Vorwort
Babyjahre hat seit seinem ersten Erscheinen 1993 bei Eltern und Fachleuten eine ständig wachsende Leserschaft und viel Zuspruch gefunden. Eine gründliche Überarbeitung des Buches ist nach 15 Jahren dennoch notwendig geworden. Was ist neu an dieser Ausgabe?
Die Neuauflage geht ausführlicher auf diejenigen Erziehungsfragen ein, die Eltern und Fachleute inzwischen weit mehr beschäftigen als Anfang der Neunzigerjahre: die Bewältigung von Elternschaft und Beruf, die Frage nach einer guten Kinderbetreuung, die Rolle des Vaters oder der richtige Umgang mit den Medien. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse über die frühkindliche Entwicklung, die für den Umgang mit Kindern von Bedeutung sind, wurden ebenfalls berücksichtigt. Dazu gehört beispielsweise die Fähigkeit, sich in die Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen hineinversetzen zu können. Sie tritt im Verlauf des 4. Lebensjahres auf und ist eine wichtige Voraussetzung für einfühlsames Verhalten. Um die Merkmale der frühkindlichen Entwicklungsperiode umfassend darzustellen, wurde der Altersbereich von 2 auf 4 Jahre erweitert. In den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind alle spezifischen Fähigkeiten, über die der Mensch verfügt. Was natürlich nicht bedeutet, dass seine Entwicklung damit abgeschlossen wäre. Die Ausdifferenzierung der Fähigkeiten nimmt noch viele Jahre in Anspruch, die wesentlichen Grundlagen eignet sich das Kind jedoch in den ersten 4 Lebensjahren an.
Das bewährte Konzept von Babyjahre wurde bei der Überarbeitung beibehalten. Das Buch will nach wie vor kein Ratgeber für Problemsituationen sein. Es möchte die Eltern vielmehr darin unterstützen, die Eigenheiten und die Bedürfnisse ihres Kindes besser wahrzunehmen und zu verstehen, damit sie möglichst entwicklungsgerecht auf es eingehen können. Ein Schwerpunkt des Buches liegt darin, auf die Vielfalt der kindlichen Entwicklung hinzuweisen. Diese Vielfalt wird anhand zahlreicher Grafiken in allen Entwicklungsbereichen wie Motorik, Sprache oder Schlafverhalten dargestellt. Die Grafiken beruhen auf den Daten der Zürcher Longitudinalstudien, in denen die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter bei mehr als 700 Kindern ausführlich untersucht worden ist. Die Grafiken verdeutlichen, wie groß die Vielfalt in allen Entwicklungsbereichen ist und dass Normvorstellungen den Kindern daher nicht entsprechen können. Der Individualität des Kindes in der Erziehung möglichst gerecht zu werden, stellt eine der großen Herausforderung für die Eltern dar.
Ein weiteres Anliegen von Babyjahre ist es, auf die jeweiligen altersspezifischen psychischen und körperlichen Bedürfnisse hinzuweisen, die es zu befriedigen gilt, damit sich das Kind möglichst gut entwickeln kann. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Kind-Eltern-Beziehung, der Kinderbetreuung und den Erfahrungen, die Kinder miteinander machen, zu.
Ein drittes Anliegen ist es, den Eltern aufzuzeigen, dass sich jedes Kind entwickeln will. Damit es diesem inneren Drang folgen kann, muss es in seiner Umwelt die entsprechenden Erfahrungen machen können. Das Kind darin zu unterstützen, ohne es dabei zu über- noch zu unterfordern, gelingt Eltern umso leichter, je besser sie ihr Kind lesen und sein Verhalten verstehen können.
Das Buch wurde nicht nur inhaltlich überarbeitet, sondern auch in seiner Erscheinungsform neu gestaltet. Das farbige Layout erleichtert eine rasche Orientierung und verbessert die Lesbarkeit insbesondere der Grafiken. Die farbigen Abbildungen, die mehrheitlich aus Familienalben stammen, geben typische Augenblicke des Lebensalltags von Kindern und Familien wieder. Zusätzlich wurden zahlreiche Abbildungen aus Filmmaterial der Zürcher Longitudinalstudien neu in das Buch mit aufgenommen, da sie charakteristische Merkmale des kindlichen Verhaltens besonders anschaulich darstellen.
Die Überarbeitung des Buches ist dann gelungen, wenn Babyjahre weiterhin dazu beiträgt, Eltern und Fachleuten Wesen und Welt des Kindes näher zu bringen sowie Freude und Faszination an der kindlichen Entwicklung zu vermitteln.
Remo H. Largo
Uetliburg, Juli 2007
Einführung
Sara ist vor wenigen Stunden auf die Welt gekommen. Sie ist 3,5 Kilogramm schwer, hat einen wohlgeformten Kopf und runde Wangen, Arme und Beinchen. Sie schreit kräftig und strampelt lebhaft. Mit großen Augen blickt sie Mutter und Vater an.
Die Eltern von Sara sind überglücklich: Sie haben ein gemeinsames Kind. Einige Zeit nach der Geburt sind die Eltern immer noch von Dankbarkeit überwältigt. Immer wieder schauen sie Sara an und erfreuen sich an jeder kleinsten ihrer Regungen. Für die Eltern gibt es in diesen Stunden nichts Wichtigeres als ihre Tochter.
In wenigen Tagen werden sie mit Sara nach Hause zurückkehren, und spätestens dann wird ihnen bewusst werden: Wir haben nun die alleinige Verantwortung für dieses kleine Wesen, und das etwa für die nächsten 20 Jahre. Werden wir Sara gerecht werden können? Fragen, die sie besonders beschäftigen, sind:
■ Was hat Sara für Bedürfnisse? Wie können sie befriedigt werden? Wie viel Zuwendung braucht Sara? Wie können wir ihre Betreuung gewährleisten?
■ Wie wird sich Sara entwickeln? Was müssen wir zu ihrer Entwicklung beitragen? Wie können wir unsere Tochter am besten fördern?
■ Wie erziehen wir Sara? Wann bestimmt sie, und wann bestimmen wir?
■ Was bedeutet Sara für uns als Eltern? Wie sehr wird sie unser Leben verändern?
Was sich alle Eltern wünschen: ein lebensfrohes Kind.
In diesem einleitenden Kapitel wollen wir versuchen, auf diese Fragen Antworten zu finden, die dem Kind und seiner individuellen Entwicklung möglichst gerecht werden.
Grundbedürfnisse
Damit sich ein Kind gut entwickeln kann, beziehungsfreudig, neugierig und motorisch aktiv ist, müssen seine körperlichen und psychischen Grundbedürfnisse befriedigt sein. Die Auswirkungen nachteiliger Lebensbedingungen und psychischer Vernachlässigung (Deprivation) für Säuglinge und Kleinkinder sind in zahlreichen Studien nachgewiesen worden (Rutter, Ernst). Kinder brauchen für ihr Gedeihen und ihre Entwicklung die körperliche Nähe und gefühlvolle Zuwendung der Eltern und anderer Bezugspersonen. Kinder, die psychisch vernachlässigt werden, sind in ihrer Entwicklung beeinträchtigt.
Körperliches Wohlbefinden setzt Gedeihen und Gesundheit voraus. Hunger und Durst, aber auch andere körperliche Bedürfnisse wie Schutz vor Kälte oder trockene und saubere Kleidung wollen zuverlässig befriedigt sein. Nur Kinder, die ausreichend ernährt, gepflegt und gesund sind, können sich auch normal entwickeln. Nachrichten aus Entwicklungsländern führen uns tagtäglich vor Augen, wie nachteilig sich Mangelernährung, Vernachlässigung und Krankheit auf die kindliche Entwicklung auswirken.
Eltern freuen sich über die Gesundheit ihres Kindes. Krankheiten, sei es auch nur eine harmlose Erkältung, können ihnen schnell große Sorgen bereiten. Ein Säugling, der viel trinkt, oder ein Kleinkind, das kräftig isst, bestätigt den Eltern, dass sie gut für ihr Kind sorgen. Ein appetitloses Kind hingegen ängstigt die ganze Verwandtschaft. Eltern fragen sich daher: Wie viel Milch muss ein Säugling trinken? Wann soll mit den Breimahlzeiten begonnen werden? Für alle diese Fragen gibt es Richtlinien, zum Beispiel auf den Packungen der Säuglingsmilch. Diese Richtlinien entsprechen den meisten Kindern aber nicht, weil jedes Kind seine eigenen Bedürfnisse hat. Manche Säuglinge trinken nur halb so viel Milch wie andere gleichaltrige Kinder. Die Bereitschaft, Brei zu essen, setzt von Kind zu Kind in ganz unterschiedlichem Alter ein. Für die Ernährung gilt genauso wie für andere Entwicklungsbereiche: Ein Kind gedeiht dann am besten, wenn sich die Eltern an seinen Bedürfnissen orientieren. Mehr ist keineswegs immer besser, sondern häufig zu viel und daher nachteilig.
Geborgenheit.
Die psychischen Bedürfnisse eines Kindes sind schwieriger wahrzunehmen und deshalb auch weniger leicht zu befriedigen als die körperlichen. Damit es einem Kind gut geht, muss es sich geborgen und angenommen fühlen. Geborgenheit setzt die Nähe vertrauter Personen voraus. Ein Kind kann, insbesondere in den ersten Lebensjahren, nicht alleine sein. Es braucht eine vertraute Person, die ihm jederzeit Nähe, Hilfe und Schutz geben kann.
Für die elterliche Zuwendung gilt das Gleiche wie für Ernährung und Pflege: Das Kind entwickelt sich nicht umso besser, je mehr Zuwendung es erhält. Auch das Umsorgtwerden hat seine Grenzen und bei deren Überschreiten nachteilige Folgen. Jeder begreift, dass ein Kind durch eine übermäßige Nahrungszufuhr keineswegs besser gedeiht, sondern nur fettleibig wird. Genauso wie mit der Überfütterung verhält es sich mit der Überbehütung: Sie vermehrt nicht das Wohlbefinden, sondern hält das Kind in einer gefühlsmäßigen Abhängigkeit und macht es unselbstständig. Unselbstständige Kinder sind verstimmt, je nach Temperament ängstlich oder aggressiv und zeigen wenig Neigung, eigene Erfahrungen zu machen.
Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe und gefühlsmäßiger Zuwendung ist von Kind zu Kind unterschiedlich groß. Das richtige Maß an Nähe und Zuwendung für das einzelne Kind vermag keine Theorie anzugeben. Das Kind teilt uns mit seinem Verhalten und Befinden mit, wie viel Nähe und Zuwendung es braucht. Dieses Buch will Eltern darin unterstützen, ihr Kind richtig zu lesen.
Es ist eine der Hauptaufgaben der Eltern, die Betreuung für das Kind so zu gestalten, dass es sich jederzeit geborgen und angenommen fühlt. Diese Aufgabe ist von den meisten Eltern alleine nicht zu bewältigen. Sie brauchen Unterstützung, damit die Qualität und Kontinuität in der Kinderbetreuung gewährleistet ist (siehe „Beziehungsverhalten Einleitung“).
Wie entwickeln sich Kinder?
Die ersten 4 Lebensjahre machen zeitlich lediglich etwa ein Viertel der Kindheit aus. In diesen wenigen Jahren durchlaufen die Kinder jedoch mindestens die Hälfte ihrer gesamten Entwicklung. Säuglinge und Kleinkinder entwickeln sich in einem atemberaubenden Tempo. Sie kommen als kleine, hilflose Wesen auf die Welt, können sich kaum bewegen, nur wenig kommunizieren und kaum Einfluss auf die Umwelt nehmen. Mit 5 Jahren verfügen sie aber bereits über differenzierte fein- und grobmotorische Fähigkeiten und beherrschen die Alltagssprache. Sie können kompetent mit ihren Mitmenschen umgehen und verfügen über vielfältige Kenntnisse in Bereichen wie Kausalität, Raum und Zeit.
Die kindliche Entwicklung zeichnet sich gleichermaßen durch Einheit und Vielfalt aus. Einheitlich verläuft der Entwicklungsprozess: Die verschiedenen Stadien der Entwicklung weisen bei jedem Kind im Wesentlichen die gleiche Abfolge auf. So macht jedes Kind in seiner Sprachentwicklung zuerst bestimmte Stadien der Lautbildung durch, kommt in der Folge zu den ersten Wörtern, bildet anschließend Zweiwortsätze und eignet sich schließlich die grammatikalischen Regeln der Wort- und Satzbildung an. Im Alter von 4 bis 5 Jahren können sich die meisten Kinder in korrekten Sätzen ausdrücken.
Sehr vielfältig hingegen verläuft die Entwicklung von Kind zu Kind, wenn wir auf die Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen und das zeitliche Auftreten von Entwicklungsstadien achten. Bereits Neugeborene sind unterschiedlich groß und schwer. Einige haben ein Geburtsgewicht von weniger als 3, andere wiegen mehr als 4 Kilogramm. Sie unterscheiden sich voneinander auch in ihrem mimischen Ausdruck, beim Schreien und in ihrem Bewegungsverhalten. Im Verlauf der Entwicklung nehmen die Unterschiede zwischen den Kindern immer mehr zu. Ende des 1. Lebensjahres sind gewisse Kinder 8, andere bis zu 13 Kilogramm schwer. Einige Kinder machen die ersten Schritte bereits mit 10 Monaten, die meisten mit 12 bis 16 und einige nicht vor 18 Monaten. Das eine Kind spricht erste Wörter gegen Ende des 1. Lebensjahres, die meisten Kinder mit 15 bis 24 Monaten, und bei einigen lassen die ersten Wörter bis Mitte des 3. Jahres auf sich warten. Es gibt kein Verhalten, das bei allen Kindern im selben Alter auftritt und gleich ausgeprägt wäre.
Kinder sind nicht nur sehr verschieden voneinander, das einzelne Kind ist oftmals in sich unterschiedlich weit entwickelt; die einzelnen Entwicklungsbereiche wie Sprache oder Motorik sind ungleich fortgeschritten. So kann es vorkommen, dass ein Kind bereits mit 12 Monaten läuft, die ersten Wörter aber erst mit 24 Monaten spricht.
Wie Einheit und Vielfalt zusammenwirken ist in der nachfolgenden Abbildung am Erkundungsverhalten dargestellt. Jedes Kind erkundet Gegenstände zuerst mit dem Mund, dann mit den Händen und schließlich mit den Augen. In welchem Alter ein Kind beginnt, ein bestimmtes Erkundungsverhalten zu zeigen, in welcher Intensität und für welche Dauer ist von Kind zu Kind unterschiedlich.
Alle Entwicklungsstadien und Verhaltensweisen erscheinen von Kind zu Kind also in unterschiedlichem Alter und sind verschieden ausgeprägt. Jedes Kind ist auf seine Weise einmalig. Wie können sich die Eltern auf die individuellen Eigenheiten und Bedürfnisse ihres Kindes einstellen?
Erkunden von Gegenständen mit Mund, Händen und Augen.
Vieles, was Eltern tun, geschieht, ohne dass sie ihr Handeln bewusst planen. Sie erfassen das Verhalten ihres Kindes intuitiv richtig. Wenn eine Mutter ihr Kind vom Bettchen aufnimmt, es in den Armen hält und durch Wiegen beruhigt, passt sie sich diesem instinktiv an. Sie spürt, wie rasch sie es aufnehmen darf, in welcher Haltung es sich am wohlsten fühlt, und wie sie es am leichtesten beruhigen kann. Ohne diese angeborene Fähigkeit, das Verhalten eines Kindes zu deuten und sinnvoll darauf zu reagieren, könnten Eltern ihre Kinder gar nicht aufziehen.
Neben der Intuition spielen die eigenen Kindheitserfahrungen eine wesentliche Rolle. Wie sich die Eltern als Kinder gefühlt und wie sie ihre eigenen Eltern erlebt haben, beeinflusst wiederum ihr Erziehungsverhalten. Dieses wird schließlich, je älter das Kind wird, zunehmend von überlieferten Grundhaltungen und Normvorstellungen bestimmt. Letztere übernehmen die Eltern in Gesprächen mit Verwandten und Bekannten oder aus den Medien. Sie gehen beispielsweise davon aus, dass ein Kind im Alter von 3 Monaten nachts durchschläft, dass es mit einem Jahr die ersten Schritte macht und mit 2 Jahren spricht. Solche Vorstellungen entsprechen den Kindern aber nur ausnahmsweise, da sich Kinder sehr unterschiedlich entwickeln. Normvorstellungen wecken falsche Erwartungen und verunsichern die Eltern. Sie erwarten beispielsweise, dass ein 1-jähriges Kind 12 Stunden pro Nacht schläft. Es gibt Kinder, auf die diese Annahme zutrifft, für die Mehrheit der Kinder gilt sie aber nicht. Ein Teil der Kinder schläft länger, einige bis zu 15 Stunden pro Nacht, andere Kinder schlafen lediglich 9 bis 10 Stunden. Was geschieht, wenn die Eltern ihr Kind um 7 Uhr abends in der Erwartung zu Bett bringen, dass es bis 7 Uhr morgens schläft, das Kind aber nur 10 Stunden schlafen kann? Das Kind wird abends nicht einschlafen, nachts mehrmals aufwachen oder morgens vorzeitig wach sein. Im ungünstigsten Fall haben die Eltern unter allen drei Verhaltensauffälligkeiten zu leiden. Ein Kind, das nur 10 Stunden Schlaf pro Nacht braucht, entwickelt sich nicht besser, wenn es 12 Stunden im Bett liegen muss.
Wie können sich Eltern von Normvorstellungen, überlieferten Grundhaltungen und fest gefügten Ratgeberkonzepten lösen? Wie gelingt es ihnen, sich am aktuellen Entwicklungsstand und den individuellen Bedürfnissen ihres Kindes zu orientieren? Kenntnisse über den Ablauf und die Vielfalt der kindlichen Entwicklung und die Bereitschaft, das kindliche Verhalten wahrzunehmen und sich darauf einzustellen, helfen dabei. Eltern, die wissen, dass der Schlafbedarf unter Kindern unterschiedlich groß ist, werden sich nicht nach irgendwelchen Angaben richten. Sie werden vielmehr darauf achten, wie viel Schlaf ihr Kind braucht. Benötigt ihr Kind lediglich 10 Stunden Schlaf pro Nacht, was nicht ungewöhnlich ist, passen sie die Schlafenszeit den kindlichen Bedürfnissen an.
Welche Eigenschaften sind bei unserem Kind angeboren und welche erziehungsbedingt? Ist sein Verhalten Ausdruck der Veranlagung oder der Art und Weise, wie wir mit ihm umgehen? Diese Fragen stellen sich Eltern spätestens dann, wenn das Kind Schwierigkeiten bereitet und sie sich als Erzieher verunsichert fühlen.
Eltern nehmen eine unterschiedliche Erziehungshaltung ein, je nachdem, ob sie der Erbanlage oder ihrem erzieherischen Einfluss eine größere Bedeutung zumessen. Wenn sie davon ausgehen, dass alle zukünftigen Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Kindes vererbt sind, werden sie zu Fatalisten: Die Natur nimmt ihren Lauf; als Erzieher sind sie nur Statisten. Wenn die Eltern der Meinung sind, das Milieu, in dem das Kind aufwächst, sei allein entscheidend für seine Entwicklung und sein Verhalten, laden sie sich eine übergroße Verantwortung auf: Das Kind ist dann ausschließlich das Produkt ihrer Erziehung. Die meisten Eltern gehen richtigerweise davon aus, dass für die kindliche Entwicklung Erbanlage und Umwelt gleichermaßen von Bedeutung sind. Auf welche Weise aber wirken sie zusammen?
Veranlagung und Umwelt sind keine Gegensätze, sie ergänzen sich. Das Erbgut, welches das Kind zu gleichen Teilen von Mutter und Vater bekommt, enthält einen Entwicklungsplan sowie die Anlagen für körperliche und psychische Eigenschaften. Individuelle Merkmale wie Körpergröße, Augenfarbe, aber auch motorische oder sprachliche Fähigkeiten sind im Erbgut angelegt. Diese genetische Grundlage schafft die Voraussetzungen dafür, dass ein Kind entstehen kann, vermag aber allein kein Lebewesen hervorzubringen. Dazu bedarf es der Umwelt und im Besonderen der Eltern.
Mit solch allgemeinen Überlegungen sind Eltern kaum zufriedenzustellen, wenn ihr 3-jähriger Sohn in Tobsuchtsanfälle ausbricht. Sie möchten das Verhalten ihres Kindes verstehen und wünschen sich für den Umgang mit ihm konkrete Orientierungshilfen: Warum hat er Tobsuchtsanfälle? Wodurch werden diese Anfälle ausgelöst? Wie sollen sie sich ihm gegenüber verhalten?
Auf Frustrationen mit Trotz zu reagieren, gehört zum normalen Verhalten von Kleinkindern. Auffällig wäre ein fehlendes Trotzverhalten! Bereitschaft und Ausmaß der Trotzreaktionen sind je nach angeborenem Temperament von Kind zu Kind unterschiedlich stark ausgeprägt. Genauso wie Erwachsene verschieden heftig auf einen abschlägigen Bescheid reagieren, gibt es Kinder, die der Aufforderung, ins Bett zu gehen, widerwillig Folge leisten, während andere einen Tobsuchtsanfall bekommen. Gegen solche temperamentvollen Auftritte können auch die fähigsten Eltern nichts ausrichten. Die Häufigkeit aber, mit der die Tobsuchtsanfälle auftreten, ist wesentlich vom Verhalten der Eltern abhängig. Geben die Eltern dem Kind nach, wird das Kind immer häufiger so reagieren, um seinen Willen durchzusetzen. Bestehen die Eltern auf ihrer Haltung, werden die Anfälle immer seltener werden. Das Temperament ihres Kindes können Eltern nicht verändern, sein Verhalten aber können sie sehr wohl beeinflussen.
In jedem Entwicklungs- und Verhaltensbereich bringt das Kind bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten mit. Welches Verhalten sich das Kind in seiner Entwicklung aneignet, hängt wesentlich davon ab, wie die Eltern und andere Bezugspersonen mit dem Kind umgehen.
Wie viel Förderung braucht ein Kind?
Eltern haben heutzutage nicht mehr 5, 10 oder gar noch mehr Kinder. Sie haben nur eines, manchmal 2 und selten mehr. Jedes dieser Kinder ist eine Kostbarkeit und soll die hohen Erwartungen der Eltern möglichst gut erfüllen. Eltern fragen sich daher: Wie können wir unser Kind optimal fördern? In den USA gehen Frauen während der Schwangerschaft in Kurse, wo ihre ungeborenen Kinder mit klassischer Musik, vorzugsweise Mozart, beschallt werden. Ihnen wurde die Hoffnung gemacht, dass sich ihr Kind später, damit ist vor allem die Schulzeit gemeint, besser entwickeln wird. Kinder entwickeln sich jedoch nicht umso besser, je früher und intensiver sie stimuliert werden. Das afrikanische Sprichwort „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“ gilt auch für Kinder.
In diesem Buch gehen wir von folgender Annahme aus: Jedes Kind will sich von sich aus entwickeln. Es hat einen inneren Drang, zu wachsen und sich Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen. Wenn es einen bestimmten Entwicklungsstand erreicht hat, beginnt es von sich aus, nach Gegenständen zu greifen, sich fortzubewegen und sich sprachlich auszudrücken.
Diese Bereitschaft, sich zu entwickeln, wird von vielen Eltern als Entlastung und selbst als Geschenk empfunden. Eltern müssen sich nicht ständig aktiv darum bemühen, damit ihr Kind Fortschritte macht. Es braucht nicht „gefördert“ zu werden. Das Kind entwickelt sich aus sich heraus, solange sein körperliches und psychisches Wohlbefinden gewährleistet ist und es entwicklungsspezifische Erfahrungen machen kann. Es ist die Aufgabe der Eltern, den Alltag ihres Kindes so zu gestalten, dass es diese Erfahrungen machen kann. Es geht also weit weniger darum, dem Kind etwas beizubringen, vielmehr soll seine Neugierde für Sprache, Motorik oder Spiel entwicklungsgerecht befriedigt werden.
Für jeden Entwicklungsschritt gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, an dem das Kind innerlich dazu bereit ist. Wann es so weit ist, zeigt uns das Kind mit seinem Verhalten an. Diesen Zeitpunkt gilt es zu erfassen. Im 2. Lebensjahr will das Kind beispielsweise selbstständig essen. Das Alter, in dem es geistig und motorisch so weit entwickelt ist, dass es mit dem Löffel umgehen kann, ist von Kind zu Kind unterschiedlich. Einige Kinder sind bereits mit 10 bis 12 Monaten am Hantieren mit dem Löffel interessiert, andere erst mit 18 bis 24 Monaten. Versuchen die Eltern, dem Kind den Umgang mit dem Löffel beizubringen, bevor es dazu bereit ist, überfordern sie es. Verweigern sie dem interessierten Kind das Hantieren mit dem Löffel, resigniert es. Es stellt sich darauf ein, dass es für alle Zeiten gefüttert wird – was die Eltern sicherlich nicht beabsichtigen.
Spüren die Eltern, dass bei ihrem Kind das Interesse am Löffel erwacht, und lassen sie es die entsprechenden Erfahrungen mit dem Löffel selber machen, so wird das Kind zwei wesentliche Dinge lernen: Es hat sich eine Kompetenz selber angeeignet und ist in einem weiteren Lebensbereich selbstständig geworden. Beides festigt sein Selbstwertgefühl.
In den ersten Lebensjahren lassen sich zwei Hauptformen des Lernens unterscheiden: soziales Lernen und exploratives Lernen.
Soziales Lernen
Das soziale Lernen beruht auf der Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen durch Nachahmung zu verinnerlichen. Bereits der Säugling hat ein starkes Bedürfnis nachzuahmen. Er imitiert einfache mimische Ausdrucksweisen und Laute. Über die Nachahmung erschließen sich dem Kind während des 1. Lebensjahres die Ausdrucksformen der menschlichen Kommunikation wie Mimik und Gestik. Auch die Sprache eignet sich das Kind an, indem es anderen zuhört, Laute und Worte wiederholt, Konversationsformen im Spiel nachahmt und verinnerlicht. Über die Nachahmung lernt das Kind zudem den funktionellen Gebrauch von Gegenständen. So sieht es am Familientisch, wie Eltern und Geschwister mit Löffel und Gabel essen. Anfang des 2. Lebensjahres beginnt es, den Löffel selber zu benutzen. Eltern brauchen ihrem Kind nicht beizubringen, wie man einen Löffel benutzt, miteinander umgeht oder spricht.
Wenn Eltern und die anderen Bezugspersonen das Kind an gemeinsamen Aktivitäten und am sozialen Umgang teilhaben lassen, eignet sich das Kind die Verhaltensweisen über die Nachahmung selbstständig an. Wenn die Eltern ihr Kind so oft wie möglich in ihre Tätigkeiten mit einbeziehen, geben sie dem Kind auch das wichtige Gefühl, gebraucht zu werden, und damit eine wohltuende Bestätigung von Zugehörigkeit.
In vielen Ländern dieser Erde leben die Kinder noch in großen Lebensgemeinschaften. Dort machen sie jeden Tag vielfältige Erfahrungen mit zahlreichen Erwachsenen und Kindern unterschiedlichen Alters. Sie übernehmen gesellschaftliche und religiöse Bräuche durch gemeinsames Erleben und soziales Lernen. In unserer westlichen Gesellschaft werden Kinder, im besonderen Maße Säuglinge und Kleinkinder, weitgehend aus den Tätigkeiten der Erwachsenen ausgeschlossen. Geschwister sind immer seltener, und der Kontakt zu anderen Kindern ist so spärlich geworden, dass die Kinder nicht mehr ausreichend die notwendigen sozialen Erfahrungen machen können. Die wenigsten Kleinfamilien können ihren Kindern genügend Erfahrungen für deren Sozialisierung und soziales Lernen vermitteln. Die Eltern können zur sozialen Entwicklung ihres Kindes wesentlich beitragen, wenn sie ihm auch gemeinsames Erleben mit anderen Bezugspersonen und Kindern ermöglichen.
Wie der Vater so der Sohn.
Dieser Aspekt wurde in der Vergangenheit vernachlässigt. Damit das Kind seine sozialen Kompetenzen ausbilden kann, benötigt es ausgedehnte zwischenmenschliche Erfahrungen. Nur so lernt es, dass Erwachsene und Kinder ihre individuellen Interessen und Eigenheiten haben, und entwickelt die Fähigkeit, mit unterschiedlichen Verhaltenseigenheiten und Kommunikationsstilen umzugehen. Um vielfältige soziale Erfahrungen machen zu können, braucht das Kind neben den Eltern weitere Bezugspersonen und Kinder unterschiedlichen Alters. Diese Erfahrungen können sehr viele Kinder heute in Kleinfamilien nicht mehr machen, leben doch im Mittel lediglich noch 1,3 Kinder in einer Lebensgemeinschaft.
Kleinkinder können alleine spielen, aber sie wollen vor allem mit Kindern zusammen sein. Fehlen ihnen andere Kinder, stellen sie an die Mutter, aber auch an andere Bezugspersonen Ansprüche, die diese nicht oder nur mit Mühe erfüllen können. Es ist für Erwachsene schwierig bis unmöglich, dem Kind die Erfahrungen mit anderen Kindern zu ersetzen. Es klingt hart für Eltern, ist aber deshalb nicht weniger wahr: Mutter und Vater allein können ihrem Kind nicht alle notwendigen Erfahrungen vermitteln. Kinder im Vorschulalter brauchen ausgedehnte und unterschiedliche Erfahrungen mit Erwachsenen und vor allem anderen Kindern.
Exploratives Lernen
Um die gegenständliche Welt zu begreifen, muss das Kind seine Umwelt intensiv erleben. Dabei setzt es sich aktiv mit Gegenständen auseinander, um Kenntnisse über die Beschaffenheit seiner Umwelt zu erwerben. Physikalische Eigenschaften wie Größe, Gewicht und Gestalt erfasst das Kind, indem es seinem Entwicklungsstand entsprechend mit den Gegenständen spielt. Eltern können ihrem Kind die materielle Welt nicht erklären. Dass ein Behälter gefüllt und durch Kippen entleert werden kann, wird das Kind selber herausfinden. Niemand kann ihm diesen Sachverhalt begreiflich machen. Allein Selbsterfahrung führt zum Begreifen.
„Alles, was wir einem Kind beibringen, kann das Kind nicht mehr lernen“ (Piaget). Eltern brauchen ihrem Kind weder zu erklären noch zu zeigen, was man alles mit einem Gegenstand anstellen kann. Das Kind will und kann es in seinem Spiel selbst herausfinden. Die Erfahrungen, die das Kind dabei macht, sind mindestens so wichtig, wie die Fertigkeit und das Wissen, welche es daraus gewinnt. Echtes Lernen ist selbstbestimmt. Es ist immer auch mit Versagen und Frustrationen, aber letztlich mit einer tiefen Befriedigung über die eigene Leistung verbunden: Ich habe es geschafft. Die Eltern dürfen das Kind aber auch nicht sich selbst überlassen. Indem sie dem Kind Gegenstände zum Spielen geben, die seinem Entwicklungsstand entsprechen, tragen sie wesentlich zum kindlichen Lernprozess bei. Ein 6-monatiger Säugling ist beispielsweise an Dingen interessiert, die sich beim Erkunden mit dem Mund und der Zunge unterschiedlich anfühlen. Im Alter von etwa 12 Monaten beginnt das Kind, Behälter mit verschiedenen Inhalten ein- und auszuräumen. Mit etwa 18 Monaten ist es vor allem an Gegenständen interessiert, die sich stapeln lassen. Aus seiner Sicht ist jeder Gegenstand, der für das Kind interessant ist, ein Spielzeug. Dabei kann der gleiche Gegenstand je nach Entwicklungsalter für das Kind eine unterschiedliche Bedeutung haben.
Kinder beschäftigen sich mit Gegenständen oft in einer Weise, die für Erwachsene unverständlich ist. So steckt der Säugling alle Dinge, deren er habhaft werden kann, in den Mund. Warum tut er das? Nimmt er an, es sei etwas Essbares? Eltern wundern sich nicht nur über das kindliche Verhalten. Sie stellen sich auch erzieherische Fragen: Ist das nicht unhygienisch? Könnte ihr Kind nicht ersticken, wenn es ständig Dinge in den Mund nimmt? Müssen sie ihr Kind davon abhalten?
Ein Säugling steckt Gegenstände in den Mund, weil er sie nicht über die Augen, sondern über den Mund kennenlernt. Indem er sie mit den Lippen und der Zunge betastet, erspürt er Form, Größe, Konsistenz und Oberfläche. Der Mund und nicht die Augen ist das erste Sinnesorgan im Umgang mit der dinglichen Umwelt. Es ist also geradezu eine Notwendigkeit, dass der Säugling Gegenstände in den Mund nehmen kann.
Einsicht in sein Verhalten hilft uns, das Kind gewähren zu lassen. Wenn wir verstehen, warum ein Säugling alles in den Mund nimmt, werden wir seinem Treiben nicht mehr mit unguten Gefühlen zuschauen oder gar versuchen, das Mundeln zu unterbinden. Wir überlegen uns vielmehr, welche Gegenstände geeignet und ungefährlich sind, um dem Kind diese Sinneserfahrung zu ermöglichen.
Kinder zeigen in den ersten Lebensjahren viele weitere Verhaltensweisen, die Eltern nicht ohne Weiteres verstehen. Wenn ein Kind in einem bestimmten Alter genussvoll Gegenstände vom Kindersitzchen auf den Boden wirft und einige Monate später mit Eifer Schubladen ausräumt, so ergeben diese Aktivitäten für das Kind Sinn, auch wenn dieser für Erwachsene nicht ohne Weiteres ersichtlich ist und sie sich vielleicht sogar über das kindliche Verhalten ärgern. Verstehen wir ein Verhalten nicht, sollten wir das Kind gewähren lassen, solange sein Spiel ungefährlich ist. Wir sollten immer davon ausgehen, dass das Spiel für das Kind sinnvoll ist, auch wenn wir dessen Bedeutung nicht immer einzusehen vermögen.
Erziehung
Eltern haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Kinder zu erziehen sind. Erziehen kann für sie bedeuten, das Kind darin zu unterstützen, seine Fähigkeiten zu entwickeln, und es zu unterweisen, damit es sich Fertigkeiten und Wissen aneignen kann. Für andere Eltern heißt Erziehen vor allem, dem Kind Regeln und Werte des sozialen Umgangs beizubringen und es damit zu einem sozialen Wesen zu machen, das von der Gemeinschaft angenommen wird und sich in dieser Gesellschaft durchsetzen kann. Erziehen bedeutet für die meisten Eltern auch, das Kind zu führen und über das Kind zu bestimmen. Unabhängig davon, für welchen Erziehungsstil sich die Eltern entscheiden, keine Mutter und kein Vater kommt um den Gehorsam herum. Auch die erfahrensten Eltern können nicht darauf verzichten, ihren Kindern Grenzen zu setzen. Und selbst den kompetentesten Eltern gehorchen die Kinder unterschiedlich gut. Neben dem Erziehungsstil der Eltern spielen das Alter und die Persönlichkeit des Kindes eine wesentliche Rolle. Es gibt Kinder, die von ihrem Wesen her leichter zu lenken sind und Aufforderungen eher nachkommen als andere. Besonders häufig müssen Eltern Grenzen setzen, wenn die Kinder 2 bis 5 Jahre alt sind.
Die Bedeutung, die Eltern dem Gehorsam in der Erziehung zuschreiben, wird durch vielerlei Faktoren geprägt. Neben gesellschaftlichen Erwartungen spielen Gespräche mit Verwandten und Freunden, Bücher und das Fernsehen eine wichtige Rolle. Dazu kommen die Erfahrungen und Wertvorstellungen, die Eltern als Kinder mit ihren Eltern gemacht und die sie – zumeist unbewusst – verinnerlicht haben. Und dann ist da noch ein mehr als 2000 Jahre altes Erbe jüdisch-christlicher Kultur, in der Gehorsam nicht nur Mittel zum Zweck, sondern der Zweck selbst, das eigentliche Erziehungsziel, war, wie folgende Zitate aus verschiedenen Jahrhunderten belegen.
„Wer sein Kind lieb hat, der hält es stets unter der Rute, dass er hernach Freude an ihm erlebe.“
Prophet Sirach, 30.1.
„Für die Erziehung ist Gehorsam notwendig, weil er dem Gemüt Ordnung und Unterwürfigkeit gegen die Gesetze gibt. Ein Kind, das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wird auch, wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und Regeln der Vernunft unterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt ist, nicht nach seinem eigenen Willen zu handeln. Dieser Gehorsam ist so wichtig, dass eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist, als die Erlernung des Gehorsams.“
J. G. Sulzer (1748)
„Man muss schon im fünften Lebensmonat beginnen, das Kind vom schädlichen Unkraut zu befreien.“
Daniel Schreber (1858)
Die Disziplin erlebt in der Erziehung derzeit eine Renaissance. Breite Kreise in der Bevölkerung wünschen sich wieder mehr Disziplin im Umgang mit Kindern. Dabei scheint es weniger um das Kindeswohl zu gehen als vielmehr darum, die Erziehungsarbeit für Eltern und Lehrpersonen möglichst effizient zu gestalten und die Kinder mit möglichst wenig Aufwand zu kontrollieren. Erzieherische Maßnahmen wirken sich aber nicht nur unmittelbar auf das kindliche Verhalten aus, sie haben immer auch langfristige Folgen. Werden Kinder mit der Disziplin früherer Zeiten erzogen, sind sie als Erwachsene oft zu autoritätsgläubig, wenig eigenständig, scheuen Verantwortung und ordnen sich, weil sie keine eigene Meinung haben, jeder Art von Obrigkeit in Gesellschaft und Wirtschaft unter. Kann das heute noch das Ziel unserer Erziehung sein?
Wie ungehorsam sind denn Kinder überhaupt? In der Schweiz wurde 2003 eine Umfrage zum Thema Erziehung bei 1240 Familien durchgeführt (Schöbi und Perrez). Etwas mehr als 70 Prozent der Eltern bezeichnen ihre Kinder im Alter von 1 und 7 Jahren als ungehorsam. Der höchste Wert liegt im Alter von 2,5 bis 4 Jahren. 50 Prozent der Eltern beklagen sich über schlechte Tischmanieren, Unhöflichkeit im sozialen Umgang und vor allem Schreien und Trotzreaktionen, wenn sie von den Kindern etwas Bestimmtes verlangen. Zudem wird bereits in den ersten 2,5 Jahren der zu hohe Fernsehkonsum (30 Prozent) der Kinder bemängelt, bei älteren Kindern zusätzlich Unordentlichkeit (45 Prozent) und ungenügende Lernbereitschaft (25 Prozent). Wenn wir davon ausgehen, dass Eltern in der Schweiz nicht weniger kompetent sind als in anderen Ländern, können wir aus der Studie den Schluss ziehen, dass Ungehorsam den Erziehungsalltag dominiert.
Diese Schlussfolgerung ist meines Erachtens falsch. Ich bin der festen Meinung, dass Kinder im Alltag überwiegend gehorchen. Wäre dem nicht so, wäre die Erziehung von Kindern ein Albtraum. Unserer bewussten Wahrnehmung scheint es zu entgehen, dass Kinder zumeist gehorchen. Wir nehmen ihr Einlenken als etwas Selbstverständliches hin. Wenn sich Kinder aber widersetzen, ärgern wir uns, und es bleibt in unserer Erinnerung haften.
Warum gehorchen Kinder? Es ist zumeist nicht die Angst vor irgendeiner Strafe, es gibt weit gewichtigere Gründe.
„Beziehung kommt vor Erziehung“ (Petri). Der wohl wichtigste Grund für den kindlichen Gehorsam ist, dass das Kind die Bezugsperson, die von ihm etwas verlangt, mag und sie nicht enttäuschen will. Es leistet ihren Aufforderungen Folge, weil es ihre Liebe und Zuwendung nicht verlieren will. Die positive emotionale Abhängigkeit macht das Kind gehorsam. Wenn der Vater mit seinem 4-jährigen Sohn den Samstagnachmittag verbracht hat und sie beide eine gute Zeit miteinander hatten, kann er ihm mit wenig Aufwand ausreden, den Fernseher anzumachen. Kommt der Vater jedoch nach einem langen Arbeitstag abends nach Hause und verbietet beim ersten Kontakt dem Sohn das Fernsehen, wird er dies als Ablehnung empfinden und den Vater in eine Auseinandersetzung verwickeln. Je besser die Beziehung zur Bezugsperson und die emotionale Verfassung des Kindes sind, desto größer ist seine Bereitschaft einzuwilligen.
Was auch immer Eltern tun, eine Maßnahme ist umso wirksamer, je mehr die Grundvoraussetzung der kindlichen Erziehung gegeben ist: Das Kind fühlt sich von der Bezugsperson angenommen. Es ist diese positive emotionale Abhängigkeit und weniger die erzieherische Maßnahme, die das Kind dazu bringt, der Bezugsperson zu folgen. Die Eltern sollten daher immer versuchen, was oft schwierig ist, die momentane Beziehungssituation und die emotionale Befindlichkeit des Kindes mitzuberücksichtigen.
Ein weiterer wichtiger Grund, weshalb ein Kind gehorcht, ist, dass die elterliche Forderung dem kindlichen Bedürfnis nach Selbstbestimmung Rechnung trägt. Jedes Kind hat den tiefen Drang, über sich zu bestimmen und selbstständig zu werden. Bereits das Neugeborene will, wenn auch in einer begrenzten Weise, selbstständig sein. Es möchte mitbestimmen, wann und wie viel es trinken, ob es schlafen oder wach sein soll. Sobald der Säugling greifen kann, hat er seine eigenen Absichten, wie er mit den Gegenständen umgehen will. Beginnt das Kind, sich fortzubewegen, hat es seine eigenen Ziele, wohin es krabbeln oder laufen will.
Dies bedeutet keineswegs, dass das Kind vom ersten Tag an allein bestimmend sein will und auch sein soll. Etwa im Sinne einer falsch verstandenen antiautoritären Erziehungshaltung: „Lassen wir das Kind ganz einfach machen. Das Kind weiß schon, was ihm guttut.“ Eine solche Haltung wird gelegentlich für das Stillen vertreten. Das Kind allein soll entscheiden, wann und wie viel es trinken will. Manche Kinder entwickeln sich auf diese Weise prächtig. Andere trinken aber von sich aus nicht ausreichend. Wieder andere haben selbst nach Monaten noch einen unregelmäßigen Tagesablauf, wachen nachts auf, sind verstimmt und schreien viel. Diese Kinder brauchen Eltern, die ihnen helfen, einen regelmäßigen Rhythmus aufzubauen und nachts durchzuschlafen.
Was für das Stillen gilt, trifft auch auf andere Bereiche zu: Gleichaltrige Kinder sind in ihren Anlagen verschieden und unterschiedlich weit entwickelt. Eine Erziehungshaltung, die für alle Kinder die richtige wäre, gibt es daher nicht. Während einige Säuglinge in ihrem Trinkverhalten schon so weit sind, dass sie selber Menge und Zeitpunkt der Mahlzeiten bestimmen können, sind andere noch auf die Hilfestellung der Eltern angewiesen. Es ist eine große erzieherische Herausforderung zu spüren, in welchen Situationen und bei welchen Aktivitäten das Kind kompetent ist und selbstbestimmt handeln kann und in welchen die Eltern noch Verantwortung übernehmen müssen.
Ist das Kind kompetent, soll es auch bestimmen dürfen. Hindern es die Eltern daran, eine Tätigkeit auszuführen, die es ausüben kann, entmutigen sie es und machen es unselbstständig. Ist das Kind jedoch nicht kompetent, müssen die Eltern bestimmen. Verlangen die Eltern vom Kind eine Tätigkeit, die es noch nicht ausführen kann, überfordern sie es. Unter- wie auch Überforderung wirken sich nachteilig auf das Selbstwertgefühl des Kindes aus.
Eine Frage, die sich in der Erziehung immer wieder aus Neue stellt, lautet: Ist das Kind wirklich ungehorsam, oder haben wir Erwachsene falsche Erwartungen? Falsche Erwartungen und Vorstellungen gab und gibt es zweifellos. Noch die Generation der Großeltern interpretierte Schreien in den ersten Lebensmonaten als ungehörig. Es musste den Kindern schleunigst ausgetrieben werden, damit diese zukünftig nicht immer ihren Willen durchsetzen wollen. Heute noch meinen Eltern viel zu früh, dass ihre Kinder eine Vorstellung von Ordnung und Unordnung haben. Solche Erwartungen überfordern die Kinder, als Relikte veralteter Erziehungshaltungen erscheinen sie den Eltern jedoch wichtig. Eltern sollten sich immer wieder fragen, ob die Anforderungen, die sie an ihr Kind stellen, entwicklungs- und kindgerecht sind.
„Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“ (Fröbel). Viele Verhaltensweisen, die sich Eltern bei ihrem Kind wünschen, können sie mit wenig Aufwand erreichen. Sie müssen sich lediglich vorbildgerecht verhalten. Kinder haben eine ausgesprochene Neigung, das Verhalten ihrer Bezugspersonen zu übernehmen. Wenn sich die Eltern vor jedem Essen in Anwesenheit des Kindes die Hände waschen, wird das Kind dieses Verhalten übernehmen. Sie müssen das Kind nicht dazu anweisen. Wenn die Eltern mehr als 3 Stunden pro Tag fernsehen, was in unseren Breitengraden den Durchschnitt darstellt, ist es für sie schwierig dem Kind plausibel zu machen, weshalb gerade es möglichst wenig fernsehen soll.