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Bodensee-Saga

Die große Familiensaga von Bestsellerautorin Gaby Hauptmann

Die Frauen am See

Mutige Frauen, gefühlvolle Liebesgeschichten und der zauberhafte Bodensee

Blick ins Buch
Hoffnung auf eine glückliche ZukunftHoffnung auf eine glückliche ZukunftHoffnung auf eine glückliche Zukunft

Die Frauen vom See

Mutig und unbeirrbar – eine Frau und ihr Lebenstraum

Am Bodensee, es ist 1913. Anna muss die Familie verlassen, da ist sie gerade dreizehn. Doch sie ist zielstrebig und selbstbewusst genug, um ihr Schicksal in beide Hände zu nehmen. Und als sie August kennenlernt, der sich auf der Stelle in ihre frische Art verliebt, scheint ihr Glück perfekt.

Bald stürzen die beiden sich in ein großes Abenteuer und kaufen sich einen alten Gasthof am See: ein Abenteuer, von dem sie nicht ahnen, wie groß es werden wird. Denn die Familie wächst – und es kommen Inflation und Krieg. Anna weiß nur eins: August und sie werden den Gasthof um keinen Preis aufgeben ...

Eine einzigartige Heldin und der Anfang einer furiosen Bodensee-Saga!

„Gaby Hauptmann entführt mich an einen meiner Sehnsuchtsorte: ihre Bodensee-Saga ist ein mitreißendes, spannendes und ganz und gar emotionales Lesevergnügen, das man sich nicht entgehen lassen darf.“ Gisa Pauly

„Neben der abwechslungsreichen und mitunter (...) ziemlich spannenden Handlung erfreut das Buch nicht zuletzt durch die sympathischen und sehr nachvollziehbaren Beschreibungen.“ Südkurier

Über Nacht hatte es noch einmal geschneit. Der Frühling brauchte hier oben immer länger als anderswo. Der Wind pfiff über die Hochebene und trieb den frisch gefallenen Schnee wie einen feinen weißen Schleier vor sich her.

Anna war aus der Tür getreten und schob sich das schwere Schultertuch schützend über ihre Haare, dann drehte sie sich zu ihrer Mutter um, die hinter sie getreten war, einen kleinen Koffer in der Hand.

„Gott schütze dich, mein Kind“, sagte sie, Tränen in den Augen. Anna nickte, sprechen war ihr nicht möglich. Es war der Abschied, vielleicht für immer.

Sie bückte sich nach dem Koffer und ging ihrem Bruder entgegen, der den Braunen angeschirrt hatte, um sie mit ihrem kleinen Pferdefuhrwerk nach Tuttlingen zum Bahnhof zu bringen. Der Braune schnaubte, und es bildeten sich Wölkchen in der kalten Luft. Anna spürte, wie ihr Herz schwer wurde. Ihre Familie, der Hof, das Pferd – alles hatte sie seit ihrer Geburt begleitet. Dreizehn Jahre lang. Und nun sollte sie einfach gehen?

Sie drehte sich ein letztes Mal zu ihrem Elternhaus um. Ihre Mutter stand noch in der Tür, hob die Hand. Sie war erst 53 Jahre alt, doch selbst aus der Entfernung war ihr das harte Leben auf dem einsamen Gehöft anzusehen. Elf Jahre schon Witwe.

Annas Bruder schnalzte. Die Aufforderung galt ihr, nicht dem Braunen. Anna riss sich von dem Bild los. Es würde ihr ewig in Erinnerung bleiben, das wusste sie jetzt schon. Das verschneite Haus, die Mutter, ihre letzte Geste, ihre Einsamkeit.

Sie kletterte zu Johann hoch auf das Sitzbrett, das er mit einer schnellen Handbewegung vom Schnee befreite. Er lächelte ihr zu, ein schiefes Lächeln unter seiner Schiebermütze.

„Dann auf“, sagte er. Der Braune zog an, und Anna musterte ihn von der Seite. Auch er sah älter aus, als er mit seinen 23 Jahren war.

„Was ist?“, fragte er und blinzelte ihr zu.

„Du siehst gut aus“, stellte Anna fest. Das stimmte. Sein Gesicht war kantig, sein Bart, in dem sich nun die Schneeflocken sammelten, männlich dicht, sein Körper kräftig. Ganz der Jungbauer, der alles im Griff hatte.

„Und das Mädchen aus Mühlheim?“, fragte Anna.

Vielleicht war ihr Bruder an einem Tag wie heute ja weniger wortkarg als sonst.

„Barbara?“

Anna nickte. „Wenn ihr heiratet, schreibst du mir dann?“

Johann kniff die Lippen zusammen. „Wohin?“

Sie wusste es selbst noch nicht. Der Pfarrer hatte ihr diese Stelle vermittelt. „Steckborn“, hatte er nach dem Gottesdienst zu ihrer Mutter gesagt. „Das ist eine Gemeinde am Untersee. In der Schweiz. Sie wird es dort gut haben.“

Und Anna wusste, was ihre Mutter in diesem Moment gedacht hatte: ein Esser weniger. „Ich schreib euch. Wenn ich dort bin“, sagte sie schnell.

Dann sahen sie beide wieder nach vorn. Wie der Braune sich mühte, den ausgefahrenen Weg zu finden. Und in Trab fiel, als es endlich bergab nach Mühlheim ging. Der Tag war bleigrau, trotzdem ragte die Kirchturmspitze klar in den Himmel. Anna betrachtete im Vorbeifahren das Kreuz und malte es sich dann unwillkürlich auf die Stirn.

„Es wird schon gut gehen.“ Johann sah ebenfalls zum Kirchturm hinüber. „Ende April“, sagte er. „Und wir haben Schnee. Vielleicht kann er ja machen, dass es bald Frühling wird und wir mit der Aussaat beginnen können.“

„Dafür ist er nicht da“, sagte Anna.

Johann zuckte mit den Schultern. „Praktisch wäre es schon.“

 

Eineinhalb Stunden hätte der Fußmarsch nach Tuttlingen bedeutet, nun waren sie nach kurzer Zeit, so empfand es Anna, bereits kurz vor der Stadt.

„Hast du schon mal so eine Dampflok gesehen?“, wollte Anna wissen und zog sich das wollene Schultertuch über der Brust enger zusammen. Sie fror. Aber mehr innerlich, denn ihr langer Webmantel wärmte sie gut.

„Aber klar doch!“

„Und weißt du, wo wir hinmüssen?“

„Den Bahnhof gibt es schon seit über vierzig Jahren. Werden wir wohl finden.“

„Was du alles weißt“, staunte Anna.

„1869 erbaut“, präzisierte Johann, und auf Annas ungläubigen Blick lachte er. „Ich war schon ein paarmal da. Ware holen. Franz kennt den Bahnhof auch.“ Er nickte nach vorn zu dem Braunen hin, der wieder in Schritt gefallen war. „Diese Dinger zischen, pfeifen und qualmen. Eiserne Ungetüme. Aber du kennst ja unseren Franz …“

 

Ja, sie kannte den Franz seit ihrer Kindheit. Wie oft hatte sie sich im Stall an ihn gekuschelt, in sein dickes Fell hineingeschnüffelt, seine warmen Nüstern gestreichelt. Was hatte sie ihm alles erzählt, ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Nöte. Franz war der unerschütterliche Fels in der Brandung, sein Gemüt war wie sein breiter Rücken und die stämmigen Beine – nichts konnte ihm was anhaben. Er war ihr Freund. Auch dieser Abschied tat weh. Anna zog die Nase hoch. Johann legte in einer brüderlichen Geste den Arm um sie und drückte sie an sich.

„Es war Mutters Entscheidung“, sagte er. „Und du wirst sehen, es ist eine gute Entscheidung.“

Anna nickte.

Glauben konnte sie es nicht.

 

Und dann waren sie am Bahnhof. Anna fand schon allein das Gebäude beeindruckend, von den vielen Fuhrwerken, Kutschen und Menschen ganz zu schweigen. Unheimlich, ja, sie fand alles unheimlich und hielt sich deshalb dicht an Johann, der Franz mit angezogener Fuhrwerkbremse einfach im dichten Getümmel hatte stehen lassen. Er warf ihr einen aufmunternden Blick zu, während er zielstrebig in das Gebäude und dort zu einem Schalter ging, hinter dem ein grimmig aussehender Mann in Uniform saß. Anna ließ ihn nicht aus den Augen und wartete ab, bis er zu ihr zurückkehrte. „Dein Fahrschein bis nach Schaffhausen“, sagte er und drückte ihr ein kleines Stück bedruckter Pappe in die Hand. „Verlier es nicht. Und in Schaffhausen musst du das Schiff finden. Bis nach Steckborn. Der Pfarrer hat dir ja alles genau erklärt. Und aufgeschrieben.“

Anna nickte und dachte: Wenn ich jetzt schon Angst habe, wie soll es erst werden, wenn ich alleine bin?

„Vergiss nicht“, erinnerte Johann eindringlich. „Du bist 13 Jahre alt. Du bist schon groß!“

Anna nickte.

„Und es sind deine Glückszahlen. Heute ist der 13. April. Dazu 1913! Und du bist 13! Das sind deine Zahlen! Besser geht es nicht!“

Anna nickte noch einmal und widerstand dem starken Drang, einfach umzukehren und sich mit Franz auf den Heimweg zu machen.

 

Zwanzig Minuten später saß sie kerzengerade auf einer Holzbank und blickte im Zugabteil angestrengt aus dem Fenster, hinaus auf die schnell vorbeiziehende Landschaft. Es war laut, es rumpelte, und der dunkle Rauch der Lok verschleierte immer mal wieder ihre Sicht. Ihr gegenüber saß ein Mann, der Zeitung las und zwischendurch einen Blick auf sie warf. Anna spürte es, wagte aber nicht, den Blick zu erwidern. In den sich leicht spiegelnden Scheiben musterte sie seinen dunklen Anzug. Alles war Furcht einflößend. Von dem Zylinder, den er neben sich gelegt hatte, über den Stehkragen mit der Krawatte bis zu den polierten schwarzen Schuhen wirkte er wie aus einer anderen Welt. Dazu sein Gehstock mit einem silbernen Knauf. Einem Löwenkopf. So etwas hatte Anna noch nie gesehen. Immerhin lenkte es sie von ihrer ungewissen Zukunft ab, vor allem, als er plötzlich die Zeitung anhob und mit seinem behandschuhten Zeigefinger auf eine Stelle tippte.

„Genau, was ich immer sage!“

Anna war sich nicht sicher, ob er sie angesprochen hatte oder eine der Frauen, die ihm schräg gegenübersaßen, deshalb reagierte sie nicht.

„Hier steht es auch“, er hob das Blatt etwas an. „Zur Ausfahrt aus Elternhaus und Schule ins Leben.“ Er schwieg bedeutungsvoll. „So ist die Überschrift. Und hier …“, nun war klar, dass er Anna meinte, „für die Jugend, die nun der Schule entwachsen ist. Hier steht: ›Es hilft, wenn die Jugend daran gewöhnt wird, zu erfassen, dass es für die Tüchtigkeit eines Menschen weniger darauf ankommt, welchem Beruf er sich zuwendet, sondern darauf, dass ihm überhaupt rege Betätigung des Geistes, der Sinne und des Körpers recht eigentlich zur zweiten Natur, zum unabweisbaren Bedürfnis wird.‹“ Er wartete kurz ab, Anna wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte, eine der Frauen neben ihr bestätigte das Gehörte. „Ja, das ist wohl wahr!“

„Es geht noch weiter. Achtung“, sagte er und schob sich gewichtig seine Brille hoch. „›Wir sollen früh von der Überzeugung durchtränkt werden, dass unsere Zeit eine Zeit der Arbeit ist, die Zierbengel und Zierpuppen als faule Früchte auf dem Acker des Lebens unbarmherzig in den Winkel stellt. Arbeitslust ist der beste Führer durchs Leben. Junge Leute, die gehätschelt wurden, haben es schwer, voranzukommen!‹“

Gehätschelt. Anna sah den Hof vor sich. Das Wasser hatte sie Tropfen für Tropfen bis vor wenigen Jahren noch von einer tiefer gelegenen Quelle holen müssen. Der Weg war weit, steil und gefährlich, besonders bei Regen oder im Winter. Der alte Schafstall musste ständig geflickt werden, die kargen Felder bestellt, die Pacht an die Stadt Mühlheim ließ ihre Mutter oft ächzen. Einmal war Anna nachts hinuntergegangen, um etwas Wasser zu trinken, da hatte ihre Mutter unter dem fahlen Gaslicht auf der Küchenbank gesessen, den Kopf zwischen ihren Armen auf dem Tisch und so gotterbärmlich geweint, dass nicht nur ihre Schultern gezuckt, sondern der ganze Körper gebebt hatte. Anna würde nie vergessen, wie sie leise zu ihrem Strohsack zurückgeschlichen war und die ganze Nacht wach gelegen hatte.

Gehätschelt! Sie sah auf, und ihr Blick traf genau auf den ihres Gegenübers.

„Verzeihen Sie“, sagte sie und spürte, wie ihre Stimme bebte. „Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man gehätschelt wird.“

Er antwortete zunächst nicht, und Anna überlegte, ob sie wohl vorlaut gewesen war? Das war Erwachsenen gegenüber eine Untugend, zumindest hatte ihnen das ihr Lehrer eingetrichtert. Wenn nötig mit dem Rohrstock.

„Das Fräulein kommt vom Land?“ Er beugte sich etwas zu ihr vor. War ihr das so direkt anzusehen? Sie schaute zu den beiden Frauen hinüber. Beide hatten dicke Wintermäntel an, die nur die geknöpften, feinen Stiefeletten sehen ließen. Die eine trug einen schräg aufgesetzten, hellbraunen Hut mit einer Stoffrose über dem Ohr, die andere einen dunkelgrünen Wollhut, der wie ein Topf aussah. Beide schienen am Fortgang der Geschichte interessiert zu sein, sie hatten sich dem Zeitung lesenden Herrn und ihr zugewandt. Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Man erkennt es an den Schuhen.“ Er deutete auf ihre schweren, genagelten Stiefel. Ihr ganzer Stolz.

„Die sind beste Qualität“, sagte sie deshalb. „Vom Schuhmacher. Der, der auch unseren Franz beschlägt. Er kann einfach alles.“

Eine der Frauen kicherte.

Anna warf ihr einen Blick zu. „Mit solchen Schuhen kommen Sie bei uns jedenfalls nicht weit“, sagte sie und deutete auf die feinen Lederstiefeletten. „Da bleiben Sie gleich stecken!“

„Ich habe nicht die Absicht“, gab die Dame spitz zurück, während sich der Mann ihr gegenüber über seinen Schnurrbart strich. Fast schien er amüsiert.

„Nun, dann scheint dieser Artikel nicht für Sie geschrieben zu sein. Sie kennen Ihren Weg. Und der führt … wohin?“

Anna war sich nicht sicher, ob sie das preisgeben sollte. Aber so viel ging dann wohl schon: „Nach Schaffhausen.“

„Eine schöne Stadt.“ Er faltete die Zeitung zusammen. „Waren Sie schon mal in einer so großen Stadt wie Schaffhausen?“

Anna schüttelte den Kopf.

„Dann passen Sie auf, dass Sie nicht verloren gehen.“

 

Das Gefühl hatte sie dann aber doch, als sie mit ihrem Koffer in Schaffhausen ausgestiegen und im Stationsgebäude ratlos stehen geblieben war. Es war dort so warm, dass sie ihr Schultertuch abnahm und den Mantel aufknöpfte. Vom Schnee am Kraftstein keine Spur mehr. Anna kam ins Schwitzen, aber auch deshalb, weil sie nicht weiterwusste. In welche Richtung sollte sie gehen, wohin sollte sie sich wenden? Sie konnte kein Hinweisschild entdecken. Wo war denn der Rhein, wo waren die Schiffe? Von hier aus waren nur Hausdächer zu sehen. Sie nahm den Brief heraus, den ihr der Pfarrer mitgegeben hatte. Dort stand sorgsam aufgeschrieben:

In Schaffhausen angekommen, folgst du diesem Weg:

Über die Poststraße durch die Schwertstraße, am Mohrenbrunnen vorbei, diesen genau betrachten: der Mohr repräsentiert Kaspar, einen der drei Heiligen Könige, anschließend den Fronwagplatz überqueren, dann in die Vordergasse einbiegen. In der geschäftigen Gasse keine Begehrlichkeiten wecken lassen, am Rathaus vorbei, erkennbar an der Statue eines Schafbocks, der aus einem Turm springt, dann weiter, die Gasse hinunter über den Fischmarkt an der St. Johannkirche vorbei. Du hast rund zwei Stunden Zeit, also bete dort ein Weilchen für die Seele deines verstorbenen Vaters. Über den Gerberbach gelangst Du in die Unterstadt, dann, nach wenigen Minuten, bist du an der Schiffslände. Dort fährt um 4 Uhr die Arenaberg ab. Das Schiff heißt wirklich so, ist benannt nach einem Schloss am Bodensee. Die Fahrt zahlst du von dem Geld im Umschlag. In Steckborn erwartet dich dann Pfarrer Zeller und bringt dich zu deinem neuen Arbeitsplatz. Vergiss nicht, dich artig bei ihm zu bedanken. Er hat alles arrangiert.

 

Poststraße, dachte Anna. Wo finde ich die jetzt?

Nachdem die Lok keuchend und dampfend weitergefahren war und Anna freie Sicht hatte, schaute sie sich erschrocken um. Der Verkehr in Tuttlingen war ihr schon als sehr extrem erschienen, doch das hier war einfach unvorstellbar. Wie gern hätte sie nun Johann an ihrer Seite gehabt. Nicht nur um sich von ihrem großen Bruder an die Hand nehmen zu lassen, sondern auch um das alles mit ihm zu erleben.

Vor ihr war kaum ein Durchkommen, so dicht fuhren die Kutschen und Fuhrwerke … und Automobile. Eines hupte, und sie sprang erschrocken zur Seite, dabei war nicht sie im Weg, sondern eine alte Frau, die eben die breite Straße überqueren wollte. Sie blieb einfach stehen. Zu ihren Füßen glitzerte etwas, und Anna erkannte Schienen. Schienen mitten zwischen den gepflasterten Steinen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Von Straßenbahnen hatte sie zwar schon gehört, aber die wurden von Pferden gezogen.

Eine Frau neben ihr, mit weißer Rüschenschürze und zwei voll beladenen Körben in den Händen, erschien ihr so vertrauenerweckend, dass Anna sie ansprach. Aber ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte sie Mühe, Anna zu verstehen. Und als sie antwortete, ging es Anna ebenso. Was hatte sie gesagt? Sprach sie eine andere Sprache? Anna versuchte es mit Händen und Füßen, was die andere mit einem Lächeln quittierte, dann zeigte sie ihr mit ausgestrecktem Arm die Richtung. „Schiffländi!“, sagte sie dazu.

Das verstand Anna, und sie nickte heftig. Das Problem war, dass sie dazu diese Straße überqueren musste, aber sie tat es einfach direkt hinter der Unbekannten und kam unbeschadet auf die andere Seite.

Zehn Minuten Fußweg, hatte ihr der Pfarrer gesagt. Vom Stationsgebäude bis zur Schiffsanlegestelle.

Schon vor dem ersten großen Schaufenster blieb sie stehen. Dieses Kleid, das an einer großen Holzpuppe präsentiert wurde, war einfach unfassbar schön. Der lange blaue Rock mit der hohen Taille, dazu der passende große Hut und sogar die knöchelhohen Stiefeletten, die sie so ähnlich bereits an den beiden Damen im Zug gesehen hatte. Ebenso wie von einem anderen Stern erschienen ihr die Kinderkleider daneben. Ein Mädchen, ein Junge, auch in feinstem Tuch, das Mädchen in einem hellen, gebauschten Kleid mit rosaroten Schleifen, der Junge in knielangen Hosen und einer feinen blauen Weste. Anna dachte an ihre eigenen Kleider, weitervererbt von ihren größeren Schwestern. Und ihre Brüder tagein, tagaus in praktischen Lederhosen, eine nach der anderen an den jüngeren weitergegeben.

Sie riss sich los. Doch sie kam nicht viel weiter. Diesmal war es eine Apotheke, die sie stehen bleiben ließ. Was es hier alles gab! Kleine Glasgefäße und Keramiktöpfe mit Salben und Cremes, alles sorgfältig beschriftet. Daneben Seifen und hübsche Flakons mit Parfum, Tinkturen und Elixieren, als Heilmittel für eine ganze Reihe von Beschwerden, auf einer kleinen Tafel genau beschrieben – und wunderliche Apparate, Instrumente, von denen Anna nicht wusste, wozu sie gut sein könnten. Besonders interessant aber fand sie die vielen Bündel getrockneter Pflanzen und Kräuter, die sie alle kannte und die ihre Mutter auch immer sammelte. Damit ließ sich also Geld verdienen. Das sollte sie ihrer Mutter schleunigst schreiben.

Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Sie war erst einige Häuser weit gekommen, die Zeit lief ihr davon. Aber wann würde sie jemals wieder Gelegenheit haben, so etwas zu sehen? Sie nahm ihren Rock etwas hoch, denn auch hier lagen Pferdeäpfel im Weg, und um sie herum waren die Menschen hektisch zu Fuß oder mit Fahrrädern unterwegs. Alle hasteten einem unbekannten Ziel entgegen. Die Einzige, die Zeit zu haben schien, war sie, die junge Anna. Und schon wieder kam sie nicht weiter. Diesmal war es offensichtlich ein Geschäft für Haushaltswaren. Aber was für welche!

Es hätte nicht viel gefehlt und Anna hätte sich die Nase am Schaufenster platt gedrückt, denn hier gab es Geschirr, von dem sie auf dem Kraftstein nur träumen konnten. Das heißt, bisher hatte sie so schön gearbeitete, mit feinen Blumen verzierte Porzellanteller und Tassen, Schüsseln und Platten noch nie gesehen. Dazu Silberbesteck, Tischdecken, ein silberner Kerzenleuchter … das Schaufenster sah aus, als sei ein Tisch für eine Märchenprinzessin gedeckt worden. Sie konnte sich einfach nicht sattsehen. Und im Schaufenster gleich daneben handgefertigte Holzutensilien und emaillierte Töpfe und Pfannen. Alles auf einem Herd drapiert. Alleine dieser Herd … er war aus weiß emailliertem Metall und besaß vorn eine Klappe. War das der Backofen? Wie wurde er beheizt?

Am liebsten wäre sie in das Geschäft hineingegangen und hätte gefragt. Sie musste sich das unbedingt merken und später in einem Brief beschreiben und am besten auch zeichnen. Überhaupt musste sie sich das alles einprägen. Und von ihrem ersten Geld würde sie ihrer Mutter etwas Schönes schenken. Etwas, das es in ihrer Heimat noch nicht gab. Vielleicht einen der zierlichen Flakons mit einem feinen Duft. Was das wohl kosten würde? Sie wusste ja nicht einmal, wie viel sie verdienen sollte. Würde das Geld für so etwas reichen?

Ein Junge rempelte sie an, einen schweren Sack auf dem Rücken. Er fluchte kurz in einer Sprache, die sie nicht verstand, gab dem gefüllten Jutesack einen Stoß mit dem Rücken, sodass er seine Position etwas veränderte, warf ihr noch einen kurzen Blick zu und ging weiter. Er war etwa in Annas Alter gewesen. Aber seine Kleidung war genauso, wie sie es von daheim kannte. Alt und aufgebraucht. Es gab hier also nicht nur Reichtum, wie man angesichts der vielen adrett gekleideten Menschen meinen sollte.

Doch dann! Eine von oben bis unten bemalte Hausfassade! Anna blieb mitten auf der Straße stehen. Eine solche Bilderfülle kannte sie nur aus der Kirche. Aber hier, schon ziemlich abgeblättert und trotzdem noch gut zu erkennen, Figuren über Figuren. Ritter, so wie es aussah – und ganz oben, sie war instinktiv versucht, das Kreuz zu schlagen, eine nackte Frau. Splitternackt! Übergroß auf einer Hauswand, sodass sie jeder sehen konnte.

Was der Pfarrer wohl dazu sagen würde? Sich selbst nackt anzuschauen sei unkeusch, hatte er stets gepredigt. Sich nackt selbst anzufassen, undenkbar. Von der Sünde, jemand anderen anzufassen, ganz zu schweigen. Anna stockte der Atem. Das konnte sie niemandem erzählen, keiner würde es ihr glauben!

Sie sah sich um, aber niemand schien sich für diese Unmoral zu interessieren. Die Menschen eilten weiterhin an ihr vorbei, manche, und das fiel ihr jetzt erst auf, in einer Art Tracht. Die einen waren einfach nur schlicht angezogen, meist junge Frauen in dunklen Kleidern aus grobem Tuch, knöchellang und mit langen Ärmeln. Dazu trugen sie kleine weiße Hauben und weiße Schürzen. Andere trugen eine Art Uniform, Kleider, an denen die weißen Spitzen bereits eingearbeitet waren. Vielleicht waren das Dienstmädchen? Anna fragte sich, wie sie selbst wohl an ihrem neuen Arbeitsplatz gekleidet sein würde? Und würde sie auch Besorgungen erledigen, wie es diese Frauen mit ihren Körben und Krügen taten, oder würde sie ausschließlich im Haus beschäftigt sein?

Sie wollte nicht so genau darüber nachdenken, denn es machte ihr Angst. Fremde Menschen, ein fremdes Haus, würde sie bestehen können?

Sie schaute sich weiter um, bis ihr Blick auf eine Festung fiel. Sie betrachtete die schweren Steine der Burg mit leichtem Schaudern. Nur gut, dass es keine wilden Horden mehr gab, die Städte und Höfe überfielen und Menschen in feuchte Verliese warfen.

Anna zog ein weiteres Mal die Wegbeschreibung hervor, um sich im Gewirr der abzweigenden Straßen und Gassen zu orientieren. Ah, die Kirche. Sie hatte ihren Vater zwar kaum gekannt, er war gestorben, als sie zwei war, doch der Pfarrer hatte sicherlich recht. Beten sollte sie dort für ihn. Was nur, wenn sie durch ihre Bummelei das Schiff verpassen würde? Sicher gab es in Steckborn auch eine schöne Kirche, da wäre ein Gebet für das Seelenheil ihres Vaters genauso viel wert.

Einzig an einem Geschäft für Schreibwaren blieb sie noch kurz stehen. Wunderschöne handgebundene Tagebücher waren in der Auslage zu sehen, daneben verschiedene Federhalter und kleine Tintenfässchen. Anna schrieb und zeichnete gern. Und mehr noch als ein neues Kleid wünschte sie sich so ein Tagebuch. Ein Buch nur für sie alleine, in das sie alles, was sie bewegte, hineinschreiben könnte. Und dann verschließen. Sie hatte ja Franz nicht mehr. Wem sollte sie nun all die Dinge, die ihr so durch den Kopf gingen, anvertrauen?

Kurz entschlossen betrat sie das Geschäft. Eine beleibte Frau mittleren Alters erkundigte sich mit etwas skeptischem Blick nach ihren Wünschen. Doch dann musste sie über die Begeisterung lächeln, mit der Anna die verschiedenen Formate ansah und zärtlich mit den Fingerkuppen über die Einbände strich. „Sie schreiben gern?“, fragte sie so langsam, dass Anna ihren Dialekt verstand. Sie nickte heftig. „Ja“, sagte sie. „Schreiben ist meine Leidenschaft!“

„Da gibt es hier in der Nähe am Untersee noch einen. Der hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. Hermann Hesse. Kennen Sie ihn?“

Anna schüttelte den Kopf, nahm sich aber vor, sich diesen Namen zu merken. „Schreiben als Beruf“, sagte sie leise, „das würde ich mir wünschen.“

„Wer weiß, was noch kommt“, sagte die Frau, begleitete sie zur Tür und schenkte ihr einen schönen, angespitzten Bleistift.

„Kommen Sie einfach wieder.“

„Was kostet denn so ein schönes Tagebuch?“

„Zwei Franken.“

Zwei Franken! Anna hatte keine Ahnung, wie viel das in Mark sein könnte, aber es hörte sich teuer an.

„Ja, wenn ich genügend Geld habe.“

„Sie sind noch jung. Es wird schon klappen!“

Anna bedankte sich vielmals, hielt beseelt den schönen Bleistift in der Hand und verließ freudig lächelnd das Geschäft. Ja, sie würde es schaffen. Eines Tages könnte sie sich bestimmt ein solches Tagebuch kaufen.

 

Sie war schneller am Rhein als gedacht. Ein großer Platz mit einem Brunnen, dahinter ein Ungetüm von einem Schiff. Größer als die Eisenbahn, so kam es ihr jedenfalls vor. Ein halbrunder Kreis prangte wie ein gemaltes Schaufelrad an der Seite, darin stand groß und deutlich: Arenaberg.

Das war sie also, die Arenaberg. Am Bug saßen schon recht viele Leute an Deck, hinter dem hohen Schornstein war ein großes Tuch gespannt worden, darunter schienen noch Plätze frei zu sein. Eine Frau mit einem Kinderwagen stand am Kai und unterhielt sich mit einem Mann in Uniform. War dies der Schaffner wie im Zug? Oder ein Polizist? Anna kannte sich nicht aus. Hier war alles anders. Die Sprache, die Währung – und wahrscheinlich sahen auch die Polizisten anders aus.

Anna kramte nach dem Briefumschlag und hielt die Luft an, als sie ihn nicht gleich fand, endlich zog sie ihn aus ihrer Umhängetasche und atmete durch. Mit ihrem Koffer fest in der Hand ging sie auf die Arenaberg zu. Das war nun die letzte Etappe! Dann war sie am Ziel!

Ein breiter Steg führte an Deck des Schiffes, aber er schwankte leicht, und Anna klammerte sich erschrocken an das Geländer.

„Keine Angst, Fräulein“, ein stattlicher Mann mit Kaiser-Wilhelm-Bart streckte ihr seine Hand entgegen, „gleich haben Sie es geschafft!“

Er nahm den abgezählten Fahrpreis entgegen und riet ihr dann, sich, wegen des Qualms aus dem Schornstein, nach vorn zu setzen. „Vor allem die Damen, wegen des schönen Teints“, sagte er und zupfte vergnügt an einem Schnurbartende.

Anna war sich nicht sicher, ob das anzüglich war, so bedankte sie sich schnell und suchte sich auf dem vollen Vorderdeck einen Platz. Und hatte Glück, denn eine füllige Dame stand eben auf, strich sich ihren Rock glatt und sagte laut zu ihrem Begleiter: „Hier zieht es. Ich setze mich nach hinten.“ Was ihn dazu veranlasste, ebenfalls aufzustehen. Anna bedankte sich freundlich, grüßte nach rechts und links und ließ sich zwischen zwei Frauen auf der harten Holzbank nieder, den Koffer vor ihren Knien abgestellt.

„Na, hoffen wir mal, dass es diesmal keine Rettungsaktion geben muss!“, stöhnte die Frau neben ihr.

Die junge Frau auf ihrer anderen Seite warf ihr einen raschen Blick zu.

„Es ist ja nichts passiert. Nur ein Abenteuer …“

Ein Mann, der ihr schräg gegenübersaß, zuckte mit den Achseln.

„Nichts passiert?“, empörte sich die Frau, „wenn das Schiff hängen bleibt und man über Leitern auf die Brücke hinaufklettern muss, dann sagen Sie, es sei nichts passiert?“

„Nun“, er lächelte nachsichtig. „Die Arenaberg ist ja wieder flottgemacht worden, die Brücke in Diessenhofen wurde nicht beschädigt, und auch sonst kam keine Person zu Schaden.“

„Aber der Schreck!“, legte die Frau nach.

„Ja, ein Schreck war es schon“, bekräftigte die junge Frau neben Anna.

Anna überlegte, was sie sagen könnte. „Passiert so etwas häufig?“, wollte sie dann wissen, denn sie dachte mit Sorge an den Pfarrer und was er denken würde, wenn sie nicht ankam. Wie wäre er zu benachrichtigen? Und was wäre mit ihrem Koffer, ihrem gesamten Hab und Gut? „Kann sie sinken, die Arenaberg?“

„Jedes Schiff kann sinken“, schnaubte die Frau und meinte mit einem schnellen Blick zu ihrem Gegenüber: „Aber das wäre ja dann vielleicht auch nur ein Abenteuer?“

Er lächelte vielsagend. Und Anna betrachtete ihn verstohlen. Es war ein junger Mann, vielleicht so alt wie ihr Bruder, Anfang zwanzig. Selbstbewusst, das war Johann auch, aber Johanns Körper zeugte von harter Arbeit. Der hier hatte keine breiten Schultern, war schmal gebaut, sein Anzug saß, als ob er für ihn geschneidert worden sei, ein gefaltetes Taschentuch in der Brusttasche, ein blütenweißes Hemd mit penibel heruntergeklappten Ecken des steifen Stehkragens, dazu edel aussehende Manschettenknöpfe, die breite Krawatte und die Weste, an der eine goldene Kette baumelte, alles schien sein Selbstbewusstsein zu stärken. Selbst sein kurz geschnittenes, mit Pomade zurückgekämmtes Haar mit dem akkuraten Scheitel. Annas Blick fiel auf den verwegenen Hut, den er neben sich abgelegt hatte, schwarz, mit breitem Hutband und mit zusammengedrückter Vorderseite. Alles in allem sah er sehr gut aus. Auch sein schmales Gesicht und seine braunen Augen, die sie nun anblickten. Hatte er ihre Neugierde gespürt? Instinktiv wollte sie den Blick senken, so, wie es ihr in der Schule gepredigt worden war: Ein Mädchen senkt züchtig den Blick, wenn es einem Mann gegenübersteht. Aber irgendwie schaffte sie es nicht. Und eigentlich wollte sie es auch nicht. Also erwiderte sie seinen Blick.

Er lächelte. Nein, eigentlich lächelten seine Augen, und das setzte sich bis zu seinen Mundwinkeln fort.

„Wollen Sie auch ein bisschen Abenteuer?“, fragte er sie, und Anna verschluckte sich. Sie musste husten, und in diesem Moment gab es ein lautes Zischen und Kreischen um sie herum, ein durchdringend schrilles Signal ertönte, dann ging ein Beben und Rütteln durch das Schiff, und kurz darauf hatten sie schon abgelegt. Anna drehte sich auf ihrer Bank so um, dass sie das Ufer besser sehen konnte. Ja, sie fuhren. Sie entfernten sich von der Anlegestelle, und nun konnte sie auch die ganze Festung sehen – und nicht nur einen Turm. Die ganze Stadt war einfach gewaltig. Und gewaltig schön. Sie seufzte kurz und drehte sich wieder um.

Ihr Gegenüber hatte sie offensichtlich nicht aus den Augen gelassen.

„So schwer?“, fragte er.

„Mit Gottes Hilfe ist alles zu schaffen“, antwortete sie mechanisch.

Die Frau neben ihr hüstelte und legte sich schnell die behandschuhte Hand auf die Lippen. „Mit Gottes Hilfe kommen wir heute hoffentlich unbeschadet an unser Ziel“, sagte sie gedämpft.

„Welches Ziel das auch immer sein mag“, erwiderte der Mann und zwinkerte Anna zu. „Es gibt erreichbare Ziele und unerreichbare. Wer entscheidet das? Der liebe Gott?“

„Nun lass sie in Ruhe!“, fuhr die junge Frau neben Anna ihn an. „Du machst sie verlegen! Sie ist doch noch ein Kind!“

Bin ich nicht, dachte Anna trotzig, entschied aber, keine Diskussion auszulösen, sondern sich lieber auf ihre erste Fahrt mit einem Dampfschiff zu konzentrieren.

Blick ins Buch
Traum vom besseren LebenTraum vom besseren Leben

Die Frauen vom See

Eine Frau, ein Gasthof – und eine bewegende Geschichte

Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, der „Hirschen“ hat eine dunkle Zeit überstanden. Nun wollen Anna und ihr Mann August nach vorn blicken, die Ärmel hochkrempeln und ein neues Kapitel mit ihrem Gasthof aufschlagen. Doch das Leben hat anderes mit ihnen vor – Anna stirbt sehr überraschend.

Und trotz aller Trauer über ihren Verlust muss August eine Frage klären: Wer übernimmt den „Hirschen“? Seine älteste Tochter Maria wäre eine perfekte Wahl, aber sie ist Witwe. Und ohne den richtigen Mann ist die Aufgabe nicht zu lösen. Aber August glaubt zu wissen, wo die Antwort auf diese Frage liegt ...

„Gaby Hauptmann entführt mich an einen meiner Sehnsuchtsorte: ihre Bodensee-Saga ist ein mitreißendes, spannendes und ganz und gar emotionales Lesevergnügen, das man sich nicht entgehen lassen darf.“ Gisa Pauly

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Die historischen Hintergründe der Bodensee-Saga von Gaby Hauptmann

Die Menschen und Gegebenheiten hinter meiner Geschichte 

Nachdem ich in „Hoffnung auf eine glückliche Zukunft“ auf den Spuren der dreizehnjährigen Anna durch deren Leben im Hofgut „Kraftstein“, in Steckborn und schlussendlich in Horn gewandert bin, beschäftigt mich nun ihre Erstgeborene Tochter Anni. Um diese beiden realen Vorbilder in meinem Roman möglichst nicht miteinander zu verwechseln, habe ich mich dazu entschieden, Anni in „Traum vom besseren Leben“ den Namen Maria zu geben. 

Maria wird nach dem Tod ihrer Mutter in die Situation gestürzt, den „Hirschen“ unter Mithilfe der jüngeren Geschwister führen zu müssen. 

Ich habe versucht, mich in Marias Situation hineinzudenken. Ihre eigenen Pläne und Hoffnungen sind schon durch den frühen Tod ihrer Mannes Alois zunichte gemacht worden, der kurz nach ihrer Hochzeit vor Kriegsende in einem der sinnlosen Durchhaltekämpfe der deutschen Wehrmacht den Tod fand. 

Mein Buch endet, als Marias Kinder noch klein sind, weil ich ihnen keine erfundenen Geschichten auf den Leib schreiben wollte. Ihre Geburtstage habe ich den Erfordernissen im Roman angepasst, denn mein „Traum vom besseren Leben“ basiert zwar auf wahren Begebenheiten, ist aber doch ein Werk der Fiktion. 

Während ich bei Anna in „Hoffnung auf eine glückliche Zukunft“ vier Historiker zur Seite hatte, die die geschichtlichen Hintergründe kannten, waren es in diesem Buch die Erinnerungen von Karl Amann, dem heutigen Wirt vom „Hirschen“, die mir weitergeholfen haben. 

Zeitgeschichtlich wertvoll war ein Besuch im Archiv des Südkurier und das Blättern durch den Jahrgang 1950. Es zeigte mir, wie sich Geschichte immer wiederholt. Vieles, die kriegerischen Auseinandersetzungen, die Probleme der Landwirtschaft, das Abwägen zwischen Tourismus und Naturschutz erschien mir wie aus einer aktuellen Ausgabe. 

Die Menschheit dreht sich im Kreis, dachte ich dabei. Aber es fanden sich natürlich auch witzige Anekdoten, die ich zur Aufheiterung gut gebrauchen konnte. 

Nun hört der Roman in einem Moment der Familiengeschichte auf, wo viele sicherlich gern wissen würden, was denn nun aus den vier Kindern geworden ist, die fast alle im Zimmer Nr. 4 im „Hirschen“ auf die Welt gekommen sind. 

Sie haben ihre Geschichten, ihr Leben und ihre Erinnerungen in dem Buch „200 Jahre Hirschen“ selbst dokumentiert. 

Besonders schön ist, dass sich durch die Hochzeit von Karl und Verena der Kreis der Vorbesitzer des „Hirschen“ geschlossen hat, denn jeweils drei ihrer Vorfahren waren im Besitz des Gasthofs auf der Höri. So ist es auch eine Geschichte mit Happy End. 

 

„Gaby Hauptmann entführt mich an einen meiner Sehnsuchtsorte: ihre Bodensee-Saga ist ein mitreißendes, spannendes und ganz und gar emotionales Lesevergnügen, das man sich nicht entgehen lassen darf.”


Gisa Pauly

Die Erinnerungen der vier „Hirschen“-Kinder Klaus, Elisabeth, Karl und Wolfgang Amann

Karl Amann (Jg. 1955) und der „Hirschen“ 

Wirt wollte ich eigentlich gar nicht werden. Meine Leidenschaft war immer der Viehhandel, raus, auf die Märkte, mit Tieren umgehen, dorthin zog mich mein Herz. Als sich aber mein älterer Bruder Klaus, der das Gasthaus übernehmen sollte – und auch dafür ausgebildet worden war –, mit unserem Vater überwarf und wegzog, war klar, dass der nächstältere Sohn dran war. Und das war ich. Da gab es keine Diskussion – ich musste nun eine Metzgerlehre machen. Zur Überbrückung wurde der „Hirschen“ verpachtet. Am 1. Oktober 1980 war es dann so weit. Ich war vierundzwanzig Jahre alt und bin eingestiegen in den elterlichen Betrieb. Gut war, dass ich meine Leidenschaft, den Viehhandel, mit meinem neuen Beruf als Wirt verbinden konnte. 

Draußen, wo heute das Gästehaus steht, war der Stall. Man darf sich das alles nicht so vorstellen wie heute – damals gab es kaum Tourismus, die Wirtshäuser lebten von den Einheimischen: Frühschoppen, Kartenspielen, Hochzeiten und Beerdigungen. Eigentlich passte dies auch für mich, denn ich liebe den Umgang mit Menschen. Je mehr um mich herum sind, umso wohler fühle ich mich. Darum bin ich bei den Heufressern bei der Fasnacht beispielsweise auch Narrenpräsident geworden – es liegt mir einfach. Alleinsein kann ich eher schlecht. So gesehen hätte ich auch Pfarrer werden können. Mein Freund, Franz Schwörer, war von Herzen für die Menschen da und hatte stets eine volle Kirche. Der hätte Eintritt verlangen können … Und wie er denke auch ich: Erst der Umgang mit vielen Menschen gibt dem Leben einen Sinn. Und genaugenommen sind Wirte wie Pfarrer und Friseure: Ansprechpartner für alles – und manchmal auch Beichtvater. Es geht nicht darum, nur Essen und Trinken hinzustellen, es gehört auch Herzlichkeit dazu und Interesse am Gast. 

Wenn ich so zurückdenke, sind die letzten einundvierzig Jahre wie im Flug vergangen, als wäre ich die Kirchgasse einmal rauf- und wieder runtergelaufen. Ich bin Gott sei Dank in eine gute Zeit hineingeboren worden. Nach dem Krieg ging es immer bergauf, wir hatten Freiheiten, und wir hatten die junge Demokratie. Mein persönliches Glück hat schon mit meiner Hochzeit angefangen. Vreni war neunzehn Jahre alt, als wir vor den Traualtar traten. Fünf Monate, nachdem ich den „Hirschen“ übernommen hatte. In dieser Zeit musste renoviert, unzählige Erledigungen getätigt, Personal eingestellt und nebenbei unsere Hochzeit vorbereitet werden. Vreni besuchte noch kurzentschlossen die Hotelfachschule in Bad Wiessee am Tegernsee. Ihren beruflichen Lebensweg hatte sie eigentlich anders geplant, aber sie wurde Wirtin. Und ich muss sagen, ich liebe sie heute mehr als damals. Wir sind verschieden. Ich bin der rustikale Macher, der Kaufmann, ich nehme das Leben nicht so ernst. Ein Tag nicht gelacht ist für mich ein Tag nicht gelebt. Vreni ist der Feingeist und hat Sinn für Schönes – aber gerade das passt perfekt zusammen. Natürlich gab es in den vielen Jahren Höhen und Tiefen, aber das hat uns nur noch fester zusammengeschweißt. Wir waren uns immer einig: Der Betrieb muss auf Vordermann gehalten werden, und das haben wir die letzten einundvierzig Jahre auch getan. Das Geld, das wir verdient haben, haben wir zu neunzig Prozent wieder in den Betrieb fließen lassen. Und wir waren uns auch darin einig, dass man Gastronomie nicht wegen des Geldes macht, sondern wegen der Liebe zum Beruf. Wir stehen beide hinter dem, was wir tun, hinter jedem Produkt. Da hilft mir auch meine Ausbildung als Metzger, Schund kommt mir nicht auf den Tisch. Und auch das ganze Drumherum muss stimmen, denn ein Gast, der zu uns in den Urlaub kommt, soll es richtig schön haben. Glücklich sind wir darüber, dass unsere Söhne Sebastian und Martin in den Betrieb eingestiegen sind. Und zwar freiwillig und mit viel Herzblut. Ebenso wie ihre Partnerinnen. Deshalb stelle ich mich heute in die zweite Reihe und genieße es, vieles einfachabgeben zu können und so etwas mehr Freizeit zu haben. Und überhaupt – ganz wichtig: Vreni und ich nehmen uns jede Woche einen Tag für uns allein frei! Da unternehmen wir etwas gemeinsam, tauschen uns aus, reden viel und genießen den Tag zu zweit. Und zwar nur zu zweit, da brauch ich keine andere Gesellschaft. Ist das nicht schön? 

Verena Amann (Jg. 1961), Karls Ehefrau, geb. Bürgel 

Die erste jugendliche Schwärmerei für Karl hat an meinem dreizehnten Geburtstag angefangen. Wir musizierten zusammen im Musikverein, er spielte Tuba, und ich habe mich am Waldhorn versucht. Hum-ta-ta … Nicht zu glauben, aber das musikalische Muster ist bis heute geblieben. Wir sind ein super Team, jeder spielt etwas vollkommen anderes, aber zusammen passt es perfekt. 

Nach einer Musikprobe saßen wir alle noch zusammen, und Karl schenkte mir völlig überraschend eine duftende rote Rose aus Nachbars Garten. Das beeindruckte mich schon schwer. Nun, drei Jahre später an der Fasnacht im „Hirschen“ hat es dann gefunkt. Ich hatte mich in seine dunklen Augen, sein lockiges Haar und in seine unbändige Energie verliebt. Das ist bis heute so geblieben, obwohl die Haare weniger geworden sind. Wir sahen uns nun oft und trafen uns mehr oder weniger heimlich, da seine Eltern von unserer Verbindung nicht gerade angetan waren. Er sollte sich nach einer gestandenen Wirtin umsehen, fit im Service und auch sonst gastroaffin. 

Diesem Muster entsprach ich überhaupt nicht. Obwohl, eigentlich jobbte ich schon mehrere Sommer über im „Hirschen“, ansonsten wollte ich damit nichts zu tun haben. Mein Weg ging über die kaufmännische Wirtschaftsschule zur mittleren Reife und dann in die Verwaltung, als Sekretärin des Bürgermeisters. Im Nachhinein war diese Ausbildung mein bestes Handwerkszeug an Karls Seite im „Hirschen“. 

Noch gut erinnern kann ich mich an ein Gespräch meines damaligen Chefs, Bürgermeister Hensler. Ihm war überraschend zu Ohren gekommen, dass ich mit Karl liiert war und er eines Tages den „Hirschen“ übernehmen sollte. Bürgermeister Hensler sprach mich darauf an und wollte wissen, was meine Pläne für die nahe Zukunft seien. Selbst noch nicht gewiss antwortete ich, dass dies für mich derzeit kein Thema sei. 

Zu meiner völligen Überraschung bat mich Karl nur wenige Wochen später, ihn zu begleiten. Er hatte einen Anruf des Pächters vom „Hirschen“ erhalten. Er lud zum Gespräch, ausgerechnet an meinem neunzehnter Geburtstag 1980. Dies gab meinem Leben dann eine vollkommen andere Wendung. 

Der Pächter teilte uns mit, seinen Pachtvertrag nicht mehr bis zu Ende einhalten zu wollen, da er schon in ein paar Wochen ein anderes Hotel in Bayern übernehme. Kurzerhand erklärte Karl, dass es nun für ihn mit fünfundzwanzig Jahren an der Zeit sei, das Haus selbst zu übernehmen, und fragte mich, ob ich mit ihm den Schritt wagen würde. Jung und unbedarft war sofort klar: Ja, ich will! 

Meine Eltern fielen aus allen Wolken, mein Chef war irritiert, doch schon wenige Wochen später drückte ich in Bad Wiessee auf Speisers Hotelfachschule die Schulbank und absolvierte dort ein wirklich tolles Semester, konnte in alle Fachgebiete eintauchen und erwarb so auf die schnelle ein tieferes Rundumverständnis für die Hotellerie.  

Während ich die Hotelfachschule besuchte, modernisierte Karl den „Hirschen“ und organisierte unsere Hochzeit. Dann passierte alles Schlag auf Schlag: Am siebten September erst hatte ich Geburtstag, ab zehnten Oktober war ich bis Mitte März auf der Hotelfachschule. Am achtundzwanzigsten März feierten wir unsere Hochzeit und am dritten April die Eröffnung vom „Hirschen“. Kurze Zeit später trug ich unser Wunschkind Sebastian unter dem Herzen. Er kam dann im Januar des darauffolgenden Jahres zur Welt. Unser Glück war perfekt. So ging es dann weiter auf der Überholspur. Immer war etwas los bei uns, es wurde renoviert, umgebaut, geplant. Ich erinnere mich noch, dass ich mit Anfang dreißig nach meinem Alter gefragt wurde, und meine Antwort war: neunzehn Jahre. Das gab mir dann schon zu denken. Wo war die Zeit nur geblieben? Wir wohnten damals noch im „Hirschen“, hatten zwei Zimmer und ein Büro für uns eingerichtet. Als Küche nutzten wir an den freien Tagen die Gastroküche. Unsere dreiwöchigen Betriebsferien im Januar waren mal wieder mit Renovierungsarbeiten überplant. Die Vorhänge im Restaurant – unserem Speiseraum – waren alle in der Reinigung, die Stühle hoch gestuhlt, die Küche von den Handwerkern abgesperrt, und dadurch keine Möglichkeit zu kochen, und das mit einem Kleinkind. Jeden Tag haben wir bei unseren Familien um eine warme Mahlzeit gebeten. Karl war da relativ entspannt. Für ihn war das Gasthausleben normal. Für mich war das der Anlass, endlich etwas zu ändern. Eine eigene Wohnung musste her. Nach sechs Jahren war das dann endlich der Fall. Die erste Wohnung mit Küche im neuen Gästehaus. Jetzt gab es auch Platz für unser zweites Wunschkind, „Martin“. Zwei Buben, unser ganzer Stolz und unser Glück heute. Für das Familienleben blieb nicht viel Zeit, und Gott sei Dank waren unsere Buben nur wenige Schritte entfernt bei „Tante Maria“, die ebenfalls wieder über drei Ecken mit mir verwandt war, in den Sommermonaten sehr gut aufgehoben. Dort oben, in der heutigen Villa Maria, dem ältesten Haus und ehemaligen Schulhaus von Horn war schon für Karl und nun auch für unsere Buben ein kleines Paradies. Auch meine Schwiegermutter Anni war eine Seele von Frau, wir begegneten uns mit liebevollem Respekt und wechselten in all den Jahren kein böses Wort. 

Karl, der geborene Wirt, kümmerte sich mit Inbrunst ums Gasthaus, den Viehhandel, und in der fünften Jahreszeit war er als langjähriger Narrenpräsident an Fasnacht unterwegs. Ich kümmerte mich um die Hotelgäste, um Zimmervermietung und das Büro und arbeitete natürlich im Service mit. Mein Herz brannte für die Einrichtung des weiterwachsenden Hotels, um die Gemütlichkeit und das Design in allen Räumen, und so war ich viel beschäftigt mit Einrichten, Planen und Gesprächen mit Handwerkern und Architekten. Nebenbei widmete ich mich noch immer der Musik. Mit Gesang und Gitarre spielte ich mehrere Jahre in verschiedenen Bands und unterhielt unsere Gäste mit Klassikern aus Pop und Rock sowie den neuesten Schlagern. Ein tolles Hobby, zumal ich im „Hirschen“ immer ein treues und dankbares Publikum hatte. Schöne Erinnerungen, die sicher bis an mein Lebensende nicht an Bedeutung verlieren werden. 

Bartholomäus Dietrich, der Gründer des „Hirschen“, und seine Frau waren die Großeltern meiner Großmutter Berta Dietrich. Und diese Familie blieb in Folge drei Generationen Eigentümer des „Hirschen“. Einhundert Jahre später betrat dann Karls Großvater aus dem Schweizer Graubündnerland – August Ruggli – die Bühne. Im Anschluss lenkte seine Familie drei Generationen lange die Geschicke vom „Hirschen“. Durch Karls und meine Hochzeit und unsere Söhne Sebastian und Martin schließt sich der Kreis. Die siebte Generation verbindet die beiden Familien, heilt, was nicht immer gelungen war, und fügt sie zusammen wie eine Pyramide. Ich blicke zurück voller Dankbarkeit und Freude. 

 

Klaus August Amann (Jg. 1949), Karls ältester Bruder  

Mit meinem zweiten Vornamen wurde ich auf den Namen meines Opas August getauft. Ich habe ihn in seinen letzten Lebensjahren erlebt und bin sehr stolz auf ihn. 

Ich erinnere mich gerne daran, dass ich oft bei Opa auf dem Boden saß und seinen Erzählungen lauschte. Zum „Hirschen“ gehörten mehrere Weinberge, die Opa bewirtschaftete. Beim Rebenspritzen hat oft Onkel Xaver geholfen. Ich erinnere mich, dass es jedes Mal ein Drama war, bis die motorbetriebene Rebenspritze endlich in Gang kam.  

In meiner Jugend war Tisch eins (am Kachelofen) in der Wirtschaft das Wohnzimmer der Familie. Schön war, dass ich viele interessanten Menschen kennen lernte und auch mit ihnen zusammen war. Dabei gewann ich sehr früh an Selbstbewusstsein. Ich habe gelernt, auf Menschen zuzugehen und mit ihnen zu kommunizieren. In der Familie sagt man scherzhaft: Der Klaus schwätzt viel. Das hat mir auch in meinem späteren Leben viele Vorteile gebracht. 

Zum Beispiel hat mir der Künstler Otto Dix hier und da bei den Hausaufgeben geholfen. Um manches zu erklären, malte er mir auch Bilder auf Servietten. Wenn ich die nur noch hätte! 

In den Fünfzigerjahren gab es in Horn noch keinen Kindergarten. Deshalb mussten Elisabeth und ich nach Weiler. Der Lastwagenfahrer, der am Horner Milchhäusle die Milch abholte, nahm uns von dort morgens nach Iznang mit. Das letzte Stück nach Weiler mussten wir zu Fuß laufen. Der Kindergarten wurde von Ordensschwestern geleitet. Wir durften mit den Schwestern zu Mittag essen. Dafür haben unsere Eltern die Schwestern großzügig mit Fleisch und Wurst versorgt. 

Weniger schön war, dass unser Vater sehr dominant und oft auch sehr ungerecht war. Was ich auch durch Strafen und Schläge zu spüren bekam. Mit vierzehn Jahren wurde ich von einem Tag zum anderen von der Realschule genommen und zur Ausbildung als Koch in eine sehr harte Lehre nach Meersburg geschickt. Arbeitszeit elf bis dreizehn Stunden täglich. Sechs-Tage-Woche. 

Im „Hirschen“ war an Fasnacht stets „der Teufel“ los. Als Kinder legten sich meine Schwester Elisabeth und ich oben auf den Kachelofen. Von hier hatten wir einen guten Überblick und konnten unbemerkt das Treiben in der Wirtschaft beobachten. Keiner merkte, dass wir noch nicht im Bett waren. Am Aschermittwoch kamen die Narren in den „Hirschen“, um Schnecken und Heringe zu essen. Bei diesem Essen gab es, sehr zum Leidwesen unserer Mutter, die Unsitte, Heringsschwänze an die Wirtshausdecke zu werfen. Gewonnen hat derjenige, dessen Heringsschwanz am längsten oben hängen blieb. Der Gewinner bekam von den Mitstreitern ein Bier spendiert. Nach der Fasnacht musste Onkel Gustel regelmäßig die Decke neu streichen. 

Als Kinder durften wir nur unseren eigenen Apfelsaft trinken. Wenn viel Wirtshausbetrieb war, mussten Elisabeth und ich in den Keller und leere Flaschen in Kisten sortieren. Die Zeit im Keller nutzten wir, um heimlich die uns verbotene Coca-Cola oder Sinalco zu trinken. 

Pünktlich um elf Uhr samstags und sonntags mussten wir Kinder den Gästen hinter dem „Hirschen“ dicht an dicht Parkplätze zuweisen. Der Platz musste für möglichst viele Autos reichen. Das Wichtigste war, dass kein Gast mangels Parkmöglichkeit wegfuhr. Schön für uns war, wenn die Gäste großzügig waren und uns ein paar Pfennige „Trinkgeld“ gaben. 

Das eine Jahr als „Hirschen“-Wirt und mein weiteres Leben: 

Das schlechte Verhältnis zu meinem Vater mit den ständigen Streitereien war der Grund, weshalb ich bereits nach nur einem Jahr als „Hirschen“-Wirt mit meiner jungen Familie Ende des Jahres 1972 den „Hirschen“ und meine Heimat verlassen habe. Ich habe im Kreis Ludwigsburg, der Heimat meiner Frau, einen neuen beruflichen Anfang gemacht. Gastronomie war dabei keine Option mehr. Dank des LKW-Führerscheins, den ich bei der Bundeswehr hatte machen können, fand ich sofort eine gute Stelle als Fahrer für Transporte von Gefahrgut.  

Die Entscheidung, den „Hirschen“ zu verlassen, habe ich nie bereut. Es geht mir und meiner Familie hier sehr gut. Wir können heute unserer Leidenschaft – dem Reisen – ausgiebig nachgehen. 

Der „Hirschen“ ist mir trotzdem sehr wichtig. Er ist Heimat für mich und übt eine große Faszination auf mich aus. Vor allem das persönliche Verhältnis zu meinem Bruder Karl bedeutet mir viel. Im Nachhinein gesehen hat uns Brüdern das Schicksal jeweils den richtigen Platz im Leben zugewiesen. Ich bin sehr stolz auf meinen Bruder Karl und was er zusammen mit seiner Frau Verena aus dem „Hirschen“, gemacht hat. Es ist auch wunderbar zu sehen, dass meine Neffen Sebastian und Martin mit ihren Frauen Nina und Maria die Tradition der „Hirschen“-Wirte mit viel Sachverstand und Herzblut fortführen. 

 

„Gaby Hauptmann breitet mit dieser zutiefst menschlichen Geschichte ein großes Panorama der Zeit aus.“


Ruhr Nachrichten

Elisabeth Bosch (Jg. 1951), Karls Schwester, geb. Amann, geb. im „Hirschen“, Zimmer Nr. 4 

Als einzige Tochter von Anna und Karl Amann wurde meine Kindheit durch viele schöne und manchmal auch traurige Erlebnisse geprägt. 

Schon als kleines Mädchen wurden mir Aufgaben im Gastbetrieb übertragen. 

Meine und die Kindheit meiner Brüder spielte sich in der Gaststube ab. Hier machte ich meine Hausaufgaben am Stammtisch im Ofeneck zwischen qualmenden Stumpen vom Heinrich Markgraf, dem Schlosser Griß und dem Gaienhofner Lehrer Höfle. 

Ich war nie gerne ein Wirtshauskind, war auch etwas eifersüchtig auf meinen jüngeren, kleinen Bruder Karl, der es so schön hatte bei der Tante Maria oben bei der Kirche und der immer schnell dorthin verschwunden war, wenn es mal Ärger gab. 

Sobald im Sommer die Betten im „Hirschen“ ausgebucht waren, musste ich mit den Anreisenden zu den gemieteten Zimmern im Dorf gehen. Manchmal musste ich mich etwas schämen, denn dort gab es einen dunklen Flur, und es roch eigenartig nach Bohnerwachs und Mottenkugeln. Ein Pärchen, das auf Hochzeitsreise war, reiste dann einmal kurz entschlossen wieder ab, und ich fühlte mich deshalb schuldig. 

Am Freitagabend, wenn noble Gäste zum Essen kamen, war es meine Aufgabe, die teuren Pelzmäntel der reichen Damen ins Zimmer Nr. 1 zu tragen, damit diese nicht an der Garderobe gestohlen werden konnten, was ich damals schon etwas seltsam fand. 

Bereits als Mädchen war ich ein Bücherwurm, und meine Mutter unterstützte mich dabei. So zog ich mich am Abend recht bald in mein Zimmer zurück, denn ich liebte die Stille. 

Von meiner Freundin wurde ich aber immer etwas beneidet, denn bei uns gab es bereits ein richtiges, eigenes Badezimmer, und wir waren durch vielerlei andere Dinge schon etwas verwöhnt worden. 

Als Mädchen musste ich mich gegen meine drei Brüder oft durchsetzen, aber meine Liebe zu ihnen ist bis heute geblieben. 

Wolfgang Amann (Jg. 1959), Karls jüngerer Bruder, geb. im „Hirschen“, Zimmer Nr. 4 

Am 26. September 1959 wurde ich als viertes und letztes Kind von Anna und Karl Amann geboren. Somit war ich das Nesthäkchen, und mein Kleinkindalter habe ich als sehr behütet in Erinnerung. 

Da es keinen Kindergarten gab, hing ich meistens am Viehmantelzipfel meines Vaters. Er hat mich überallhin mitgenommen, ob zum Viehhandel (auch abends), Fleischholen oder Einkaufen in Singen oder Konstanz. 

Das klassische Familienleben haben wir nie genossen, da unser Wohnzimmer die Wirtschaft war und wir nie allein waren. Am Ruhetag fuhr man meistens nach Stein am Rhein, auch zum Einkaufen (Zucker, Mehl, Kaffee). Die Angestellten mussten auch mit, damit man mehr einkaufen konnte. In der Drogerie Merz kaufte meine Mutter immer eine sehr parfümierte Seife. Ich bekam eine Schokolade oder ein Eis. 

Während der Saison hatten die Eltern kaum Zeit für mich. Mein Rückzugsort war unser Bad, in dem eine Kommode mit meinen Kleidern stand, oder eine Telefonzelle zwischen Wirtschaft und Metzgerei. Dort bin ich auch öfters auf dem Boden eingeschlafen. Wir hatten langjährige Mitarbeiter, wie z. B. die Köchin Irma, die immer nach mir schaute und mir auch öfter was Leckeres zusteckte. Sie hat immer einen leckeren Nusszopf gebacken. Leider haben den die Skatbrüder meines Vaters des Öfteren gleich am Abend verspeist. Bei den Aushilfen Friedel und Vreni aus Böhringen durfte ich immer in die Tasche des Kittelschurzes fassen. Da gab es Gummibärchen. 

Bevor ich eingeschult wurde, durfte ich einmal mit den Eltern in den Urlaub ins Tessin. Sonst mussten wir immer bei Tante Maria bleiben. Da ich sehr schüchtern war, ging ich nicht so gern in die Schule. Die Hausaufgaben musste ich bei Tante Maria machen, damit sie überprüft wurden. Dort lernte ich auch regelmäßig zu essen, da ich lange ziemlich dünn war. 

Sobald ich kräftig genug war, musste ich mit anpacken. Der Vater hatte immer eine Aufgabe für mich. Holz hacken, Äpfel schütteln und auflesen oder Fässer putzen. In der Wirtschaft mussten wir das Leergut aufräumen. Wenn ich sonntags bei Schulfreunden zum Fernsehschauen war (wir selbst hatten noch keinen Fernsehapparat) und dann zu spät nach Hause kam, war das Donnerwetter groß. 

Obwohl ich gerne Elektriker geworden wäre, suchte mein Vater eine Lehrstelle als Konditor für mich. 

Da der Großvater dies schon werden wollte, sollte ich nun das Konditorhandwerk erlernen. Nach einigen Stationen kam ich in die Schweiz, wo ich bis heute als Konditormeister und Patissier arbeite. 

Mit der Übernahme des „Hirschen“ durch meinen Bruder Karl und seine Frau Vreni schloss sich der Kreis. Wir haben zusammen viele lange „Hirschen“-Nächte erlebt. Wenn ich heute irgendwo meinen Namen nenne, werde ich immer gefragt, ob ich etwas mit dem „Hirschen“ zu tun habe. Voller Stolz sage ich dann, dass ich der Bruder vom Karl bin. 

Zur Recherche 

Bei der Beantwortung einiger meiner Fragen hat mir Uwe Schmidhäusler von der Deutsch-Französischen Freundschaft in Radolfzell geholfen. 

Und wie schon im ersten Bodensee-Band war mir Dr. Tobias Engelsing, der Direktor von vier Städtischen Museen in Konstanz, als promovierter Historiker von unschätzbarer Hilfe. Danke dafür! 

Als auch in Radolfzells Kaserne der Frieden einzog 

Das ehemalige Offiziersheim – zur NS-Zeit „Führerheim“ genannt – am Kasernenweg war in den letzten Kriegstagen zusammengeschossen worden. Im Südkurier vom 18. November 1950 hieß es unter dem Titel „Eine Ruine verschwindet“, dass das ehemalige Kasino, „das seit 1945 als Ruine in die Landschaft hineinragt“, bis auf die Grundmauern abgetragen sei. Unter Wiederbenützung der Trümmersteine werde es nun als französisches „Casino“ neu erstellt. Das geschah dann bis zum 18. Juli 1951, als man das Richtfest feierte. 

Immerhin hatten sich Anfang der fünfziger Jahre das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten in Radolfzell wieder so weit normalisiert, dass der damalige Bürgermeister der Stadt vom Kommandanten der französischen Garnison zum Richtfest eingeladen wurde, das zunächst auf der Baustelle und dann in einem Radolfzeller Lokal gefeiert wurde. Hierbei wurden erste zarte Bande zwischen Siegern und Besiegten geknüpft. 

Französische Einheiten und Kommandanten kamen und gingen. Die französischen Soldaten wurden allmählich in den fünfziger Jahren zu oft und gern gesehenen Personen im Städtle. Und auch umgekehrt trat nach einem Jahrzehnt kühler Distanz zwischenmenschliche Normalität ein. 

Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 

Wenn man als Maßstab die anfänglich gesetzten Ziele der Alliierten zugrunde legt, muss man die Entnazifizierung als gescheitert ansehen. Sie bedeutete allenfalls einen Denkzettel für diejenigen, die interniert worden waren oder längere Zeit einem Berufsverbot unterlagen. Keinesfalls aber führte sie bei den Eliten in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur zu einer „Stunde null“. Zu groß waren die Kontinuitäten, zu rasch reifte bei der deutschen Bevölkerung die „Schlussstrich-Mentalität“, heran und zu früh dominierte die kollektive Amnesie. Hinzu kam die problematische Gesetzgebung der jungen Bundesrepublik mit mehreren Straffreiheitsgesetzen ab 1949 und mit dem berühmten Artikel 131 des Grundgesetzes, auf dessen Basis ab April 1951 alle „131er“, alle Beamten also, die bei der „Säuberung“ nicht als Hauptschuldige oder Belastete eingestuft worden waren, wieder verbeamtet wurden. Das neu geschaffene Land Baden-Württemberg zog im Juli 1953 mit dem „Gesetz zur einheitlichen Beendigung der politischen Säuberung“ einen Schlussstrich unter die Entnazifizierung.  

Auch was die Demontage ganzer Fabrikanlagen betrifft, war man in der französischen Besatzungszone deutlich stärker betroffen als in der US-amerikanischen. Schon bei der militärischen Einnahme des Südwestens war es zu „wilden“ Entnahmen aus Industrie- und Handelsbetrieben sowie zur Konfiszierung von Autos, Lastkraftwagen und anderen beweglichen Gütern gekommen. Die rigorose Demontagepolitik von Industrieanlagen, Maschinen und Wirtschaftsgütern hielt hier bis über die Währungsreform und über die Startphase des Marshall-Plans hinaus an und belastete das Verhältnis zwischen der Besatzungsmacht und der einheimischen Bevölkerung immer wieder massiv. Für viele Deutsche hatte die Reparationspolitik der Franzosen Plünderungscharakter. Und sie war nicht geeignet, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Die gewaltigen Transferleistungen drohten die wirtschaftliche Gesundung der französischen Besatzungszone auf lange Zeit zu gefährden. Vor allem die „Franzosenhiebe“ in den Wäldern – auch „E- und F-Hiebe“ genannt, wobei „E“ für Export und „F“ für Frankreich standen – machten der Bevölkerung die rigorose Besatzungspolitik augenfällig. Noch lange prägten die kahlen Flächen das Gesicht der Landschaft in Südwürttemberg und Südbaden. 

 

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Gaby Hauptmann

Über Gaby Hauptmann

Biografie

Gaby Hauptmann, 1957 in Trossingen geboren, lebt seit vielen Jahren in Allensbach am Bodensee, den sie in ihren zwei neuen Bestsellern endlich auch ihren Lesern vorstellt: „Hoffnung auf eine glückliche Zukunft“ und „Traum von einem besseren Leben“ erzählen die Familien-Saga um die Frauen des traditionsreichen Gasthofs „Hirschen“.

Gaby Hauptmann arbeitete als Journalistin, bevor sie mit dem Schreiben begann. 1995 erschrieb sich mit ihrem ersten Bestseller „Suche impotenten Mann fürs Leben“ ein Millionenpublikum und veröffentlichte seither zahlreiche weitere Erfolge, u.a. „Nur ein toter Mann ist ein guter Mann“, „Fünf-Sterne-Kerle inklusive“ oder „Unsere allerbeste Zeit“. Ihre Bücher sind in viele Sprachen übersetzt und fürs Fernsehen verfilmt worden. Heute zählt Gaby Hauptmann zu den erfolgreichsten und beliebtesten Unterhaltungsautorinnen Deutschlands.

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