Die Fußball der WM 1954
Bern am 4. Juli 1954: Im Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft spielt Deutschland gegen Ungarn. Im Vorrundenspiel haben die Deutschen noch 8:3 verloren. Doch dann besiegte der Außenseiter die ungarische Jahrhundertmannschaft besiegt und wurde zum ersten Mal Weltmeister. Als der englische Schiedsrichter das Spiel abpfiff, gab es für die deutschen Anhänger im Wankdorfstadion kein Halten mehr, und in der Bundesrepublik jubelten Millionen. Das „Wunder von Bern“ war geboren.
Ein Auszug aus dem Buch „Deutsche Geschichte in 100 Objekten“ von Prof. Dr. Hermann Schäfer.
Der Ball, mit dem Helmut Rahn das entscheidende Tor im Finale von Bern am 4. Juli 1954 erzielte, trug die offizielle Bezeichnung „Swiss World Cup Match Ball“. Die Schweiz stellte als Gastgeber den Ball, der in Größe (Umfang 67 Zentimeter) und Gewicht (ca. 410 Gramm) einer von der FIFA vorgegebenen Norm (Ballgröße 5) entsprechen musste, um einen Streit wie bei der Weltmeisterschaft 1930 zu vermeiden; damals hatte es für das Endspiel zwischen Argentinien und Uruguay einen „Zwei-Bälle-Kompromiss“ gegeben: Die gastgebenden „Urus“ waren Weltmeister geworden, nachdem sie in der zweiten Halbzeit die Partie mit „ihrem“ Ball „drehen“ konnten.
Wie der WM-Ball nach Deutschland kam
Seit der WM 1986 bestehen die Bälle aus Kunststoff, damals war der Ball aus Rindsleder; seine auffällige gelbliche Färbung erhielt er durch ein neues Herstellungsverfahren, bei dem die einzelnen Lederstücke lohgegerbt statt eingefettet wurden. Nach dem Schlusspfiff im Wankdorfstadion in Bern nahm Bundestrainer Sepp Herberger (1897–1977) ihn mit den Unterschriften der elf Spieler als sein persönliches Erinnerungsstück mit in sein Haus in Hohensachsen bei Weinheim. Nach Herbergers Tod wurde er viele Jahre im Archiv des Deutschen Fußball-Bunds in Frankfurt am Main aufbewahrt, selten öffentlich präsentiert, einer breiteren Öffentlichkeit vor allem 2000 anlässlich des 100. Jahrestags der Gründung des DFB in einer Ausstellung im Oberhausener Gasometer.
Er ist seit Sommer 2015 dauerhaft im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund ausgestellt. Für die Fußballweltmeisterschaft 1954 hatten sich 16 Mannschaften qualifiziert, darunter Deutschland nach eher mühevollen Spielen gegen Norwegen und das – bis Ende 1956 noch (teil-)autonome – Saarland, dessen Nationalmannschaft übrigens von Helmut Schön betreut wurde, Herbergers Nachfolger als Bundestrainer. Die WM wurde nach einem neuen, damals umstrittenen, aber bis heute gültigen Modus ausgetragen.
Sepp Herberger bereitete die Mannschaft akribisch vor
Nach einem 14-tägigen Trainingslager in Grünwald bei München bezogen die 22 Spieler mit Trainerstab, Masseur Erich Deuser und dem Schuhfachmann Adi Dassler als Zeugwart Quartier im kleinen Spiez am Thuner See. Die Türkei, Südkorea und das mit seiner seit 1950 ungeschlagenen„Goldenen Elf“ hoch favorisierte Ungarn waren die Gruppengegner; der 4:1-Sieg gegen die Türkei am 17. Juni war „Pflicht“, aber drei Tage später gegen Ungarn ließ Herberger zum Entsetzen der mitgereisten Fans eine Ersatzmannschaft antreten und haushoch, aber „planmäßig“ mit 8:3 verlieren; Deutschland musste zum Entscheidungsspiel nochmals gegen die Türkei antreten und gewann leicht mit 7:2.
Was dann folgte – Viertelfinale mit 2:0 in Kontertaktik gegen Jugoslawien, Halbfinale mit einem auch spielerisch überzeugenden 6:1 gegen Österreich –, wurde als „eine Zeit der Wunder“ (Heinrich) beschrieben. Spätestens seit dem Halbfinale zog die Weltmeisterschaft immer mehr Menschen in ihren Bann, bestimmte die Gespräche in Deutschland, lockte Tausende zu den Spielen in die Schweiz und Millionen vor Radio- und Fernsehgeräte, deren Verkauf enorm zunahm.
Beim Endspiel im – eigens zur WM für rund 65 000 Zuschauer erweiterten– Wankdorfstadion zu Bern war der Gegner erneut die ungarische Elf, der Topfavorit. Bei Spielanpfiff um 17 Uhr schienen die Städte in Deutschland wie ausgestorben, nur vor Elektrogeschäften mit Fernseher im Schaufenster stauten sich die Menschen, Gaststätten schlossen wegen Überfüllung. Nach wenigen Minuten (6. und 8.) führten die Ungarn mit 2:0, die erwartete Blamage, wie schon in der Gruppenphase, schien sich anzubahnen. Doch die deutsche Elf erzielte (11. und 18. Minute) den Ausgleich.
Sie war von Herberger taktisch, körperlich und mental hervorragend eingestellt und soll von Adi Dassler in der Halbzeit wegen des Regenwetters mit neuen Schraubstollen versehen worden sein, während die Ungarn doppelt so schwere Schuhe mit genagelten Lederstollen trugen. Und schließlich, in der 84. Minute, sechs Minuten vor Spielende, rief der Reporter Herbert Zimmermann über das Radio die legendär gewordenen Worte: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt . . . Tooor! Tooor! Tooor! Tooor!“ Und Deutschland gewann mit 3:2.
Der Außenseiter hatte die ungarische Jahrhundertmannschaft besiegt und wurde zum ersten Mal Weltmeister. Als der englische Schiedsrichter das Spiel abpfiff, gab es für die deutschen Anhänger im Wankdorfstadion kein Halten mehr, und in der Bundesrepublik jubelten Millionen. Das „Wunder von Bern“ war geboren.
Ankunft der Weltmeister in Deutschland
Die Rückkehr der Mannschaft nach Deutschland im roten Sondertriebwagen mit der Aufschrift „Fußball-Weltmeister 1954“ wurde zum Triumphzug. Abertausende, wenn nicht Millionen Menschen säumten die Strecke, in Singen drängten sich über 6000 Menschen allein auf dem Bahnsteig, reichten Präsente in den Zug, erhielten Autogramme, jubelten den „Helden von Bern“ zu. In München erreichte der Jubel mit der offiziellen Feier des DFB seinen vorläufigen Höhepunkt.
Aber es gab auch einen Tiefpunkt, denn die Sprache des damaligen DFB-Präsidenten Dr. Peco Bauwens bei der offiziellen Feier im Löwenbräukeller in München war so national-gestrig, dass der Bayerische Rundfunk seine Liveübertragung abbrach. Dies und ein Vorfall während der Siegerehrung in Bern waren die Ursachen für viele kritische Stimmen: Während Fritz Walter als Mannschaftskapitän den Coupe Jules Rimet entgegennahm, erklang im Wankdorfstadion die deutsche Nationalhymne, und viele der etwa 25 000 deutschen Anhänger sangen mit, jedoch die erste anstatt der dritten Strophe – das Radio schaltete die Übertragung ab.
Das Ausland war entsetzt, zog Parallelen zu den Olympischen Spielen in Berlin 1936, englische, italienische und französische Zeitungen titelten sogar in deutscher Sprache „Deutschland über alles“(Daily Express, Guerin Sportivo) und „Achtung“ (Le Monde), ein Kopenhagener Blatt schrieb: „Nur die ›Sieg Heil‹-Rufe fehlten“ (Information).
Politiker der Bundesrepublik waren spätestens nach dem Eklat im Löwenbräukeller alarmiert. Schon zum Turnier in der Schweiz hatten sie Abstand gehalten, kein führender Politiker besuchte das Endspiel. Die Vermischung von Sport und Politik galt als ein Instrument totalitärer Staaten. Der Bundeskanzler gratulierte nach dem Titelgewinn eher knapp. Als Bundespräsident Theodor Heuss die Mannschaft um Fritz Walter im Berliner Olympiastadion auszeichnete, verwies er erneut darauf, dass der Sport außerhalb der Politik stehe, und sorgte dafür, dass nicht die erste Strophe des „Deutschlandlieds“ gesungen wurde.
Sepp Herberger - Vater des WM-Triumphs
Allerdings unterschied sich der Jubel von 1954 deutlich von dem von 1936 und den inszenierten Feiern des Nationalsozialismus, er war Ausdruck eines neuen, nicht „verordneten“ Gemeinschaftsgefühls und ein identitätsstiftender Faktor.
Von der Politik wollten die meisten Deutschen zu dieser Zeit nichts wissen, der Sport jedoch schien unbelastet zu sein. Dabei ergänzte der sportliche Erfolg den wirtschaftlichen Aufstieg und gab den Menschen das Gefühl, die Schatten der Kriegs- und Nachkriegszeit hinter sich lassen zu können. Im friedlichen sportlichen Wettstreit der Nationen und sogar als Außenseiter zu bestehen brachte ein Gefühl der Erleichterung mit sich. Kontinuitäten zum „Dritten Reich“ spielten dabei keine Rolle, auch nicht, dass Sepp Herberger am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten, 1938 zum Reichstrainer avanciert war und sich stets mit dem nationalsozialistischem System arrangiert hatte.
Im Entnazifizierungsverfahren 1946 als „Mitläufer“ eingestuft und mit einer „Sühne“-Zahlung von 500 Reichsmark (sowie 350 RM Verfahrenskosten) belegt, wurde er 1950, nach Wiedergründung des DFB, Bundestrainer. Mit seinem fußballerischen Können als Trainer, seinem psychologischen Geschick als „Vater“ seiner Mannschaft, auch durch den von ihm geförderten „Geist von Spiez“ verkörperte er nach dem errungenen Weltmeistertitel gewissermaßen das Idealbild des „guten Deutschen“.
Seine Tugenden und Charaktereigenschaften wurden „wie bei Millionen anderer Deutscher als Rechtfertigungsmuster für den eigenen Opportunismus im NS-Staat“ (Mikos in Pfeiffer/Schulze-Marmeling) gesehen. Sepp Herberger hatte für seine Nationalspieler im „Dritten Reich“ Privilegien durchgesetzt, auch wenn Fritz Walter 1940 zur Infanterie eingezogen wurde. Für Sepp Herberger war das Finale von 1954 Höhepunkt seiner Karriere, Fritz Walter nannte ein Fußballspiel in sowjetischer Kriegsgefangenschaft als „Spiel seines Lebens“.
Er hatte in verschiedenen Soldatenmannschaften in Frankreich, Sardinien, auf Korsika und Elba gespielt, geriet nach Kriegsende in der Ukraine in sowjetische Gefangenschaft und kam in ein Lager in Rumänien. Dort beteiligte er sich – obwohl geschwächt von Malaria – an einem Fußballspiel mit Wachsoldaten und wurde dabei erkannt. Angeblich bewahrte der dortige Lagerkommandant ihn und seinen jüngeren Bruder Ludwig vor dem Gulag in Sibirien, im Oktober 1945 durften beide heimkehren.
Die gesellschaftliche Bedeutung von „Das Wunder von Bern“
Das „Wunder von Bern“ war eine vorläufige Krönung für die Mühen des Wiederaufbaus, und neun Jahre nach dem Krieg schien es so, als sei die Bundesrepublik bereit für die Rückkehr in die Welt. In beiden Teilen Deutschlands wurde der Sieg gefeiert, auch wenn die politische Führung der DDR einen Sieg des sozialistischen „Bruderlandes“ Ungarn lieber gesehen hätte.
Der DDR-Fußballverband war erst 1952 in die FIFA aufgenommen worden und hatte deswegen noch nicht an der Qualifikation für die WM teilgenommen.So groß der Freudentaumel in Deutschland war, so heftig war die Enttäuschung in Ungarn. In Budapest gingen Hunderttausende nachdem Endspiel auf die Straße, zerstörten Schaufenster mit Bildern der Mannschaft, stürzten sogar Straßenbahnen um und verwüsteten die Wohnung des Nationaltrainers.
Aus der Randale aus Enttäuschung über das verlorene Endspiel wurde – zwei Jahre vor dem von den Sowjets blutig niedergeschlagenen Ungarischen Volksaufstand 1956 – die erste politische Demonstration nach Kriegsende. Nach ihrer Heimkehr wurden die ungarischen Nationalspieler als Verantwortliche der „nationalen Schande“ gebrandmarkt, der Torwart wegen Landesverrats angeklagt und in die Provinz verbannt, andere Spieler konnten auswandern.
Der ungarische Fußball erreichte nie mehr die Qualität jener Jahre. Die sportlichen Siege und der Jubel um sie wurden in Verbindung mit dem beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung Westdeutschlands als Zeichen eines neuen deutschen Nationalismus gedeutet. Herbert Zimmermann, der im Zweiten Weltkrieg als Panzerkommandant gedient hatte und im Februar 1945 mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet worden war, wurde eine militaristische Reportagesprache vorgeworfen.
Aber als er in einem der letzten Sätze seiner Abmoderation sagte: „Wir wollen auch in diesem Augenblick nicht vergessen, dass es ein Spiel ist“, begriff in Deutschland kein Mensch mehr dieses Spiel als Spiel. Es war eine„ungeheure Erlösung“ (Pogarell) von der Schmach der militärischen und moralischen Niederlage, die Deutschen hatten wieder einen Grund, als Volk glücklich und stolz zu sein. Friedrich Christian Delius (Jahrgang 1943) hat dies in seiner autobiografischen Erzählung Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde (1994) in Worte gefasst.
Der Journalist und Historiker Joachim Fest benannte die dreifache „Gründung“ der Bundesrepublik und ihre drei „Gründungsväter“: politisch Konrad Adenauer, wirtschaftlich Ludwig Erhard, mental Fritz Walter. Auch wenn der DFB das Verbot des Frauenfußballs erst 1970 aufhob, nahm der Fußball in Deutschland einen enormen Aufschwung, für die Männer mit drei Siegen in Europameisterschaften (1972, 1980, 1996) und nach 1954 drei weiteren Weltmeisterschaften (1974, 1990, 2014), für die Frauen mit acht Europa- und zwei Weltmeisterschaftstiteln (2003, 2007). Neben solchen Erfolgen, neben dem „Wunder von Bern“ bleibt vor allem das „Sommermärchen“ des Jahres 2006 in Erinnerung, beidem Deutschland zwar „nur“ Dritter wurde, die wiedervereinigte Nation sich aber in einem neuen, positiven, fröhlichen Selbstbewusstsein und als guter Gastgeber präsentierte, „die Welt zu Gast bei Freunden“ hatte.
Prof. Dr. Hermann Schäfer, geb. 1942, ist Historiker und international renommierter Museumsfachmann, Gründungspräsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das von ihm aufgebaute und zwanzig Jahre geleitete Museum für Zeitgeschichte erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, es setzte neue Maßstäbe für Themen und in der Gestaltung von Ausstellungen.
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