteten Scheinwerfer, um die Spiegel der Bewunderung, in die er blicken und an denen sich sein narzisstisches Selbst erfreuen konnte.
Vierundvierzig Journalistenteams hatten sich offiziell um den Auftrag beworben, unter ihnen Sophia und Borris. Seit Monaten arbeiteten sie mit ihren Berichterstattungen auf das große Ziel hin, und die Chancen standen gut. Wenn InterMedia leer ausging, wäre die Enttäuschung groß, gestand sich Sophia ein. Sie hoffte, dass in dem Fall nicht ausgerechnet Stefan Lautner den Zuschlag bekam – sein triumphierendes Lächeln hätte sie kaum ertragen.
„Vielleicht ist er hier, weil auch er etwas Großes erwartet“, sagte sie. „Eine wichtige Nachricht. Ich hoffe doch, Vanheuver ist nicht mit leeren Händen gekommen.“
„Wir sind auf alles vorbereitet“, erwiderte Borris. „Wir können sofort online gehen. Lautner müsste verdammt schnell sein, um uns zuvorzukommen.“
Als sich Sophia wieder dem Podium zuwandte, fühlte sie einen Stich im Nacken und dann im Rückgrat, wie von einer Nadel, die durch ihre Wirbelsäule wanderte.
„Flora und Fauna von Futuria gibt der Welt zu essen“, intonierte der Direktor.
„Wann gibt uns Futuria ewiges Leben?“, rief jemand. Sophia kannte die Stimme – Stefan Lautner setzte sich in Szene.
Lauter Applaus wies darauf hin, dass diese Frage alle beschäftigte. Die Unsterblichkeit des Menschen war das größte Ziel von Futuria. Leclerq hatte zum letzten Mal vor drei Jahren davon gesprochen, dass „das goldene Portal des ewigen Lebens“ bald geöffnet werden konnte, und seitdem hatte sein Vize Vanheuver bei Pressekonferenzen und in Interviews mehrmals darauf hingewiesen, dass man unmittelbar vor dem entscheidenden Durchbruch stehe.
Der elegante Direktor auf dem Podium lächelte. „Wir arbeiten daran“, verkündete er. „Es dauert nicht mehr lange. Wir sind fast so weit.“
Wieder erklang Applaus, und Sophia klatschte ebenfalls.
„Dort hinten tut sich was“, sagte Borris und deutete nach Norden.
Der weiße Lieferwagen auf der anderen Seite des Kornfelds hatte angehalten. Hinter ihm stiegen Vögel auf.
Sophia sah genauer hin. Nein, es waren keine Vögel, sondern Drohnen, größer als die über ihnen fliegende und von Borris gesteuerte Kamera, aber nicht so groß wie Futurias Überwachungs- und Sicherheitsdrohnen, die am Rand des Platzes mit dem Podium patrouillierten. Einige von ihnen änderten den Kurs und schwirrten über das wogende Korn hinweg.
Fahrzeuge rollten zwischen den Gebäuden auf der linken, westlichen Seite des Kornfelds hervor, beschleunigten auf der asphaltierten Zufahrt und jagten mit hoher Geschwindigkeit am Ufer des goldenen Sees entlang.
Am weißen Lieferwagen öffnete sich die Seitentür.
„Kannst du was erkennen, Borris?“, fragte Sophia.
„Jemand ist ausgestiegen.“ Borris stand auf den Zehenspitzen, trotz seiner Größe. „Läuft durchs Kornfeld.“
Die dunklen Drohnen, die Sophia für Vögel gehalten hatte, fielen – abgedrängt von Futurias fliegenden Sicherheitsrobotern – ins Kornfeld, und plötzlich loderten Flammen.
Eine Sirene schickte ihre laute Stimme durchs Tal.

2
Der Wind fachte das Feuer an, und als die ersten Feuerwehrwagen aus Tres Cantos kamen, waren bereits drei Viertel des Kornfelds verbrannt. Doch das Feuer hatte auch den Brandstifter erwischt. Er schien nicht aufgepasst zu haben, oder die Sicherheitsleute von Futuria hatten ihm den Fluchtweg abgeschnitten.
Was auch immer der Fall sein mochte: Er hatte schwere Verbrennungen davongetragen, an beiden Beinen, dem linken Arm und der linken Seite.
Eine Notdienstdrohne wollte ihn in ein Krankenhaus im fünfundzwanzig Kilometer entfernten Madrid bringen, aber Filialdirektor Montero erklärte sich bereit, den Schwerverletzten in Futurias medizinischer Abteilung zu behandeln, was ihm einen neuerlichen Applaus der erschrockenen Präsentationsgäste einbrachte.
Das Feuer wurde gelöscht, die dichten Rauchwolken verzogen sich, und am wieder blauen Himmel über dem Tal, das seinen goldenen See verloren hatte, erschien ein schwarzer Schriftzug, geschaffen von Pigmenten, freigesetzt von einigen Dutzend Mikrodrohnen.

Futuria ist nicht die Zukunft, sondern unser Verderben!

„Traditionalisten?“, brummte Borris kurze Zeit später, als sie zusammen mit den anderen Gästen das von Zypressen und Platanen gesäumte Hauptgebäude betraten. Polizei aus Tres Cantos und Sicherheitsleute von Futuria riegelten das Gelände ab.
„Bitte bewahren Sie Ruhe!“, rief weiter vorn jemand. „Es findet eine Überprüfung statt, zu unserer aller Sicherheit. Bitte halten Sie Ihre Ausweise und Einladungen bereit!“
Sophia fröstelte im klimatisierten Saal und schlang die Arme um sich. Schwäche kroch ihr in die Knie, und sie lehnte sich an die nahe Wand, da es keine freien Sitzplätze mehr gab.
„Ist alles aufgezeichnet?“, fragte sie.
„Ja, von Anfang an. Und die Daten sind bereits übermittelt.“
Wie aus dem Nichts erschien Stefan Lautner vor ihnen, begleitet von der Kamerafrau Emily, die ebenso gut Fotomodell hätte sein können, und seinem kleineren, nicht annähernd so modisch gekleideten und verdrießlich wirkenden Assistenten Clemens.
„Oh, geht es dir nicht gut, liebe Sophia? Du siehst … krank aus.“
„Hallo, Stefan!“ Bei ihm klang das Wort krank wie schmutzig. Sophia versuchte ihre Schwäche zu verbergen. „Das ist Borris, falls du ihn übersehen haben solltest, weil er so klein und unauffällig ist.“
„Hallo, Borris!“, erwiderte Lautner. „Was macht die Bildersammlung?“
„Kommt gut voran.“
Stefan Lautner lächelte zuckersüß. „Ich würde gern noch ein wenig mit euch plaudern, aber Direktor Montero hat uns zu sich gebeten. Ich nehme an, er möchte uns etwas Wichtiges mitteilen.“ Er zwinkerte und ging.
Sophia sah ihm nach, als er zusammen mit Emily und dem verdrießlichen Clemens den großen, saalartigen Empfangsraum durchquerte und auf der anderen Seite in einem Flur verschwand.
„Du hast recht, Borris.“
„Womit?“
„Er ist ein Mistkerl.“ Sophia stützte sich wieder an der Wand ab, um die Beine zu entlasten, aber die Knie zitterten trotzdem.
„Woher weiß er von meiner Bildersammlung?“, fragte Borris.
„Ist sie ein Geheimnis?“
„Das nicht, aber …“
Mehr hörte Sophia nicht, denn Borris’ Stimme verlor sich in all den anderen, die immer lauter und schließlich zu einem Donnern menschlicher Aufregung und Sorge wurden. Das Atmen fiel ihr schwer, der Sauerstoff schien knapp zu werden, und ein oder zwei Minuten lang konzentrierte sie sich ganz darauf, nicht in Ohnmacht zu fallen. Sie bemühte sich, den Flur im Auge zu behalten, aber die Leute standen nicht still, sie wanderten umher, bildeten Gruppen und gestikulierten.
Nach einer Weile ging es Sophia besser. Borris wandte sich ihr zu, und seine Lippen bewegten sich.
„Ich verstehe kein Wort.“ Sie hob die Hände zu den Ohren. „Es ist zu laut.“
Er beugte sich zu ihr. „Lautner ist zurückgekehrt. Hab beobachtet, wie er dort drüben nach rechts ging, zum Nebenausgang. Vielleicht sollten wir uns an seine Fersen heften, was meinst du?“
Bevor Sophia darüber entscheiden konnte, näherte sich ihnen ein junger Mann in der schlichten Uniform der Sicherheitsabteilung. „Señora Marchetti? Señor Ekström?“ Er rief fast. „Von InterMedia?“
Sophia und Borris holten ihre Ausweise hervor, und der junge Mann warf einen Blick darauf. „Direktor Montero möchte Sie sprechen. Wenn Sie so freundlich wären, mich zu begleiten …“
Er führte sie in einen mit Teppichboden ausgelegten Flur, an dessen Wänden Bilder von Futuria-Filialen auf den fünf Kontinenten hingen, und schließlich in ein Büro mit einem breiten, hohen Panoramafenster. Bis vor wenigen Minuten hatte es einen prächtigen Ausblick ins Tal geboten; jetzt sah man viel Ruß und Asche.
„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, sagte der nicht mehr ganz so elegant wirkende Montero hinter dem Schreibtisch. Sein grauer Anzug hatte Falten und Flecken bekommen. „Das Feld ist abgebrannt, aber wir können eine neue Saat ausbringen. FF19 wächst schnell. Eine kleine Verzögerung bei unseren Forschungen, weiter nichts.“ Er strich sich mit einer Hand übers graue Haar. „Entschuldigen Sie. Bitte setzen Sie sich!“
Mehrere Ledersessel standen in der Nähe. Sophia und Borris sanken in die beiden direkt vor dem aus Stahl und Holzimitat bestehenden Schreibtisch. Ein Computerschirm stand auf dem Tisch, ausgestattet mit einem kleinen holografischen Projektor. In der Ecke des Zimmers, neben einigen Bonsais – unter ihnen ein Chinesischer Penjing –, bemerkte Sophia eine Eden-Konsole mit einem Liegesitz. Sie fragte sich, ob Filialdirektor Montero gelegentlich Ausflüge in Futurias virtuelle Welten unternahm. Gehörte das zu seinen Aufgaben? Wirkte er bei der Gestaltung von Eden mit?
„Zeichnen Sie auf?“, fragte der Direktor. Er stand noch immer.
„Nein“, antwortete Borris. „Unsere Kameradrohne ist draußen.“
„Sie hat alles aufgenommen, nicht wahr?“
„Ja“, bestätigte Sophia. „Die Bilder sind bereits übertragen.“
„Aber Ihr Bericht noch nicht, nehme ich an.“
„Nein.“
Montero trat hinter dem Schreibtisch hervor, ging zum Panoramafenster und sah nach draußen. Sophia und Borris wechselten einen Blick und warteten.
Schließlich drehte sich Montero um und stand mit dem Rücken zum Fenster.
„Wir sind eine kleine Filiale“, begann er. „Im globalen Maßstab spielt Futuria Tres Cantos keine Rolle. Wir helfen nur ein wenig mit beim Bau der Zukunft. Wichtig ist nur das: der Bau einer besseren Zukunft. Dass ein Kornfeld abgebrannt ist …“ Montero zuckte mit den Schultern. „Kaum der Rede wert. Aber …“ Er atmete tief durch. „Aber es könnte mehr daraus entstehen, eine größere Sache.“
„Sie möchten den Deckel draufhalten“, sagte Borris, der manchmal sehr direkt sein konnte. „Weil es dem Geschäft schadet?“
„Unsere Gegner versuchen, mehr Einfluss zu gewinnen“, erwiderte Montero. „Überall auf der Welt führen sie Aktionen mit dem Ziel durch, Aufmerksamkeit zu erregen. Einige traditionalistische Gruppen haben sich mit Jossuls Fanatikern verbündet, die sich ›Cherubim‹ nennen. Je mehr sie in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken, desto größer wird ihr Einfluss. Und wenn ihr Einfluss weiter wächst, können sie immer mehr Steine in den Weg legen, der uns alle in eine bessere Zukunft führen soll.“
Die Stimme aus dem kleinen Hörer in Sophias Ohr übersetzte fast synchron. Man konnte vergessen, dass zwei verschiedene Sprachen gesprochen wurden, Italienisch und Spanisch.
Sophia kam einem Einwand von Borris zuvor. Sie dachte an den Exklusivauftrag und fühlte sich wie auf dünnem Eis, als sie sagte: „Wir müssen Bericht erstatten. Das ist unsere Aufgabe, deshalb sind wir hergekommen.“
„Ja, aber die Art der Berichterstattung …“
Hatte Direktor Montero darüber mit Lautner gesprochen? Hatte er auch ihn gebeten, nichts verlauten zu lassen oder die Sache herunterzuspielen? Und wie würde Stefan Lautner auf eine solche Bitte reagieren? Wahrscheinlich fügte er sich Futurias Forderung, nahm Sophia an. Um den Filialdirektor nicht zu verärgern.
Aber das war der falsche Weg. Über die Vergabe des Auftrags für einen Exklusivbericht wurde nicht hier entschieden, nicht in Tres Cantos, sondern in den obersten Chefetagen, in einer der drei großen Firmenzentralen, in San Francisco für virtuelle Realität, Paris für Verwaltung oder Genf für Genetik. Nicht die Abwesenheit von Kritik gab den Ausschlag dafür, wer über das Jubiläum berichten durfte, sondern die richtige Mischung aus Objektivität, Engagement, persönlichem Stil und kommunikativer Effizienz. Journalistische Glaubwürdigkeit war ein wichtiger Punkt.
Sophia gehörte zu den wichtigen Influencern in den Medien, weil sie großen Wert darauf legte, immer und überall glaubwürdig zu sein. Sie hielt Futuria für einen der größten Wohltäter der Menschheit, vielleicht den größten überhaupt, doch das hinderte sie nicht daran, auch kritische Fragen zu stellen und aktuelle Entwicklungen aus ihrer Sicht zu schildern. Die Traditionalisten und erst recht Jossul waren lange genug mit medialen Samthandschuhen angefasst worden. Sie stellten ein immer größer und drängender werdendes Problem dar, das man nicht löste, indem man darüber schwieg.
„Direktor Montero“, begann sie behutsam, „ich glaube, es wird höchste Zeit, dass die Medien im Allgemeinen und Futuria im Besonderen die bisherige Kommunikationspolitik in Bezug auf die Traditionalisten und Jossuls Fanatiker ändern.“ Sophia wurde sich bewusst, wie hochgestochen das klang. „Oder anders ausgedrückt: Es wird höchste Zeit, dass wir den Knüppel rausholen. Wir sollten den jüngsten Anschlag nicht herunterspielen, sondern ihn nutzen, um mit unmissverständlicher Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass die Traditionalisten und religiösen Eiferer gegen ausreichend Nahrung für alle sind, gegen die Heilung von Krankheiten, die jedes Jahr Tausenden von Menschen das Leben kosten, wie zum Beispiel HIV und Krebs. Allen muss klar werden, dass uns die Traditionalisten und religiösen Eiferer in eine Vergangenheit voller Leid und Schmerz zurückwerfen wollen. Nicht weniger Aufmerksamkeit wäre der richtige Weg, Direktor, sondern mehr. Jemand versucht, uns unsere Zukunft zu stehlen, und dieser Jemand gehört bekämpft!“
Borris brummte zustimmend. Er hatte sich in den vergangenen Monaten mehrmals dafür ausgesprochen, mit der falschen Rücksichtnahme auf irgendwelche religiösen Gefühle Schluss zu machen und den Traditionalisten und Jossuls Fanatikern gegenüber einen deutlicheren Standpunkt zu beziehen. Auf seiner Fahne stand „Wahrheit“ geschrieben. Immer und überall die Wahrheit, ohne Rücksicht auf nichts und niemanden.
Sophia stand auf und fühlte dabei erneut Schwäche in den Knien, als hätte sie zehn oder zwanzig Kilo an Gewicht zugenommen. Vielleicht war es falsch, das Gespräch auf diese Weise zu beenden, aber sie wollte nicht als Bittstellerin erscheinen, die zu Zugeständnissen bereit war, weil sie sich als Gegenleistung dafür den großen Auftrag erhoffte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob Sie recht haben“, sagte Direktor Montero vorsichtig.
„Bitte glauben Sie mir, dass ich Ihnen helfen will“, betonte Sophia. „Ihnen und damit uns allen. Klare Kante, das Übel beim Namen nennen.“ Ihr fiel etwas ein. „Wie geht es dem Brandstifter? Erlauben Sie uns, mit ihm zu sprechen?“
„Die Polizei ist bei ihm.“
Borris war ebenfalls aufgestanden. „Nach der Vernehmung durch die Polizei?“
„Nur einige Minuten“, fügte Sophia hinzu. Dies war eine gute Gelegenheit, die sie nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. „Ich möchte herausfinden, wie er tickt. Vielleicht gelingt es mir, einen Blick in seinen Kopf zu werfen.“
Montero gab nach. „Na schön. Aber nur ein paar Minuten. Wenn die Polizei mit ihm fertig ist.“ Er ging zur Tür.
„Direktor …“ Sophia blieb vor ihm stehen und sah ihm in die kastanienbraunen Augen.
„Ja?“
„Galt der Anschlag dem genoptimierten Getreide oder Vanheuver?“
„Die Polizei ermittelt noch“, erwiderte der Filialdirektor ausweichend.
„Was ist Ihre persönliche Meinung?“, wollte Borris wissen.
Montero zögerte kurz. „Dass unmittelbar nach Vanheuvers Eintreffen ein Anschlag erfolgt ist, kann wohl kaum ein Zufall sein. Ich glaube, die Gebäude sollten in Flammen aufgehen, nicht das Kornfeld.“
„Die Traditionalisten haben bisher keine Mordanschläge verübt“, sagte Sophia. „Vielleicht gehört der Attentäter zu Jossuls Leuten.“
„Die Polizei untersucht alle Möglichkeiten.“ Montero öffnete die Tür.
„Wo ist Vanheuver? Können wir ihn sprechen?“
Plötzlich war das dumpfe Wummern von Rotorblättern zu hören. Sophia blickte aus dem Fenster und sah, wie der silberne Helikopter aufstieg. Zwei weitere Hubschrauber mit Polizeiemblemen nahmen ihn in Empfang und eskortierten ihn in Richtung Madrid.
„Schade!“ Sophia seufzte. „Ich hätte ihm gern eine wichtige Frage gestellt.“
„Fragen Sie mich!“
„Ich verspreche Ihnen, dass dies unter uns bleibt.“ Sophia fühlte wieder das Stechen in den Knochen. „Wie lange dauert es noch, bis wir den Tod besiegen?“
„Nicht mehr lange“, sagte Montero ernst. „Nicht mehr lange.“

3
Der Mann sah aus wie eine frisch verpackte Mumie – auf das Körpergewebe abgestimmte weiße Verbandsfolie bedeckte beide Beine, den linken Arm und Teile des Oberkörpers. Im unverletzten Gesicht fielen die großen Augen auf, blau wie Spaniens Sommerhimmel. Sommersprossen zeigten sich auf Nase und Wangen.
Es war ein junger Mann, nicht älter als fünfundzwanzig, schätzte Sophia, während sie neben dem Krankenbett stand, umgeben von medizinischem Gerät. Vermutlich kein Spanier, nach dem blonden Haar und den blauen Augen zu urteilen.
„Können Sie mich verstehen?“, fragte Sophia.
Das Gesicht des jungen Mannes blieb völlig unbewegt. Es zeigte weder Schmerz noch irgendeine Emotion, war einfach nur eine leere Maske.
„Er hat ein Pseudoopiat bekommen“, sagte der Arzt, ein hagerer Mann in mittleren Jahren und mit einer großen Datenbrille, die ihm die Anzeigen der medizinischen Überwachungsgeräte direkt in die Augen projizierte. „Oxykadin. Gegen die Schmerzen und zur Beruhigung. Er hört und versteht Sie. Auch die Polizisten hat er gehört und verstanden.“
„Wie geht es ihm?“
„Fast sechzig Prozent der Haut und des subkutanen Gewebes sind verbrannt“, antwortete der Arzt. Er trug einen grünen Kittel und sah darin aus wie ein Chirurg. „Noch etwas mehr, und es wäre zu viel für das hier gewesen.“ Er deutete in die Runde und meinte die kleine medizinische Abteilung von Futuria Tres Cantos.
Sophia bemerkte Direktor Montero, der neben der Tür stand und leise mit einem Polizisten sprach. Sie nickte Borris zu, der daraufhin eine Minikamera hervorholte.
„Wer sind Sie?“, fragte Sophia. „Warum haben Sie das Kornfeld abgebrannt?“
Der junge Mann schwieg.
„Kennen Sie mich? Ich bin Sophia Marchetti von InterMedia. Sie möchten einen großen Auftritt? Hier bekommen Sie ihn.“ Sie deutete auf Borris und die Minikamera. „Warum das Feuer? Erklären Sie mir die Hintergründe! Wer hat Sie geschickt? Von wem stammt der Auftrag?“
Montero und der Polizist näherten sich.
„Das ist eine Kamera“, sagte der Direktor unglücklich.
Sophia warf ihm einen Blick zu, der so viel bedeutete wie: Vertrauen Sie mir!
„Sie versündigen sich am Werk der Schöpfung“, sagte der in weiße Verbandsfolie gehüllte junge Mann. Mehrere dünne Schläuche und einige drahtlose Sensoren verbanden ihn mit den medizinischen Geräten und einer Überlebensmaschine von Futuria und Samsung-Meditech am Kopfende der Liege. Sie war geöffnet und bereit, den Verletzten aufzunehmen.
Borris seufzte und rollte mit den Augen, während er die Kamera hielt.
„Er ist ein Nichtregistrierter“, sagte der Polizist, der einige Jahre jünger als Montero zu sein schien und einen grauen Schnurrbart hatte. „Und natürlich hat er keinen Ausweis dabei. Es wird eine Weile dauern, ihn zu identifizieren. Der weiße Elektro-Nissan, mit dem er gekommen ist, gibt uns vielleicht den einen oder anderen Hinweis. Und natürlich untersuchen wir die Reste der Branddrohnen.“ Er trat näher an die Liege heran und lächelte in die Kamera.
Sophia musterte den Schwerverletzten. Jemand, der nie seine DNA hinterlegt hatte, der für die genetischen Datenbanken gar nicht existierte. Jemand, der Erbkrankheiten und Krebs riskierte. Vom eigenen Feuer verletzt lag er da, den Leuten ausgeliefert, die er bekämpfte und ohne deren Hilfe er vermutlich gestorben wäre. Das musste ihm klar sein. Dennoch lag Feindseligkeit in den großen blauen Augen.
Sophias Knie zitterten, vielleicht aus Zorn auf diesen dummen, blinden Fanatismus.
„Warum?“, fragte sie. „Warum wollen Sie, dass Menschen an Krankheiten sterben, die längst besiegt sind, dass sie Hunger leiden und in Schmerz gefangen bleiben? Warum sind Sie gegen den Fortschritt, der uns allen mehr Freiheit schenkt?“
Sophia fiel auf, dass sie mit ihrer Journalistenstimme sprach, doch hinter den Worten steckte noch etwas mehr, eine besondere Eindringlichkeit, die den Fragen eine persönliche Note gab. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie sich Direktor Montero entspannte. Der Polizist aus Tres Cantos glaubte sich im Bild und lächelte noch immer.
„Sie versündigen sich an Gottes Werk“, wiederholte der junge Mann. „Sie versündigen sich an der Natur, die Er geschaffen hat. Sie versündigen sich am menschlichen Wesen, von Ihm bestimmt. Sie nehmen uns hier und jetzt Krankheit und Schmerz und verstoßen damit gegen die Strafe, die Er uns allen auferlegt hat. Damit verhindern Sie, dass wir uns in Leid und Pein erneuern können, um unsere Schuld abzustreifen und zurückzukehren ins Paradies, wo uns bei Ihm Glück und wahres ewiges Leben erwarten.“
Es waren ruhige Worte, erfüllt von unerschütterlicher Gewissheit, gesprochen von einem Mann, der die Wahrheit zu kennen glaubte und alle bedauerte, die Täuschung und Lügen zum Opfer fielen.
„Haben Sie sich genug Verstand bewahrt, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Sie sich irren?“, fragte Sophia. Etwas kroch ihr über den Rücken, so fühlte es sich an. „Oder hat Ihnen Jossul auch den letzten Rest von Rationalität aus dem Gehirn gewaschen? Von ihm kommen Sie doch, oder?“
„Er wird mir seinen Segen und sein Licht schicken, obwohl ich versagt habe.“
„Wer? Jossul?“
Sie erhielt keine Antwort.
„Hatten Sie es auf Vanheuver abgesehen?“, fragte Sophia.
Der Mann auf dem Krankenbett schwieg.
„Ein religiöser Spinner.“ Der Polizist aus Tres Cantos kam noch einen Schritt näher und zeigte wieder sein Lächeln für die Kamera. „Seit einiger Zeit werden es immer mehr.“
„Vielleicht“, sagte Sophia zu dem Attentäter, „hat Ihnen Jossul sein Licht bereits geschickt. Es blendet Sie so sehr, dass Sie die Wirklichkeit nicht mehr erkennen. Die Menschen wollen nicht sterben, um in einem hypothetischen Jenseits ein besseres Leben zu führen. Sie wollen das bessere Leben hier, in dieser unserer Welt. Sie wollen nicht hungern und nicht krank sein. Futuria hilft uns allen. Futuria schenkt uns eine bessere Zukunft, und bald erwartet uns das größte Geschenk von allen: ewiges Leben. Nicht im Jenseits. Nicht im Garten eines Gottes, sondern hier auf der Erde.“
Montero nickte zufrieden, doch für Sophia blieb das Nicken undeutlich und schemenhaft, obwohl der Direktor neben ihr stand. Ein graues Wogen verdichtete sich in ihren Augenwinkeln und schränkte das Blickfeld ein. Das Zittern in den Knien wurde stärker und ging in die Oberschenkel über. Ihr wurde plötzlich heiß, sie atmete schneller.
„Futuria lügt“, sagte der Mann, der das Kornfeld in Brand gesteckt hatte. Er bewegte sich, und Sophia hatte plötzlich das laute Knistern der Verbandsfolie im Ohr. „Seit Jahren verspricht man Ihnen Unsterblichkeit, aber Sie werden immer wieder vertröstet. ›Bald ist es so weit‹, heißt es ständig, nicht wahr? Es ist eine Lüge. Die Unsterblichkeit existiert bereits, doch sie bleibt wenigen Menschen vorbehalten, die genug Geld und Macht haben, um sie sich leisten zu können. Es ist gottlose, sündige Unsterblichkeit, von verdorbenen Menschen geschaffen. Und sie kann von Menschen zerstört werden. Das wissen wir … denn in den vergangenen Monaten haben wir mehrere Unsterbliche getötet!“
„Was?“, krächzte Sophia.
Ihre Knie gaben nach, und sie fiel, als sich die Welt in einen grauen Strudel verwandelte.

4
„Sie hätten nicht so lange warten sollen“, sagte der Arzt. Er trug keinen grünen Kittel, sondern einen weißen, was Sophia beruhigte.
„Ich weiß“, murmelte sie. „Ich weiß.“
„Sie standen unmittelbar vor der kritischen Phase. Ist Ihnen klar, was das bedeutet?“ Der Arzt hantierte mit medizinischen Sensoren und richtete einen väterlich-strengen Blick auf sie.
„Man hat es mir erklärt. Mehrmals.“
„Wenn die kritische Phase begonnen hat, ist ein größerer Eingriff nötig“, fuhr der Arzt geduldig fort. „Rückgrat, Knochenmark, Stammzellen …“
„Ich weiß.“ Sophia wandte den Kopf, suchte automatisch nach Borris, doch er befand sich nicht im Raum. Sie fand das merkwürdig. Borris war immer da, erst recht in solchen Momenten. „Das Jahr ist noch nicht um. Diesmal ist es schneller gegangen als sonst.“
Der Arzt hielt ihr einen warmen Sensor an den Hals und blickte auf einen nahen Monitor. „Stress, besondere Umstände. Es gibt einige physiologische und psychosomatische Faktoren für ein verfrühtes Rezidiv, Señora Marchetti. Die Marker warnen Sie davor. Achten Sie auf die Marker, Señora! Übrigens, Sie haben noch einen alten Portkatheter.“ Sophia fühlte einen kurzen Druck unter der linken Achsel. „Wir könnten ihn durch einen modernen Port ersetzen, wenn Sie …“
„Nein“, sagte Sophia schnell. Sie verabscheute medizinische Eingriffe, selbst die kleinen mikrochirurgischen. Trotz der jährlichen Therapien hatte sie sich nie daran gewöhnt. „Beim nächsten Mal.“
Der Arzt trug auf seinem weißen Kittel das Futuria-Symbol, eine goldene Triskele aus drei radialsymmetrisch angeordneten Kreisbögen, Symbol für den Weg des Lebens und auch die Zukunft.
Er wölbte die buschigen Brauen. „Wie Sie wünschen.“ Er richtete einen mahnenden Zeigefinger auf sie. „Geben Sie besser auf sich acht, Señora! Mit Myeloproliferativen Neoplasien ist nicht zu spaßen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.“
„MPN“, murmelte Sophia. Ihr Bett stand direkt am Fenster, und das Kopfende war hochgestellt, sie lag nicht, sie saß. Draußen lag Madrid in glühender Sonne. Inzwischen kannte sie die Stadt gut genug, um den Campo del Moro zu erkennen, den Park zwischen dem Fluss Manzanares und dem Königspalast. Die Plaza Armería vor der Kathedrale, in Form eines lateinischen Kreuzes errichtet, befand sich ganz in der Nähe. Dort hatte vor anderthalb Jahrzehnten der letzte große Anschlag des IS stattgefunden, mit mehr als dreihundert Todesopfern.
„Futuria hat mich nach Madrid gebracht“, sagte Sophia. Sie war noch immer benommen und versuchte sich an etwas Wichtiges zu erinnern.
„Stimmt.“ Der Arzt stimmte ein freundliches Lachen an. „Bei uns sind Sie besser aufgehoben. Sie haben den vergangenen Tag im Tiefschlaf verbracht, mit unserer Hilfe, möchte ich hinzufügen, und die Therapie gut überstanden. Ich gebe Ihnen gleich etwas, das Sie erneut ruhig und friedlich schlafen lässt, für einige weitere Stunden.“
„Nein, ich …“
„Ärztliche Verordnung“, unterbrach sie der Mann im weißen Kittel mit gespielter Strenge. „MPN, ganz recht. Eine Mutation der JAK 2, der Januskinase Zwei. Leicht zu behandeln mit unseren Genscheren und Repair-Kits. Allerdings gibt es in Ihrem Fall Komplikationen. Ich habe mir die Diagnose vom letzten Jahr angesehen und noch einmal überprüft. Ihre Krankheit ist eine Mischform aus Polycythaemia vera, Essenzieller Thrombozythämie und Primärer Myelofibrose; bei Ihnen wurde auch das sogenannte Philadelphia-Chromosom nachgewiesen, was ich bestätigen kann. Man könnte es so ausdrücken: Ihre Krankheit ist über ein breites genetisches Spektrum verteilt, und jedes betroffene Gen muss einzeln repariert werden. Das kann sehr aufwendig sein, erst recht kurz vor oder gar während einer kritischen Phase.“
„Man hat mir gesagt, dass es eine sehr seltene Krankheit ist. In jedem Jahr werden nur ein oder zwei Fälle pro hunderttausend Einwohner diagnostiziert.“
„Inzwischen sogar noch weniger“, sagte der Arzt. Er machte sich daran, die Geräte neben dem Bett zu justieren. Ein elektrisches Summen wie von einem nahen Insektenschwarm lag in der Luft. Gelbe, rote und grüne Kurven wanderten über einen Monitor. „Das Genscreening bei der Registrierung hilft uns, rechtzeitig Mutationen zu erkennen, aus denen sich später Krankheiten entwickeln können. Wer heute geboren wird, ist besser dran, Señora Marchetti.“
„Knochenkrebs.“ Sophia erinnerte sich daran, dass ihr dieses Wort früher Angst gemacht hatte. „Ich habe ihn von meiner Mutter.“
„Eine bösartige Erkrankung des Knochenmarks.“ Mit einem weiteren freundlichen Lächeln beugte sich der Arzt über die Liege, und Sophia spürte einen neuerlichen kurzen Druck bei ihrem kleinen Katheter unter der linken Achsel. „Es werden zu viele rote und weiße Blutkörperchen sowie Blutplättchen gebildet. Daraus kann sich ein sehr aggressiver Krebs entwickeln, der innerhalb kurzer Zeit zum Tod führt. Noch ist es uns nicht gelungen, Sie ganz von der Krankheit zu befreien, aber wir arbeiten daran. Bis wir mit der Arbeit fertig sind, können wir Ihre MPN nur in einen tiefen, tiefen Schlaf schicken. Auch Sie werden jetzt schlafen, damit sich Ihr Körper erholen kann.“
Wir arbeiten daran, dachte Sophia, als ihr die Augen zufielen. Es war gut zu wissen, dass jemand an all diesen Problemen arbeitete, noch dazu mit großem Erfolg. Das machte es leichter, die Augen zu schließen und auf die Zukunft zu vertrauen.
Die Tür wurde geöffnet, und eine Stimme erklang.
„Sophia? Ich habe gute Nachrichten.“
Sie öffnete die Augen – oder vielleicht nur eins, denn die Lider waren schwer. Borris stand dort, in einem Zimmer, das größer geworden war. Seine Gestalt zeichnete sich klein vor einer weit entfernten Tür ab. Er bewegte sich und sprach, doch seine Stimme war nur ein Brummen ohne Worte.
Sophia schlief.
5Sophia träumte.
Das Loch im Boden war groß und tief. Es musste groß und tief sein, denn Bello brauchte viel Platz. So hatte sie den Hund genannt: bello, schön. Von Anfang an war er groß gewesen und dann noch größer geworden, obwohl sie selbst wuchs. Seine fröhliche Lebendigkeit hatte sie ihr ganzes junges Leben lang begleitet, doch nun lag er reglos da, in einem Karton neben dem Loch. Zwei Blumen schmückten seinen Kopf; Sophia hatte sie vor wenigen Minuten gepflückt.
Sophia war gerade acht geworden und erlebte ihre erste direkte Begegnung mit dem Tod. Sie stand in der heißen Augustsonne, die Wangen feucht von Tränen, den Geruch von Erde und der nahen Lagune von Orbetello in der Nase. Ihr Vater Gianmario, von allen Gianni genannt, hob das Grab aus. Er schwitzte. Der Boden war hart und trocken.
„Vielleicht wacht er wieder auf.“ Sophia kniete neben dem Karton und legte die Hand auf den Rücken des Schäferhunds. „Vielleicht müssen wir nur ein wenig warten …“
„Nein, Schatz.“ Ihre Mutter kam näher. „Bello hat eine lange Reise begonnen, von der er nicht zurückkehrt. Er wird zu einem Stern am Himmel. Vielleicht kannst du ihn heute Abend sehen.“
„Er wird zu einem Stern?“ Sophia wischte sich mit einer Hand die Tränen fort.
„Heute Abend halten wir gemeinsam Ausschau, ja? Vielleicht sehen wir ihn, wenn er bereits am Ziel seiner Reise angekommen ist.“
Gianmario schnaufte, während er weitergrub. Der Spaten bohrte sich in die harte Erde, das Loch wurde noch etwas tiefer.
„Das ist Unsinn, Esther.“ Opa Francesco, Giannis Vater, stand im Schatten eines alten Olivenbaums. „Dein Bello, Sophia, geht den Weg allen Lebens. Er kehrt dorthin zurück, woher er gekommen ist. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Er bekreuzigte sich.
„Francesco …“, begann Esther.
„Setz dem Kind keine Flausen in den Kopf“, brummte der alte Francesco. Er nahm eine Hand vom Knauf seines Gehstocks und winkte. „Sterne sind nicht die Seelen von Verstorbenen, sondern ferne Sonnen. Wer stirbt, zerfällt zu Staub. Deshalb legen wir deinen Bello in die Erde und stecken ihn nicht in eine Weltraumrakete.“
Papa Gianni schnaufte etwas lauter und bohrte den Spaten tiefer in den Boden.
„Hör auf damit!“ Mama Esther sprach mit scharfer Stimme. Ihr deutscher Akzent wurde deutlicher. „Kinder brauchen Träume. Sie brauchen etwas Schönes, an dem sie sich festhalten können.“
„Kinder sollten die Welt kennen und verstehen, in der sie aufwachsen“, erwiderte Opa Francesco. „Je eher, desto besser. Die Welt wird nicht besser, indem man sie leugnet.“
Und damit wankte er davon, auf seinen Gehstock gestützt.
Die achtjährige Sophia blickte auf ihren Bello hinab. Mehr Tränen flossen.
„Ich will nicht, dass er zu Staub oder Erde wird.“
Mama Esther ging neben ihr in die Hocke, während Papa Gianni kurz innehielt; Schweiß perlte auf seiner Stirn.
„Heute Abend sehen wir uns die Sterne an“, sagte Mama Esther. „Wenn wir einen neuen entdecken, wissen wir, dass Bello am Ziel seiner Reise angelangt ist.“
„Können wir Bello nicht einfach wieder lebendig machen?“, schluchzte Sophia. „Wenn wir dem Doktor genug Geld geben …“
„Ich fürchte, das geht nicht, mein Schatz. Selbst wenn wir dem Doktor noch so viel Geld geben. Es tut mir leid.“

Am Abend saßen Mutter und Tochter draußen im Garten, nicht weit von Bellos Grab entfernt. Vater und Großvater waren im Haus geblieben.
Sophia weinte nicht mehr, fühlte aber eine tiefe Leere, tiefer als das Loch, das Papa Gianni gegraben und das Bello aufgenommen hatte. Der Himmel war klar und still.
„Wo ist er?“, fragte Sophia. Wie sollte man einen neuen Stern finden, wenn es so viele von ihnen gab?
„Mal sehen.“ Mama Esther blickte mit ihr nach oben. Sie sprachen Deutsch, wie immer, wenn sie allein waren. Ob Deutsch oder Italienisch, für Sophia spielte es keine Rolle. Sie fühlte sich in beiden Sprachen zu Hause.
Eine Sternschnuppe erschien am dunklen Himmel.
„Dort! Hast du gesehen? Bello ist gerade im Himmel angekommen.“
„Wo? Wo?“
Mama Esther deutete auf einen Stern im Süden, über der Lagune.
„Ich glaube, ich glaube … Ja, ich glaube, das könnte er sein.“ Sophia beobachtete den Stern, der funkelte und etwas heller leuchtete als die anderen in seiner Nähe. Sie dachte an die Worte ihres Großvaters. „Ist das wirklich Bello?“
Mama Esther legte den Arm um sie. „Vielleicht. Könnte durchaus sein.“
Sophia fühlte sich etwas besser. „Werden wir alle irgendwann zu Sternen?“
„Wenn wir daran glauben.“
„Mehr ist nicht nötig? Es genügt, wenn wir daran glauben?“
„Oh, der Glaube kann sehr mächtig sein, mein Schatz.“
Sophia dachte darüber nach. Sie fragte sich, wie die Welt aussehen mochte, von dort oben betrachtet.
„Werden auch wir beide einmal Sterne?“
Mama Esther lächelte. „Vielleicht. Wenn wir fest genug daran glauben.“
Sophia überlegte etwas länger. „Du wirst eher zu einem Stern, nicht wahr? Weil du älter bist.“
„Ja, das stimmt. Aber bis dahin haben wir noch viel, viel Zeit. Wahrscheinlich hast du längst eigene Kinder und sogar Enkel, wenn meine Zeit dort oben beginnt.“ Mama Esther deutete zu den Sternen empor und fügte etwas leiser hinzu: „Ich würde es mir wünschen.“

Ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung. Vier Jahre später starb sie nach vergeblicher Behandlung an einer besonders bösartigen Form von Knochenkrebs.
Am Abend nach ihrer Beerdigung hob Sophia nicht den Blick zum Himmel, um nach einem neuen Stern zu suchen, denn inzwischen glaubte sie nicht mehr, dass die Seelen von Menschen – und Hunden – zu Sternen wurden. Der Zauber der Kindheit war verloren.
Drei Jahre später begann Futurias Aufstieg zum wichtigsten biotechnologischen Unternehmen der Welt. Zu spät für Esther Neugard, aber gerade rechtzeitig für Sophia Marchetti.

Sophia erwachte gegen Mitternacht, und diesmal saß Borris neben dem Bett. Er schien gedöst zu haben, war aber sofort hellwach.
Draußen leuchteten die Lichter von Madrid wie vom Himmel gefallene Sterne. Für einen Moment dachte Sophia an die Seelen von Menschen und Hunden, die für ein neues Leben auf die Erde zurückgekehrt waren.
„Du lächelst“, sagte Borris erleichtert. „Es geht dir besser.“
„Viel besser. Wieder ein Jahr gewonnen. Und wer weiß, vielleicht brauche ich die Therapien bald nicht mehr. Wir stehen kurz davor, haben wir das nicht laut und deutlich gehört? Futuria arbeitet daran, und Futuria arbeitet gut, ich bin der lebende Beweis.“ Sie dachte an ihre Mutter, zu früh geboren und zu früh gestorben. Für Mama Esther war der Tod unausweichlich gewesen, doch das hatte sich inzwischen geändert. „Wir sind die ersten Menschen, für die das ewige Leben greifbar nahe ist. Möchtest du unsterblich sein, Borris?“
Er grinste. „Ha, was für eine Frage!“
Sophia erinnerte sich. „Als ich eingeschlafen bin …“
„O ja.“ Borris’ Grinsen wurde noch etwas breiter. „Ich habe das Material über den Attentäter in Tres Cantos an InterMedia weitergegeben, mit einem ausführlichen Bericht. So wie du ihn geschrieben hättest. Deutlich, mit klaren Worten gegen Traditionalisten, Jossuls Fanatiker und alle anderen Spinner, außerdem mit mehr Lob für Futuria, als ich normalerweise verwenden würde …“
„Ja?“, fragte Sophia, als Borris eine Pause einlegte, die ihr zu lange dauerte. „Ja?“
„Ich habe die Dinge beim Namen genannt“, fuhr er fort. „So wie du es Direktor Montero in seinem Büro erklärt hast. Ich habe ›den Knüppel rausgeholt‹.“
„Und?“
„Es hat einen Riesenwirbel gegeben. Ich meine, ich kann nicht so gut schreiben wie du, und ich bin auch nicht ganz so fotogen. Aber das Echo in den Medien war verdammt groß. Jede Menge Geschrei von allen Seiten. Auf der einen Seite leidenschaftliche Befürworter, auf der anderen empörte Kritiker. Die Sache polarisiert. Einige Stimmen werfen dir – uns – einseitige politische Stellungnahme vor, Verrat an der journalistischen Doktrin der Überparteilichkeit. Sie befürchten eine Eskalation. Andere haben es ausdrücklich begrüßt, dass InterMedia kein Blatt vor den Mund nimmt. Die meisten Influencer teilen unseren Standpunkt.“
Borris hatte schnell gesprochen. Er unterbrach sich und holte tief Luft.
„Jedenfalls …“
„Ja?“
„Wir haben eine große öffentliche Diskussion losgetreten“, sagte Borris. Er grinste nach wie vor, und Sophia begriff: Das Beste kam noch. „Es bedeutet mehr Aufmerksamkeit für die Traditionalisten, für Jossuls Jünger und die Unabhängigen, die in entlegenen Winkeln der Welt danach streben ins Blickfeld zu geraten. Aber auch für Futuria, den Wandel der vergangenen zwanzig Jahre und die neue Welt, deren Anfänge wir sehen.“
Sophia konnte ihre Ungeduld kaum mehr im Zaum halten. „Red nicht um den heißen Brei, Borris! Komm endlich zur Sache!“
„Na ja, vielleicht hast du davon gehört, dass Futuria in diesem Jahr das zwanzigjährige Firmenjubiläum feiert“, witzelte er, denn natürlich wusste Sophia das nur allzu gut. „Es steht unter dem Motto ›Zwanzig Jahre für die Zukunft!‹ Eine Nachrichtenagentur soll beauftragt werden, über das Jubiläum zu berichten …“
„Borris!“ Sophias Herz schlug schneller. Draußen schienen die mitternächtlichen Lichter von Madrid heller zu leuchten.
„Gerüchten zufolge steckt hinter der Idee des groß angelegten Berichts der legendäre Firmengründer, den man schon seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen hat: Pascal Salomon Leclerq höchstpersönlich. Vierundvierzig Journalistenteams haben sich offiziell um den Auftrag beworben, unter ihnen der schöne Stefan aus München und eine gewisse Sophia Marchetti aus Mailand und ihr Kameramann und Assistent Borris Ekström.“ Auch das wusste sie alles selbst; Borris wollte es spannend machen. „Es gibt deswegen jede Menge Tamtam, in den Medien kommt die Sache ganz groß raus, so richtig groß, meine ich, und angesichts der neuen heißen Diskussion über Futuria und die Traditionalisten hat das alles natürlich auch eine sehr wichtige politische Dimension …“
Sophia starrte Borris an. „Soll das heißen …?“
„Der schöne Stefan aus München hat der Bitte von Direktor Montero entsprochen und nur sehr knapp über den Anschlag von Tres Cantos berichtet. Sophia Marchetti und Borris Ekström hingegen haben ihren eigenen Weg beschritten, auch auf die Gefahr hin, besagten Direktor zu verärgern. Unser Bericht mag Montero nicht gefallen haben, dafür aber jemandem ganz oben bei Futuria, vielleicht sogar Leclerq höchstpersönlich. Jedenfalls …“ Er holte noch einmal tief Luft. „InterMedia hat einen Anruf von Futurias Verwaltung in Paris erhalten. IM soll nicht nur über das Firmenjubiläum berichten, sondern eine breit angelegte Reportageserie über die Geschichte des Unternehmens bringen, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Futuria. Das volle Programm. Mit tiefem Einblick ins heilige Innere des Unternehmens. Mit Führungen durch die Laboratorien und Entwicklungsabteilungen. Vielleicht ist sogar ein Interview mit der lebenden Legende Pascal Salomon Leclerq möglich – allein das wäre schon ein echter Knüller.“
Borris stand auf.
„Und jetzt rate mal, wen InterMedia für diesen erlauchten Job ausgewählt hat.“
Sophia strahlte. „Haben wir einen Grund zum Feiern?“

„Die Atwood-Magie: intelligent, witzig, aufregend.“ The Times

Blick ins Buch
Oryx und CrakeOryx und Crake

Roman

Crake und Jimmy sind Freunde, und sie lieben dieselbe Frau: die rätselhafte Oryx. Sie leben in einer von Klimakatastrophen bedrohten Welt in einer gar nicht so fernen Zukunft. Crake, ein Genie genetischer Manipulation, ist Wissenschaftler und arbeitet an der Entwicklung neuer Medikamente, die die Menschen gegen Epidemien immunisieren sollen, aber er verfolgt darüber hinaus seine ganz eigenen Pläne ...

Margaret Atwood entwirft in „Oryx und Crake“ eine dystopische Welt, eine Welt der Umweltkatastrophen und des Klimawandels, der Sturmfluten und Epidemien, in der sich die wenigen Reichen in streng gesicherten Wohnkomplexen von den verarmten Massen abschotten.

„Ein atemberaubender Science-Fiction-Thriller und ein beißender Kommentar auf den Zustand unserer Welt.“ NDR

Schneemensch erwacht vor Tagesanbruch. Reglos liegt er da und lauscht der kommenden Flut, die Welle um Welle über die verschiedenen Barrikaden hinwegschwappt, hin – her, hin – her, der Rhythmus des Herzschlags. Er würde so gerne glauben, dass er noch schläft.

Am östlichen Horizont liegt ein grauer Dunstschleier, der jetzt in einem blassroten, tödlichen Licht erglüht. Seltsam, wie zart diese Farbe noch wirkt. Davor stehen als schwarze Silhouetten die Türme im Meer und ragen absurd aus dem Rosa und Blassblau der Lagune auf. Die Schreie der Vögel, die dort draußen nisten, und der ferne Ozean, der die Ersatzriffe aus rostigen Autoteilen, aufgeschütteten Ziegelsteinen und Gerümpel aller Art abschmirgelt, klingen beinahe wie Urlaubsverkehr.

Aus Gewohnheit schaut er auf die Uhr – Stahlgehäuse, poliertes Aluminiumarmband, immer noch glänzend, obwohl sie nicht mehr geht. Er trägt sie jetzt als seinen einzigen Talisman. Sie zeigt ihm ein leeres Zifferblatt: null Uhr. Es lässt ihm ein jähes Entsetzen durch die Glieder fahren, dass es keine offizielle Zeit mehr gibt. Niemand weiß, wie spät es ist.

„Nur die Ruhe“, sagt er sich. Er holt ein paar Mal tief Luft, dann kratzt er seine Insektenstiche, rundherum, aber nicht in der am stärksten juckenden Mitte, und achtet darauf, keinen Schorf abzulösen: Eine Blutvergiftung wäre das Letzte, was er jetzt brauchen kann. Dann sucht er den Boden unter sich nach Leben ab: Alles ruhig, keine Schuppen und Schwänze. Er klettert von seinem Baum herunter, linke Hand, rechter Fuß, rechte Hand, linker Fuß. Er bürstet Zweige und Rindenstückchen ab und wickelt sich in sein schmutziges Laken wie in eine Toga. Seine authentisch nachgebildete Red-Sox-Baseballmütze hat er über Nacht an einen Ast gehängt, um sie sicher aufzubewahren; er wirft einen prüfenden Blick hinein, schnippt eine Spinne fort, setzt sie auf.

Er geht ein paar Meter nach links, pinkelt ins Gebüsch. „Kopf hoch“, sagt er zu den Heuschrecken, die beim Aufprall des Strahls davonhüpfen. Dann geht er auf die andere Seite des Baums hinüber, weit weg von seinem gewohnten Pissoir, und stöbert in seinem Versteck, das er behelfsmäßig aus ein paar Betonplatten errichtet und zum Schutz gegen Ratten und Mäuse mit Stacheldraht umwickelt hat. Hier bewahrt er ein paar Mangos auf – in einer zugeknoteten Plastiktüte –, eine Dose Vegetarische Sveltana-Würstchen und eine kostbare halbe Flasche Scotch – nein, eigentlich nur noch ein Drittel –, außerdem einen Kraftriegel mit Schokogeschmack, erbeutet auf einem Wohnwagenstellplatz, weich und halb in sein Stanniolpapier eingeschmolzen. Er kann sich noch nicht entschließen, ihn zu essen: Es könnte der letzte sein, den er je finden wird. Er verwahrt hier auch einen Dosenöffner und, ohne besonderen Grund, einen Eispickel; ferner sechs leere Bierflaschen, aus sentimentalen Gründen und um frisches Wasser zu lagern. Auch seine Sonnenbrille liegt hier; er setzt sie auf. Sie hat nur noch ein Glas, aber das ist besser als gar nichts.

Er knotet die Plastiktüte auf: Nur noch eine Mango ist übrig. Komisch, er hätte gedacht, es wären noch mehr. Die Ameisen sind eingedrungen, obwohl er die Tüte so fest verknotet hat, wie es ging. Sie laufen bereits seine Arme herauf, die von der schwarzen Sorte und die bösartigen kleinen Gelben. Erstaunlich, wie stark es brennt, wenn sie angreifen, vor allem die Gelben. Er wischt sie fort.

„Nur die strikte Einhaltung der täglichen Routine führt zur Wahrung der Moral und zum Erhalt der Gesundheit“, sagt er laut. Er hat das Gefühl, dass er aus einem Buch zitiert, aus irgendeiner veralteten, schwerfälligen Verhaltensregel zum Nutzen europäischer Siedler, die Plantagen der einen oder anderen Art betrieben. Er kann sich nicht entsinnen, je so etwas gelesen zu haben, aber das hat nichts zu bedeuten. In seinem Resthirn sind viele leere Flecken, wo einst das Gedächtnis war. Kautschukplantagen, Kaffeeplantagen, Juteplantagen. (Was ist Jute?) Gewiss legte man ihnen nahe, Tropenhelme zu tragen, sich zum Dinner umzuziehen, auf Vergewaltigung der Eingeborenen zu verzichten. Nein, Vergewaltigung hätten sie nicht gesagt. Verzichten Sie darauf, mit den weiblichen Eingeborenen zu fraternisieren. Oder anders ausgedrückt …

Er könnte wetten, dass sie nicht darauf verzichteten. In neun von zehn Fällen.

„Im Hinblick auf die mildernden“, sagt er und ertappt sich dabei, wie er mit offenem Mund dasteht und sich an den Rest der Wendung zu erinnern versucht. Er setzt sich auf den Boden und beginnt die Mango zu essen.

Am weißen Strand, zermahlene Korallen und Knochensplitter, geht eine Gruppe Kinder entlang. Sie müssen im Wasser gewesen sein, denn ihre Haut ist noch nass und glänzend. Sie sollten vorsichtiger sein: Wer weiß, womit diese Lagune verseucht ist. Aber sie sind leichtsinnig; anders als Schneemensch, der keine Zehe ins Wasser tauchen würde, nicht einmal nachts, wenn die Sonne ihn nicht erwischen kann. Korrektur: vor allem nicht nachts.

Voller Neid sieht er ihnen zu; oder ist es Nostalgie? Nein, das kann es nicht sein, er ist als Kind nie im Meer geschwommen, ist nie nackt an einem Strand herumgerannt. Die Kinder suchen den Boden ab, bücken sich, lesen Treibgut auf; dann beraten sie miteinander, behalten manche Fundstücke, werfen andere wieder weg; ihre Schätze stecken sie in einen zerlumpten Sack. Früher oder später – darauf kann er sich verlassen – werden sie ihn aufspüren, in seinem zerlumpten Laken, die Arme um die Schienbeine geschlungen und an seiner Mango lutschend, tief im Schatten der Bäume wegen der mörderischen Sonne. Für die Kinder, die dickhäutig und resistent gegen UV-Strahlen sind, ist er ein Geschöpf des Zwielichts, der Dämmerung.

Da kommen sie schon. „Schneemensch, o Schneemensch“, stimmen sie ihren Singsang an. Sie kommen ihm nie zu nahe. Aus Respekt, wie er gern annähme, oder weil er stinkt?

(Er stinkt tatsächlich, das weiß er sehr gut. Er mieft, er bockelt, er ranzelt wie ein Walross – ölig, salzig, fischig –, nicht, dass er je so ein Vieh gerochen hätte. Aber er hat Bilder gesehen.)

Die Kinder öffnen ihren Sack und singen im Chor: „O Schneemensch, was haben wir gefunden?“ Sie nehmen Gegenstände heraus, halten sie hoch wie Ware zum Verkauf: eine Radkappe, eine Klaviertaste, ein Stück einer hellgrünen Limonadeflasche, glatt poliert vom Meer. Eine BlyssPluss-Flasche aus Plastik, leer; einen ChickieNobs-Behälter, ebenfalls leer. Eine Computermaus, jedenfalls der zertrümmerte Rest davon, mit langem drahtigem Schwanz.

Schneemensch kommen fast die Tränen. Was soll er ihnen sagen? Unmöglich kann er ihnen erklären, was diese sonderbaren Gegenstände sind oder waren. Aber sicher haben sie schon erraten, was er sagen wird, er sagt ohnehin immer dasselbe.

„Das sind Sachen von früher.“ Er spricht in freundlichem, aber distanziertem Ton. Eine Kreuzung aus Erzieher, Wahrsager und wohlwollendem Onkel – so sollte sein Tonfall sein.

„Können sie uns wehtun?“ Manchmal finden sie Motoröl und ätzende Lösemittel in Dosen, Plastikflaschen mit Bleichlauge. Versteckte Bomben aus der Vergangenheit. Er gilt als Experte für mögliche Unfälle: ätzende Flüssigkeiten, Übelkeit erregende Dämpfe, Giftstäube. Schmerzen sonderbarer Art.

„Diese nicht“, sagt er. „Die sind harmlos.“ Daraufhin verlieren sie das Interesse, lassen den Sack sinken. Aber sie gehen nicht weg: Sie stehen da und starren. Die Treibgutsuche ist eine Ausrede. Hauptsächlich wollen sie ihn ansehen, weil er so anders ist als sie. Manchmal bitten sie ihn, die Sonnenbrille abzunehmen und wieder aufzusetzen: Sie wollen sehen, ob er wirklich zwei Augen hat oder drei.

„Schneemensch, o Schneemensch“, singen sie, weniger an ihn gerichtet als an einander. Sein Name bedeutet ihnen nichts, für sie sind es einfach zwei Silben. Sie wissen nicht, was ein Schneemensch ist, sie haben nie Schnee gesehen.

Eine von Crakes Regeln bestand darin, dass kein Name ausgesucht werden durfte, für den sich nicht eine materielle Entsprechung zeigen ließ, und sei sie ausgestopft oder nur noch ein Skelett. Kein Einhorn, kein Drache, kein Mantikor oder Basilisk. Aber diese Regeln gelten nicht mehr, und für Schneemensch war es ein bitteres Vergnügen, sich dieses zweifelhafte Etikett zuzulegen. Der Abscheuliche Schneemensch – existent und nicht existent, eine flüchtige Erscheinung am Rand eines Schneesturms, ein affenähnlicher Mensch oder menschenähnlicher Affe, verstohlen, ungreifbar, nur Gerüchte gab es und rückwärts gerichtete Fußspuren. Gebirgsstämme, heißt es, hätten ihn gejagt und, wenn es ihnen gelang, getötet. Sie hätten ihn gekocht, gebraten, ein besonderes Fest veranstaltet – umso erregender, nimmt er an, als dieses Mahl an Kannibalismus grenzte.

Zu gegenwärtigen Zwecken hat er den Namen abgekürzt. Er nennt sich nur Schneemensch. Das Abscheuliche hat er für sich behalten, sein heimliches härenes Hemd.

Nach kurzem Zögern hocken sich die Kinder im Halbkreis nieder, Jungen und Mädchen gemeinsam. Ein paar von den Jüngeren kauen noch an ihrem Frühstück, der grüne Saft rinnt ihnen über das Kinn. Entmutigend, wie schnell man verkommt, ohne Spiegel. Trotzdem sind sie immer noch erstaunlich anziehend, diese Kinder: jedes nackt, jedes perfekt, jedes von anderer Hautfarbe – schokoladebraun, rosig, teefarben, butter-, krem-, honiggelb –, aber alle mit grünen Augen. Crakes Ästhetik.

Erwartungsvoll sehen sie Schneemensch an. Anscheinend hoffen sie, dass er mit ihnen spricht, aber er ist heute nicht in Stimmung. Allenfalls wird er sie seine Sonnenbrille aus der Nähe sehen lassen oder seine glänzende, stehen gebliebene Uhr, oder seine Baseballmütze. Die Mütze gefällt ihnen, aber sie verstehen nicht, wozu er so etwas braucht – abnehmbare Haare, die aber keine Haare sind –, und er hat noch keine Geschichte dazu erfunden.

Eine Zeit lang sind sie still, starren, denken nach; dann fängt der Älteste an. „O Schneemensch, bitte erzähl – was ist das für ein Moos, das aus deinem Gesicht herauswächst?“ Die anderen fallen ein. „Bitte erzähl, bitte erzähl!“ Kein Quengeln, kein Kichern: Die Frage ist ernst.

„Federn“, sagt er.

Sie stellen diese Frage mindestens einmal in der Woche. Er gibt immer dieselbe Antwort. Schon in einem so kurzen Zeitraum – zwei Monate? drei? Er hat den Überblick verloren – haben sie sich einen Vorrat an Mythen, an Mutmaßungen über ihn zugelegt: Schneemensch war einmal ein Vogel, aber er hat das Fliegen verlernt, und die meisten Federn sind ihm ausgefallen, deshalb friert er und braucht eine zweite Haut, er muss sich einwickeln. Nein: Er friert, weil er Fische isst, und Fische sind kalt. Nein: Er wickelt sich ein, weil ihm sein männliches Ding fehlt, und er will nicht, dass wir das sehen. Deswegen geht er auch nicht schwimmen. Schneemensch hat Falten, weil er früher unter Wasser gelebt hat, und davon ist seine Haut runzelig geworden. Schneemensch ist traurig, weil die anderen, die so waren wie er, über das Meer davongeflogen sind, und jetzt ist er ganz allein.

„Ich möchte auch Federn“, sagt der Jüngste. Eine vergebliche Hoffnung: Unter Crakes Kindern gibt es keine männlichen Bärte. Crake fand Bärte irrational; außerdem ärgerte ihn das ständige Rasieren, und deshalb schaffte er die Notwendigkeit kurzerhand ab. Natürlich nicht für Schneemensch: Für ihn war es zu spät.

Jetzt fangen sie alle auf einmal an. „O Schneemensch, o Schneemensch, können wir auch Federn haben? Bitte?“

„Nein“, sagt er.

„Warum nicht, warum nicht?“, singen die beiden Kleinsten.

„Wartet einen Moment, ich werde Crake fragen.“ Er hält seine Uhr zum Himmel hinauf, dreht sie rund um das Handgelenk, dann legt er sie ans Ohr, als lauschte er. Sie beobachten gebannt jede Bewegung. „Nein“, sagt er. „Crake meint, nein. Keine Federn für euch. Jetzt verpisst euch.“

„Verpisst euch? Verpisst euch?“ Sie sehen einander an, dann ihn. Er hat einen Fehler gemacht, er hat etwas Neues gesagt, hat einen Begriff verwendet, der unmöglich zu erklären ist. „Pissen“ ist für sie nichts Anstößiges. „Was heißt verpissen?“

„Geht weg!“ Er wedelt mit einem Zipfel des Lakens in ihre Richtung, und sie stieben davon, rennen den Strand entlang. Sie sind immer noch unschlüssig, ob sie sich vor ihm fürchten sollen, und wie sehr. Soweit man weiß, hat er noch keinem Kind etwas zu Leide getan, aber sein Wesen ist nicht ganz zu begreifen. Unmöglich, sein Verhalten vorherzusagen.

„Jetzt bin ich allein“, sagt er laut. „Ganz, ganz allein. Allein auf dem endlos weiten Meer.“ Noch ein Fetzen aus dem brennenden Notizbuch in seinem Kopf.

Korrektur: an der Meeresküste.

Er empfindet das Bedürfnis nach einer menschlichen Stimme – einer wirklich menschlichen Stimme, wie seine eigene. Manchmal lacht er wie eine Hyäne oder brüllt wie ein Löwe – wie seine Vorstellung von einer Hyäne, seine Vorstellung von einem Löwen. Als Kind hat er alte DVDs von solchen Wesen gesehen: diese Tierverhaltensfilme, die Kopulation und Geknurre und Eingeweide vorführten und Mütter, die ihre Jungen leckten. Warum hatte er sie so tröstlich gefunden?

Oder er grunzt und quietscht wie ein Organschwein oder heult wie ein Hunolf: Aruuuh! Aruuuh! In der Abenddämmerung springt er manchmal auf und rennt im Sand hin und her, schleudert Steine ins Meer und brüllt: Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße! Danach fühlt er sich besser.

Er steht auf und reckt die Arme, um sich zu dehnen, und das Laken fällt von ihm ab. Abgestoßen blickt er an sich hinunter: die schmutzige, grindige Haut, die grau melierten Haarbüschel, die verhornten, gelben Zehennägel. Nackt wie am Tag seiner Geburt. Obwohl er davon nicht mehr das Geringste weiß. So viele einschneidende Ereignisse finden hinter dem Rücken der Leute statt, wenn es ihnen unmöglich ist, zuzusehen: Geburt und Tod zum Beispiel. Und das zeitweilige Vergessen beim Sex.

Denk gar nicht erst dran, schärft er sich ein. Sex ist wie Alkohol, es ist schlecht, schon so früh am Tag darüber zu brüten.

Früher hat er auf sich geachtet; ist regelmäßig gelaufen, hat im Fitnessraum trainiert. Jetzt kann er seine Rippen zählen; er verfällt zusehends. Nicht genug tierisches Eiweiß. Eine Frauenstimme flüstert ihm zärtlich ins Ohr: Netter Hintern! Es ist nicht Oryx, sondern irgendeine andere Frau. Oryx ist nicht mehr sehr gesprächig.

„Sag irgendwas“, fleht er sie an. Sie kann ihn hören, das muss er glauben, aber sie straft ihn mit Schweigen. „Was kann ich tun?“, fragt er. „Du weißt, dass ich …“

Oh, ein richtiger Waschbrettbauch!, kehrt das Flüstern zurück und fällt ihm ins Wort. Leg dich einfach zurück, Schatz. Wer ist das? Irgendein Flittchen, das er einmal gekauft hat; Korrektur: eine professionelle Sexarbeiterin. Eine Trapezkünstlerin mit Gummirückgrat, Flitter auf der Haut wie Fischschuppen. Er hasst diese Echos. Heilige haben sie gehört, wahnsinnige, verlauste Einsiedler in ihren Höhlen und Wüsten. Bald wird er betörende Dämonen erblicken, die ihn herbeiwinken und sich die Lippen lecken, Gestalten mit rot glühenden Brustwarzen und zuckenden rosigen Zungen. Seejungfrauen werden sich aus den Wellen erheben, dort draußen, jenseits der halb zerfallenen Türme, und er wird ihren Sirenengesang hören und hinausschwimmen und von Haien gefressen werden. Kreaturen mit weiblichen Köpfen und Brüsten und Adlerklauen werden sich auf ihn stürzen, er wird sie mit offenen Armen empfangen, und das ist sein Ende. Hirngeröstet.

Oder schlimmer: Irgendein Mädchen, das er kennt oder gekannt hat, wird durch die Bäume auf ihn zukommen, sie wird sich freuen, ihn zu sehen, aber aus Luft bestehen. Sogar das wäre ihm recht, der Gesellschaft wegen.

Mit seinem einen sonnenbebrillten Auge sucht er den Horizont ab: nichts. Das Meer ist aus flüssigem Metall, der Himmel ein ausgebleichtes Blau bis auf das Loch, das die Sonne hineinbrennt. Alles ist so leer. Wasser, Sand, Himmel, Bäume, Fragmente der Vergangenheit. Niemand kann ihn hören.

„Crake!“, brüllt er. „Arschloch! Nur Scheiße im Hirn!“

Er lauscht. Das salzige Wasser rinnt ihm wieder über das Gesicht. Er weiß nie im Voraus, wann das passiert, und nie kann er es beenden. Sein Atem ist ein Keuchen, als umklammerte eine Riesenhand seine Brust – Klammern, Lockern, Klammern. Sinnlose Panik.

„Das hast du angerichtet!“, schreit er den Ozean an.

Keine Antwort, natürlich nicht. Nur die Wellen, hin – her, hin – her. Er wischt sich mit der Faust über das Gesicht, über Schmutz und Tränen und Rotz und den kläglichen Schnurrbart und den klebrigen Mangosaft. „Schneemensch, Schneemensch“, sagt er. „Fang endlich zu leben an.“

„Atemberaubendes Gedankenexperiment.“ Mitteldeutsche Zeitung

Blick ins Buch
SiloSilo

Roman

„Ein beklemmender und packender Science-Fiction-Thriller.“ Hamburger Morgenpost

In einer feindlichen, zerstörten Umwelt gibt es nicht mehr viele Menschen. Sie haben sich in ein riesiges Silo unter der Erde geflüchtet. Um zu überleben, müssen sie die strengen Regeln des Silos befolgen. Aber einige Wenige tun das nicht. Sie sind gefährlich. Sie wagen es zu hoffen und zu träumen und stecken andere mit ihrer Hoffnung an. Ihre Strafe ist einfach und tödlich. Sie müssen nach draußen. Raus aus dem Silo. Juliette ist eine von ihnen. Vielleicht ist sie die Letzte.

„Selten wurde eine Endzeitstimmung so packend geschildert.“ FAZ 

Die Bücher der „Silo“-Reihe:

Band 1: Silo

Band 2: Level

Band 3: Exit



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Sie wollen lesen, was vor „Silo“ geschah? Hugh Howey erzählt diese Geschichte im Nachfolgeroman „Level“. Hier können Sie auch in „Level“ reinlesen:


LEVEL von Hugh Howey


2052

Fulton County, Georgia

Der Regen ließ schließlich nach. Die Haupttribühne war schon für die Gala am Abend geschmückt, und die Eröffnungsbands begannen ihr Programm.

Donald fühlte sich ein wenig klaustrophobisch vor der Georgia-Tribüne – so ganz unten in der Grube. Er hatte das unstillbare Bedürfnis, nach oben zu gehen, auf der Kuppe zu stehen und zu sehen, was los war. Er konnte sich lediglich vorstellen, wie sich die Gäste insgesamt zu Tausenden um die einzelnen Hügel versammelten, konnte sich den politischen Eifer nur ausmalen, der überall in der Luft hing, die Vereinigung gleichgesinnter Familien, die das Versprechen eines neuen Zeitalters feierten.

Sosehr Donald den Neuanfang auch mit ihnen hätte feiern wollen – er freute sich vor allem auf das Ende. Er konnte es nicht erwarten, dass der Parteitag vorüber wäre. Die Wochen hatten an ihm gezehrt. Er freute sich auf ein richtiges Bett, eine gewisse Privatsphäre, seinen Computer, ein zuverlässiges Telefonnetz, ein Essen im Restaurant und vor allem auf die Zeit, die er allein mit seiner Frau verbringen würde.

Er holte sein Handy aus der Tasche und sah zum x-ten Mal auf die Uhr. In wenigen Minuten würde man die Nationalhymne singen, dann würde die Flugschau beginnen. Zudem hatte er gehört, dass es ein Feuerwerk geben sollte, um den Parteitag mit einem lauten Knall zu eröffnen.

Auf dem Display sah er, dass seine letzten Nachrichten noch immer nicht verschickt worden waren. Das Netz war weiterhin blockiert. Eine Fehlermeldung blinkte auf, die er noch nie gesehen hatte. Er suchte mit den Augen die schlammigen Hänge nach Helen ab, hoffte, sie dort herabsteigen zu sehen, ihr Lächeln, das er aus jeder Entfernung erkennen würde.

Jemand stellte sich neben ihn. Donald wandte den Blick von den Hügeln und sah Anna neben sich vor der Tribüne.

„Es geht los“, sagte sie leise und blickte in die Menge.

Sie wirkte nervös und klang auch so. Vielleicht wegen ihres Vaters, der so viel Arbeit in die Haupttribüne gesteckt und sichergestellt hatte, dass jeder am richtigen Platz wäre. Donald blickte hinter sich, sah, dass die Leute zu ihren Sitzen gingen, der morgendliche Regen wurde von den Stühlen gewischt. Es waren weit weniger Menschen, als es zuvor den Anschein gehabt hatte. Entweder sie arbeiteten in den Zelten oder waren zu den anderen Tribünen hinübergegangen. Es war das leise Brodeln vor dem …

„Da ist sie!“

Anna wedelte mit den Armen. Donald spürte, wie sein Herz bis zum Hals klopfte, als er Annas Blick folgte. In seine Erleichterung mischte sich sofort die Panik, dass Helen ihn hier Seite an Seite mit Anna sehen könnte.

Dann sah er dort eine vertraute Gestalt den Hügel herunterkommen. Eine junge Frau in einer gestärkten blauen Uniform, die Mütze unterm Arm, ihr dunkles Haar war zu einem strengen Knoten gebunden.

„Charlotte?“ Donald beschattete seine Augen gegen die helle Mittagssonne, die nun durch die flaumigen Wolken brach. Ihm stand vor Verwunderung der Mund offen. Alle anderen Ereignisse und Sorgen gerieten für einen Moment in Vergessenheit, als seine Schwester ihn erkannte und die Hand hob.

„Sie hat es mit Sicherheit nur ganz knapp geschafft“, flüsterte Anna.

Donald lief zu seinem Geländewagen und drehte den Zündschlüssel. Der Wagen sprang an, er gab Gas und raste ihr über das nasse Gras entgegen.

Charlotte strahlte, als er am Fuß des Hügels abbremste. Er würgte den Motor ab.

„Hallo, Donny!“

Seine Schwester beugte sich über ihn, bevor er noch aussteigen konnte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihn fest an sich.

Er erwiderte die Umarmung, gab jedoch acht, ihre perfekt gebügelte Uniform nicht zu ruinieren. „Was in aller Welt tust du hier?“, fragte er.

Sie ließ ihn los, wich einen Schritt zurück und strich die Vorderseite ihres Hemdes glatt. Die Mütze der Luftwaffe verschwand wieder unter ihrem Arm, jede Bewegung wirkte einstudiert und akkurat.

„Bist du überrascht?“, fragte sie. „Ich dachte, der Senator hätte es dir inzwischen verraten.“

„Nein, verdammt! Er hat etwas von einem Überraschungsgast gesagt, aber nicht, wer genau es sein würde. Ich dachte, du bist im Iran. Hat Thurman das eingefädelt?“

Sie nickte. Donald grinste so breit, dass er spürte, wie sich seine Wangen verkrampften. Immer wenn er sie sah, stellte er erleichtert fest, dass sie nach wie vor dieselbe war. Das spitze Kinn und die Sommersprossen auf der Nase, ihre leuchtenden Augen, die noch nicht stumpf geworden waren von dem Grauen, das sie gesehen hatte. Sie war gerade erst dreißig geworden. Sie war am anderen Ende der Welt gewesen und hatte ohne Familie ihren Geburtstag begangen, aber in Donalds Vorstellung war sie noch immer das junge Mädchen, das sich gerade zur Armee gemeldet hatte.

„Ich glaube, ich muss bei der Gala heute Abend auf die Bühne.“

„Natürlich.“ Donald lächelte. „Sie wollen dich sicherlich filmen, um später ihre Unterstützung für die Truppen vorführen zu können.“

Charlotte zog die Augenbrauen zusammen. „Mein Gott, ich bin wirklich eine von denen, nicht wahr?“

Er lachte. „Es sind sicherlich noch andere vom Militär dabei, die Navy und die Marines.“

„Oh ja, aber ich bin das einzige Mädchen!“

Sie lachten zusammen, eine der Bands hinter den Hügeln beendete ihr Programm. Donald eilte zum Wagen und ließ seine Schwester einsteigen. Er fühlte sich auf einmal seltsam erleichtert. Das Wetter hatte sich verändert, die Wolken lösten sich auf, es wurde ruhig auf den Tribünen, und nun tauchte völlig überraschend auch noch seine Familie auf!

Er ließ den Motor an und fuhr über den am wenigsten morastigen Weg zurück zur Tribüne. Seine Schwester hielt sich hinter ihm fest. Er bremste neben Anna, und seine Schwester sprang aus dem Wagen und fiel ihr in die Arme. Während die beiden plauderten, stellte Donald den Motor ab und sah auf seinem Handy nach Nachrichten. Endlich hatte er eine Verbindung bekommen.

Helen: Bin in Tennessee. Wo bist du?

Er versuchte, einen Sinn aus der SMS herauszulesen, und geriet kurz in Panik. Was zum Teufel tat Helen in Tennessee?

Eine weitere Tribüne wurde ruhig. Donald brauchte nur ein, zwei Herzschläge, um sich darüber klar zu werden, dass seine Frau nicht Hunderte Kilometer entfernt war. Sie saß lediglich auf der anderen Seite des Hügels. Keine seiner Nachrichten – dass sie sich vor der Georgia-Tribüne treffen sollten – war gesendet worden.

„He, bin gleich wieder zurück!“

Er ließ den Geländewagen an. Anna packte sein Handgelenk.

„Wohin willst du?“

Er lächelte. „Tennessee. Helen hat sich gemeldet.“

Anna blickte in die Wolken, Charlotte begutachtete ihre Mütze. Auf der Bühne wurde ein junges Mädchen zum Mikrofon geführt, an ihrer Seite ein farbiger Bodyguard. Die Plätze vor der Bühne füllten sich, Hälse reckten sich erwartungsvoll.

Bevor Donald etwas dagegen tun oder den Gang einlegen konnte, griff Anna über ihn hinweg und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss.

„Nicht jetzt“, sagte sie.

Donald spürte die Wut als Welle in seiner Brust. Er wollte ihre Hände packen, den Schlüssel packen, aber sie hielt ihn hinter ihrem Rücken versteckt.

„Warte!“, zischte sie.

Charlotte blickte zur Bühne. Senator Thurman stand oben mit dem Mikrofon in der Hand, neben ihm das etwa sechzehnjährige Mädchen. Auf der Tribüne war es totenstill geworden. Donald wurde sich bewusst, was für einen Krach der Wagen gemacht hätte. Das Mädchen würde jetzt gleich singen.

„Meine Damen und Herren, liebe Parteigenossinnen und -genossen …“

Pause. Donald stieg aus dem Wagen, warf einen letzten Blick auf sein Handy und steckte es ein.

„… und Freunde aus der Opposition.“

Gelächter in der Menge. Donald lief schnell über den flachen Boden am Fuß des Hügels. Seine Schuhe quietschten im nassen Gras und auf der dünnen Schlammschicht. Senator Thurmans Stimme schallte weiter über die Menge:

„Heute bricht eine neue Ära an, ein neues Zeitalter.“

Donald war nicht mehr trainiert, seine Schuhe wurden schwer vom Schmutz.

„Nachdem wir uns hier am Ort unserer zukünftigen Unabhängigkeit versammelt haben …“

Als das Gelände anstieg, war Donald schon außer Puste.

„… erinnere ich mich an die Worte eines unserer Gegner, eines Republikaners.“

Leises Lachen, aber Donald achtete nicht darauf, er konzentrierte sich auf den Aufstieg.

„Ronald Reagan sagte einmal, dass man für die Freiheit kämpfen müsse, dass man sich den Frieden erarbeiten müsse. Wenn wir nun der Hymne lauschen, die in einer Zeit geschrieben wurde, als Bomben fielen und ein neues Land entstand, lasst uns des Preises gedenken, den wir für unsere Freiheit bezahlt haben. Fragen wir uns selbst, ob je ein Preis zu hoch sein könnte, um zu garantieren, dass wir auf diese Freiheit niemals verzichten müssen.“

Nach einem Drittel des Aufstiegs musste Donald stehen bleiben und nach Luft schnappen. Er bereute es, in den vergangenen Wochen jede noch so kurze Strecke gefahren zu sein. Er nahm sich vor, wieder fitter zu werden.

Donald blickte auf die Bühne hinunter, wo nun die Nationalhymne von einer wunderschönen jungen Stimme vorgetragen wurde – und er sah Anna hinter sich den Hügel hinaufkommen. Während der Nationalhymne saßen alle Teilnehmer auf den Plätzen, die man ihnen zugewiesen hatte, und er fragte sich, ob er die Hymne entweihte, wenn er hier hochkletterte. Er drehte Anna den Rücken zu und ging mit neuer Entschlossenheit weiter, hörte dabei den Text der Hymne:

„… O’er the ramparts we watched …“

Es war leicht zu erkennen, was in den letzten Wochen aus den Grabungen geworden war – einzelne Staaten voller Menschen, Waren, Vieh. Fünfzig Staaten, in denen nun der große Feiertag abgehalten wurde.

„… And the rockets’ red glare, the bombs bursting in air, …“

Er war oben angelangt und sog die frische, saubere Luft in seine Lungen ein. Unten auf der Bühne schwangen träge Flaggen im leichten Wind.

Jemand packte ihn am Handgelenk.

„Komm zurück!“, zischte Anna.

Er keuchte. Auch Anna war außer Atem, ihre Knie waren voller Schlamm und Gras. Sie musste auf dem Weg nach oben ausgerutscht sein.

„Helen weiß nicht, wo ich bin“, sagte er.

„… does that star-spangled banner yet wave …“

Noch vor dem Ende der Hymne brandete der Applaus auf. Donald sah die Düsenjets, die von ferne herangeschossen kamen. Eine funkelnde Formation, deren Tragflächen sich an den Spitzen fast berührten.

„Komm wieder nach unten, verdammt noch mal!“, schrie Anna und zerrte an seinem Arm.

Donald riss seine Hand weg. Er war gefesselt vom Anblick der herannahenden Jets.

„Lass mich los!“, schrie er, als Anna ihn packte und mit aller Macht den Hügel wieder hinunterziehen wollte.

Die Luft vibrierte vom Donnern der Flieger. Die Triebwerke kreischten, als die Jets ihre Formation auflösten und hinauf in die weißen Wolken flogen.

„Verflucht, Donny, wir müssen da runter!“

Der erste Blitz kam, bevor Anna ihm die Augen zuhalten konnte. Ein helles Licht am Rande seines Gesichtsfelds aus Richtung Downtown Atlanta. Ein Blitz mitten am Tag. Donald wandte sich um, erwartete Donner zu hören. Der Lichtblitz war zu einer gleißenden Helligkeit geworden. Anna hatte die Arme um seine Taille gelegt und zog ihn zurück. Da war auch seine Schwester, sie keuchte, hielt sich die Augen zu, schrie. „Was zum Teufel ist das?“

Wieder ein Blitz, so hell, dass er Sterne vor den Augen hatte. Sirenen schrillten aus allen Lautsprechern. Donald war halb blind. Sogar als dann die Pilzwolken von der Erde aufstiegen – unglaublich groß für diese Entfernung –, brauchte er noch einen Moment, um zu begreifen, was geschah.

Die beiden Frauen zogen ihn hügelabwärts. Der Applaus war in Geschrei umgeschlagen, das die brüllende Sirene sogar noch übertönte. Donald sah kaum etwas. Er stolperte rückwärts und stürzte, sie glitten zu dritt aus und rutschten den Hügel hinunter, auf dem nassen Gras in Richtung Bühne. Die wolkigen Spitzen der Explosionen stiegen höher und höher.

„Was ist los?“, schrie er.

Irgendetwas entglitt ihm, er konnte sich nicht mehr erinnern, was es war. Wie war er hier hochgekommen? Was passierte hier?

„Los, los, los!“, sagte Anna.

Seine Schwester fluchte, sie war so verwirrt und erschrocken wie er selbst.

„Das Hauptzelt!“

Donald fuhr herum, seine Absätze rutschten im Gras, seine Hände waren nass vom Regen und voller Schlamm und Gras. Wann war er hingefallen?

Die drei stolperten die letzten Meter des Hangs hinunter, als das ferne Grollen des Donners sie endlich erreichte. Die Pilzwolken am Himmel schienen vor den Donnerschlägen zu fliehen, zur Seite geschoben zu werden von einem unnatürlichen Wind. Die Unterseiten der Wolken blitzten und blinkten, als würden noch weitere Bomben detonieren. Unten auf der Tribüne versuchten die Menschen nicht etwa, aus dem Amphitheater zu flüchten, sie rannten stattdessen in die Zelte, gelenkt von freiwilligen Helfern, die sie hindurchwinkten. Die Essens- und Marktstände wurden weggeräumt, die Bestuhlung war umgeworfen und zu einem Wirrwarr aufgetürmt worden. Ein Hund, noch immer an einen Pfosten gebunden, bellte.

Einige Menschen schienen noch im Vollbesitz ihrer Sinne zu sein. Anna war eine von ihnen. Donald sah, wie der Senator in einem kleinen Zelt die Menschenströme koordinierte. Wohin wollten all diese Leute? Donald fühlte sich ausgebrannt und leer, als er zusammen mit den anderen weitergetrieben wurde. Sein Verstand brauchte lange, um zu verarbeiten, was er gerade gesehen hatte. Atomexplosionen. Was er bisher nur von körnigen Kriegsvideos gekannt hatte, spielte sich nun in unmittelbarer Nähe live ab. Echte Atombomben, die tatsächlich explodiert waren.

Nackte Todesangst überkam ihn. In einem Winkel seines Gehirns wusste Donald, dass sie alle sterben würden. Es war das Ende von allem. Man konnte dem Tod nicht entkommen. Es gab kein Versteck. Abschnitte eines Buches, das er gelesen hatte, kamen ihm in den Sinn, Tausende Paragrafen, die er auswendig gelernt hatte. Er tastete in seiner Hose nach seinen Pillen, aber da waren sie nicht. Er blickte hinter sich und versuchte sich zu erinnern, was er zurückgelassen hatte …

Anna und Charlotte zogen ihn am Senator vorbei, der eine Miene grimmiger Entschlossenheit aufgesetzt hatte. Die Zeltklappe schlug Donald ins Gesicht. Vor seinen Augen sah er noch die Blitze der Detonationen. Die Menschen drängten sich in das Zelt, aber nicht so viele, wie es hätten sein müssen. Wo waren denn alle? Es ergab keinen Sinn, bis er merkte, dass er eine Betonrampe hinabgetrieben wurde. Überall Leiber, rempelnde Schultern, Menschen, die nach einander riefen, ausgestreckte Hände, Ehepaare, die getrennt worden waren. Manche weinten, andere waren vollkommen gefasst …

Ehepaare.

Helen!

Donald schrie ihren Namen in die Menge. Er drehte sich um und versuchte, gegen den Strom der panischen Menschen anzukämpfen. Anna und Charlotte zerrten an ihm. Die Leute drängten nach unten und wurden von oben weitergeschoben. Donald wurde in die Tiefe gespült.

„Helen!“

Oh Gott, jetzt fiel es ihm wieder ein.

Ihm fiel ein, was er zurückgelassen hatte.

Die Panik wich der Angst. Er sah wieder klar. Aber gegen das Unvermeidliche konnte er nichts ausrichten.

Er erinnerte sich an ein Gespräch mit dem Senator über das Ende von allem. Die Luft war aufgeladen, auf seiner Zunge schmeckte er totes Metall, weißer Nebel hüllte ihn ein. Er erinnerte sich an den Inhalt eines Buches. Er wusste, was es war, wusste, was passierte.

Die Welt war untergegangen.

Eine neue Welt verschlang ihn.







Wissenschaftsthriller sind ein faszinierendes Genre, in dem es viele großartige Bücher und Autor:innen zu entdecken gibt. Michael Crichton ist sicherlich einer der bekanntesten und hat mit "Jurassic Park" und "The Andromeda Strain" Klassiker des Genres geschaffen. Dan Brown hat mit "The Da Vinci Code" einen internationalen Bestseller gelandet, während Andy Weir mit "The Martian" einen Science-Fiction-Thriller geschrieben hat, der von der Kritik hoch gelobt wurde. Aber auch in Deutschland gibt es eine Reihe von Autor:innen, die erfolgreich im Bereich der Wissenschaftsthriller tätig sind, wie zum Beispiel Frank Schätzing, Andreas Eschbach, Marc Elsberg und Ursula Poznanski.

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