1912 brachten die Künstler Wassily Kandinsky und Franz Marc im Piper Verlag die bedeutendste Programmschrift für die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts heraus: den Almanach „Der Blaue Reiter“.
Er beeinflusste die Entwicklung der modernen Kunst in Deutschland und im übrigen Europa ganz entscheidend. Mit ihren vereinfachenden, mitunter völlig abstrakten und geometrischen Darstellungen unter Verwendung wirklichkeitsfremder symbolträchtiger Farben waren die Künstler der Bewegung „Der blaue Reiter“ wichtige Wegbereiter der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts. Ihre klangvollen Namen kennt jeder, ihre Bilder erzielen Höchstpreise.
Vor allem der 1880 in München geborene Franz Marc gilt als einer der bedeutendsten Künstler des Expressionismus in Deutschland. Er hinterließ 244 Ölgemälde sowie 261 Zeichnungen und Aquarelle. Im Alter von nur 36 Jahren fiel der Künstler im Ersten Weltkrieg. Am 4. März 1916, wurde er bei Verdun von einem Granatsplitter tödlich getroffen.
Am 19 Juni 1911 erwähnt Wassily Kandinsky in einem Brief an Franz Marc erstmals die Idee einer gemeinsamen Publikation. In diesem Sommer ahnt er noch nicht, dass sie tatsächlich ein Jahr später als Almanach Der Blaue Reiter erscheinen und als eine der wichtigsten programmatischen Künstlerschriften des 20. Jahrhunderts Berühmtheit erlangen sollte. „Nun, ich habe einen neuen Plan“, schreibt er „Piper muss Verlag besorgen und wir beide … die Redakteure sein. Eine Art Almanach (Jahres=) mit Reproduktionen und Artikeln nur von Künstlern stammend. [ ] In dem Buch muss sich das ganze Jahr spiegeln, und eine Kette zur Vergangenheit und ein Strahl in die Zukunft müssten diesem Spiegel das volle Leben geben. [ ] Da bringen wir einen Ägypter neben einem kleinen Zeh [ gemeint ist eine Kinderzeichnung, d Verf ], einen Chinesen neben Rousseau, ein Volksblatt neben Picasso u drgl noch viel mehr! Allmählich kriegen wir Litteraten und Musiker. Das Buch kann Die Kette heißen oder auch anders.“
Bereits in dieser ersten Skizze sieht Kandinsky Künstler aus verschiedenen Ländern als Autoren vor und benennt das tragende Prinzip des Buches: die vergleichende Gegenüberstellung von Kunstwerken aus unterschiedlichen Kulturen, Weltregionen und Zeiten sowie die Kombination von ‚Hochkunst‘ und sogenannter ‚primitiver‘ Kunst Ägyptische Schattenspielfiguren, japanische Zeichnungen, Plastiken aus Kamerun, Mexiko und Neukaledonien sollen ebenso Eingang in den Almanach finden wie alte und moderne europäische Malerei. Unter den Werken der Volkskunst sind die bayerische Hinterglasmalerei und Votivbilder besonders prominent vertreten, gefolgt von russischen Volksblättern, den sogenannten ‚Lubki‘.
Noch heute können wir uns der lebendigen und unkonventionellen Wirkung dieser Gegenüberstellung verschiedenster, bis dahin in der Rangordnung streng getrennter Kunstwerke kaum entziehen, die der Almanach mit einer Fülle von über 140 Illustrationen ausbreitet. Damals, vor mehr als hundert Jahren, glich die Entscheidung, Kunstwerke nach dem von Kandinsky beschworenen Prinzip, „dass die Frage der Kunst nicht eine Frage der Form, sondern des künstlerischen Gehaltes ist“ auszuwählen und miteinander zu konfrontieren, einer Revolution.
Matthias Mühling und Annegret Hoberg