Wenn ihr was seht, hebt ihr die Hand. Egal, ob’s eine Zigarettenkippe oder eine Getränkedose ist. Wenn ihr was seht, hebt ihr die Hand.
Ihr fasst es nicht an.
Hebt nur die Hand.
Chief Dubois. Seine Worte wehten zu ihnen herüber, Leute aus dem Ort standen mit den Füßen im Bachlauf, waren bereit. Vorrücken in einer Reihe, jeweils zwanzig Schritte Abstand, hundert Augen mit gesenkten Blicken. Eine Choreografie der Verdammten.
Dahinter der jetzt menschenleere Ort. Die Nachricht hatte den Nachhall eines langen tadellosen Sommers erstickt.
Es ging um Sissy Radley. Sieben Jahre alt. Blondes Haar. Die meisten kannten sie, Dubois musste keine Fotos verteilen.
Walk bildete den äußersten Rand. Er war fünfzehn und furchtlos, seine Knie zitterten bei jedem Schritt.
Sie marschierten durch den Wald wie eine Armee, angeführt von Polizisten, Taschenlampenlicht überall, der Ozean hinter den Bäumen war noch ein ganzes Stück entfernt, aber das Mädchen konnte nicht schwimmen.
Neben Walk lief Martha May. Sie gingen seit drei Monaten miteinander, waren aber übers Knutschen nicht hinausgekommen, ihr Vater war Pfarrer an der Little Brook Episcopal.
Sie schaute zu ihm rüber. „Willst du immer noch Polizist werden?“
Walk sah zu Dubois, hielt den Kopf gesenkt.
„Ich hab Star gesehen“, sagte Martha. „Vorne bei ihrem Vater. Sie hat geweint.“
Star Radley, die Schwester des vermissten Mädchens. Marthas beste Freundin. Alle zusammen waren sie unzertrennlich. Nur einer fehlte.
„Wo ist Vincent?“, fragte sie.
„Hab ihn vorhin gesehen. Vielleicht ist er auf der anderen Seite.“
Walk und Vincent standen sich so nah wie Brüder. Mit neun hatten sie sich in die Handflächen geritzt, sie zusammengepresst und einen Eid klassenloser Loyalität geschworen.
Walk und Martha schwiegen jetzt wieder, suchten still den Boden ab, passierten die Sunset Road, liefen am Wunschbaum vorbei, schoben mit ihren Chucks das Laub auseinander. Walk konzentrierte sich und hätte ihn trotzdem fast übersehen.
Zehn Schritte vor dem Cabrillo Highway, der State Route One, sechshundert Meilen kalifornische Küste. Er blieb abrupt stehen, blickte auf und sah, wie die Reihe ohne ihn weiterzog.
Er ging in die Hocke.
Eine Wolke riss auf, ließ Mondlicht durch.
Der Schuh war klein. Rot-weißes Leder. Vergoldete Schnalle.
Ein herankommender Wagen auf dem Highway wurde langsamer, die Scheinwerfer folgten der Biegung, streiften ihn.
Dann sah er sie.
Er holte tief Luft und hob die Hand.
Erster Teil
Der Outlaw
1
Walk stand am Rand einer aufgeregten Menge. Einige von ihnen kannte er seit seiner Geburt, andere seit deren. Urlauber mit Kameras, Sonnenbrand und unbeschwertem Lächeln.
Die Lokalnachrichten waren jetzt auch da, eine Reporterin von KCNR. „Dürfen wir kurz mit Ihnen sprechen, Chief Walker?“
Er lächelte, schob die Hände tief in die Taschen und schlängelte sich durch die Menge, als die Leute plötzlich erschrocken nach Luft schnappten.
Stück für Stück und laut stürzte das Dach ein, krachte aufs Wasser weiter unten. Die Grundmauern blieben roh und skelettartig stehen, als wäre es nie mehr als ein unbewohntes Haus gewesen. Seit Walk denken konnte, hatte es den Fairlawns gehört, hatte in seiner Kindheit noch weit vom Ozean entfernt gestanden. Vor einem Jahr war das Grundstück abgesperrt worden, weil die Klippen erodierten, hin und wieder kamen Leute von California Wild, maßen und schätzten.
Kameras wurden hochgehalten, Aufregung breitete sich aus, als es Schindeln regnete und die vordere Veranda halb absackte. Milton, der Schlachter, ging auf ein Knie runter und schoss das Bild des Tages vom umgeknickten Flaggenmast mit der Fahne im Wind.
Der jüngere der Tallow-Söhne lief zu dicht heran. Seine Mutter zog ihn so fest am Kragen, dass er rückwärts auf den Hintern plumpste.
Dahinter versank die Sonne mit dem Gebäude, zerhackte das Wasser mit orange- und lilafarbenen Schnitten und namenlosen Schattierungen. Die Reporterin bekam ihre Story, verabschiedete ein eher unbedeutendes Stück Geschichte, das kaum der Rede wert war.
Walk sah sich um und entdeckte Dickie Darke, der ungerührt zuschaute. Er stand da wie ein Riese, fast zwei Meter zehn. Dickie handelte mit Immobilien, ihm gehörten mehrere Häuser in Cape Haven und ein Club am Cabrillo, eine Kaschemme von der Sorte, in der das Laster zehn Dollar und einen kleinen Batzen Rechtschaffenheit kostet.
Sie blieben eine weitere Stunde lang stehen, Walks Beine wurden müde, als die Veranda endlich aufgab. Schaulustige widerstanden dem Impuls zu applaudieren, dann machten sie kehrt und gingen zurück zu ihren Grills, Bieren und Feuerstellen, deren flackerndes Licht Walk auf seiner Abendpatrouille begleitete. Sie liefen über den grauen Steinweg, zwar trocken verlegt, aber trotzdem robust. Dahinter stand der Wunschbaum, eine große Eiche, so breit, dass ihre Äste gestützt werden mussten. Das alte Cape Haven gab sich alle Mühe, fortzubestehen.
Walk war einst mit Vincent King auf diesen Baum geklettert, in einer Zeit so fern der Gegenwart, dass sie kaum noch von Bedeutung war. Er legte eine zittrige Hand auf seine Schusswaffe, die andere an den Gürtel. Sein Kragen war gestärkt, er trug eine Krawatte, die Schuhe frisch geputzt. Die Tatsache, dass er seinen Platz in der Welt akzeptierte, wurde von vielen bewundert, von anderen belächelt. Walker war Kapitän eines Schiffs, das seinen Hafen niemals verließ.
Er entdeckte das Mädchen, das sich gegen den Strom der Menschen bewegte. Sie hatte ihren Bruder an der Hand, der nur mühsam mit ihr Schritt hielt.
Duchess und Robin, die Radley-Kinder.
Er ging los, rannte ihnen fast entgegen, weil er alles über sie wusste, was es zu wissen gab.
Der Junge war fünf und weinte stumme Tränen, das Mädchen war gerade erst dreizehn geworden und weinte nie.
„Eure Mutter“, sagte er. Keine Frage, sondern eine Feststellung von solcher Tragik, dass das Mädchen nicht einmal nickte, sich nur umdrehte und voranging. Sie bewegten sich durch dämmrige Straßen, die trügerische Ruhe von Lattenzäunen und Lichterketten. Über ihnen ging der Mond auf, leitete und verspottete ihn, wie er es schon seit dreißig Jahren tat. Vorbei an prächtigen Häusern aus Glas und Stahl, die sich der Natur widersetzten, ein Anblick von schrecklicher Schönheit.
Die Genesee runter, wo Walk immer noch im alten Haus seiner Eltern lebte. Dann in die Ivy Ranch Road, wo sie sich jetzt dem Haus der Radleys näherten. Abblätternde Farbe an den Fensterläden, ein umgedrehtes Fahrrad, der Reifen daneben. In Cape Haven war alles, was nicht perfekt war, gleich schrecklich.
Walk löste sich von den Kindern und rannte den Weg entlang, von drinnen drang kein Licht heraus, nur das Flackern eines Fernsehers. Er schaute zurück, Robin weinte immer noch, und Duchess sah ihm nach, streng und unerbittlich.
Er fand Star auf der Couch, eine Flasche neben sich, dieses Mal keine Pillen, ein Schuh am Fuß, der andere nackt, kleine Zehen, lackierte Nägel.
„Star.“ Er ging auf die Knie und tätschelte ihre Wange. „Star, komm, wach auf.“
Er sprach ruhig, weil die Kinder jetzt an der Tür standen; Duchess hatte einen Arm auf ihren Bruder gelegt, da dieser sich so schwer an sie lehnte, als habe er keine Knochen mehr in seinem kleinen Körper.
Er bat das Mädchen, den Notruf zu wählen.
„Hab ich schon.“
Er zog Stars Lider mit dem Daumen hoch und sah nichts als Weiß.
„Wird sie wieder gesund?“, fragte der Junge.
Er schaute rüber, hoffte auf Sirenen, blickte mit zusammengekniffenen Augen in den feuerroten Himmel.
„Würdet ihr draußen Ausschau halten, wo sie bleiben?“
Duchess verstand ihn und ging mit Robin hinaus.
Star schüttelte sich, kotzte ein bisschen und schüttelte sich wieder, als hätten Gott oder der Tod Besitz von ihrer Seele ergriffen und sie müsste sich jetzt befreien. Walk hatte jede Menge Geduld gehabt, dreißig Jahre waren seit Sissy Radley und Vincent King vergangen, doch Star lallte immer noch von Eternalismus, dem Aufeinanderprallen von Vergangenheit und Gegenwart, den Weichen für die Zukunft und von Dingen, die sich nicht wiedergutmachen ließen.
Duchess fuhr mit ihrer Mutter. Walk würde später mit Robin nachkommen.
Sie schaute dem Sanitäter zu. Er versuchte es nicht mit einem Lächeln, und sie war ihm dankbar dafür. Er hatte dünnes Haar und schwitzte, vielleicht war er es leid, Menschen zu retten, die so fest entschlossen waren, zu sterben.
Eine Weile blieben sie vor dem Haus stehen, und durch die offene Tür des Rettungswagens sah sie Walk, der seine Hand auf Robins Schulter legte. Robin brauchte das, den Trost eines Erwachsenen, das Gefühl von Sicherheit.
Auf der anderen Straßenseite bewegten sich die Vorhänge, während Schatten stille Urteile fällten. Dann sah sie am Ende der Straße Kinder aus ihrer Schule, die mit roten Gesichtern fest in die Pedale traten. Nachrichten verbreiteten sich schnell in einer Stadt, in der schon Bebauungspläne Stoff für Schlagzeilen boten.
Die beiden Jungs machten neben dem Streifenwagen halt und ließen ihre Räder fallen. Der Größere ging atemlos auf den Krankenwagen zu, eine Haarsträhne klebte in seinem Gesicht.
„Ist sie tot?“
Duchess hob das Kinn und sah ihm fest in die Augen. „Verpiss dich.“
Der Motor brummte, als die Tür zugeschlagen wurde. Die Welt hinter dem Milchglas verstummte.
Autos schlängelten sich um Biegungen, bis sie über den Hang kippten, dahinter lag der Pazifik. Felsen durchstießen die Oberfläche wie die Köpfe von Ertrinkenden.
Sie betrachtete ihre Straße, bis sie deren Ende erreichten, bis Bäume aufragten, sich über der Pensacola trafen, Äste wie Hände, verschränkt im Gebet für das Mädchen und ihren Bruder – angesichts der Tragödie, die lange vor ihrer beider Geburt begonnen hatte.
Die Nacht kam wie viele andere, verschluckte Duchess so vollständig, dass sie sicher war, niemals wieder Tageslicht zu sehen, zumindest nicht wie andere Kinder. Das Vancour Hill Hospital kannte Duchess nur allzu gut. Ihre Mutter wurde fortgebracht, und sie blieb auf dem polierten Boden stehen, das Licht glänzte darauf. Sie behielt die Tür im Blick, bis Walk mit Robin hereinkam. Dann ging sie zu ihm, nahm die Hand ihres Bruders, führte ihn zum Fahrstuhl und fuhr mit ihm in den zweiten Stock. Bei gedämpftem Licht schob sie zwei Stühle im Familienzimmer zusammen. Gegenüber befand sich der Materialraum, und Duchess besorgte sich zwei weiche Decken, baute aus den Stühlen ein Bett. Robin stand betreten herum, Müdigkeit zehrte an ihm, kroch in die dunklen Ringe unter seinen Augen.
„Musst du mal?“
Nicken.
Sie ging mit ihm zur Toilette, wartete ein paar Minuten, achtete darauf, dass er sich die Hände gründlich wusch. Sie fand Zahnpasta, drückte ein bisschen davon auf ihren Finger und fuhr ihm damit über Zähne und Zahnfleisch. Er spuckte aus, sie tupfte seinen Mund ab.
Dann half sie ihm aus den Schuhen und über die Armlehnen der Stühle und deckte ihn zu. Er rollte sich ein wie ein kleines Tier.
Und sah sie an. „Lass mich nicht alleine.“
„Niemals.“
„Wird Mom wieder gesund?“
„Ja.“
Sie machte den Fernseher aus, das Zimmer war dunkel, die Notbeleuchtung tauchte sie beide in ein so sanftes Rot, dass Robin schon eingeschlafen war, als sie die Tür erreichte.
Im klinischen Licht des Krankenhausgangs blieb sie mit dem Rücken zur Tür stehen. Sie würde niemanden hier hereinlassen, im dritten Stock gab es noch ein weiteres Familienzimmer.
Eine Stunde später tauchte Walk wieder auf und gähnte, als gäbe es einen guten Grund. Duchess wusste, wie er die Tage verbrachte, den Cabrillo entlangfuhr, diese perfekten Meilen von Cape Haven bis weit dahinter, jedes Blinzeln eine Momentaufnahme, so paradiesisch, dass die Menschen quer durchs Land reisten, um sich dort Häuser zu kaufen, die sie dann zehn Monate im Jahr leer stehen ließen.
„Schläft er?“
Sie nickte.
„Ich hab nach eurer Mutter gesehen, sie wird wieder.“
Sie nickte erneut.
„Du kannst gehen und dir was zu trinken holen. Da steht ein Automat neben dem …“
„Ich weiß.“
Ein Blick zurück in den Raum, wo ihr Bruder fest schlief. Er würde sich nicht regen, bis sie ihn weckte.
Walk hielt ihr einen Dollarschein hin, sie nahm ihn zögerlich.
Duchess lief durch die Gänge, kaufte etwas zu trinken und trank es nicht, sie würde es für Robin aufheben. Sie spähte in die Kabinen, hörte Geburten, Tränen und Leben. Sie sah Hüllen von Menschen, so leer, dass sie wusste, sie würden sich nicht mehr erholen. Polizisten führten böse Männer mit tätowierten Armen und blutverschmierten Gesichtern herein. Sie roch die Betrunkenen, das Putzmittel, die Kotze und die Scheiße.
Sie ging an einer Schwester vorbei, bekam ein Lächeln, denn die meisten hier hatten sie schon einmal gesehen. Sie war eins der Kinder, denen das Leben übel mitspielte.
Als sie zurückkam, hatte Walk zwei Stühle neben die Tür gestellt. Sie schaute nach ihrem Bruder, dann setzte sie sich.
Walk bot ihr Kaugummi an, Duchess schüttelte den Kopf.
Sie merkte, dass er reden und ihr irgendeinen Mist über Veränderung erzählen wollte. Ihr sagen wollte, dass alles wieder gut werden würde.
„Du hast nicht angerufen.“
Er sah sie an.
„Das Jugendamt. Du hast nicht angerufen.“
„Hätte ich machen sollen.“ Er klang traurig, als hätte er ein schlechtes Gewissen, weil er glaubte, sie im Stich gelassen oder seine Polizistenpflicht vernachlässigt zu haben.
„Aber du wirst es nicht tun.“
„Nein.“
Sein braunes Hemd spannte am Bauch. Er hatte die dicken geröteten Backen eines Jungen, der von seinen gutmütigen Eltern niemals ein Nein zu hören bekam. Sein Gesicht wirkte so offen, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie er auch nur ein einziges Geheimnis bewahren wollte. Star sagte immer, er sei durch und durch gut, als wäre das etwas ganz Besonderes.
„Du solltest ein bisschen schlafen.“
Sie blieben so sitzen, bis die Sterne dem ersten Tageslicht wichen, der Mond seine Pflichten vergaß und nur noch wie ein Schmierfleck am neuen Tag wirkte, eine Erinnerung an das, was nicht mehr da war. Gegenüber gab es ein Fenster. Duchess stand lange an der Scheibe, presste den Kopf in Richtung der Bäume und der schwindenden Wildnis. Vögel zwitscherten. Weiter hinten sah sie Wasser, kleine Fischkutter, die über die Wellen krochen.
Walk räusperte sich. „Deine Mutter … war da ein Mann …“
„Da war immer ein Mann. Immer, wenn auf der Welt was Beschissenes passiert, ist ein Mann dabei.“
„Darke?“
Sie drehte sich nicht um.
„Kannst du’s mir nicht sagen?“, fragte er.
„Ich bin ein Outlaw.“
„Okay.“
Im Haar trug sie eine Schleife, an der sie ständig herumfingerte. Sie war zu dünn, zu blass, zu hübsch, wie ihre Mutter.
„Da unten wurde gerade ein Baby geboren.“ Walk wechselte das Thema.
„Wie haben sie’s genannt?“
„Weiß nicht.“
„Fünfzig Dollar, dass es nicht Duchess heißt.“
Er lachte leise. „Genauso exotisch wie selten. Du weißt ja, dass du eigentlich Emily hättest heißen sollen.“
„Und wund muss der Sturm sein.“
„Genau.“
„Das Gedicht liest sie Robin immer noch vor.“ Duchess setzte sich, schlug die Beine übereinander, rieb sich die Muskeln. Ihre Turnschuhe waren alt und ausgelatscht. „Ist das hier mein Sturm, Walk?“
Er trank einen Schluck Kaffee, als suchte er die Antwort auf eine unmögliche Frage. „Mir gefällt Duchess.“
„Kannst es ja selbst mal damit versuchen. Wäre ich ein Junge, hätte sie mich wahrscheinlich Sue genannt.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und sah die Neonröhren flackern. „Sie will sterben.“
„Will sie nicht. Das darfst du nicht denken.“
„Ich kann mich nicht entscheiden, ob Selbstmord was Egoistisches oder Selbstloses ist.“
Um sechs kam eine Schwester und brachte sie zu ihr.
Star lag da, nur noch der Schatten einer Person, kaum eine Mutter.
„Duchess von Cape Haven.“ Star lächelte kraftlos. „Schon gut.“
Duchess betrachtete sie, dann weinte Star, Duchess durchquerte den Raum, presste ihre Wange an die Brust ihrer Mutter und fragte sich, wieso ihr Herz noch schlug.
Zusammen lagen sie im Morgengrauen, doch der neue Tag schenkte ihr kein hoffnungsvolles Licht, denn Duchess wusste, dass Hoffnung trügerisch war.
„Ich hab dich lieb. Es tut mir leid.“
Duchess hätte vieles sagen können, aber im Augenblick fiel ihr nur ein: „Ich hab dich auch lieb. Ich weiß.“
2
Am höchsten Punkt der Anhöhe fiel das Land steil ab.
Die Sonne stieg an einem blauen Himmel auf, als Duchess hinten im Wagen neben ihrem kleinen Bruder saß und seine kleine Hand in ihre nahm.
Walk lenkte den Streifenwagen sachte in ihre Straße und hielt vor dem alten Haus, folgte ihnen hinein. Er wollte Frühstück machen, aber die Schränke waren leer. Also lief er zu Rosie’s Diner, kam mit Pancakes zurück und lächelte, als Robin gleich drei davon verdrückte.
Nachdem sie Robins Gesicht gewaschen und ihm seine Kleider zurechtgelegt hatte, ging Duchess vors Haus und fand Walk, der dort auf den Stufen saß. Sie sah Cape Haven aufwachen, der Postbote kam vorbei, Brandon Rock trat vors Nachbarhaus und sprengte seinen Rasen mit dem Schlauch. Dass beide den Streifenwagen vor dem Haus der Radleys keines zweiten Blickes würdigten, machte Duchess traurig und froh zugleich.
„Soll ich dich mitnehmen?“
„Nein.“ Sie setzte sich neben ihn und band sich die Schnürsenkel.
„Ich kann deine Mom abholen.“
„Sie hat gesagt, sie will Darke anrufen.“
Duchess wusste nicht viel über die Freundschaft zwischen ihrer Mutter und Chief Walker, obwohl sie vermutete, dass er sie flachlegen wollte, genau wie die meisten Männer der Stadt.
Sie schaute in den verdorrten Garten. Im vergangenen Sommer hatte sie sich mit ihrer Mutter ans Pflanzen gemacht. Robin hatte eine kleine Gießkanne gekauft und die Erde gelockert, seine Wangen hatten immer mehr Farbe bekommen. Hainblumen, Schönmalven und Säckelblumen.
Alle vernachlässigt und eingegangen.
„Hat sie gesagt, was los war?“, fragte Walk sanft. „Gestern Nacht. Weißt du, warum?“
Grausame Fragen wie diese war sie von ihm nicht gewohnt, meistens gab es keinen Grund. Aber sie wusste, warum er dieses Mal fragte, wusste von Vincent King und ihrer Tante Sissy, die auf dem Friedhof am Rand der Klippen lag. Alle kannten ihr Grab hinter dem sonnengebleichten Lattenzaun, gleich bei den Babys, die es nicht geschafft hatten, von demselben Gott dahingerafft worden waren, zu dem ihre Eltern beteten.
„Gesagt hat sie nichts.“
Hinter sich hörten sie Robin. Duchess stand auf und strich ihm durchs Haar, wischte ihm Zahnpastareste von der Wange, dann sah sie in seiner Schultasche nach, ob er sein Lesebuch dabeihatte, sein Heft und seine Wasserflasche.
Sie schob ihm die Riemen auf die Schultern, er lächelte, und sie lächelte zurück.
Sie standen nebeneinander und sahen zu, wie der Streifenwagen die lange Straße hinunterfuhr, dann legte Duchess einen Arm um ihren Bruder, und sie gingen los.
Der Nachbar stellte den Schlauch ab und trat an seinen Gartenzaun. Brandon Rock. Klein, breit, braun gebrannt. Ein Ohrstecker auf einer Seite, fedriger Haarschnitt, Morgenmantel. Manchmal stemmte er Gewichte in der Garage, bei geöffnetem Tor und laut dröhnendem Metal.
„Wieder eure Mutter? Man sollte das Jugendamt verständigen.“
Eine Stimme, als wäre seine Nase gebrochen und nie wieder richtig zusammengewachsen. In einer Hand hielt er eine Hantel, hob sie ab und zu. Sein rechter Arm war auffallend breiter als der linke.
Duchess drehte sich zu ihm um.
Der Wind wehte. Sein Morgenmantel öffnete sich.
Sie rümpfte die Nase. „Nackt zeigen vor einem Kind? Man sollte die Polizei rufen.“
Brandon starrte sie an, während Robin sie weiterzog.
„Hast du gesehen, dass Walks Hände gezittert haben?“, fragte Robin.
„Morgens ist es immer am schlimmsten.“
„Warum?“
Sie zuckte mit den Schultern, obwohl sie es wusste. Walk und ihre Mutter, ihre gemeinsamen Sorgen und wie sie damit umgingen. „Hat Mom gestern Nacht was gesagt, als ich in meinem Zimmer war?“ Sie hatte Hausaufgaben gemacht, an ihrem Projekt mit dem Familienstammbaum gearbeitet, als Robin an die Tür gehämmert und gesagt hatte, dass Mom wieder krank sei.
„Sie hat ihre Fotos rausgeholt. Die alten von Sissy und Grandpa.“ Robin hatte die Vorstellung, dass er einen Grandpa hatte, auf Anhieb gefallen, als er den großen Mann auf den Fotos ihrer Mutter gesehen hatte. Dass er ihm nie begegnet war und Star praktisch nie über ihn sprach, schien keine Rolle zu spielen. Robin brauchte Menschen, ein Polster aus Namen, um sich weniger verletzlich zu fühlen. Er sehnte sich nach Cousins, Cousinen und Onkeln, nach Football und Grillen am Sonntag, nach allem, was die anderen in seiner Klasse hatten.
„Weißt du das mit Vincent King?“
Duchess nahm seine Hand, als sie auf die Fisher abbogen. „Wieso, was weißt du denn darüber?“
„Dass er Tante Sissy umgebracht hat. Vor dreißig Jahren. In den Siebzigern, als die Männer Schnurrbärte hatten und Mom eine komische Frisur.“
„Sissy war nicht unsere Tante, nicht richtig.“
„Doch, war sie“, sagte er trocken. „Sie hat ausgesehen wie du und Mom. Genau so.“
Im Lauf der Jahre hatte Duchess die Geschichte in ihren Grundzügen mitbekommen, von Star und aus den Archiven der Bibliothek in Salinas. Der Bibliothek, wo sie im vergangenen Frühjahr an ihrem Familienstammbaum gearbeitet hatte. Sie hatte die Wurzeln der Radleys weit zurückverfolgt und dann das Buch fallen lassen, als sie eine Verbindung zu dem polizeilich gesuchten Outlaw Billy Blue Radley fand. Das war eine Entdeckung, auf die sie stolz war und die sie ihrer Klasse präsentieren wollte. Auf der Seite ihres Vaters aber war noch immer ein Haufen Nichts, ein großes Fragezeichen, das zum Anlass einer wütenden Auseinandersetzung mit ihrer Mutter wurde. Nicht nur einmal, sondern gleich zweimal hatte Star sich von einem Fremden schwängern lassen und Kinder bekommen, die dazu verdammt waren, ein Leben lang zu rätseln, wessen Blut durch ihre Adern floss. Schlampe, hatte sie leise geflüstert. Und einen Monat Hausarrest kassiert.
„Du weißt, dass er heute aus dem Gefängnis kommt, oder?“ Robin sprach mit gedämpfter Stimme, als verriete er ein bedeutsames Geheimnis.
„Wer hat dir das gesagt?“
„Ricky Tallow.“
Ricky Tallows Mutter arbeitete im Vorzimmer bei der Polizei in Cape Haven.
„Was hat Ricky noch gesagt?“
Robin schaute weg.
„Robin?“
Er knickte schnell ein. „Dass sie ihn auf dem Stuhl hätten grillen sollen. Aber dann hat Miss Dolores ihn angeschrien.“
„Auf dem Stuhl grillen? Weißt du, was das bedeutet?“
„Nein.“
Duchess nahm seine Hand, um die Virginia zu überqueren, wo die Häuser ein bisschen größer waren. Cape Haven fiel zum Wasser hin ab, die Grundstückspreise verhielten sich umgekehrt proportional zum Anstieg der Hänge; Duchess kannte ihren Rang, ihr Zuhause befand sich in der Straße, die am weitesten vom Ozean entfernt war.
Sie gerieten in eine Gruppe von Kindern. Duchess hörte, dass sie über die Angels und die Baseball-Drafts sprachen.
Als sie das Tor erreichten, strich sie ihm erneut durch die Haare und vergewisserte sich, dass sein Hemd zugeknöpft war.
Neben der Hilltop Middle befand sich der Kindergarten. Duchess verbrachte ihre Pause immer am Zaun und schaute dann zu ihrem Bruder hinüber. Er winkte und lächelte, sie aß ihr Sandwich und schaute ihm zu.
„Sei schön brav.“
„Ja.“
„Erzähl nichts von Mom.“
Sie umarmte ihn, drückte ihm ein Küsschen auf die Wange und schickte ihn hinein, sah ihm hinterher, bis Miss Dolores ihn übernahm. Dann ging sie weiter, der Gehweg war voller Kinder.
Duchess hielt den Kopf gesenkt, als sie an der Treppe vorbeikam, wo Nate Dorman und seine Freunde sich versammelt hatten.
Nate, Kragen hochgestellt, Ärmel bis über seine dürren Oberarme hochgeschoben.
„Hab gehört, deine Mom hat schon wieder abgekackt.“
Riesengelächter.
Sie baute sich breit vor ihm auf.
Er starrte zurück. „Was?“
Sie sah ihm in die Augen. „Ich bin der Outlaw Duchess Day Radley, und du bist ein Feigling, Nate Dorman.“
„Du bist ja irre.“
Sie trat einen Schritt vor und sah, wie er schluckte. „Wenn du noch einmal was über meine Familie sagst, schneid ich dir den Kopf ab, du Arschloch.“
Er wollte lachen, bekam es aber nicht hin. Über Duchess gab es alle möglichen Gerüchte; trotz des hübschen Gesichts und der zarten Statur konnte sie ganz plötzlich so heftig durchdrehen, dass sich seine Freunde nicht trauen würden einzugreifen.
Sie drängte an ihnen vorbei und hörte ihn schwer ausatmen, als sie die Schule betrat. Ihre Augen brannten nach einer wieder einmal qualvollen Nacht.
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