„Das Leben geht zwar immer weiter, aber es wird nicht unbedingt leichter.“
Die Buchreihe um Martin Kühn
Das erste Buch handelte von der Wiederkehr des Verdrängten, das in uns allen ist. Im zweiten Buch ging es dann um die immer krasseren sozialen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Da die ganz Reichen, dort die ganz Armen und in der Mitte, dazwischen: Das riesige Heer der vom Absturz bedrohten Mittelschicht, zu der auch Kühn zählt. Dieses zweite Buch war noch viel mehr ein Gesellschaftsroman als das erste, trotzdem wurde es häufig als „Krimi“ bezeichnet. Nicht, dass ich beleidigt gewesen wäre, denn ich habe nichts gegen Krimis. Aber meine Bücher sind keine, es sind eher Zustandsbeschreibungen einer Welt, die sich rasend schnell von ihren Bewohnern entfernt.
Am Ende des Buches war die Geschichte von Martin Kühn noch nicht zu Ende, vielleicht wird sie das niemals sein, denn ich mag es, sein Lebenschronist zu sein. Es ist mir eine große Ehre. Jedenfalls geht die Erzählung nun im dritten Buch weiter. Und auch „Kühn hat Hunger“ widmet sich einem Über-Thema: Im dritten Teil geht es um das Verhältnis von Männern zu sich selber – und zu den Frauen. Das wird immer komplizierter, und nicht nur Martin Kühn verliert ein wenig den Anschluss. Ich kann schon verraten: Die Männer kommen nicht besonders gut weg in diesem Buch. Der titelgebende Hunger bezieht sich dabei nicht nur auf die männliche Gier nach ständiger Anerkennung und sexueller Bestätigung, sondern auch auf jenes nagende Hungergefühl, das nur Männer auf Diät kennen. Kühn will nämlich zum ersten Mal in seinem Leben abnehmen.
Alle drei Bücher haben etwas gemeinsam, das sich bereits seit meinem allerersten Buch durch meine Arbeit zieht: Es geht bei mir immer um Menschen, die irgendwie nicht dazu gehören. Die ihren Platz nicht gefunden haben. Die sich mehr oder weniger redlich darum bemühen, den Anforderungen gerecht zu werden. Zuerst war das der Gastarbeiter Antonio Marcipane in zwei Romanen. Es folgte ein Buch über meine Lesereisen, das von jemandem handelte, der fremd und ausgesetzt durch ein Land fuhr und immer nur einen Tag irgendwo blieb. Dann kamen zwei Bücher über einen kleinen Jungen, der die Welt noch nicht versteht, danach ein Roman über fünf Außenseiter, die einen Industriellen entführten, um sich in einer tosenden Medienlandschaft Gehör zu verschaffen. Es folgten Bücher über pubertierende Jugendliche, die noch nicht genau wissen, wozu sie auf der Welt sind und was diese Welt überhaupt soll. Und eben die Bücher über Kühn der an der Welt verzweifelt und sie gleichzeitig in Ordnung halten muss. Das klingt eher düster, ist es aber nicht. Mir ist es wichtig, dass man meine Geschichten gerne liest. Humor hilft dabei.
Der Sound eines neuen Buches wird ganz zu Anfang der Arbeit und sehr bewusst gesetzt. Das ist eine sehr grundlegende Entscheidung, die nicht am Ende noch revidiert werden könnte. Ich entscheide mich für die Tonlage, die ich für angemessen halte, um die Geschichte richtig zu erzählen. Das nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Manchmal kommt mir der Ton zu getragen vor oder zu ulkig, dann muss ich das zurückdrehen. Ja, es ist ein wenig so, als würde man einen Motor einfahren. Spätestens im zweiten Kapitel muss das passiert sein, sonst wird es anstrengend, und ich verliere die Lust. Das darf nie passieren.
Bei den drei Kühn-Geschichten ist der Sound übrigens nicht gleich. Das erste Buch war deutlich düsterer als das zweite. Darin gab es drei richtiggehend alberne Stellen, die aus dem Buch herausstachen. Der dritte Band wird sich ebenfalls größtenteils wie eine Satire lesen. Auch wenn es darin um ein ernstes Thema geht, und zwar das gruselige Dasein der so genannten Incels. Das sind Männer, die keine Frau abbekommen und daraus einen ebensoabsurden wie gefährlichen Frauenhass entwickeln. Daran ist nichts witzig und man darf die Figuren keinem wohlfeilen Spott ausliefern. Man muss sie ernst nehmen. Also muss der Tonfall zwischendurch wechseln. Diese Unterschiedlichkeit in der stilistischen Temperatur und damit in der Ansprache des Publikums ist wichtig und sehr effektstark. Es hat Leute gegeben, die mit diesem Spurwechsel beim Lesen der ersten beiden Kühn-Bücher ihre Probleme hatten. Sie haben mich gefragt, warum es plötzlich so schwer und brutal wurde, wo es doch an anderen Stellen so witzig und leicht war. Meine Antwort darauf lautet: Weil das Leben nun einmal so ist. Stellen Sie sich vor: Sie stehen mit ihren Kollegen in der Teeküche und erzählen eine sehr lustige Anekdote über eine Mitarbeiterin. Alle lachen. Da kommt jemand rein und sagt: „Stellt euch vor, die Frau Bauer ist gerade überfahren worden.“ Meine Bücher bilden diese andauernde Stimmungsschwankung des Alltags ab, und meine Figuren agieren darin wie Personen, die man kennen könnte: Unbeholfen und ausgeliefert, aber auch tapfer und voller Würde.
„Jan Weiler ist einer der interessantesten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur, weil er nicht nur über eine eigene Sicht auf die Welt verfügt, sondern auch über eine eigene Sprache, diese Sicht auszudrücken.“
Jan Weiler über Martin Kühn
Manchmal kommt es mir so vor, als sei Martin Kühn eine reale Figur, ein Bekannter von mir. Oder sogar mehr: ein Teil meiner Person. Und weil mich diese Erkenntnis ein wenig schockiert, habe ich ihn fast panisch von mir weg fiktionalisiert: Kühn ist ziemlich groß und schlank, er hat längere Haare, er fährt Motorrad. Dies alles trifft auf mich nicht zu. Und dies hier auch nicht: Er lebt in einem Reihenhaus, er ist Beamter, er hat etwas an der Prostata, worüber er nicht spricht. Er hat Schulden und wenig Aussicht auf Beförderung. Ich lebe und wohne völlig anders als mein Hauptdarsteller und tauge womöglich nicht zum Beamten – zum Polizisten erst Recht nicht. Der Gedanke, eine Waffe auch nur zu berühren, macht mich nervös. Ich könnte nie einen Menschen schlagen oder ihm Handschellen anlegen. Nicht einmal richtig schreien kann ich. Außerdem komme ich in Arbeitsgruppen nicht klar.
Unterschiedlicher als Martin und ich könnten zwei Männer mittleren Alters also nicht sein. Und dennoch verbindet mich so viel mit dieser Figur, dass ich schon glaube, dass er in mir lebt. Das hat damit zu tun, dass er nun einmal ein mittelalter Mann ist. Und die haben vergleichbare Probleme, ob sie nun Motorrad fahren oder nicht. Sie werden allmählich von den Jüngeren abgehängt. Sie vertragen nicht mehr so viel wie früher. Sie haben Nasenhaare und gehen nur noch in Gedanken steil. Sie müssen Karriere gemacht haben und wenn nicht, dann wird es auch nichts mehr damit. Sie halten sich entweder für dramatisch viel attraktiver, als sie tatsächlich sind, oder für viel unattraktiver, als es der Fall ist. Die Selbsteinschätzung gelingt überhaupt in vielerlei Hinsicht nicht mehr optimal. Das macht sie angreifbar, was ihnen allerdings selten auffällt.
Sie bemerken viele Dinge nicht oder zu spät: Sie müssten zum Beispiel lernen, dass sich die Geschlechterrollen verändern. Und dass es geschickt wäre, den Jungen aufmerksam zuzuhören anstatt sie vollzutexten. Und dass man nicht bei jedem Musikstück, das man im Fernsehen erkennt, rufen muss: „Die Platte habe ich.“ Es ist nämlich so, dass jeder heutzutage praktisch jede Platte hat. Wegen Spotify und Youtube. Exklusivität ist abgeschafft, Wissen auch.Man kann alles googeln. Kühn und ich sind dafür manchmal schon zu langsam. Und wir behalten wenig von dem Bisschen, das wir kapiert zu glauben haben. Es ist zum Verzweifeln.
Das Tempo, in dem sich unser Leben gerade verändert – inklusive der Neuformulierung sämtlicher moralischer oder materieller Werte – kann einem schon Furcht einflößen. Das sehen viele Menschen so, und man muss gar nicht in der Lebensmitte angekommen sein, um eine gewisse Beklommenheit zu empfinden. Um die Veränderungen und um die Beklommenheit geht es in den Kühn-Büchern. Um die Überforderung. Um die schiere Menge an Nachrichten, Aufforderungen, Handlungsanweisungen, Einzugsermächtigungen, Mahnungen, Hinweisen, maschinell unterschriebenen Formbriefen und einzuhaltenden Fristen in unserem Leben. Es geht um die erstaunliche Tatsache, dass wir Alle jeden Tag unser Leben leben, ohne durchzudrehen.
Ich wollte die Geschichte eines Menschen erzählen, der so viel zu tun hat, dass irgendwann der Speicher überläuft. Also habe ich mir diesen Martin Kühn ausgedacht, der stellvertretend für mich und für Sie, sehr geehrte Leserinnen und Leser, den Zumutungen des Alltages ausgesetzt wird. Er und wir alle meistern sie, weil wir ja doch erstaunlich anpassungsfähig sind. Hinzu kommt bei Kühn, dass er seinen Beruf beherrscht. Er ist ein talentierter Polizist. Er stolpert nicht durch seine Fälle, sondern besitzt Einfühlungsvermögen, einen funktionierenden Instinkt und eine gute Auffassungsgabe – jedenfalls wenn diese nicht gerade durch starke Hungergefühle beeinträchtigt wird. Außerdem hält er eine gewisse Distanz zu den Dingen. Und er hat Humor. Diese Eigenschaften habe ich ihm als allererstes zugeschrieben, denn für mich ist es wichtig, dass ich die Person gut kenne, wenn ich monatelang mit ihr arbeite. Es wäre fatal für mich, wenn ich kurz vor Ende des Buches feststellen würde, dass meine Hauptfigur fremd und unverwandt durch den Roman rumpelt und ich gar nichts mit ihr anfangen kann. Nein, das ginge nicht. Ich setze mich seit Jahren mit diesem Martin in mir auseinander, und ich mag ihn sehr. Er würde mich übrigens nicht unbedingt genauso zurücklieben. Vielleicht würde er mir skeptisch gegenüberstehen und mich der ständigen Flunkerei verdächtigen. Damit hätte er nicht Unrecht, denn sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Schriftstellerei und unterscheidet das Metier vom Journalismus. Jedenfalls sollte es so sein.
Mit der Figur entstand seine Umgebung, seine Familie, der kleine Kosmos der Weberhöhe. Ich dachte zuerst daran, dass Kühn Verwaltungsangestellter sein sollte. Er war gar nicht als Polizist geplant. Aber dann fiel mir auf, dass die Handlung eine gute Triebfeder gebrauchen konnte. Es muss außerhalb der Gedankenwelt des Protagonisten etwas geschehen. Und dafür ist so eine Krimihandlung nicht die schlechteste Wahl. Sie erzählt etwas über die Gesellschaft, und sie sorgt im besten Fall dafür, dass Leserin und Leser die Seiten schneller umblättern. Diese Spannungsebene war sozusagen das Zuckerstück, um die bittere Medizin des Buches bekömmlicher zu machen.
Martin Kühn wurde also Polizist, Spezialist für Verhöre, ein guter Spürer und humorvoller Beobachter, zudem ausgestattet mit sämtlichen Sorgen, die man eben heute hat. Er gehört zu jenen Männern, die täglich unter der Dusche nachrechnen, wie das Leben eigentlich funktioniert, das sie leben. Ergebnis: Es funktioniert nicht, geht aber komischerweise trotzdem immer weiter.
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Hatte das Glück es schon als Leseex zu lesen. Geniale Handlung, genial geschrieben humorvoll und tricky. Super Buch
Ich habe das Buch in einem Rutsch gelesen, ich kann es nur weiterempfehlen, spannende Story, interessante Charaktere, ich hoffe, dass es noch weitere Bände gibt!